15
Deanna Troi spürte ihre Präsenz, bevor sie die Stimmen hörte. Eigentlich vernahm sie zuerst Beverly Crushers verärgerte Stimme – sie verteidigte die Unverletzlichkeit der Krankenstation.
»Das erlaube ich nicht!«, beharrte Beverly. »Sie ist erschöpft und leidet an einer Mischung aus Amnesie, Schock und Trauma. Sie braucht mindestens achtundvierzig Stunden lang Bettruhe. So lauten meine Anweisungen.«
»Wir haben keine achtundvierzig Stunden Zeit«, sagte Captain Picard mit einem für ihn ungewöhnlichen Mangel an Geduld. »Bitte lass uns zu ihr, Beverly.«
Deanna stemmte sich hoch. Eigentlich fühlte sie sich gar nicht schlecht, nur müde. Sie stand auf, streifte einen Morgenrock über und ging zur Tür ihres privaten Zimmers. Durchs Fenster sah sie Captain Picard und Reg Barclay, die vor der zornigen Ärztin standen.
»Jean-Luc, zwing mich nicht, die Sicherheitsabteilung zu verständigen und dich hinauswerfen zu lassen«, warnte Beverly. »Meine Patientin wird nicht gestört.«
Deanna öffnete die Tür. »Schon gut, Beverly. Ich bin bereit, mit ihnen zu sprechen.«
Daraufhin wandte sich Crusher ihr zu. »In meiner Krankenstation nehme ich weder vom Captain noch von Patienten Befehle entgegen. Kehren Sie ins Bett zurück.«
»Uns allen droht der Tod, nicht wahr?«, fragte Troi und sah die Sorge in Picards Gesicht.
»Ja, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass wir bald alle sterben müssen«, bestätigte der Captain und trat zur Counselor. »Das gilt zumindest für die Bewohner der Kristallwelt. Wir könnten versuchen, uns mit der Enterprise in Sicherheit zu bringen, obwohl es Data praktisch für unmöglich hält, dem
Dimensionsriss zu entkommen – er hat dafür eine Wahrscheinlichkeit von weniger als null Komma eins Prozent errechnet.«
Crusher hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Und du glaubst, dass diese kranke Frau uns alle retten kann?«
»Sie ist unsere einzige Chance«, sagte Picard.
Beverly nahm diese ernsten Worte zum Anlass, die Besucher in Deannas Zimmer zu führen und die Tür zu schließen. Mit verschränkten Armen stand sie da, als Troi ins Bett zurückkehrte. Picard und Barclay warteten geduldig. Reg verriet seine Nervosität, indem er die Hände rang.
»Sie konnten die Schale nicht deaktivieren?«, fragte Deanna.
»Nein«, antwortete der Captain. »Einer der sechs Kristalle erwies sich als Duplikat. Ohne das Original lässt sich keine Deaktivierung vornehmen. Wir müssten die Schale unter Beschuss nehmen, um sie daran zu hindern, auch weiterhin dunkle Materie zu sammeln. Das würde die Bewohner der Kristallwelt ebenso sicher umbringen wie der Riss.«
Deanna zog die Decke bis zum Kinn hoch. »Sie möchten, dass ich Kontakt mit der Entität aufnehme… um sie zu bitten, sich zurückzuziehen.«
»Einspruch«, sagte Crusher. »Solchen Belastungen ist sie nicht gewachsen. Es wäre viel zu gefährlich.«
»Dann wirst du bald erleben, wie sich deine Krankenstation mit Patienten füllt, die an den Auswirkungen der Thoron-Strahlung leiden«, erwiderte Picard. »Glaub mir, ich wünschte, es gäbe eine Alternative, aber das ist leider nicht der Fall.«
»Sie können meinen Zustand überwachen, Beverly«, sagte Deanna und lächelte tapfer. »Ich möchte es versuchen. Bisher kam die Entität immer zu mir. Es dürfte sie überraschen, wenn ich versuche, zu ihr zu gelangen.«
Crusher hob resigniert die Hände und ließ sie wieder sinken. »Na schön, ich lasse Sie von den Biosensoren überwachen.« Sie trat hinters Bett und aktivierte mehrere medizinische Monitore und Displays. Ihr Piepsen und Summen klang irgendwie Unheil verkündend.
Beverly drehte sich um und sah zu den beiden Besuchern. »Wollt ihr hier herumstehen und Deanna anstarren, während sie versucht, einen Kontakt mit der Entität herzustellen?«
»Nein«, sagte Picard. »Viel Glück, Counselor.« Der Captain ging zur Tür, aber Barclay zögerte.
»Sie haben mich immer wieder darauf hingewiesen, dass Gutes in uns allen steckt«, meinte er. »Selbst wenn wir uns mit bösen Dingen befassen. In meinem Fall war das zweifellos richtig, als ich gewisse Dinge auf dem Holodeck anstellte. Versuchen Sie, das Gute dort draußen zu finden.«
»Das werde ich«, versprach Troi. »Ich habe von Melora gehört… Es tut mir sehr Leid.«
Reg schob das Kinn vor. »Wir werden sie wiedersehen – bald.«
»Wir können es zumindest versuchen.« Deannas Lippen formten auch weiterhin ein tapferes Lächeln, bis Picard und Barclay das Zimmer verließen. Dann begriff sie plötzlich die enorme Bedeutung ihrer Aufgabe und sank zurück.
Beverly schüttelte kummervoll den Kopf. »Ich kontrolliere Ihren Zustand von meinem Büro aus.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders und ging.
Die Betazoidin versuchte, ihr Selbst von allem Ballast zu befreien. Sie wusste, wie der Riss beschaffen war – sie hatte ihn mit eigenen Augen gesehen. Während sie im Bett lag und zur Decke blickte, stellte sie sich ihn vor, wie eine Wunde im All. Zum ersten Mal hieß sie den gezackten Einschnitt im Nichts willkommen und wünschte sich einen Kontakt mit ihm.
Sie starrte so konzentriert zur Decke empor, dass sich Tränen in ihren Augen bildeten. Fasziniert beobachtete sie, wie eine dunkle Öffnung entstand, die seltsam dreidimensional wirkte – etwas schien sich durchs Metall zu bohren. Diesmal wich Deanna nicht zurück, ganz im Gegenteil: Sie streckte der Finsternis die Arme entgegen. Langsam verwandelte sich die Dunkelheit in einen schwarzen Strudel, der Deannas Ich in seine unauslotbaren Tiefen sog.
Ohne Furcht öffnete sie ihr Bewusstsein und schwebte in der schwarzen Sphäre der Entität. Sie wusste nicht, in welcher Dimension sie sich befand, denn das fremde Wesen war in beiden Dimensionen präsent, vielleicht auch noch in hundert anderen. Deanna stellte sich die Entität plötzlich als einen Hüter vor, der versuchte, das Leben auf der anderen Seite zu schützen. Deshalb ärgerte sie sich so sehr über die Lipuls und ihren selbstsüchtigen Diebstahl.
Eine weitere überraschende Erkenntnis bot sich Deanna dar: Der Hüter suchte um Vergebung dafür, das ihm anvertraute Leben nicht ausreichend geschützt zu haben. Sein destruktiver Angriff auf die Kristallwelt diente allein defensiven Zwecken, obgleich der Diebstahl Milliarden von Jahren zurücklag. Die Entität hatte viel Zeit gebraucht, um das astrale Reisen zu erlernen, das die Lipuls so mühelos beherrschten. Erst dann sah der Hüter das volle Ausmaß des Diebstahls und den wahren Grund für die wiederholten Besuche.
Waren abgesehen von den Lipuls noch andere Spezies auf der Kristallwelt heimisch?, fragte Deanna in Gedanken.
Nur die Frills.
Diese kurze Antwort wies Deanna darauf hin, dass sie einen Kontakt hergestellt hatte. Es gab keinen Grund, nicht ganz offen zu sein, denn sie wusste: Eine zweite Chance würde sie nicht bekommen.
»Hüter«, begann sie, »du hast deine Aufgabe mutig und kühn wahrgenommen. Dafür verdienst du Lob. Jene Geschöpfe, die von den Lipuls zur Kristallwelt gebracht wurden, sind glücklich und zufrieden. Sie wissen nicht, dass sie aus deiner Sphäre stammen. Und selbst wenn sie es wüssten – es spielt keine Rolle, denn sie sind wie du imstande, überall zu leben. Es sind die größten deiner Kinder, denn sie lassen dein Licht auf zwei Welten erstrahlen. Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen. Du hast alle Möglichkeiten genutzt, das deiner Obhut unterliegende Leben zu schützen.«
Diebe!, kam eine vehemente Antwort. Sie müssen bestraft werden.
»Sie sind bereits bestraft«, erwiderte Troi. »Ihre Sphäre liegt in Trümmern und du hast ihren heiligsten Ort erreicht, ihre Träume. Aber wenn du in dieser Sphäre bleibst, wenn du den Riss zwischen den Dimensionen offen hältst, dann tötest du alle deine Kinder. Die schuldigen Lipuls überleben in ihren Kristallen, aber die Unschuldigen – die Elaysianer, Alpusta, Yiltern und der Gendlii – werden sterben.«
Sie dürfen nicht in meine Welt eindringen.
»Dir ist nicht klar, wie lange die Besuche der Lipuls zurückliegen, denn Zeit bedeutet kaum etwas für dich«, fuhr Deanna fort. »Seit Äonen haben sie keine Reisen mehr in deine Sphäre unternommen. Der letzte Besuch fand zu einer Zeit statt, als sich meine Spezies noch gar nicht entwickelt hatte. Die Lipuls fürchten sich vor dir, und zwar mehr als jemals zuvor. Wenn du dich jetzt zurückziehst, bist du der Sieger. Die Wesen auf dieser Seite werden nicht nur deine Erhabenheit preisen, sondern auch deine Anteilnahme und Nachsicht. Man wird dir die Zerstörung verzeihen, an der du keine Schuld hast.«
Deanna legte eine kurze Pause ein.
»Bitte«, betonte sie, »es wird Zeit für dich zu gehen. Schließe den Riss – die Lipuls werden nie wieder in deine Sphäre vordringen. Wenn du jetzt gehst, verzeiht man dir alles und deine Kinder werden leben.«
Troi schloss die Augen und fragte sich, ob sie sterben oder nur den Verstand verlieren würde. Derzeit hatte sie das Gefühl, aus der Trance erwachen zu können – aber nur, wenn es der Hüter zuließ. Sie blieb ihm ganz und gar ausgeliefert.
Sie spitzte die mentalen Ohren und lauschte nach einer Antwort, hörte aber nur ein einziges Wort:
Schlafe.
Als Deanna Troi schließlich erwachte, war sie so benommen, dass sie einige Sekunden lang glaubte, neben dem Gendlii zu schweben. Sie sah dasselbe vertraute Gesicht, das er ihr gezeigt hatte, und es sprach dasselbe Wort:
»Imzadi.« Will Rikers strahlendes Lächeln erzählte von Liebe.
Sie streckte die Hand aus und berührte seine glatt rasierte Wange, die sich gar nicht nach einem Riesenpilz anfühlte. »Imzadi«, hauchte sie.
Er griff nach ihrer Hand und küsste sie. Die Wärme seiner Lippen teilte Deanna mit, dass sie nicht träumte. Ganz plötzlich öffnete sie die Augen und sah das Gesicht des geliebten Mannes.
»Ich bin wach«, stellte sie überrascht fest. »Wie lange habe ich geschlafen?«
Riker drehte sich um und sah zu Beverly Crusher, die in der Tür stand und lächelte. »Fast zwanzig Stunden.«
»Zwanzig Stunden?«, wiederholte Troi verblüfft. »Aber die Thoron-Strahlung… der Riss…«
»Der Riss existiert nicht mehr«, sagte Riker. »Er schloss sich vor neunzehn Stunden, was wohl kaum ein Zufall sein dürfte, oder?«
Eine dürre Gestalt hinkte herbei und steckte den Kopf ins Zimmer – Keefe Nordine. »Hallo, Counselor, willkommen im Land der Lebenden! Stimmt es, dass Sie den Riss einfach gebeten haben, sich zu schließen und zu verschwinden?«
Deanna seufzte zufrieden und ließ den Kopf aufs Kissen sinken. »Ja. Aber zuerst musste ich ihm verzeihen.«
»Ihm verzeihen?«, fragte Will verwirrt.
Deanna drückte seine Hand. »Ein Freund hat mich einmal darauf hingewesen: Eigentlich suchen wir alle Vergebung.«
Reg Barclay war nervös, als Captain Picard und er unweit einer elaysianischen Enklave im Einschnitt eines großen Kristallhaufens materialisierten. Es lag nicht etwa an seiner Angst vor dem Transporter, sondern daran, dass ein Wiedersehen mit Melora bevorstand – das hoffte er zumindest. Aus dem Bericht einer Erkundungsgruppe ging hervor, dass man sie in der Nähe ihrer Heimatenklave gesehen hatte. Reg stellte erleichtert fest, dass sich die Schäden an diesem Ort in Grenzen hielten. Die Netze und Seile boten fast den gleichen Anblick wie bei seinem ersten Besuch. Er lag erst einige Tage zurück, aber eine Ewigkeit schien inzwischen vergangen zu sein.
Bei jener ersten Rückkehr war Melora wie eine Heldin begrüßt worden und jetzt bereiteten glückliche Elaysianer dem Captain und Reg einen ähnlichen Empfang. Picard und Barclay hatten die letzten zehn Stunden damit verbracht, die Heiligen Fragmente ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzubringen. Bei jener Gelegenheit verabschiedeten sie sich von den einzigartigen Völkern der Kristallwelt, nahmen sowohl ihren Shuttle von den dankbaren Yiltern entgegen als auch einige Geschenke.
Jetzt besaßen sie nur noch einen Kristall, den violetten, der einst Zuka Juno gehört hatte. Sie hätten ihn den Jeptah in der Schale überlassen können, aber es erschien ihnen besser, ihn dem einfachen Volk zu geben, jenen Elaysianern, die einen neuen Cheftechniker bestimmen mussten.
Reg ließ den Blick über die Menge der Jubelnden schweifen und hielt vergeblich nach Melora Ausschau. Zum Glück kam der Captain gut mit diplomatischen Aufgaben zurecht – das erleichterte ihnen beiden den Umgang mit den Elaysianern. Zum sechsten Mal erklärte Picard, dass die Enterprise die Kristallwelt verlassen musste. Aber eine Flotte von Hilfsschiffen war unterwegs, um beim Wiederaufbau des Planeten und dem Entfernen der mutierten Kristalle Unterstützung zu gewähren. Die Thoron-Strahlung hatte schon erheblich nachgelassen.
Schließlich entdeckte Barclay in der Menge jemanden, den er kannte, die Frau namens Dupanza, vielleicht Meloras leibliche Mutter – Melora wusste es nicht genau, weil sie bei Hunderten von Vätern und Müttern aufgewachsen war. Er berührte den Captain am Arm und zeigte ihm Dupanza. Als die ältere Frau versuchte, in die Enklave mit ihren vielen Schichten aus Einzelnetzen zu entkommen, beschloss Reg, seine Berühmtheit zu nutzen.
»Dupanza!«, rief er. »Ich muss mit ihr reden! Bitte bringt sie zu mir.«
Niemand konnte dem Helden und Stellvertreter von sechs Cheftechnikern etwas verweigern, und es dauerte nicht lange, bis man Dupanza zu ihm brachte. Sie senkte den Blick und daraus schloss Barclay, dass sie Meloras Aufenthaltsort kannte. Er verlangte nicht sofort Antworten. Stattdessen nahm er den violetten Kristall vom Hals und reichte ihn ihr.
»Hier, bewahren Sie das für Ihr Volk auf, bis zur Wahl eines neuen Cheftechnikers«, sagte er, woraufhin die Menge einmal mehr jubelte.
Die Umstände zwangen Dupanza trotz ihrer Zurückhaltung, den Kristall entgegenzunehmen, worüber sich die Elaysianer sehr freuten. Als Reg Gelegenheit dazu bekam, flüsterte er ihr ins Ohr: »Bitte bringen Sie uns zu Melora. Ich muss sie sprechen und der Captain möchte von ihren Plänen erfahren.«
»Sie hat sich zurückgezogen«, erwiderte Dupanza.
»Wir könnten nach ihr sondieren und sie an Bord des Schiffes beamen«, sagte Captain Picard. »Sie steht noch immer unter meinem Befehl.«
»Oh, na schön«, entgegnete Dupanza resigniert. »Fassen Sie sich an den Händen und folgen Sie mir.«
Dupanza führte die beiden Besucher tiefer in das Gewirr aus Netzen, die Lagerräume und Unterkünfte bildeten. Die anderen Elaysianer spürten offenbar, dass es sich um eine private Angelegenheit handelte, denn niemand folgte ihnen.
Sie fanden Melora an der tiefsten Stelle des Einschnitts, zusammengerollt in einem dunklen Spalt. Als sie Picard und Barclay sah, verließ sie ihr Versteck und flog ihnen widerstrebend entgegen. Reg fand sie noch immer wunderschön, obgleich sie blass war und sehr müde aussah. Jenes feurige Temperament, das er lieben gelernt hatte, war Reue und Kummer gewichen.
Reg streckte ihr die Hände entgegen. »Melora! Wir hatten Erfolg, was wir dir und Commander Troi verdanken!«
»Vielleicht verdankt ihr es Commander Troi«, erwiderte sie niedergeschlagen. Sie griff nicht nach den Händen und Reg ließ sie langsam sinken.
Captain Picard nahm kein Blatt vor den Mund. »Lieutenant Pazlar, Sie stehen noch immer unter meinem Befehl. Warum haben Sie sich nicht zum Dienst zurückgemeldet?«
»Ich kann nicht zurückkehren«, sagte Melora. »Inzwischen wissen Sie sicher, dass ich Tangre Bertoran getötet habe.«
»Es war bestimmt ein Unfall«, meinte Reg.
»Es war kein Unfall, sondern mein Zorn – ich hätte schon vor langer Zeit lernen sollen, ihn unter Kontrolle zu halten.« Sie richtete den Blick ihrer blauen Augen auf Picard. »Ich muss für das büßen, was ich getan habe. Dazu ist es erforderlich, dass ich viele Schattenzeichen lang allein bleibe und nachdenke. Anschließend trifft sich meine Familie mit den Erhabenen, um über mein Schicksal zu beraten. Ich weiß, dass derzeit überall in der Kristallwelt große Freude herrscht, aber ich kann nicht an den Feiern teilnehmen. Ebenso unmöglich ist es für mich, einfach so zum Dienst zurückzukehren, als sei überhaupt nichts geschehen.«
Melora straffte die Schultern und für einige Sekunden sah sie wieder wie die Starfleet-Offizierin aus, die sie zehn Jahre lang gewesen war. »Captain, hiermit bitte ich respektvoll um unbegrenzten Sonderurlaub.«
Picard schürzte die Lippen. »Ich verliere nur ungern einen guten Offizier, und Sie sind ein guter Offizier, aber ich möchte Sie nicht zur Rückkehr zwingen. In meinem offiziellen Bericht werde ich darauf hinweisen, dass Sie hier bleiben, um beim Wiederaufbau Ihrer Heimat zu helfen. Ich hoffe, Ihnen wird irgendwann klar, dass Sie auch noch eine andere Familie als diese haben – und dass wir Sie brauchen.«
Er streckte die Hand aus. »Auf Wiedersehen, Lieutenant Pazlar. Bei Starfleet gibt es immer einen Platz für Sie.«
Meloras Lippen deuteten ein Lächeln an, als sie die dargebotene Hand ergriff. »Danke, Sir. Es war mir ein Vergnügen, an Bord des besten Schiffes der Flotte zu arbeiten.«
»Lieutenant Barclay«, sagte der Captain, »ich lasse Sie für einige Minuten mit Lieutenant Pazlar allein. Aber nehmen Sie sich nicht zu viel Zeit.«
»Nein, Sir«, versprach Reg kummervoll.
Picard zog sich an den Seilen entlang und verließ die schattige Spalte im hintersten Teil der Enklave. Reg konnte sich nicht länger zurückhalten, umarmte Melora und drückte sie vorsichtig an sich. Zuerst widersetzte
sie sich ein wenig, aber dann schlang sie ebenfalls die Arme um ihn. Einige Sekunden lang verharrten sie auf diese Weise, eng umschlungen, wie zwei Ertrinkende mit nur einer Schwimmweste.
»Ich kann nicht ohne dich leben«, sagte Barclay. »Du musst zurückkehren.«
»Ach, Reg, mach es nicht noch schlimmer«, erwiderte Melora traurig und mied seinen Blick. »Wie sollten wir zusammenleben? Und wo? Selbst wenn ich Tangre Bertoran nicht getötet hätte… Ich weiß nicht, ob ich die Kristallwelt jetzt verlassen könnte. Hier gibt es so viel zu tun.«
»Ich beantrage ebenfalls Sonderurlaub«, erklärte Reg. »Ich bleibe hier bei dir und wir…«
Ganz sanft berührte Melora seine Lippen, um den Wortschwall zu unterbrechen. »Und dann lässt du deine Beine ebenso atrophieren wie deinen Geist? Nein, Reg, du bist ein Raumschifftechniker; du brauchst ein Schiff. Lass mich Buße tun, und zwar allein. Dabei muss ich auch herausfinden, was ich mit dem Rest meines Lebens anstellen soll. Ich weiß, dass ich dich vermissen werde, und ich möchte feststellen, ob ich auch Starfleet vermisse.«
Sie versuchte zu lächeln, obgleich Tränen in ihren Augen glänzten. »Wenn wir dazu bestimmt sind, ein Paar zu werden, so ist dies nicht das Ende. Ein Teil von mir wird immer bei dir sein.«
»Ohne dich ist ein Teil von mir tot«, erwiderte Reg.
Melora schob ihn behutsam fort. »Wenn du wieder an Bord der Enterprise bist… Such mein Quartier auf und nimm meinen Spazierstock. Bitte bewahre ihn für mich auf. Dadurch bleibt ein Teil von mir bei dir.«
»Ich werde zurückkehren, um mir den Rest zu holen«, schwor Reg, dem ebenfalls Tränen aus den Augen strömten.
»Darauf zähle ich.« Melora küsste ihn zärtlich auf den Mund und wich fort, bevor Reg sie erneut umarmen konnte. Sie stieß sich von der Kristallwand ab, flog durch die Schatten und verschwand.
Reg hatte sich wieder gefasst, als er die Spalte verließ und zu Captain Picard zurückkehrte. Aber er fühlte sich noch immer benommen, blickte an den funkelnden Kristallen empor, die weit in den Himmel reichten, und staunte darüber, dass er schwerelos zwischen ihnen schwebte.
»Ist dies wirklich die Realität?«, fragte er. »Man könnte es für einen Traum halten.«
»Träume sind real, solange sie andauern«, antwortete Captain Picard und lächelte mitfühlend. Dann klopfte er auf seinen Insignienkommunikator. »Zwei Personen für den Transfer.«
Sie verschwanden in zwei schimmernden Lichtsäulen und ihre tanzenden Moleküle schienen mit dem gebrochenen Licht zu verschmelzen, das durch die riesigen Prismen der Kristallwelt glänzte.