10

Geordi LaForge atmete schwer und musterte die besorgten, furchterfüllten Techniker, die sich um ihn zusammendrängten. Sie befanden sich im Datenlager der Abteilung Stellare Kartographie. Der Raum verfügte über eine spezielle Abschirmung, und zwar wegen der vielen hundert kosmischen Aufzeichnungen auf empfindlichen magnetischen Speichermedien. Die Angehörigen dieser Abteilung hatten einen Teil ihrer Freizeit genutzt, um die Daten auf modernere Speichersysteme zu übertragen.

Geordi war zunächst bestrebt gewesen, einen der Sicherheitsschränke zu erreichen, um seine Leute mit weiteren Waffen auszurüsten. Aber das schien kaum einen Sinn zu haben, da sich mit Phasern nichts gegen die gepanzerten Alpusta ausrichten ließ. Glücklicherweise waren sie zu groß für die Jefferiesröhren, was den Verfolgten eine Atempause gewährte.

Der Chefingenieur wusste nicht, was mit dem Rest der Crew geschehen war. Seine Versuche, einen Kom-Kontakt zur Brücke oder zur Sicherheitsabteilung herzustellen, blieben ohne Erfolg. Er dachte noch einmal an die jüngsten Ereignisse und erinnerte sich daran, dass die Jeptah in der Schale ihre Kraftfelder erweitern wollten, um das ganze Schiff zu umschließen. Ganz offensichtlich hatten sie eine Überraschung vorbereitet: einen elektroprotonischen Schock, der die Bordsysteme der Enterprise lahm legte, darunter auch die künstliche Gravitation. Darüber hinaus schienen die meisten Besatzungsmitglieder das Bewusstsein verloren zu haben. Vielleicht gab es sogar Tote.

Geordi und seine Leute waren aufgrund der Abschirmung des Maschinenraums davongekommen – bis jetzt.

Der Chefingenieur presste zornig die Lippen zusammen. Die Jeptah hatten das Schiff übernommen, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Und was LaForge am meisten ärgerte: Er selbst hatte dem aufgeblasenen Tangre Bertoran alle notwendigen Informationen gegeben. Das große Interesse der Jeptah am Schiff war ihm ein wenig seltsam vorgekommen, doch alle ihre Fragen schienen einen Sinn zu ergeben.

Sein Blick glitt über die Gesichter der acht jungen Techniker: drei Menschen, ein Deltaner, ein Catullaner, ein Ardananer und zwei kleine blauhäutige Bynare. Sie alle schwebten im Datenlager, umgeben von ebenfalls schwebenden kleinen Behältern und Filmrollen. Geordi schob einige Behälter beiseite, um alle Mitglieder seiner Gruppe sehen zu können.

»Es tut mir Leid, dass ich Sie in diese Situation gebracht habe«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie viele andere Besatzungsmitglieder noch frei sind, aber es dürften nicht sehr viele sein.«

Entschlossen schob er das Kinn vor. »Wir müssen davon ausgehen, dass wir auf uns allein gestellt sind. Wir können also nicht auf Hilfe hoffen, wenn wir versuchen, das Schiff zurückzuerobern.«

Diese kühnen Worte weckten bei den Zuhörern noch mehr Sorge. Na klar, dachte er. Ganze Horden von Nichthumanoiden befinden sich an Bord und neun schlecht bewaffnete Techniker wollen irgendwie den Sieg über sie erringen.

Geordi schob erneut einen Behälter beiseite und verfluchte die Schwerelosigkeit. Dann plötzlich erhellte sich seine Miene und er riss die künstlichen Augen auf, als er nach dem Behälter griff und ihn küsste.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?«, fragte Olswing besorgt.

»Ja!«, erwiderte LaForge und strahlte. »Ich weiß, wie wir unsere Gegner aufhalten und regelrecht festnageln können: mit Gravitation! Ich habe Elaysianer bei Schwerkraft beobachtet – sie waren praktisch hilflos. Bestimmt gilt das auch für die Alpusta und die anderen.«

Die jungen Techniker wechselten Blicke, die so etwas wie zaghafte Hoffnung zum Ausdruck brachten.

Es klang nicht nach einer sehr gefährlichen Waffe, aber Geordi wusste, dass sie bei diesem besonderen Feind sehr wirkungsvoll sein würde. Er rieb sich das Kinn, als er über das Problem nachdachte. »Na schön, wir wissen, dass die Eindringlinge alle Bordsysteme neutralisiert und dann nur die reaktiviert haben, die sie brauchen. Die künstliche Gravitation ließen sie deaktiviert. Überall an Bord befinden sich Hunderte von Gravitationsgeneratoren in den Decks. Unsere Gegner haben nicht damit begonnen, sie zu demontieren – sie existieren also nach wie vor.«

LaForge legte eine kurze Pause ein und fuhr dann fort: »Die Fremden brauchten nur den Gravitonstrom zu unterbrechen, vermutlich indem sie auf eine Reaktivierung der Trägheitsabsorber verzichteten. Die sind derzeit auch gar nicht nötig, weil die Enterprise bewegungslos neben der Schale schwebt. Andererseits: Alle diese Systeme sind miteinander verbunden. Wenn wir die Abzweigungsmodule des Elektroplasmasystems erreichen und überladen, so führt die Überladung im Subraumfelddifferential zu einem erhöhten energetischen Niveau bei den Strukturintegritätsfeldern – was ganz automatisch eine Reaktivierung der Trägheitsabsorber bewirkt! Das sollte den Gravitonstrom wieder in Gang setzen.«

Die beiden Bynare gestikulierten aufgeregt. »Vielleicht gibt es…«, begann der eine.

»Eine einfachere Methode«, fuhr der andere fort. »Wir haben mobile Gravitationsgeneratoren…«

»Bestimmt für die Experimente, die wir nicht durchführen konnten. Damit können wir…«

»Lokale Schwerkraftfelder erzeugen.«

»Großartig!« LaForge lächelte grimmig. »Mobile Waffen. Ich frage das nicht gern, aber… Wo haben wir den Graviton-Kram für die Experimente gelassen?«

»Im Frachtraum…«

»Sechzehn.« Die beiden Bynare sahen sich an und lächelten zufrieden.

»Wenn wir diesen Ort verlassen, sind die Eindringlinge imstande, uns mit den Sensoren zu lokalisieren«, sagte LaForge.

»Wir müssen also schnell sein. Die Sache könnte sehr gefährlich werden. Kann ich auf Ihre Unterstützung zählen?«

»Ja, Sir!«, riefen die Techniker. »Lassen Sie uns aufbrechen!«

Geordi zwinkerte seinen Leuten zu. »Der Gegner wird vor uns auf dem Boden kriechen und um Gnade winseln.«

Deanna Troi schlief ungewöhnlich gut, während sie unter den Landekufen des Shuttles schwebte. Eine warme vertikale Luftströmung erzeugte eine kühle Brise und dieser Wind hatte die meisten dunklen Klumpen aus dem verseuchten Mark des Kristalls fortgetragen. Einen ähnlichen reinigenden Vorgang, so wusste Deanna, bewirkte die Liebe. Deshalb hatte sie dafür gesorgt, dass zwei Personen allein sein und die Probleme der Kristallwelt vorübergehend vergessen konnten.

Sie schlief selig, zufrieden über ihre gute Tat. Zuerst ergaben ihre Träume keinen Sinn: im Wald laufende Tiere, sie verfolgende Jäger. Die Geschöpfe wurden nicht getötet, gerieten auch nicht in Gefangenschaft – sie sprangen von einer hohen Klippe, stürzten sich in ein wogendes purpurnes Meer. So beunruhigend diese Bilder auch sein mochten: Sie genügten nicht, um Deanna aufwachen zu lassen. Sie erkannte keinen Zusammenhang zwischen jenen Visionen und ihr selbst, hatte das Gefühl, einen Holoroman zu sehen, der andere Leute betraf.

Schließlich war sie in dem Meer ganz allein, ohne Klippe und Tiere. Sie spürte, dass es sich um ihren Ozean handelte, in dem sie seit dem ersten Kontakt mit den Lipuls wohnte. Wie seltsam, fand sie, dass ein Traum realer werden konnte als die von ihm verdrängte Realität, insbesondere ein Traum, der sich mehrfach wiederholte. Es fühlte sich angenehm an, in dem Meer zu schwimmen, aber nicht sicher… Nein, Sicherheit bot dieser Ort nicht.

In diesem Traum erinnerte sie sich daran, dass sie etwas suchte – einen Kristall. Sie sah ihn, an der Halskette eines freundlichen Mannes, dessen Gesicht das violette Wasser des Traums füllte.

Sein Kristall war ebenfalls violett und das empfand sie als falsch – es konnte nicht ihr Kristall sein, nicht der, nach dem sie suchte.

Plötzlich gewann sie den Eindruck, dass der freundliche weißhaarige Mann gar nicht freundlich war, sondern böse, oder vom Bösen übernommen. Seine besonders deutlichen V-förmigen Stirnhöcker markierten ihn als Opfer, und Deanna schlüpfte nun in die Rolle des Jägers. Sie geduldete sich, wartete darauf, ihn allein erwischen zu können. Wenn er überlebte, würde er sie verraten. Sie wusste nicht, weshalb sie so sicher sein konnte, aber es bestand kein Zweifel daran – Träume logen nicht.

Sie wartete also, bis das Opfer allein war. Er hatte bereits Verrat geübt, seinen violetten Kristall jemand anders überlassen. Er war noch schlimmer als die Froschwesen, die in Schlamm und Schmutz lebten. Deanna kannte einen geheimen Zugang zum Programmierzentrum, einen Gel-Strom, extra für sie geschaffen.

Sie sah ihn durch den trüben Kristall und das zitternde Gel. Als er die Hand nach der kleinen Schublade ausstreckte und sie öffnete, durchstieß sie den Kristall und klatschte ihm ins Gesicht, hielt sich dort mit Saugnäpfen und Tentakeln fest. Er zuckte wie ein gejagtes Tier, das sich dem Tod nahe fühlte, aber sie klammerte sich an ihm fest, saugte ihm die Luft aus den Lungen. Welch empfindliche Geschöpfe, diese Luftatmer.

Sein Kampf dauerte nicht lange. Schon nach kurzer Zeit erschlaffte er und schwebte reglos. Seine weit aufgerissenen Augen starrten, sahen aber nichts mehr. Um zu entkommen, musste Deanna durch die Luft schwimmen, was ihr nicht leicht fiel. Ihr Leib pulsierte und pumpte dabei wie ein Blasebalg. Zum Glück war es nicht weit bis zum Schlitz in der Wand. Sie schloss die Schublade hinter sich und glitt fort im langsam fließenden Gel.

Jetzt musste sie sich beeilen, um nicht ebenfalls zu einem Opfer zu werden. Die Außenweltler wussten über gewisse Dinge Bescheid und der Verborgene wusste alles… Sie würden sie jagen.

An diesem Punkt des fremden Erlebens begriff die Träumende, dass sie verrückt war. Es gab keine andere Erklärung für die Auslöschung eines Lebens – etwas so Barbarisches kam nur für die Frills in Frage. Verzweifelt und voller Kummer nahm Deanna ihren Kristall mit in den Gel-Strom, spürte dabei das Gewicht der Zeit. Ihr Bewusstsein war manipuliert, ebenso wie die Programmierung der Schale.

Nach unten schwamm sie, immer weiter nach unten, durch die alten Flüsse und Ströme, deren Fluten sich einst über ihre Welt ergossen hatten. Sie glaubte noch immer, ihre Strömung zu spüren. Ich habe zu lange gelebt. Meine Welt hat zu lange gelebt. Der Verborgene ist gekommen, um die Schulden einzutreiben, die wir nie bezahlt haben.

Die Träumende erzitterte angesichts der letzten Erkenntnis. Vielleicht hätte dies alles vermieden werden können, aber jetzt war es zu spät.

Müde und voller Schwermut schwamm sie in ihr uraltes Heim, doch es hatte sich verändert – der Verborgene war präsent, zerstörte, übte Rache. Sie schickte den Kristall in das Fach, das die anderen für die Wartung des Nährstrangs angelegt hatten. Sie wollte das Heilige Fragment nicht entweihen, indem sie mit ihm starb. Und sterben musste sie nun, bevor sie weiteren Verrat an ihrer Welt übte.

Und träumen. Sie musste noch einmal träumen, um einen Kontakt mit jenen herzustellen, über die sie zu schnell geurteilt hatte. Ihretwegen war der Verborgene erschrocken und aktiv geworden. Aber inzwischen hatten sich ihre Selbstsphären so eng umschlungen, dass sie sich nicht mehr gegen die Dunkelheit wehren konnte. Sie hatte ihren Verstand verloren, geopfert.

Deanna spürte, wie ihr warme Tränen aus den Augen quollen und an den Wimpern hafteten, da sie nicht fallen konnten. Sie weinte, denn ihr wurde klar: Sie waren zu spät gekommen, um den Träumer zu retten. Vielleicht war es sogar für die ganze Kristallwelt zu spät. Doch jetzt legte der Träumende Täuschung und Leugnen ab, schickte sich an, die Konsequenzen zu akzeptieren.

Das verzweifelte Geschöpf wartete nicht einfach auf den Tod, sondern glitt dem grässlichen schwarzen Miasma entgegen. Als es sich der Dunkelheit hingab, träumte es vom längst nicht mehr existierenden Meer.

Deanna weinte noch immer, als sie erwachte und den Helm des Schutzanzugs abnahm. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, wandte sich dann dem Shuttle zu und klopfte auf ihren Insignienkommunikator.

»Troi an Barclay.«

»Ja, Commander?«, erklang eine schläfrige Stimme.

»Öffnen Sie die Luke«, wies Deanna den Lieutenant an. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wo der Lipul den Kristall zurückgelassen hat.«

»Einen Augenblick.«

Deanna hörte, wie es im Shuttle mehrmals dumpf pochte, und dann öffnete Reg die Luke. Er trug wieder seinen Schutzanzug und Melora ihr weites elaysianisches Gewand.

»Hatten Sie einen Traum?«, fragte Melora.

»Es war mehr eine Art Beichte.« Troi zog sich ins kleine Raumschiff und deutete auf den Stasisbehälter. »Ich glaube, der tote Lipul hat die Programmierung der Schale manipuliert und Zuka Juno ermordet.«

Melora wirkte zuerst schockiert und dann verärgert. »Das ist unmöglich.«

»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Deanna ruhig. »Er hatte Zugang zum Programm und zum Programmierzentrum, als sich Zuka Juno dort allein befand. Er hielt sich in der Schale auf, als Juno starb. Ich glaube, Tangre Bertoran hat uns belogen.«

Melora befeuchtete sich nervös die Lippen und Troi ahnte etwas. »Sie haben von seiner Lüge gewusst, nicht wahr?«

Daraufhin wirkte Barclay schockiert. »C-counselor Troi! Melora würde nie…«

»Schon gut, Reg. Sie wissen nicht, was hier hier vorgeht. Ich glaube, das wissen nicht einmal die Elaysianer.« Mit geröteten Augen sah Troi ins Sonnenlicht. »Das Problem in Hinsicht auf den Dimensionsriss beschränkt sich nicht nur auf dunkle Materie und Thoron-Strahlung. Es gibt eine Intelligenz auf der anderen Seite – und eine alte Rechnung, die es zu begleichen gilt. Wenn ich in Bezug auf den Kristall Recht habe, dann stimmt vielleicht auch alles andere.«

Deanna sah Pazlar an. »Bringen Sie uns dorthin, wo der Nährstrang den Kristall berührt. Dort sollte es ein kleines Wartungsfach geben.«

»Ja, Ma’am.« Melora zog sich in den Pilotensessel und wirkte dabei benommen – sie schien alles in Frage zu stellen, an das sie bisher geglaubt hatte.

Troi hingegen fühlte sich so zuversichtlich und entspannt wie seit Tagen nicht mehr – seit dem ersten Angriff auf ihr Selbst. Darüber hinaus gewann sie den Eindruck, wieder Gefühle wahrnehmen zu können. Jedenfalls hatte sie Pazlars Gesichtsausdruck ebenso leicht zu deuten gewusst wie die Anzeigen eines Computerschirms. Aber ihr Ich gehörte noch immer nicht ihr allein; es war noch zu früh, Anspruch auf den Sieg zu erheben.

Kurze Zeit später hielt der Shuttle neben der verwitterten Spitze des eisblauen Prismas an und Deanna flog als Erste durch die Luke nach draußen. Melora schloss rasch zu ihr auf und gemeinsam erreichten sie die Stelle, an der der Nährstrang in den Kristall führte. Er bestand zum einen Teil aus organischen Substanzen und zum anderen aus Drahtbündeln, die aussahen wie Kupfer mit einer Schicht aus Grünspan. Deanna hielt nach dem kleinen Wartungsfach Ausschau, das dazu diente, den Verbindungsbereich zu reinigen.

Als sie es fand, juchzte sie voller Freude und daraufhin bedachte Melora sie mit einem durchdringenden Blick. Die Elaysianerin schien ein Ungeheuer zu sehen, das sie selbst erschaffen hatte und nun zu entsetzlichem Leben erwachte.

»Sie haben die Lipuls aufgefordert, eine Verbindung mit mir herzustellen«, sagte Troi. »Jetzt gehört mein Geist nicht mehr allein mir.«

Melora senkte den Kopf. »Es tut mir Leid.«

Reg gesellte sich zu ihnen und zappelte nervös, als er hinter Deanna schwebte.

»Möchten Sie das Fach öffnen?«, fragte Troi.

»D-das überlasse ich Ihnen«, erwiderte Barclay und tastete nach den Kristallen an seinem Hals.

Die metallene Schublade wies Schriftzeichen auf, deren Bedeutung Troi nicht kannte, aber sie wusste: Es war ihr bestimmt, sie zu öffnen. Entschlossen streckte sie die Hand nach dem ringförmigen Griff aus und zog die Schublade auf, wobei ein leises, kratzendes Geräusch ertönte. Ein Kristall schwebte aus der Öffnung, etwa zwanzig Zentimeter lang und so klar wie ein Diamant. Einige Sekunden lang drehte er sich in der Luft und dann griff Deanna nach der weißen Schnur, an der er befestigt war.

»Er gehört Ihnen«, sagte Melora heiser. »Sie sind jetzt der stellvertretende Cheftechniker der Lipuls.«

Als Troi nicht schnell genug reagierte, legte ihr die Elaysianerin die Schnur um den Hals. Deanna ließ den weißen Kristall los und er schwebte wie eine Feder in der warmen Brise.

»Jetzt brauchen wir nur noch einen«, sagte Reg.

Melora ließ den Kopf hängen. »Sie werden auf keinen Fall eine Deaktivierung der Schale zulassen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Troi.

Bevor Melora antworten konnte, hörten sie ein sonderbares Summen, wie von tausend Kolibris. Melora breitete die Arme aus und fing mit ihrem weiten Gewand genug Wind ein, um die Spitze des blauen Prismas zu erreichen, etwa zwanzig Meter über dem Shuttle. Mit großen Augen spähte die Elaysianerin in die Ferne auf der anderen Seite des massiven Kristalls.

»Was ist los?«, fragte Troi. Sie wusste um den Wert des Kristalls, den sie am Hals trug, stieß sich vom Prisma ab und glitt zum Shuttle.

Melora reckte den Hals und blickte nach oben, als sich der Himmel plötzlich mit Hunderten von Frills füllte, die in Gelb gekleidete Elaysianer hinter sich her zogen. Ihre hauchzarten Schwingen schlugen synchron und erzeugten einen Wind, der Deannas Haar nach hinten blies. Die großen aalartigen Wesen trugen eine Art Zaumzeug, an dessen Leinen sich die Elaysianer festhielten.

Einer von ihnen winkte Melora zu. »Unsere Tochter, du hast uns gute Dienste geleistet! Sag den Außenweltlern, dass sie sich ergeben sollen. Dann geschieht ihnen nichts.«

»Wir sollen uns ergeben?«, wiederholte Reg empört.

»Ich bin der stellvertretende Cheftechniker der Elaysianer! Sag es ihnen, Melora!«

Deanna war dem Shuttle jetzt nahe genug, um durch die Luke an Bord zu schweben, bevor die Frills sie erreichen konnten. Aber Barclay war ein Problem. Melora war ebenfalls zu weit entfernt, um gerettet zu werden – falls sie überhaupt gerettet werden wollte. Eines stand fest: Es ging den Neuankömmlingen nicht darum, einen freundlichen Gruß zu übermitteln.

»Melora!«, rief Reg und es klang nach verletzter Liebe.

Sie wandte sich ihm tränenüberströmt zu. »Es tut mir Leid, Reg!«

Troi nutzte diese Ablenkung, um in den Shuttle zu schweben und die Luke hinter sich zu schließen. Sie versuchte, das Entsetzen in Barclays Gesicht zu ignorieren, als er sich im Stich gelassen fühlte, zog sich über die Sessel hinweg und glitt zum Transporter im Heck des kleinen Raumschiffes.

Als sie aus dem Fenster blickte, bemerkte sie einen Frill, der wie eine Schlange um den Shuttle sauste, die Schwingen ausbreitete und geradewegs zu Reg flog. Deanna richtete den Transferfokus auf die Signale seines Insignienkommunikators und gab sofort Energie – jede Sekunde zählte. Das Maul mit den spitzen Zähnen kam schnell näher und Reg duckte sich, hob wie abwehrend die Hände. Dann verschwand er in einer Wolke aus schimmerndem Licht, und der heranrasende Frill schnappte nach leerer Luft.

Barclay rematerialisierte über der Transporterplattform und bebte am ganzen Leib. Deanna zog sich über die Rückenlehnen der Sitze hinweg bis zum Pilotensessel. »Ich reaktiviere die künstliche Gravitation! Bereiten Sie sich darauf vor!«

Reg prallte auf die Transporterplattform und schlug die Hände vors Gesicht. »Melora!«, brachte er hervor. »Wir müssen sie zurückholen!«

»Unmöglich, sie ist weg.« Das stimmte: Von der Elaysianerin sowie den Jeptah und Frills fehlte jede Spur – sie waren mit der gleichen Plötzlichkeit verschwunden, mit der sie sich zuvor über dem Prisma gezeigt hatten. Troi vermutete, dass sie sich hinter dem großen blauen Kristall befanden.

»Wo sind sie?«, fragte Reg.

Deanna schüttelte den Kopf. »Vielleicht glauben sie, wir hätten Waffen an Bord des Shuttles. Ich würde uns von hier fort bringen, aber der Captain ist zu uns unterwegs. Wir müssen ihn warnen.«

»Das Peilsignal«, sagte Reg. »Vermutlich haben sie uns dadurch gefunden. Bestimmt war es nicht ihre Schuld. Sie würde uns nicht verraten.«

Deanna sah zu Barclay, der niedergeschlagen die Schultern hängen ließ und wie der personifizierte Kummer wirkte. Mitleid regte sich in ihr. »Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber eins ist mir klar: Melora wusste etwas und sagte uns nichts. Wenn sie sich auf die Seite der Jeptah geschlagen hat…«

»Nein, ausgeschlossen!«, entfuhr es Reg. »Ich weiß, dass das nicht der Fall ist.«

Deanna schüttelte erneut den Kopf und erinnerte sich daran, dass die Jeptah Melora gedankt hatten. »Wenn wir einen Kom- Kontakt mit dem Schiff herstellen… Vielleicht finden wir dann heraus, was los ist.«

»Bestimmt steckt ein Missverständnis dahinter«, murmelte Reg und tastete nervös nach seinen Kristallen.

Troi wandte ihre Aufmerksamkeit von Barclays bloßliegenden Gefühlen ab und konzentrierte sich auf die Pflicht. »Einsatzgruppe Zwei an Enterprise«, sagte sie, nachdem sie das Kom-System des Shuttles aktiviert hatte. »Einsatzgruppe Zwei an Enterprise. Troi an Brücke. Bitte melden Sie sich!«

Reg stand auf, wankte näher und nahm im Sessel des Kopiloten Platz. Seine geröteten Augen blickten besorgt. »Das ist seltsam.«

»Ja«, pflichtete ihm Deanna bei. Sie klopfte auf ihren Insignienkommunikator. »Troi an Picard.«

»Hier Picard«, meldete sich der Captain atemlos. Das Zischen des Winds übertönte seine Stimme fast.

»Wir haben den Kristall des Lipuls, Sir, aber irgendetwas geht nicht mit rechten Dingen zu. Eine Gruppe von Jeptah versuchte, uns gefangen zu nehmen.«

»Und Sie können keinen Kom-Kontakt mit der Enterprise herstellen.«

»Das stimmt.«

»Wir werden von Alpusta verfolgt«, sagte Picard. »Derzeit stellen sie keine unmittelbare Gefahr dar. Sind Sie in Sicherheit?«

»Nein. Ich glaube, die Jeptah warten in der Nähe, um festzustellen, was wir unternehmen. Und noch etwas, Captain. Wir haben unsere Pilotin verloren.«

Deanna bemerkte Regs flehentlichen Blick. Mit stummen Gesten bat er sie, für Melora zu lügen.

»Sie geriet in Gefangenschaft«, sagte Troi und fühlte einen Knoten in der Magengrube. »Mir ist nicht wohl dabei, den Shuttle durch die Labyrinthe der Kristallwelt zu fliegen.«

»Bleiben Sie, wo Sie sind, solange die Umstände Sie nicht zwingen, einen anderen Ort aufzusuchen«, wies der Captain die Counselor an. »Wir lassen unseren Kurs noch immer von Ihrem Peilsignal bestimmen. Wenn wir einen visuellen Kontakt hergestellt haben, können wir versuchen, die Verfolger ganz abzuschütteln. Picard Ende.«

Troi lehnte sich zurück und schauderte. Zwar befand sie sich an Bord eines Shuttles, der Schutz gewährte, und helles Sonnenlicht fiel durch die Fenster, aber trotzdem fröstelte sie. Nicht nur die eigene Situation erfüllte sie mit Unruhe – sie dachte dabei auch an die Crew der Enterprise. Hatten sich ihre Gastgeber, die Bewohner der Kristallwelt, gegen sie gewandt? Und warum?

Deanna wusste, dass es keinen Grund geben musste, wenn Leute in Panik gerieten. Außerdem wusste sie, dass sich dort draußen Kräfte auswirkten, die niemand von ihnen verstehen und erst recht nicht kontrollieren konnte.

»Danke«, hauchte Reg neben ihr.

Er dankte ihr nicht nur dafür, dass sie für Melora gelogen hatte, sondern auch für die Rettung in letzter Sekunde – und dafür, dass sie das Kommando führte, ihm dadurch Verantwortung abnahm.

»Danken Sie mir erst, wenn wir dies alles überstanden haben«, erwiderte Deanna.

»Was machen wir jetzt?«

»Wir warten.« Troi blickte aus dem Fenster, in den ewigen Sonnenschein, der durch den großen blauen Kristall glitzerte. Die Kristallwelt erschien so fröhlich und surreal wie immer, doch diese Atmosphäre der Unwirklichkeit war nicht mehr so reizvoll wie zuvor.

Etwas Böses lauerte unter der Oberfläche, wuchs und wurde stärker, um sie alle zu verschlingen.