9

Reg Barclay drehte sich schwerfällig in seinem Schutzanzug und stellte fest, dass er riskierte, in einem Loch im eisblauen Kristall stecken zu bleiben. Verdammt! Gerade als er damit begonnen hatte, sich einigermaßen elegant in der Schwerelosigkeit zu bewegen, bekamen sie es mit intensiver Thoron-Strahlung zu tun! Sie stellte ein erhebliches Problem dar, seit Melora mit einem Phaser dafür gesorgt hatte, dass der alte Kristall aufplatzte. Überall um sie herum schwebten Klumpen aus mutierten Kristallen, die das Mark des Prismas vergiftet hatten, und davon ging die Strahlung aus.

Kummervoll blickte Reg zu Melora Pazlar, die einsam und allein unter den Landekufen des Shuttles schwebte. Troi hatte sie vom Dienst suspendiert, und nicht ohne Grund. Durch das überstürzte Handeln der Elaysianerin waren ihre Gefährten und die ganze Mission in Gefahr geraten. Doch das änderte nichts daran, dass Reg Melora liebte. Wenn sie Schwäche zeigte, war er stark, und umgekehrt. Allerdings mangelte es ihnen beiden an Geschick im Umgang mit anderen Personen. Normalerweise war Deanna Troi die Freundlichkeit selbst. Wer mit ihr nicht zurechtkam, hatte echte Probleme.

»Kommen Sie, Barclay!«, ertönte Trois Stimme aus dem Helmlautsprecher. »Zurück an die Arbeit!«

»J-ja, Commander«, stotterte er. »Ich m-meine… n-nein, Sir!«

»Was soll das heißen?«

»Äh… bitte um Erlaubnis, offen sprechen zu dürfen.«

Mühevoll schob sich Reg aus dem Loch und blickte anschließend ins Prisma, wo Troi bereits mit der Suche begonnen hatte. Er bemerkte ihren weißen Schutzanzug inmitten der abscheulichen dunklen Massen. »Lassen Sie uns miteinander reden, Commander.«

Sie drehte sich in der Schwerelosigkeit, umgeben von Luft und Gel, den Resten des Marks. Melora hatte dem Prisma den Todesstoß versetzt, aber es wäre ohnehin gestorben und ein Opfer der ›Krankheit‹ geworden, die dunkle Kristalle wachsen ließ. Reg fühlte sich an einen Kandelaber-Kaktus erinnert, den er einmal in Arizona gesehen hatte: Schwarze Flecken wiesen auf eine Trockenfäule hin, die ihn von innen her zerfraß. Wie ein engelhafter Vogel glitt Deanna Troi durch den verrottenden Kadaver eines einst stolzen Giganten.

»Ich höre«, sagte die Counselor resigniert.

»Ich weiß, dass ich nicht ganz unvoreingenommen bin«, ließ sich Reg vernehmen, »aber dies sind besondere Umstände. Im Gegensatz zu Melora stammen wir nicht von der Kristallwelt; sie fühlt sich viel stärker als wir von den Dingen berührt, die hier geschehen. Commander Troi, ich habe gehört, dass Sie… nun, dass Sie ein Problem hatten… Sie wissen schon…«

»Ich bin vorübergehend übergeschnappt«, sagte Troi gerade heraus. »Captain Picard hat mir eine Chance gegeben und deshalb glauben Sie, dass ich auch Melora eine Chance geben sollte.«

Reg nickte mit Nachdruck. »Darum wollte ich Sie bitten!«

Die ferne weiße Gestalt gestikulierte mit den Armen. »Reg, Sie lieben Melora! Sie wissen überhaupt nicht, wovon Sie reden.«

»Ja, ich liebe sie«, gestand Barclay. »Aber ich weiß auch: Zwei Personen brauchen mehr Zeit als drei, um das Prisma zu durchsuchen. Und ich weiß, dass wir beide nicht in der Lage sind, den Shuttle sicher durch die Kristalllabyrinthe dieses Planeten zu fliegen.«

Troi ließ die Arme sinken. »Der Captain und Data sind hierher unterwegs.«

»Aber sie treffen erst in einigen Stunden hier ein. Und wenn sie hier sind… Was wollen Sie ihnen dann sagen? Wir hätten ohnehin ein Loch ins Prisma bohren müssen. Melora hat uns mehrere Stunden Arbeit erspart! Wir suchen nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.«

»Na schön.« Troi seufzte. »Wir treffen uns beim Shuttle.«

Reg atmete erleichtert aus, was im Helm noch lauter klang als sonst. Eine Hürde ist genommen, jetzt kommt Melora an die Reihe.

Fünf Minuten später befanden sie sich wieder beim Shuttle und Troi forderte Melora mit einem Wink auf, durch die Luke zu fliegen. Im Innern des kleinen Raumschiffs nahmen Barclay und die Counselor ihre Helme ab. Vom Pilotensessel aus richtete Melora einen verdrießlichen Blick auf sie.

Reg hob die Hand. »Wenn ich zuerst etwas sagen dürfte, Commander Troi…«

»Meinetwegen«, erwiderte sie.

Der schlaksige Lieutenant holte tief Luft. »Sie beide sind der Grund, warum wir hier sind. Wenn Sie nicht jene Träume gehabt hätten, wäre die Enterprise irgendwo unterwegs und damit beschäftigt, einige wissenschaftliche Experimente durchzuführen. Jetzt sind wir hier und versuchen, diesen Planeten zu retten, wobei wir uns keine Fehler leisten dürfen.«

Reg wandte sich an Melora und richtete den Zeigefinger auf sie. »Du musst uns vertrauen! Die Crew der Enterprise besteht aus sehr kompetenten Personen und wir sind bereit, uns für deinen Planeten zu opfern. Die Jeptah stehen dieser Sache viel zu nahe, um es ohne unsere Hilfe zu schaffen. Glaub mir, Melora, ich würde dich nie belügen. Wir können deinen Heimatplaneten retten, wenn du uns Gelegenheit dazu gibst.«

Die Elaysianerin senkte den Blick, doch ihr Schweigen dauerte an.

Reg deutete zum Prisma. »Als die… die Dunkelheit diese Welt infizierte… Die Lipuls wussten, dass nur von Starfleet Rettung kommen kann. Aber wie dem auch sei – Sie beide sind der Schlüssel zu der ganzen Sache.«

Deanna nickte langsam und Melora starrte auf ihre Füße. Reg winkte und forderte sie beide auf, miteinander zu sprechen.

»Eigentlich weiß ich gar nicht, was über mich gekommen ist«, sagte die Elaysianerin schließlich. »Ich hatte plötzlich die absolute Gewissheit, den Kristall aufbrechen und den Lipul befreien zu müssen, obgleich er bereits tot war. Ich bitte um Entschuldigung, Commander.«

»Glauben Sie, solche Reaktionen in Zukunft kontrollieren zu können?«, erwiderte Troi.

»Diese Frage kann ich nicht mit einem uneingeschränkten Ja beantworten.« Melora rang die Hände. »Ich bin zutiefst beunruhigt. Meine Heimatwelt löst sich um mich herum auf und ich weiß nicht, wem ich glauben soll.« Sie bedachte Barclay mit einem liebevollen Lächeln. »Ich weiß, dass ich Reg vertrauen kann, aber die anderen kenne ich kaum. Um ganz ehrlich zu sein: Derzeit sind mir selbst die Angehörigen meines eigenen Volkes fremd.«

Deanna seufzte. »Das ist zwar nicht gerade das feierliche Versprechen, das ich mir erhofft habe, aber ich gebe mich damit zufrieden. Na schön, Pazlar, Sie sind wieder im Dienst und ich vergesse Ihre Rolle bei dem Zwischenfall. Aber eine dritte Chance bekommen Sie nicht.«

»Verstanden, Commander.«

Barclay klatschte in die Hände. »Jetzt brauchen wir nur noch wie ein Lipul zu denken.«

»Wie meinst du das?«, fragte Melora.

Reg zeigte erst auf den verwitterten blauen Monolithen und dann auf den Stasisbehälter zu seinen Füßen. »Dieser Lipul hat uns bei der ersten Begegnung aufgefordert, die Schale zu deaktivieren, ungeachtet der Konsequenzen. Er versteckte sich nicht etwa vor uns. Er kam hierher, um sich vor etwas anderem zu verstecken – vor etwas, das ihn schließlich erwischte. Er hatte nicht den geringsten Grund, den Kristall vor uns zu verbergen. Ganz im Gegenteil: Er muss gewollt haben, dass wir ihn finden.«

»Glauben Sie, er hat uns einen Hinweis hinterlassen?«, fragte Troi.

»Vielleicht. Aber auf welche Weise hinterlässt ein Lipul Hinweise?«

»Durch einen Traum«, antwortete Melora leise. »Ich glaube, wir sollten schlafen.« Die Elaysianerin drehte den Kopf und sah Deanna Troi an.

»Ein Traum, der über den Tod hinausgeht?«, fragte Reg skeptisch.

»So wahren die Lipuls ihre Geschichte«, begriff Deanna plötzlich. »Sie geben Träume weiter und hüten sie. Die einzelnen Geschöpfe sterben irgendwann, nicht aber ihre Träume.«

Während Reg noch darüber nachdachte, glitt Troi zur Luke. »Sie beide schlafen hier drin und ich draußen.«

Barclay starrte sie mit offenem Mund an und spürte, wie Melora sich ihm ein wenig näherte. »Aber, Commander…«, begann er.

Deanna zwinkerte ihnen beiden zu. »Nutzen Sie die gute Gelegenheit – vielleicht ist es Ihre einzige Chance, allein zu sein. Das ist ein Befehl.«

»Danke, Commander«, sagte Melora und es kam von Herzen.

»Träumen Sie schön.« Troi schwebte nach draußen und schloss die Luke hinter sich.

Wenige Sekunden später hielt Reg Melora in den Armen, und sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Zwar spürte er ihren warmen, zitternden Körper, aber sie blieb schwerelos. Dadurch hatte er fast das Gefühl, ein Trugbild zu umarmen, einen… Traum. Er fürchtete plötzlich, dass seine gegenwärtigen Erlebnisse überhaupt nicht real waren. Was ist, wenn ich gleich aufwache und feststelle, dass ich geträumt habe?

Meloras Lippen räumten Regs Zweifel aus. Sie schmiegten sich aneinander, schienen eins zu werden, während ihre Körper im Kokon des Shuttles schwebten.

Will Riker holte mühsam und schmerzerfüllt Luft, hatte dabei das Gefühl, aus den Tiefen eines Meeres zur Oberfläche aufzusteigen. Vermutlich trug er ein Atemgerät, denn andernfalls hätte er gar nicht atmen können. Allerdings: An den Beginn des Tauchgangs erinnerte er sich nicht. Er erinnerte sich an kaum etwas. Nur die unmittelbare Gegenwart existierte, das schwerelose Schwimmen, die bohrenden Kopfschmerzen, Schlieren vor den Augen. Er fühlte sich so mies, dass er für einige Sekunden in Panik geriet und befürchtete, an der Taucherkrankheit zu leiden. In seinem Körper schienen sich Blasen zu befinden, die in der falschen Richtung unterwegs waren und sein Blut vergifteten!

Er unterbrach den Aufstieg zur Oberfläche, versuchte stattdessen, die gegenwärtige Position zu halten. Wenn ich an der Taucherkrankheit leide, bin ich in jedem Fall so gut wie tot, dachte Riker. Er fühlte sich wie tot – benebelt, betäubt, begraben. Wenn doch nur nicht die starken Kopfschmerzen gewesen wären – dann hätte er sich vielleicht daran erinnert, warum er sich hier befand, wo auch immer das sein mochte. Bin ich unter Wasser ohnmächtig geworden?

Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber die Lider fühlten sich unglaublich dick und schwer an. Der Druck des Wassers schien sie gegen die Augäpfel zu pressen. Er schwamm auf der Stelle, atmete unregelmäßig und trachtete danach, dem Pochen zwischen seinen Schläfen keine Beachtung zu schenken. Riker war sicher, unter Wasser zu sein, denn er bemerkte maritime Wesen: ein großes, krabbenartiges Geschöpf mit langen, dünnen Beinen und eine Art Muräne. Sie schwammen falsch herum.

Allmählich lösten sich die Schlieren auf und das Bild wurde deutlicher, gleichzeitig aber auch bizarrer. Er befand sich unter Wasser in einem Schiffswrack… im Wrack eines Raumschiffs! Es sah nach der Brücke aus… auf dem Kopf stehend und von Fischen bevölkert, aber eindeutig die Brücke. Die Konsolen mit den blinkenden Anzeigen und Bildschirmen wirkten vertraut.

Riker zuckte zusammen, als er begriff, dass er im versunkenen Wrack der Enterprise schwamm!

Was war geschehen? Er suchte in allen Winkeln und Ecken seines Gedächtnisses, fand aber keine Erinnerungen an einen Absturz. Erste Bilder zeichneten sich vor seinem inneren Auge ab… Er entsann sich daran, dass die Enterprise nicht einmal in der Nähe von Wasser gewesen war. Stattdessen sah er sie an einem blauen Himmel, obwohl das ebenfalls unmöglich zu sein schien. Der Absturz der Enterprise-D fiel ihm ein, doch dabei handelte es sich um ein anderes Schiff. Dies war die Enterprise- E, an einem blauen Himmel.

Plötzlich riss Riker die Augen auf und stieß einen fast schrillen Schrei des Entsetzens aus.

Er sah sich um, bedauerte plötzlich, sich wieder zu erinnern und alles deutlich zu sehen. Dies war tatsächlich die Brücke der Enterprise-E, aber sie befand sich nicht unter Wasser. Will schwebte hilflos mit dem Kopf nach unten, Arme und Beine gefesselt, während albtraumhafte Wesen die Stationen seiner Brücke bemannten. Das Geschöpf, das wie eine große Muräne aussah, drehte sich und hielt genau auf seinen Kopf zu. Das Maul wies mehrere Reihen spitzer, dolchartiger Zähne auf. Riker duckte sich unwillkürlich und das Wesen sauste so dicht an ihm vorbei, dass er die Kälte der Schuppen spürte.

Er schloss die Augen und hoffte entgegen aller Vernunft, dass die gerade beobachteten Szenen seiner fiebrigen Phantasie entsprangen. Doch der beharrliche Schmerz im Kopf und in den Gliedmaßen rief ihn in die Realität zurück. Er konnte sich der Erkenntnis nicht länger widersetzen: Er hatte zugelassen, dass die Enterprise in die Gewalt von Fremden geriet.

»Commander Riker«, ertönte eine aristokratische Stimme, »wie ich sehe, sind Sie wieder bei uns.«

Riker fühlte, dass er sich bewegte – jemand oder etwas drehte ihn. Als er die Augen wieder öffnete, stellte er fest, dass er in der Nähe des Kommandosessels schwebte. In Gelb gekleidete Elaysianer bedienten die Kontrollen der meisten Konsolen und an den peripheren Stationen hüpften einige dornige Alpusta umher. Die große Muräne – ein Frill – flog wie drohend vor dem Wandschirm hin und her, schlug dabei mit seinen hauchzarten Schwingen. Der Kontrollraum schien sich in einen exotischen Zoo verwandelt zu haben.

Tangre Bertoran beugte sich vor und musterte den Ersten Offizier mit einer Mischung aus Abscheu, Mitleid und vielleicht auch ein wenig Schuld. »Ich bedauere sehr, dass Sie uns gezwungen haben, solche Mittel anzuwenden.«

»O ja, natürlich«, erwiderte Riker heiser.

»Im Ernst. Wir sind keine Piraten oder Banditen. Diese Angelegenheit bereitet uns kein Vergnügen. Normalerweise kämpfen wir nicht – wir haben keine Waffen. Deshalb müssen wir uns Ihre borgen.«

»Wo ist die Crew?«, fragte Riker.

»Die Besatzungsmitglieder sind in Sicherheit«, antwortete der Elaysianer. »Niemand kam zu Schaden. Nach der Deaktivierung der künstlichen Gravitation fiel es uns nicht weiter schwer, alle in den vorderen Beobachtungsraum zu bringen, solange sie noch bewusstlos waren. Die Schwerelosigkeit hat viele Vorteile.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, entgegnete Riker. »Ich weiß nur eins: Es bringt keine Vorteile mit sich, undankbaren Leuten wie Ihnen zu helfen.«

»Von Hilfe sprechen Sie?« Bertoran schnaubte abfällig. »Sie wollten uns das Verderben bescheren. Ihre Absicht bestand darin, uns den einzigen Schutz zu nehmen, den wir vor dem Etwas dort draußen haben, noch dazu in letzter Minute! Nein, besten Dank. Wir geben Ihnen das Schiff gern zurück – nach der Zerstörung des Risses.«

Riker lächelte, als ihm plötzlich klar wurde, warum er im Kontrollraum der Enterprise schwebte. »Der Computer nimmt keine Anweisungen von Ihnen entgegen, oder? Sie können den Zielerfassungsfokus der Waffensysteme nicht ausrichten.«

Bertoran schniefte verächtlich. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir Ihren Sicherheitscode knacken. Falls nötig, demontieren wir Ihre Waffen und bringen sie zur Schale – wir kennen uns mit Ihrer Technik aus. Allerdings wäre alles viel einfacher, wenn Sie sich dazu durchringen könnten, mit uns zusammenzuarbeiten.«

»Sie haben mich hintergangen und betäubt und jetzt erwarten Sie Kooperationsbereitschaft von mir?« Riker befeuchtete sich die trockenen Lippen. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie meine Crew und mich sofort freilassen, uns außerdem die Enterprise übergeben… Dann verzichte ich darauf, Starfleet Bericht zu erstatten.«

Der Elaysianer sah ihn ungläubig an. »Das Ende unserer Welt steht bevor und Sie drohen mit Starfleet? Commander Riker, offenbar ist Ihnen nicht klar, wie verzweifelt wir sind. In vier Tagen wird die Thoron-Strahlung uns alle umbringen. Für Starfleet sind wir bereits tot! Sie, ich, dieses Schiff… Man wird keine Rettungsgruppen hierher schicken. Ihre Akte ist geschlossen.«

Dem konnte Riker leider nicht widersprechen. Sie hatten dem Tod oft ein Schnippchen geschlagen, aber diesmal schien er über viele Verbündete zu verfügen.

»Nun, wenn ich tot bin, so habe ich von Ihnen kaum mehr etwas zu befürchten«, brummte Riker.

»Glauben Sie?«, erwiderte Bertoran. Er sah vom gefesselten Menschen zum drei Meter langen Frill, der noch immer vor dem Wandschirm hin und her flog. In einem langsamen Rhythmus breitete er die Schwingen aus und faltete sie wieder, starrte Riker dabei aus kalten, fischartigen Augen an. Der Erste Offizier schauderte, als sein Blick zu dem großen Maul mit den vielen spitzen Zähnen glitt.

»Wir Jeptah arbeiten nicht nur in der Schale«, sagte Tangre Bertoran. »Wir versorgen die Brut – die Frills beim Blutprisma – auch mit ritueller Nahrung. Commander Riker, Sie sollten sich genau überlegen, wie Sie und die Crew enden wollen – lebend oder als Nahrung bei einer Fressorgie.«

Riker schnitt eine Grimasse und kämpfte gegen die Fesseln an. Er schwebte mitten in der Luft, ohne die Möglichkeit, seine Füße irgendwo zu verankern. Sein Zappeln wirkte wie das eines Fisches an der Angel. Der Frill kam näher, zeigte Interesse.

Zeit, dachte Riker. Ich muss Zeit gewinnen. Picard, Data, Deanna, Barclay und Pazlar sind noch dort draußen.

»Wenn es allein um mich ginge, würde ich Sie zum Teufel wünschen«, krächzte er. »Aber eine solche Entscheidung kann ich nicht für alle Besatzungsmitglieder treffen. Wenn sich die Crew an einem Ort befindet, so lassen Sie mich zu ihr.«

Bertoran runzelte die Stirn. »Ich fürchte, das kann ich nicht erlauben. Leider ist die Übernahme Ihres Schiffes nicht ganz vollständig gelungen, und zwar aufgrund Ihrer Weigerung, die internen Kraftfelder zu deaktivieren. Im Bereich der wichtigste Bordsysteme gibt es noch immer einige freie Besatzungsmitglieder.«

»Tatsächlich?« Riker blinzelte, als neue Hoffnung in ihm entstand.

»Ich habe alle notwendigen Maßnahmen ergriffen, um ihren Widerstand zu brechen«, sagte Tangre Bertoran und kniff dabei die Augen zusammen.

Geordi LaForge und seine Techniker hatten sich im Maschinenraum verbarrikadiert. Gepanzerte Alpusta versuchten, die verriegelte Tür mit Rammböcken aufzubrechen, und die Verteidiger trachteten danach, die Barriere zu verstärken. Damit hatten sie aber kaum Erfolg, da sie sich in der Schwerelosigkeit nirgends abstützen konnten. Immer wieder brachten sie große Objekte zum Schott, doch jeder neue Stoß von der anderen Seite ließ sie fortschweben.

Mit solchen Schwierigkeiten sahen sich die Alpusta auf der anderen Seite der Tür nicht konfrontiert. Sie streckten einfach ihre vielen Beine, fanden damit in jedem Winkel des Korridors Halt. Phaserstrahlen zerstoben an ihren Schutzpanzern und gemeinsam bemühten sie sich, in den Maschinenraum zu gelangen.

»Mehr Phaserfeuer!«, rief LaForge.

Ein Techniker schoss durch ein gezacktes Loch im Schott, konnte jedoch nichts gegen die Alpusta dahinter ausrichten. »Irgendetwas schützt sie vor energetischen Entladungen!«

»Verdammter Mist!«, brummte Geordi. »Verschwinden wir von hier. Olswing, einen Haken zur Jefferiesröhre!«

Der junge Fähnrich brauchte ein oder zwei Sekunden, um zu verstehen, was LaForge meinte. Dann blickte er auf die Armbrust in seinen Händen hinab – die Waffe war mit Haken und Seil geladen. Eigentlich hatte das Seil dazu dienen sollen, die Barrikade zu verstärken, doch jetzt ergab sich ein neuer Verwendungszweck. Der junge Mann sah zur hohen Decke des Maschinenraums empor.

»Feuern Sie den Haken ab!«, rief LaForge und versuchte, sich gegen das Schott zu stemmen.

Olswing zielte auf den Zugang der Jefferiesröhre und betätigte den Auslöser. Der Haken sauste davon, traf die Decke neben der Luke; Gas zischte leise, als er sich dort verankerte. Der junge Fähnrich griff nach dem Seil und in der Schwerelosigkeit war es ganz leicht für ihn, sich nach oben zu ziehen. Rasch öffnete er die Luke und verschwand in der Jefferiesröhre.

»Zieht euch hoch!«, forderte Geordi seine Leute auf. »Wir setzen uns durch die Röhre ab!«

Die Techniker flogen regelrecht am Seil empor, schwangen dabei in der Schwerelosigkeit wie Affen hin und her. LaForge wartete, bis das letzte Mitglied seiner Gruppe in der Röhre verschwunden war. Dann, als sich die Tür noch weiter nach innen wölbte, zog er sich ebenfalls am Seil hoch. Hinter ihm donnerte und krachte es, als das Schott unter einem neuerlichen wuchtigen Hieb nachgab. Mehrere Alpusta sprangen in den Maschinenraum und Geordi kroch hastig durch die Luke. Eines der spinnenartigen Geschöpfe warf ein klebriges Netz nach ihm, aber LaForge schloss die Luke hinter sich, klemmte damit einen tentakelartigen Strang ein.

»Klettern!«, rief der Chefingenieur. »Klettern!«

Stunden vergingen, doch Jean-Luc Picard empfand es noch immer als wundervoll, am funkelnden Himmel zu fliegen, vorbei an schimmernden Kristallen. In der Schwerelosigkeit waren nur kurze Schubphasen nötig, um ihn kilometerweit durch das sich ständig verändernde Kaleidoskop aus gebrochenem Licht und bunten Prismen zu tragen. Er ließ Data und Keefe Nordine ein ganzes Stück vor sich fliegen, behielt ihre kleinen Silhouetten inmitten der massiven Kristallformationen aber immer im Auge. Das Fliegen war so mühelos, schuf ein Gefühl unbegrenzter Freiheit. Jetzt verstand Picard, wieso Nordine eine Muskelatrophie zugelassen und warum Melora Pazlar es abgelehnt hatte, sich chirurgisch in einen konventionellen Humanoiden verwandeln zu lassen. Wenn man einmal geflogen ist, kann man sich kaum mehr mit dem Gehen zufrieden geben. Zum ersten Mal glaubte Picard wirklich zu verstehen, warum die Kristallwelt gerettet werden musste, obgleich eine Stimme in seinem Innern darauf hinwies, dass man sterbenden Welten irgendwann den Tod gewähren sollte.

Ja, es war eine künstliche Welt, doch das galt für die meisten Orte, an denen Picard seine Zeit verbrachte. Das technische Ambiente der Enterprise kam einem Laboratorium gleich und dies war das Laboratorium der Lipuls, Elaysianer, Alpusta, Frills, Yiltern und des Gendlii. Gab es große Unterschiede? Das Leben musste überall ums Überleben kämpfen, hier ebenso wie in den Tiefen des Alls oder auf irgendeinem kalten Mond. Vielleicht hatten die Bewohner der Kristallwelt eine zu große Selbstzufriedenheit in Hinsicht auf ihre Heimat entwickelt, davon überzeugt, dass sie für immer existieren würde. Vielleicht hatten sie vergessen, dass der Kampf ums Überleben weiterging. Beim nächsten Mal waren sie hoffentlich besser vorbereitet.

In der Ferne – es ließ sich kaum feststellen, ob oben oder unten – bemerkte Picard eine große Anzahl dunkler Punkte. Es musste sich um Lebewesen handeln, aber die Distanz war zu groß, um sie einer bestimmten Spezies zuzuordnen. Bisher hatte der Flug an einigen bewohnten Kristallansammlungen vorbeigeführt, darunter zwei elaysianischen Enklaven, aber niemand war gekommen, um sie zu begrüßen. Doch die Gruppe in der Ferne erweckte den Eindruck, auf Abfangkurs zu fliegen.

Der Captain klopfte auf seinen Insignienkommunikator und hob die Stimme, um das Zischen des Windes zu übertönen. »Picard an Data!«

»Hier Data«, ertönte es.

»Sehen Sie die Flieger, die sich uns von rechts her nähern?« Zu einer besseren Richtungsangabe war er nicht imstande.

»Ja, Captain. Sollen wir uns ihnen nähern?«

»Nein, bleiben Sie auf Kurs. Lassen Sie uns herausfinden, ob die Begegnung nur ein Zufall ist oder ob die Fremden wirklich zu uns wollen.« Picard aktivierte das Düsenaggregat, um zu Data und Nordine aufzuschließen. »Ich verringere den Abstand zu Ihnen.«

»Bestätigung. Wir bleiben auf Kurs zum Shuttle.«

Einige Sekunden später flog Picard an Keefe Nordine vorbei und deutete zum Androiden. Nach einigen weiteren Sekunden erreichte er Data und sie passierten eine Lücke zwischen einem rosaroten Kristall und einem hellgrünen. Der Captain sah zu Nordine, der etwa zwanzig Meter hinter ihnen flog. Auf beiden Seiten ragten Monolithe empor, und die anderen Flieger blieben dahinter verborgen. Picard rechnete damit, sie erneut zu sehen, wenn sie zum nächsten offenen Bereich gelangten.

Kurz darauf blieben die großen Kristallformationen hinter ihnen zurück, und Picard reckte den Hals, hielt nach der fremden Gruppe Ausschau. Er entdeckte sie unter ihnen, bei fünf Uhr. Jetzt waren die Geschöpfe so nahe, dass er die langen Stränge sehen konnte, die ihnen wie ein Schweif folgten. Sie flogen nicht in dem Sinne, stießen sich vielmehr wie Trapezkünstler an einzelnen Kristallen ab.

Der Insignienkommunikator des Captains piepste. »Data an Picard«, erklang die Stimme des Androiden. »Es sind Alpusta und offenbar wollen sie zu uns.«

»So sieht’s aus«, bestätigte Picard. »Hat man sie ausgeschickt, um nach uns zu suchen?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Allerdings gehört die Alpusta-Enklave zu unseren Zielen.«

»Ja, das ist mir klar.« Der Captain runzelte die Stirn, als er einen kristallenen Bogen passierte, der im Sonnenlicht glitzerte. Wenn er sich nicht sehr irrte, lag die Alpusta-Enklave in der entgegengesetzten Richtung. Andererseits: Es war auch denkbar, dass diese Wesen von der Schale kamen. Aber warum so viele? Fünfzig oder sechzig… nur um eine Botschaft zu überbringen?

Keefe Nordine kam an die Seite des Captains, deutete zu den Verfolgern und schüttelte den Kopf. »Was ist los?«, rief er.

»Wir halten an!« Picard hob die Hand, um sicher zu sein, dass Nordine verstand. Data kehrte bereits zurück und sie formten ein Dreieck im schimmernden Sonnenlicht.

Der Captain blickte zurück und beobachtete die vielen Alpusta, die sich auch weiterhin von Kristallen abstießen und näher kamen. Er wollte nicht zu misstrauisch sein, aber irgendetwas an der Art dieser Annäherung erschien ihm unheilvoll. Wenn jemand eine Nachricht übermitteln wollte, warum dann nicht mit Hilfe des normalen Kommunikationssystems? Die Insignienkommunikatoren funktionierten.

Um jeden Zweifel auszuräumen, klopfte Picard auf sein kleines Kom-Gerät. »Einsatzgruppe Eins an Enterprise.« Als er keine Antwort bekam, klopfte er noch einmal auf den Insignienkommunikator. »Picard an Enterprise.«

»Das ist seltsam«, sagte Data. »Wir sind in Reichweite.« Auch der Versuch des Androiden, einen Kontakt mit dem Schiff herzustellen, blieb erfolglos.

»Äh… meine Herren…« Keefe Nordine glitt ein wenig näher. »Ich kenne die Alpusta kaum, aber sie wirken nicht sehr freundlich. Haben Sie jene Wesen durch irgendetwas verärgert?«

Data neigte den Kopf zur Seite. »Wir waren an einem Zwischenfall beteiligt, der einigen tausend Alpusta das Leben kostete.«

»Ach, tatsächlich?«, erwiderte der junge Mann mit einem weiteren nervösen Blick zu den Verfolgern. »Und Ihr Schiff meldet sich nicht. Wie war’s, wenn wir versuchen, den anderen Shuttle möglichst schnell zu erreichen? Wenn die Alpusta mit

freundlichen Absichten kommen, spielt’s doch keine Rolle, oder?«

»Können wir schneller sein als sie?«, fragte Picard. »Unbekannt«, sagte Data und griff nach den Kontrollen seines Düsenaggregats. »Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.«

Der Captain sah noch einmal zu den Alpusta, die über den ganzen Himmel ausschwärmten. Sie wirkten wie Luftschlangen mit dicken, dunklen Köpfen, die immer wieder von Kristallen abprallten. Picard hatte gelernt, die Reaktion seiner Nackenhaare, die sich nun aufrichteten, nicht zu ignorieren. Der Umstand, dass sich kein Kom-Kontakt mit der Enterprise herstellen ließ, weckte noch mehr Sorge in ihm.

»Sollen wir die Gruppe Zwei warnen?«, fragte Data.

»Nein«, entgegnete Picard. »Geben wir ihr Gelegenheit, die Suche nach dem Kristall fortzusetzen. Vielleicht hat dies hier überhaupt nichts zu bedeuten.« Einmal mehr blickte er zu den hin und her hüpfenden Alpusta. Nordine hatte Recht: Sie wirkten alles andere als freundlich. Und es waren zu viele.

»Fliegen wir so schnell wie möglich zum Shuttle«, entschied er. »Die gleiche Formation wie vorher. Aber diesmal schwärmen wir nicht aus.«

»Kein Problem«, sagte Nordine. »Also los!«

Data beschleunigte und flog in Richtung eines gelben Kristallhaufens in der Ferne. Nordine folgte ihm sofort. Der Captain betätigte die Kontrollen und spürte, wie die Düsen feuerten. Auch er wurde schneller, sauste durchs Glitzern und Schimmern der Kristallwelt. Doch die Aufregung des Fliegens existierte jetzt nicht mehr. Sie wich dem sehr unangenehmen Gefühl, dass irgendetwas auf schreckliche Weise schief gegangen war.