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In Schwerelosigkeit schwebte Lieutenant Melora Pazlar über einigen Terminals, in einem zylindrischen Raum der Schale, die der Kristallwelt Schutz gewährte. Normalerweise arbeiteten in dieser Kontrollstation Techniker der Elaysianer und Alpusta. Diesmal waren nicht nur Elaysianer zugegen, sondern auch eine Einsatzgruppe vom Föderationsraumschiff Enterprise. Melora hielt sich noch nicht für ein vollwertiges Besatzungsmitglied jenes Schiffes, denn sie hatte sich erst seit einigen Stunden an Bord befunden, als sie den telepathischen Hilferuf der Lipuls empfing.
Sie blickte auf einen der Bildschirme. Weit unter der Schale mit ihren Labyrinthen aus Kollektoren, Generatoren, Pumpen und Kraftfeldern glitzerte die Kristallwelt: eine in allen Farben des Spektrums funkelnde Ansammlung von Türmen, Prismen und Bögen. Aus der Ferne gesehen wirkte Meloras schimmernde Heimat wie ein Juwel im All. In ihrem Innern sah man sich von gewaltigen Monolithen, tanzendem Licht und ewigen Schatten umgeben.
Meloras Körper schwebte und das war völlig normal. Aber mit ihrem Bewusstsein schien es sich ähnlich zu verhalten. Sie dachte an die seltsamen Erfahrungen, von denen Menschen manchmal berichteten, wenn sie den Eindruck gewannen, dass sich das eigene Selbst vom Körper löste. So ähnlich empfand sie jetzt.
Sie hielt es nicht für überraschend, dass die Traumschiffe der Lipuls von allen Völkern der Föderation ausgerechnet die Menschen für einen Kontakt ausgewählt
hatten. Im Gegensatz zu Elaysianern waren Menschen aufgeschlossen, sogar großzügig und extravertiert. Aber wie Elaysianer konnten sie auch starrsinnig und barsch sein. Letztere Eigenschaft zeigte Captain Jean-Luc Picard ganz deutlich, als er offene Worte an Tangre Bertoran und seine elaysianischen Begleiter richtete.
Der Captain hatte bereits darauf hingewiesen, dass den Bewohnern der Kristallwelt nur noch das Äquivalent von acht Tagen Zeit blieb, bis sie alle der Tod erwartete. Melora fragte sich, ob die anderen Elaysianer überhaupt begriffen, wie kurz eine solche Zeitspanne war. Es gab keine Tage auf der Kristallwelt, zumindest nicht im üblichen Sinn, nur gebrochenes Sonnenlicht und ein sonderbares Halbdunkel in den Schattenzonen. Der Planet war seit der Frühzeit des Universums bewohnt und die Einheimischen glaubten, alle Hindernisse überwunden und jedes Problem gelöst zu haben. Wie sollten solche Leute verstehen, dass sich ihre Lebenserwartung auf acht Rotationsperioden einer fernen Welt beschränkte?
Die Sorge in Reg Barclays Gesicht wies darauf hin, dass ihm ihr Dilemma durchaus klar war. Er wusste auch, dass Picard nicht übertrieb, dass tatsächlich das Ende der Kristallwelt bevorstand. Counselor Troi hörte mit der für sie typischen Ruhe zu.
»Das ist völlig ausgeschlossen, Captain«, sagte Tangre Bertoran. Er sprach wie zu einem Kind, das besonders phantasievolle Lügen erzählte. Der weißhaarige Peer der Jeptah schüttelte mitleidig den Kopf. »Thoron-Strahlung kommt auf natürliche Weise in unserer Atmosphäre vor. Und auch in der Lufthülle der Erde, soweit ich weiß. Sie könnte nicht alles Leben der Kristallwelt bedrohen, nur die Personen, die sich zu lange in der Nähe mutierter Kristalle aufhalten.«
»Und jene Kristalle wachsen mit jedem Tag«, beharrte der Captain. »Normalerweise unterlaufen Commander Data bei seinen Berechnungen keine Fehler. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage: Wir müssen die Kollektoren der dunklen Materie in spätestens acht Tagen deaktivieren und damit den Dimensionsriss schließen – andernfalls sterben wir alle. Vielleicht wird es zu diesem Zweck nötig, die Schale stillzulegen.«
Bertoran rümpfte die Nase, so als nähme er einen unangenehmen Geruch wahr. Die V-förmigen Stirnhöcker traten etwas deutlicher hervor. »Captain, nicht einmal im Scherz sprechen wir von einer Stilllegung der Schale. Genauso gut könnte man sagen, dass eine Zerstörung der Erde nötig ist, um ein bestimmtes Unkraut nicht länger wachsen zu lassen. Ja, die Maßnahme erfüllt den gewünschten Zweck – aber zu welchem Preis?«
Der Captain gestikulierte und ließ keinen Zweifel an seiner Verärgerung. »Ich möchte nicht, dass alle Bewohner der Kristallwelt sterben – immerhin sind es etwa zwei Milliarden. Mein Erster Offizier und der Chefingenieur glauben, dass wir die Kraftfelder von der Enterprise aus für kurze Zeit mit Energie versorgen können, wenn die Schale stillgelegt wird. Sie wissen ja, wie sehr die einzelnen Systeme miteinander verflochten sind – es gibt keine andere Möglichkeit als eine allgemeine Deaktivierung. Wenn wir Erfolg haben, behält die Kristallwelt ihre Atmosphäre.«
»Und wenn nicht, sind wir alle tot«, erwiderte Bertoran abfällig.
»Wir haben acht Tage, um uns etwas einfallen zu lassen«, sagte Picard und es klang so, als sei das viel Zeit. »Wir haben beträchtliche Erfahrung mit Kraftfeldern und meine Leute arbeiten bereits daran. Sie und Ihre Gruppe könnten helfen, indem sie Schutzräume vorbereiten, geeignete Behälter mit Atemluft füllen und so weiter. Ich versichere Ihnen, dass ich einen solchen Vorschlag nicht unterbreiten würde, wenn ich Zweifel an der Durchführbarkeit hätte.«
Tangre Bertoran schnitt eine Grimasse. »Ihr Plan widerspricht allen Prinzipien, mit denen ich aufgewachsen bin. Es läuft auf Mord hinaus. Ich weiß nicht, Captain… Ich muss Commander Datas Berechnungen überprüfen, bevor ich meine Zustimmung geben kann.«
»Wir haben sie mitgebracht.« Picard winkte und Reg Barclay suchte nervös in einem Beutel an seinem Gürtel. Schließlich holte er einen isolinearen Chip hervor. Melora lächelte, als sie den Kontrast zwischen dem modernen Speichermodul und dem alten violetten Kristall an Regs Halskette bemerkte.
»Können Sie isolineare Chips lesen?«, fragte der Captain.
Bertoran schnaufte verächtlich. »Als wir Mitglied der Föderation wurden, brauchten wir nur zwei Wochen, um Ihre Sprache zu beherrschen und den Umgang mit Ihrer Technik zu erlernen. Jetzt wollen Sie unsere Technologie von einem Augenblick zum anderen zerstören.«
»Ihre Technik wendet sich gegen Sie selbst«, sagte Deanna Troi und sprach damit zum ersten Mal seit dem Beginn dieser Begegnung. Die Counselor verließ ihren Platz an der runden Tür und schwebte langsam näher. Sie schien sich in der Schwerelosigkeit nicht sonderlich wohl zu fühlen. »Wir würden uns nicht solche Mühe machen, Ihre Welt zu vernichten. Die einzige echte Gefahr für Sie besteht in Ihrer Untätigkeit.«
Tangre Bertoran schnitt eine finstere Miene und nahm den isolinearen Chip aus Regs Hand. »Geben Sie mir einige Minuten Zeit.«
Zusammen mit seinen Begleitern zog er sich zu einer Konsole zurück, schob den isolinearen Chip dort in ein Lesegerät und blickte aufs Display. Mit leisen Stimmen kommentierten die Elaysianer die angezeigten Daten. Melora schwebte über ihnen und wusste nicht, ob sie sich ihren Artgenossen oder den Offizieren von der Enterprise hinzugesellen sollte. Seit der Rückkehr zur Kristallwelt fühlte sie sich immer mehr hin und her gerissen zwischen ihrer Pflicht Starfleet gegenüber und der natürlichen Neigung, das eigene Volk und ihre Heimatwelt zu schützen. Diese beiden Dinge sollten sich eigentlich nicht gegenseitig ausschließen, aber Starfleet repräsentierte die ganze Föderation, nicht nur einen speziellen Planeten.
Bisher hatten sich nie Probleme aus ihrer geteilten Loyalität ergeben, denn die Kristallwelt war ihr immer wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben erschienen, wie etwas, das ohne Einfluss auf ihre Starfleet-Pflichten blieb. Aber der Besuch in ihrer alten Enklave, die Furcht in den Gesichtern von Freunden und Verwandten, die Konfrontation mit den wuchernden mutierten Kristallen… Das alles machte ihr klar, dass ihr Volk sie dringender brauchte als Starfleet.
Der Dimensionsriss bedrohte nicht nur dieses Sonnensystem, sondern den ganzen Raumsektor, wenn er sich selbst überlassen blieb. Captain Picard hatte deutlich auf seine Bereitschaft hingewiesen, Schiff und Crew zu opfern, um eine so enorme Gefahr zu beseitigen. Er würde gewiss nicht zögern, von den Waffensystemen der Enterprise Gebrauch zu machen.
Reg Barclay sah Melora an, lächelte freundlich und befreite sie damit aus ihren deprimierenden Grübeleien. Sein jungenhaftes, ernstes Gesicht entlockte ihr ein Schmunzeln und sie begriff plötzlich, wie sehr sie sich darüber freute, ihn wiederzusehen. Hier war sie nun und vielleicht ging ihr Leben in wenigen Tagen zu Ende – aber sie hatte einen sehr netten Mann kennen gelernt, dem offenbar viel an ihr lag und der sie zu beschützen versuchte. Mehr noch: Er versuchte, ihr ganzes Volk zu beschützen – der Kristall an seinem Hals bewies es.
Er war ein seltsamer Held und ein noch seltsamerer amtierender Cheftechniker für die Elaysianer, doch er stellte sich mutig beiden Pflichten. Wenn Melora Reg ansah, spürte sie tiefen Respekt und eine Zuneigung, von der sie geglaubt hatte, sie nie wieder einer anderen Person gegenüber empfinden zu können. Noch verstärkt wurde dieses Gefühl durch Gewissensbisse, weil sie ihm gegenüber nicht ganz ehrlich war… Auf keinen Fall wollte sie Reg oder jemand anders von der Enterprise verletzen. Sie versuchten zu helfen, aber sie verstanden nicht alles.
Wusste Reg, welche Empfindungen sie ihm entgegenbrachte? Spielte das überhaupt eine Rolle angesichts all der Probleme, mit denen sie konfrontiert waren?
Ja, es spielt eine Rolle, dachte Melora. Gerade diese Zeit eignete sich dafür, füreinander zu fühlen, Liebe zu suchen und zu schenken. Welchen Sinn hatte es, ums Überleben zu kämpfen, wenn man sein Leben nicht mehr genießen konnte? Melora hatte den Status einer Einzelgängerin durchaus zu schätzen gewusst, aber sie war durchaus bereit, ihn für einen Mann aufzugeben. Zumindest konnte sie Reg ihre Dankbarkeit zeigen…
Melora hörte flüsternde Stimmen, drehte sich um und sah, dass Captain Picard und Counselor Troi ein leises Gespräch führten. Vermutlich ging es dabei um die emotionale Verfassung ihrer Gastgeber. Man brauchte keine betazoidischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass die Elaysianer besorgt, sogar der Panik nahe waren. Sie sahen sich der größten Bedrohung gegenüber, mit der ihre uralte Heimatwelt jemals hatte fertig werden müssen. Erst vor einer Stunde waren Tausende von Alpusta bei dem vergeblichen Versuch gestorben, das Problem zu lösen. Das fraktale Programm blieb auch weiterhin in einer Endlosschleife gefangen und die Kollektoren sammelten immer mehr dunkle Materie, wodurch nicht nur die mutierten Kristalle wuchsen, sondern auch der Riss zwischen den Dimensionen.
Einmal mehr sah Melora das schreckliche Erinnerungsbild toter Alpusta, die an der Außenhülle hingen und im All schwebten, wie heller Seetang in einem mit Tinte gefüllten Tank. Die Techniker waren zu arrogant gewesen, zu sehr davon überzeugt, dass sie ihre Umwelt noch einmal in den Griff bekommen konnten.
Counselor Troi hatte Recht: Ihre größte Errungenschaft – die Schale – wandte sich nun gegen die Bewohner der Kristallwelt.
Barclay sah besorgt nach oben, streckte den Arm aus und drückte Meloras Hand. »Alles in Ordnung?«
»Ja, es geht mir besser«, hauchte sie und drückte ebenfalls kurz zu. Sie schloss die freie Hand um eine Haltestange an der Decke und zog Reg näher.
»Welche… welche Entscheidung treffen sie wohl?«, fragte der Starfleet-Techniker und schwebte neben Melora, dicht unter der Decke des zylindrischen Raums.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte die Elaysianerin. Das stimmte nicht ganz: In Wirklichkeit glaubte sie, dass die Jeptah keine Deaktivierung der Schale zulassen würden. Vermutlich zogen sie diese Möglichkeit erst dann in Erwägung, wenn Tausende Bewohner der Kristallwelt starben.
»Wenn sie eine bessere Idee haben, sollten sie sie möglichst schnell präsentieren«, sagte Reg. »Allerdings hat die letzte nicht besonders gut funktioniert.« Sofort bereute er seine scharfen Worte und verzog das Gesicht. »Es tut mir Leid. Ich…«
»Es stimmt«, erwiderte Melora. »Die Jeptah sind arrogant gewesen, doch die jüngsten Ereignisse haben sie gedemütigt. Deshalb weiß ich nicht, welche Entscheidung sie treffen werden.«
Ihr Blick glitt zu den in Gelb gekleideten Elaysianern, die sich an der Konsole zusammendrängten, deren Kontrollen Tangre Bertoran bediente. Die gedämpften Stimmen und verstohlenen Blicke zur Einsatzgruppe von der Enterprise wiesen Melora darauf hin, dass die im isolinearen Chip gespeicherten Informationen sowohl authentisch als auch alarmierend waren. Wenn es in den Berechnungen einen Fehler gab, so hätte Bertoran längst darauf hingewiesen. Seine Hände zitterten, als er sich von der Konsole abwandte. Die anderen Jeptah folgten ihm.
Die vier Besucher von der Enterprise – Picard, Troi, Barclay und Pazlar – versuchten, in Reih und Glied zu schweben, um den Peer der Jeptah zu empfangen. Tangre Bertoran stieß sich von der Wand ab und flog durch den Raum. Sein stolzes Gesicht wirkte zerfurcht und hohlwangig, als hätte er seit tausend Jahren nicht mehr geschlafen.
»Ihre Berechnungen scheinen exakt zu sein«, verkündete er mit großem Ernst. »Wir haben die Zunahme des Wachstums der mutierten Kristalle und dadurch ihre zusätzlichen Auswirkungen unberücksichtigt gelassen. Wenn der dunkle Kristall zerbricht, wird noch mehr Thoron-Strahlung freigesetzt. Offenbar bleibt uns wirklich nur noch sehr wenig Zeit, obwohl die verschiedenen Spezies eine unterschiedliche Empfindlichkeit der Strahlung gegenüber aufweisen.«
»Wir haben noch genug Zeit, den Dimensionsriss zu schließen«, betonte Picard. »Nehmen wir an, meine Leute können Ihre Kraftfelder mit Energie versorgen, lange genug für einen Reboot des fraktalen Programms… Wie kann man die Schale deaktivieren?«
Bertoran hob die knochigen Schultern und ließ sie wieder sinken. Er sah aus wie jemand, den man aufgefordert hatte, einem Kleinkind die Relativitätstheorie zu erklären. »Eine so drastische Maßnahme ist bisher nie ernsthaft in Betracht gezogen worden, aber man hat eine entsprechende Prozedur entwickelt. Sie ist recht obskur und geht auf die so genannte ›Übereinkunft der Uralten‹ zurück – immerhin ging man davon aus, dass die Deaktivierung der Schale das Ende der Welt einleitet. Damals erklärten sich die sechs Völker bereit, gleichberechtigte Partner bei der Verwaltung der Schale und des Planeten zu sein.«
Der ältere Elaysianer griff nach dem smaragdgrünen Kristall an seinem Hals, Zeichen dafür, dass er der stellvertretende Cheftechniker des Gendlii war. Voller Verachtung deutete er auf Reg und dessen violetten Kristall. »Die Heiligen Fragmente, die aus dem lebenden Kristall stammen und den ersten fraktalen Code enthalten – nur sie sind erforderlich, um die Schale zu deaktivieren. Aber alle sechs Schlüssel müssen gleichzeitig mit dem Terminierungsmodul verbunden werden.«
Er seufzte schwer. »Zwei Kristalle befinden sich in unserem Besitz: Ihrer, Mr. Barclay, und meiner. Der Lipul ist zweifellos bereit, uns seinen Kristall zu überlassen, aber es dürfte nicht so einfach sein, die anderen zu bekommen. Der Umgang mit einigen unserer Nachbarn kann recht problematisch sein und andere sind schwer zu erreichen, erst recht unter den gegenwärtigen Umständen.«
»Und einer der Cheftechniker ist der Saboteur«, fügte Reg hinzu. »Die Person, die das derzeitige Chaos verursacht hat.«
»Darauf deutet alles hin«, räumte Bertoran widerstrebend ein. »Dadurch wird unsere Aufgabe noch schwieriger.«
»Die Lipuls«, sagte Picard und deutete auf eine Jeptah in der Nähe des Terminals. »Stellen Sie fest, ob eine Begegnung mit dem Cheftechniker der Lipuls möglich ist.«
Die Frau sah Tangre Bertoran fragend an und er nickte ihr niedergedrückt zu. »Kommen Sie der Aufforderung des Captains nach. Zeigen Sie volle Kooperationsbereitschaft.«
Melora erinnerte sich in aller Deutlichkeit an die erste Begegnung mit dem Cheftechniker der Lipuls. Lag sie nur einen Tag zurück? Ein ganzes Leben schien inzwischen vergangen zu sein. Nie würde sie die Worte des weisen alten Wesens vergessen: Die Schale ist entbehrlich, nicht aber der Planet; trefft alle notwendigen Maßnahmen, um den Riss zu schließen.
Den Lipuls drohte nicht der Tod, wenn die Kristallwelt ihre Atmosphäre verlor – sie lebten im gelatinösen Mark im Innern der größten Prismen. Auch die Besatzung der Enterprise würde überleben, um sich anschließend zwei Milliarden Leichen und einer toten Welt gegenüberzusehen.
»Mein Peer! Captain!«, rief die Jeptah am Terminal. Alle wandten sich ihr zu, auch die beiden Personen, denen ihr Ruf galt. »Ich bedauere sehr, aber… der Cheftechniker der Lipuls hat die Schale verlassen.«
»Wann?«, fragte Bertoran.
»Vor acht Schattenzeichen.«
»Das ist schon ziemlich lange her«, brummte Picard. »Der Lipul verließ die Schale noch vor der Tragödie mit den Alpusta. Warum sollte er in der derzeitigen Situation zum Planeten zurückkehren?«
»Warum sollte er bleiben?«, erwiderte Bertoran und zuckte mit den Schultern. »Wenn Gefahr droht, sucht ein Lipul seinen Kristall auf – das ist der sicherste Ort für ihn.«
Aber jetzt bieten selbst die Kristalle keine Sicherheit mehr, dachte Melora. Und das wissen die Lipuls. Sie erinnerte sich an ihren grässlichen Traum, der die Enterprise und ihre hilfsbereite Crew zur Kristallwelt gebracht hatte. Vor dem inneren Auge sah sie noch einmal, wie ein Lipul in Agonie zuckte, als er im verseuchten tintenschwarzen Mark starb. Sie beobachtete, wie der Kristall dunkel wurde, ganz plötzlich, nicht Stück für Stück.
»Wir müssen sie alle finden«, sagte Captain Picard. Er straffte die Schultern und zeigte Entschlossenheit. »Es gilt, vier Cheftechniker zu lokalisieren und dafür zu sorgen, dass sie uns ihre Kristalle überlassen. Wir müssen die Lipuls, Alpusta, Yiltern und Frills besuchen.«
»Nicht vier Cheftechniker, sondern fünf«, sagte Tangre Bertoran. »Zwar besitze ich den Kristall des Gendlii, aber ich möchte ihn nur dann auf eine so drastische Weise benutzen, wenn der rechtmäßige Eigentümer damit einverstanden ist.«
Picards Miene verfinsterte sich. »Halten Sie das wirklich für notwendig? Obwohl Sie ganz offiziell sein Stellvertreter sind?«
»In diesem Fall, ja«, antwortete Bertoran. »Wir dürfen unsere Entscheidung nicht leichtfertig treffen und müssen die richtigen Protokolle beachten. Keine Sorge, Captain: Der Gendlii ist am leichtesten von allen zu finden.«
»Welchen Ort suchen wir zuerst auf?«, fragte Picard.
Bertoran faltete die Hände. »Wir schicken die Leiche von Zuka Juno zum Blutprisma, um sie der Brut zu überlassen. Ihnen mag es seltsam erscheinen, während einer kritischen Situation ein elaboriertes Ritual durchzuführen, aber Zuka Juno war ein hoch angesehener Angehöriger meines Volkes. Es war für alle Elaysianer ein großer Schock, als Sie ihn tot fanden. Wir müssen ihn ehren, wie auch immer die Umstände beschaffen sind.«
Bertoran lächelte schief. »Ihr Shuttle kann der Prozession folgen. Es ist eine gute Gelegenheit für Sie, den Frills in einem diplomatischen Rahmen zu begegnen. Trotzdem rate ich Ihnen, vorsichtig zu sein. Melora kann Ihnen weitere Informationen geben.«
Sie nickte dem Captain kurz zu und versuchte, nicht zu besorgt zu wirken. Die Vorstellung, den Frills ausgerechnet jetzt zu begegnen, während einer Zeit des Chaos, beunruhigte Melora. Das Chaos war ihr natürlicher Zustand und vielleicht ließen sie sich dazu hinreißen, die Übereinkunft der Uralten zu vergessen.
»Haben Sie die Ursache von Zuka Junos Tod festgestellt?«, fragte Picard.
»Er starb eines natürlichen Todes«, erwiderte Bertoran. »Eine seltene Virusinfektion und ein geschwächtes Immunsystem. Seine Stunde hatte einfach geschlagen. Vielleicht ging er voraus, auf dem Weg, den wir alle bald gehen müssen. Wenn Sie gestatten, Captain… Ich begleite Sie nicht zum Blutprisma, sondern bleibe hier und arbeite mit Ihren Technikern zusammen. Ich meine jene Personen, die damit beauftragt sind, unsere Kraftfelder von der Enterprise aus mit Energie zu versorgen.«
Picard nickte. »Damit ist vor allem Commander LaForge gemeint, den Sie bereits kennen gelernt haben. Außerdem habe ich Data an Bord zurückgelassen, damit er bei dem Projekt hilft – und auch bei eventuellen Problemen, die sich dabei ergeben.«
Captain Picard klopfte auf seinen Insignienkommunikator, sprach kurz mit LaForge und vereinbarte das erste von vielen Treffen.
»Die Prozession zum Blutprisma bricht bald auf«, sagte Bertoran. »Sie sollten besser zu Ihrem Shuttle zurückkehren.«
»In Ordnung. Wir bleiben in Kontakt.« Der Captain winkte und geleitete die Einsatzgruppe zur runden Tür. Tangre Bertoran stieß sich von der Wand ab und versperrte Melora den Weg.
»Darf ich kurz mit Lieutenant Pazlar sprechen?«, fragte er. »Es geht um eine Familienangelegenheit, die nur für Elaysianer von Interesse ist.«
»Ich komme gleich nach, Sir«, versicherte Melora dem Captain.
Picard nickte knapp und verließ den Raum zusammen mit Reg und Counselor Troi. Als sich die Luke hinter ihnen geschlossen hatte, maß Bertoran die junge Elaysianerin mit einem durchdringenden Blick.
»Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass sie die Schale deaktivieren, nicht wahr, Tochter?«
Melora schüttelte den Kopf. Schuld und Furcht stiegen wie Galle in ihr empor. »Nein, Vater, das dürfen wir nicht.«
Reg Barclay zog den Kopf ein und achtete darauf, nicht gegen irgendwelche Hindernisse zu stoßen, als er im engen Innern des Shuttles auf und ab ging. Er konnte einfach nicht still sitzen, während er auf Melora wartete. Es gelang ihm nicht einmal, die künstliche Gravitation an Bord zu genießen. Captain Picard saß im Sessel des Kopiloten und ging eine Checkliste durch, während Deanna Trois Blick zwischen dem Fenster und Reg hin und her wanderte.
Als Barclay einmal mehr an ihr vorbeigehen wollte, streckte sie ihren Arm, um ihn aufzuhalten. »Sie können sich ruhig hinsetzen, Reg. Eine Zeitlang wird nichts passieren.«
»G-glauben Sie?«, erwiderte er nervös. »Was… was veranlasst Sie zu dieser Annahme?«
»Nun, wir müssen auf die Prozession warten.« Troi blickte wieder aus dem Fenster. »Und ich sehe weder eine Prozession noch sonst jemanden.«
Reg lachte leise. »Oh, ich dachte, Sie hätten Ihre Empathie benutzt.«
»Seit Tagen habe ich keine Emotionen mehr wahrgenommen«, erwiderte Deanna und runzelte besorgt die Stirn. »Ich lebe, aber… irgendwie habe ich mich… verändert.«
»Tut mir Leid«, sagte Reg mit aufrichtiger Anteilnahme.
Die Counselor zuckte so mit den Achseln, als ließe es sich nicht vermeiden, sah dann wieder aus dem Fenster. Reg beugte sich über ihre Schulter, um ebenfalls nach draußen zu blicken. Deannas rabenschwarzes Haar hätte nach Regenwasser und wilden Blumen duften sollen – Barclay erinnerte sich deutlich daran. Stattdessen nahm er einen seltsam antiseptischen Geruch wahr, wie von einem Bleichmittel. Vielleicht war Troi zu lange in der Krankenstation gewesen. Oder hatte sie sich wirklich verändert?
Reg verdrängte diese besorgten Gedanken, sah aus dem Fenster und ließ den Blick über die verwitterte Außenhülle der Schale schweifen. Gewaltige Metallbänder wölbten sich, nierenförmige Öffnungen gewährten Zugang. Vor einigen Tagen hatte sie eine große Menge am Neunten Verarbeitungstor begrüßt, aber jetzt waren nur noch wenige Personen unterwegs. Die Kristallwelt ist wie ein sterbender Patient, dem es immer schlechter geht, dachte Reg. Die Verwandten sind nach Hause zurückgekehrt, um Frieden mit sich selbst zu schließen.
Sein Blick glitt nach rechts und er riss unwillkürlich die Augen auf, als er eine blonde Vision sah, die mit wehendem weißem Gewand in Richtung Shuttle flog. Melora griff nach den Landekufen unter dem kleinen Raumschiff, drehte sich wie einer Turnerin und segelte der geöffneten Luke entgegen. Das Lächeln verschwand von ihren Lippen, als sie die Schwerkraft an Bord spürte. Man hätte meinen können, die Verwandlung eines Schmetterlings in eine Raupe zu beobachten, als Melora auf die Knie sank und mühsam an Bord kroch.
»Äh… Sir… C-captain Picard«, brachte Reg unsicher hervor. »Können wir vielleicht die künstliche Gravitation ausschalten? Ich glaube, ich gewöhne mich langsam an die Schwerelosigkeit – inzwischen gefällt sie mir fast!«
»Nein, nein, schon gut«, erwiderte Melora. »Ich könnte meinen Antigrav-Anzug überstreifen, wenn wir genug Zeit hätten…«
»Unsinn«, sagte Picard. »Sie sind die Pilotin und sollten es bequem haben. Und wie heißt es so schön? ›Andere Länder, andere Sitten.‹ An alle: Platz nehmen und anschnallen. Die künstliche Gravitation wird gleich deaktiviert.« Er drehte seinen Sessel, als Barclay umständlich neben Deanna Platz nahm.
»Das war sehr galant von Ihnen«, flüsterte die Counselor Reg zu.
Barclay wand sind unruhig hin und her. »Äh… danke.« Er sah auf und empfing ein dankbares Lächeln von Melora, die in der Luke wartete. Seine Lippen formten die Worte: »Gern geschehen.«
»Deaktivierung der künstlichen Gravitation«, sagte der Captain. Reg hatte plötzlich das Gefühl, in eine imaginäre Tiefe zu stürzen. Von einem Augenblick zum anderen schwebte er und nur der Gurt hielt ihn im Sessel. Melora flog wie ein Engel in den Shuttle, glitt in den Pilotensitz und schnallte sich ebenfalls an.
»Alles klar«, sagte sie. »Startvorbereitungen?«
»Abgeschlossen«, erwiderte Picard.
Während sich Pilot und Kopilot um die Steuerung des Shuttles kümmerten, seufzte Reg und versuchte, sich in der für ihn sehr unangenehmen Schwerelosigkeit zu entspannen.
»Haben Sie ihr gesagt, welche Gefühle Sie ihr entgegenbringen?«, flüsterte Troi.
Er starrte die Counselor groß an und spürte, wie sich Ärger in ihm regte. Dann bemerkte er das Funkeln in den dunklen Augen der Betazoidin und der Groll verschwand aus ihm. Deanna Troi war hoffnungslos romantisch, so wie er selbst, und sie verdiente eine Antwort.
»Nein«, antwortete er ebenso leise. »Welchen Sinn hätte es? Das Ende der Kristallwelt und ihrer Bewohner steht bevor. Unter solchen Umständen kann ich sie nicht mit meinen Problemen belasten.«
»Die meisten Leute sähen kein ›Problem‹ in einer beginnenden Liebe«, meinte Troi.
Reg seufzte. »Aber für mich ist es eins. Derzeit geht es vor allem darum, dass wir die Kristallwelt retten. Sie ist einzigartig – wir müssen ihren Bewohnern unbedingt helfen.«
»Wir geben uns alle Mühe.« Troi lächelte matt. »Ich war zwei Tage lang krank und bin noch immer damit beschäftigt, mir ein Bild von den Ereignissen zu machen. Was mit mir geschehen ist, steht in irgendeinem Zusammenhang mit dem Dimensionsriss dort draußen. Wenn ich doch nur über die Art der Verbindung Bescheid wüsste!«
Reg senkte den Kopf. »Haben Sie gesehen, was mit der Summit geschah, als sie versuchte, uns zur Hilfe zu kommen?«
»Ja«, entgegnete Troi und schnitt eine Grimasse. »Ich habe jeden einzelnen Tod gespürt. Aber jetzt fühle ich etwas anderes, etwas Schlimmeres… Oh, ich kann es nicht erklären. Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, dass wir hier auf uns allein gestellt sind. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die eine oder andere schwere Entscheidung zu treffen. Wie dem auch sei… Es überrascht mich, dass wir keine andere Möglichkeit als die Deaktivierung der Schale gefunden haben.«
»Wie wir uns auch drehen und wenden – überall stoßen wir auf Hindernisse«, sagte Reg finster. »Wer auch immer die Schale sabotierte – er hat an alles gedacht und jede mögliche Gegenmaßnahme berücksichtigt. Und er treibt sich noch immer dort draußen herum.«
»Vermutlich wollte der Captain deshalb, dass ich mitkomme«, erwiderte Troi ernst. »Vielleicht haben wir Glück und meine empathischen Fähigkeiten kehren zurück. Ich bin nicht sicher, ob ich ohne sie eine große Hilfe sein kann.«
Reg nickte und wusste nicht, was er sagen sollte. Er glaubte nicht, dass ihre Mission so einfach war, wie der Captain sie beschrieben hatte. Ja, die Enterprise hatte schon viele andere schwierige Situationen überstanden, aber meistens war sie dabei mit einem Feind konfrontiert gewesen, den man sehen und gegen den man kämpfen konnte. In diesem Fall standen sie einem vagen, aber tödlichen Widersacher gegenüber: dunkler Materie aus einer anderen Dimension. Ihre grässlichste Auswirkung bestand aus dem Wachstum der dunklen Kristalle, die überall in der Kristallwelt wucherten. Doch eine noch größere Gefahr ging von der unsichtbaren Strahlung aus, die sie alle in einigen Tagen umbringen würde.
Reg räusperte sich, schluckte und drehte Däumchen. Es war ihm gelungen, das Thema zu wechseln und von Melora Pazlar abzulenken, doch die Frage blieb: Welche Gefühle bringe ich ihr entgegen?
Wie seltsam: Je schlimmer die Situation wurde, desto mehr schien er sich in Melora zu verlieben. Das Leben spielte ihm in dieser Hinsicht einen üblen Streich und Reg sah darin einen weiteren Beweis dafür, dass das Schicksal gegen ihn war. Wie soll ich Melora sagen, dass ich sie liebe? Angesichts der großen Gefahr, die ihrer Heimat-weit droht, kann sie keine Ablenkungen durch persönliche Angelegenheiten gebrauchen.
»Die Scanner erfassen zahlreiche Lebensformen, die sich uns nähern«, sagte Picard plötzlich und Reg zuckte zusammen. Der Captain sah auf die Anzeigen und blickte dann durchs Fenster. Barclay und Troi beugten sich erwartungsvoll vor.
»Die Prozession«, verkündete Melora. »Sie ist ziemlich groß. Tangre Bertoran wies zwar darauf hin, dass wir uns ihr anschließen können, Sir, aber ich halte es trotzdem für besser, ihr in einem respektvollen Abstand zu folgen.«
»Gehen Sie nach Ihrem eigenen Ermessen vor«, sagte der Captain.
»Ja, Sir.« Meloras Finger flogen so über die Kontrollen, als spielte sie auf einem Musikinstrument. Alle anderen blickten aus dem Fenster und warteten darauf, dass die Prozession in Sicht geriet.
Picard sah erneut auf die Instrumentenanzeigen und deutete nach unten. »Backbord, vom Planeten her.«
Alle vier reckten die Hälse und neigten sich zur Seite, um die lange Schlange aus Geschöpfen zu sehen, die aus den blauen Tiefen emporglitten. Immer wieder wand sich die Prozession von einer Seite zur anderen, wie ein Schwärm betrunkener Gänse. Nach einigen Sekunden bemerkte Reg, dass die Wesen recht schnell waren – und ein ganzes Stück größer, als er zunächst angenommen hatte. Außerdem verfügten sie über gelbe Schwänze.
Kurze Zeit später revidierte er diese Ansicht und begriff, dass es sich nicht um Vögel oder vogelartige Kreaturen handelte. Es waren jeweils zwei Wesen – eins zog das andere. Die vermeintlichen gelben Schwänze stellten sich als gelbe Gewänder heraus und das bot einen deutlichen Hinweis auf die Identität der Gezogenen: Jeptah, die Elite der Elaysianer.
Doch von wem wurden sie gezogen? Als die sonderbaren Geschöpfe näher kamen, stellte Reg verblüfft fast, dass sie wie große Muränen aussahen. Jedes von ihnen war zwei oder drei Meter lang und verfügte über einen großen, reptilienartigen Rachen mit spitzen Zähnen. Ihre Farben reichten von schimmerndem Silber bis hin zu einem milchigen, fast transparenten Weiß. Wie hauchzarte Flossen wirkende, etwa einen Meter lange Flügel reichten in mehrere Richtungen, schlugen anmutig oder blähten sich wie Segel in Luftströmungen auf.
Etwas glänzte an den sehnigen Leibern und Reg begriff, dass sie mit Edelsteinen besetztes Zaumzeug trugen. Daran hingen goldene Zügel und die Jeptah hielten sie wie königliche Potentaten.
»Frills«, flüsterte Deanna heiser. »Es müssen etwa hundert sein.«
»Sechsundachtzig«, sagte Picard mit einem weiteren Blick auf die Anzeigen der Konsole. »Sehen sie nicht prächtig aus?«
»Es sind karnivore Geschöpfe«, meinte Troi. »Keine Sorge«, warf Melora ein. »Wir wahren eine sichere Distanz – bis sie gefressen haben.«
Reg runzelte die Stirn und fragte sich, ob die junge Elaysianerin ihre Worte scherzhaft meinte oder nicht. Eigentlich gehörte Melora nicht zu den Leuten, die oft scherzten, obwohl sie viel Zeit in menschlicher Gesellschaft verbracht hatte. Mit ihren schlangenartigen Schnauzen und den spitzen Zähnen erweckten die Frills den Eindruck, alles verspeisen zu können, was sie wollten – Starfleet-Offiziere eingeschlossen.
Die bizarre Prozession hielt direkt auf die Schale zu und kam dicht am Shuttle vorbei. Reg hätte am liebsten vorgeschlagen, die Luke zu schließen, denn er empfand die Blicke der Frills als beunruhigend. Ihre Augen waren kalt, wie die von Fischen. Intelligent gewordene Raubtiere, dachte Reg und bemerkte, dass zehn oder mehr Frills am Ende der Prozession keine elaysianischen Passagiere hinter sich her zogen. Niemand hielt sich an ihren Zügeln fest.
Stille herrschte im Shuttle, als die Prozession vorbeiglitt und vor dem Neunten Verarbeitungstor anhielt. Die Frills schienen sich zu putzen, breiteten ihre zarten Schwingen aus und krümmten ihre flachen Schwänze. Es fiel Reg noch immer schwer, etwas anderes an ihnen wahrzunehmen als die Mäuler mit den Zähnen. Die Jep- tah hielten auch weiterhin die Zügel umfasst und ihre Mienen blieben steinern.
Nach einer Weile öffnete sich das Tor und Elaysianer flogen nach draußen. Sie wichen beiseite und machten einigen Jeptah Platz, die einen großen Beutel aus scharlachrotem Material ins Freie zogen.
»Das ist Zuka Juno«, erklärte Melora. »Sie werden ihn am letzten Frill festbinden… Nie zuvor habe ich eine so große Prozession gesehen.«
»Er war ein wichtiger Mann«, erwiderte Barclay.
»Und Sie haben seine Nachfolge angetreten«, sagte Melora.
Reg schluckte erneut und fragte sich, ob ihn sechsundachtzig Frills zu seiner letzten Ruhestätte bringen würden. Von allen Elaysianern wagten es nur die Jeptah, sich den Furcht einflößenden Geschöpfen zu nähern. Meloras Vorhersage erwies sich als richtig: Man band den scharlachroten Sack am letzten Frill fest, der ohne Reiter war.
Die Menge am Tor teilte sich erneut und zwei Alpusta kamen zum Vorschein, noch immer durch ihre mobilen Netze mit der Schale verbunden. Jeder von ihnen zog mehrere bunte Bündel, so flach und rund wie in Geschenkpapier gewickelte Reifen.
»Hmm«, sagte Melora nachdenklich. »Offenbar ist es gelungen, einige Alpusta-Leichen zu bergen. Diesmal werden mehrere Tote zum Blutprisma gebracht.«
Die toten Alpusta wurden an den restlichen reiterlosen Frills festgebunden – jeder von ihnen bekam drei oder vier bunte Bündel. Im Leben waren die Alpusta groß und stachelig, im Tod hingegen klein und kompakt. Trotzdem nahm das Festbinden einige Zeit in Anspruch und hier und dort kam es zu Unruhe bei den Frills. Die Jeptah-Passagiere sprachen auf sie ein und es gelang ihnen, die meisten Muränen-Wesen zu beruhigen.
Reg fühlte sich von Erleichterung durchströmt, als sich die große Prozession schließlich wieder in Bewegung setzte. Einige Jeptah flogen mit Schwebeplattformen voraus und wiesen allen anderen den Weg zurück zum Planeten. Als die Frills schneller wurden, breiteten sie die silbrigen Flügel aus, fanden vertikale Luftströmungen und segelten in einem weiten Bogen den Kristallen entgegen.
»Bereiten Sie sich auf den Start vor«, forderte Melora ihre Begleiter auf.
Reg schloss die Hände um die Armlehnen seines Sessels, aber er spürte kaum eine Bewegung, als sich der Shuttle von der uralten Maschine entfernte, die den ganzen Planeten umgab. Er hatte noch immer ein flaues Gefühl in der Magengrube, doch diesmal ging es nicht auf die Schwerelosigkeit zurück, sondern auf Sorge. Acht Tage genügten kaum, um die Kristallwelt zu erforschen, geschweige denn, die ganze Bevölkerung dazu zu überreden, alles zu riskieren, nur auf der Grundlage einer Theorie von Außenweltlern.
Und wenn wir versagen? Was passiert, wenn es uns nicht gelingt, mit den Frills oder den anderen Spezies zu kommunizieren? Dann müssen wir tatenlos zusehen, wie zwei Milliarden Personen sterben. Wir könnten nur einige hundert von ihnen retten! Dieser Gedanke genügte, um jeden mit Unbehagen zu erfüllen.
Während Reg beobachtete, wie Melora den Shuttle steuerte, tastete er hilflos nach dem Kristall, der an seinem Hals schwebte. Die Elaysianerin verließ sich auf die Enterprise-Crew – sie verließ sich vor allem auf seine Hilfe –, und er fürchtete, sie zu enttäuschen.
Barclay schloss die Augen und hoffte, dass Übelkeit, Unbehagen und Zweifel an sich selbst so bald wie möglich aus ihm verschwanden.
Über den Himmel erstreckte sich eine erstaunliche Prozession aus aalartigen Geschöpfen, die Passagiere und bunt eingewickelte Leichen hinter sich her zogen. Der kantige Shuttle folgte ihnen in einem gewissen Abstand, als sie in Richtung der uralten Prismen und Türme der Kristallwelt flogen.