5

Captain Picard schwebte in Lautlosigkeit – er sah seine Begleiter, hörte sie aber nicht mehr. Die einzigen Geräusche, die er vernahm, stammten von seinem künstlichen Herzen: ein rhythmisches Pumpen in den Ohren. Er versuchte, den Blick auf den Shuttle zu fixieren, aber es löste sich auf, wich einem aquamarinblauen Meer, in dem Dutzende von amorphen Lipuls schwammen. Er fühlte sich nicht berauscht, glaubte vielmehr zu spüren, wie ein anderes Bewusstsein sein Selbst berührte. Picard wusste, dass er keinen Widerstand leisten sollte, aber nach seinen Erfahrungen mit den Borg fiel es ihm schwer, sich zu öffnen.

Als ihm übel wurde, begriff er, dass ihm gar keine Wahl blieb – er musste den Kontakt herstellen, denn er war weit von der Krankenstation entfernt. Er schloss die Augen und trachtete danach, sein Ich von allem Ballast zu befreien, sich nicht von den besorgten Personen in seiner Nähe ablenken zu lassen.

»Willkommen«, ertönte die eigene Stimme in seinem Geist. »Sie sind aus einem Grund hier, den ich nicht kenne. Ich weiß nichts über Sie und deshalb bin ich Ihnen gegenüber im Nachteil. Bitte geben Sie mir Gelegenheit, Sie zu schmecken; anschließend setzen wir die Kommunikation fort. Wenn Sie mir eine Frage stellen möchten, so denken Sie daran, während Sie mir einen Teil von sich selbst geben. Ich möchte alle Angehörigen Ihrer Gruppe kennen lernen. Bitten Sie sie alle, ihrerseits einen Teil von sich zu geben. Meine Gehilfen werden Ihnen zu Diensten sein. Ich grüße Sie.«

Picard erwachte wie aus einem Traum und starrte seine Begleiter an, die ihn besorgt musterten. »Ist alles in Ordnung, Sir?«, fragte Deanna.

»Ja«, sagte der Captain und klopfte sich auf die Brust, dankbar dafür, dass die Übelkeit aus ihm verschwunden war. Mit knappen Worten schilderte er die Botschaft der mentalen Stimme.

»Wollen Sie… wollen Sie dem Wesen wirklich Ihr Blut geben?«, fragte Reg.

»Ja, ich denke schon«, erwiderte Picard. »Ich möchte, dass mich der Gendlii kennen lernt. Um einen solchen Gefallen bittet er uns alle.«

Barclay schluckte. »Sind Sie sicher, dass Sie ihn nicht missverstanden haben, Sir?«

»Ja, das bin ich. Übrigens: Während wir unser Blut geben, sollten wir an eine Frage denken. Ich werde mich auf das Problem mit dem Dimensionsriss konzentrieren und den Gendlii fragen, ob er davon weiß.«

Bevor er zu lange darüber nachdenken konnte, was ihm jetzt bevorstand, streckte Picard die Hand aus. Der Hauptgehilfe griff sofort danach, stach ihm in den Daumen und schob den Finger dann in den Pilz hinein.

Picard versuchte, ruhig zu bleiben. Wie viel Blut brauchte der Gendlii, um seine Gedanken zu erkennen? Der kleine Schnitt im Daumen schmerzte zunächst, doch das Brennen ließ rasch nach. Enthielt die Substanz des Gendlii ein natürliches Anästhetikum?

Ganz plötzlich ließ der Gehilfe die Hand wieder los und Picard presste sie sich an die Brust. Er wandte sich an seine Begleiter und lächelte schief. »Deshalb tragen Raumschiffkommandanten rote Uniformen – damit die Crew nicht sieht, wie sie bluten.«

»Es klappt nicht sehr gut«, sagte Melora.

Ein anderer Gehilfe bückte sich, zog einen Brocken aus dem Pils und reichte ihn dem Captain. Er war größer, etwa so groß wie ein Keks, und drei Bissen waren nötig, um ihn zu verspeisen. Seltsamerweise war er nicht so trocken und fade wie das erste Stück.

Die Zeit schien langsamer zu verstreichen, während ihn die anderen beobachteten, und Picard fragte sich, ob er ein wirkungsloses Stück des Pilzes bekommen hatte. Oder vielleicht mangelte es ihm für den Empfang der Gendlii-Stimme an Sensibilität. Doch dann, von einem Augenblick zum anderen, blitzte ein helles Licht hinter seinen Augen auf und er schnappte nach Luft. Als er wieder sehen konnte, befand er sich an einem dunklen Ort und stand seinem Duplikat gegenüber, das allerdings keine Uniform trug, sondern ein weißes Gewand, und dadurch wie eine Art Gott wirkte.

Der andere Picard lächelte erfreut. »Jetzt kenne ich Sie, Captain Jean-Luc Picard! Ich weiß alles über Sie und auch Ihre Denkweise ist mir vertraut. Ich weiß, warum Sie hierher gekommen sind… Warum haben Sie so lange gewartet? Schon gut. Die Zeit ist knapp, wie Ihnen klar sein dürfte. Zwar verlasse ich diesen Ort nie, aber ich höre eine Menge und ich weiß, dass unsere Welt Feinde hat. Bisher haben sie sich nie gezeigt, aber jetzt sind sie entschlossen, uns zu zerstören.«

Die Erscheinung veränderte sich, wurde zu einem großen Alpusta, der auf zahlreichen dünnen Beinen hüpfte. »Ich werde meinen Stellvertreter auffordern, Ihre Mission zu unterstützen. Sagen Sie dem Gehilfen, dass Sie einen Teil von mir mitnehmen müssen, für Tangre Bertoran bestimmt. Mögen die Luftströmungen mit Ihnen sein, Captain Jean-Luc Picard.«

Der Mensch blinzelte, fand sich bei der Einsatzgruppe und den sechs Gehilfen wieder, in deren Gesichtern die gleiche Substanz wuchs, von der er gerade gegessen hatte. Er wandte sich dem nächsten von ihnen zu. »Ich brauche ein Stück, um es dem Stellvertreter des Gendlii zu bringen.«

Der entstellte Elaysianer nickte und berührte einen Kollegen, der in einen Beutel an der Hüfte griff und einen gläsernen Behälter hervorholte. Mit der freien Hand tastete er mehrere Sekunden lang über den Pilz, um das richtige Stück zu finden, brach es ab und schob es ins Glas, das er dann Picard reichte.

»Danke«, sagte der Captain. »Mr. Barclay, jetzt sind Sie an der Reihe.«

Reg schluckte und straffte die Schultern. »Ja, Sir.«

»Es tut nicht sehr weh, Lieutenant. Denken Sie an die Frage, die Sie stellen wollen, und strecken Sie dann die Hand aus.«

Reg erbleichte und streckte den Gehilfen eine zitternde Hand entgegen. »K-könnte ich fragen, wer die Schale sabotiert hat?«

»Gute Idee.« Picard nahm Barclays Hand und legte sie in die des Hauptgehilfen. Der Elaysianer stach zu, was Reg zu einem Wimmern veranlasste, und steckte den Finger dann in die schwammige Masse des Pilzes. Als ihn der Gehilfe losließ, schob sich Barclay den blutigen Daumen sofort in den Mund und saugte daran – eine instinktive Reaktion, die mit Hygiene nicht viel zu tun hatte.

Einige Sekunden vergingen und dann suchte ein anderer Gehilfe nach einem geeigneten Brocken. Voller Ehrfurcht reichte er Barclay ein semmelgroßes Stück. Reg starrte darauf hinab und der letzte Rest von Farbe wich aus seinem Gesicht.

»Essen Sie es einfach«, drängte Nordine munter. »Sie können auf der Kristallwelt nichts falsch machen.«

Barclay lächelte tapfer und sah Melora an, die von ihren eigenen Gedanken abgelenkt zu sein schien. Er biss vier- oder fünfmal widerstrebend zu und würgte mehrmals, aber schließlich gelang es ihm, das Pilzstück in den Magen zu bekommen. Er kniff die Augen zu, schnitt eine Grimasse und wartete.

Zwar hatte Reg die Augen geschlossen, aber trotzdem sah er etwas: geisterhafte Körper, die schließlich zu einer Prozession aus Bischöfen und Priestern wurden und durch eine große Kathedrale schritten. Die Säume ihrer eleganten Roben strichen über den Boden. Reg begriff, dass sie gingen, was bedeutete: Dies konnte unmöglich die Kristallwelt sein. Es schien sich vielmehr um eine Andachtsstätte auf der Erde zu handeln und der Anblick erfüllte Reg mit Heimweh.

Eine Sekunde später wurde ihm klar, dass dies unmöglich die Realität sein konnte. Die einzige Erklärung lautete: Er sah eine Vision. Aber sie war in allen Einzelheiten perfekt: brennende Kerzen, Buntglasfenster, gut gekleidete Gemeindemitglieder, läutende Glocken und ein singender Chor. Alles wirkte wundervoll!

Reg begann zu weinen und eine tiefe Stimme sagte: »Sei unbetrübt, mein Sohn, denn du bist auf dem richtigen Weg.«

Reg hob den Kopf und sah einen der heiligen Männer aus der Prozession. Er ragte vor ihm empor, wie ein Erwachsener, der sich an ein Kind wandte. Die weißhaarige Eminenz wies beunruhigende Ähnlichkeit mit dem kürzlich verstorbenen Zuka Juno auf. Unbehagen regte sich in Reg und er tastete nach dem Kristall, den er vom Cheftechniker der Elaysianer erhalten hatte. Voller Erleichterung stellte er fest, dass er noch immer an seinem Hals hing.

»Lehren wir nicht die göttliche Natur des Verzeihens?«, fragte der heilige Mann freundlich und lächelte. »›Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.‹ Ich bitte nicht dich, eine Schuld zu vergeben, denn du bist nicht derjenige, der verzeihen kann. Aber ich bitte dich, die Suche nach Gerechtigkeit zu verschieben, bis du die wichtigere Aufgabe erfüllt hast.«

Barclay starrte den Geistlichen groß an. »Sie wissen, wer den Planeten zu zerstören versucht. Und Zuka Juno wurde vom dem oder von den Unbekannten umgebracht!«

»In dieser Kultur erfülle ich den gleichen Zweck wie die Priester deiner Heimat«, erklärte die Erscheinung. »Ich bin der Beichtvater für die ganze Kristallwelt. Man teilt mir Dinge im Vertrauen mit. Oder ich erfahre auf andere Weise davon. Manchmal glaube ich, zu viel zu wissen, aber glücklicherweise bin ich groß und dicht, voller Bindegewebe.«

Der Geistliche verneigte sich. »Trage deine Bürde gut, mein Sohn.«

Einen Moment später erwachte Barclay, sah die anderen Angehörigen der Einsatzgruppe und einen gewaltigen Pilz, neben dem selbst die riesigen Kristalle zwergenhaft wirkten. »Captain!«, entfuhr es ihm.

Am liebsten hätte er sofort alle Einzelheiten seiner Kommunikation mit dem Gendlii geschildert, aber dann bemerkte er Keefe Nordine, Melora und die elaysianischen Gehilfen – die besonderen Umstände erforderten Vorsicht.

Picard schwebte näher. »Ja?«

Barclay beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Der Gendlii weiß, wer die Schale sabotiert und Zuka Juno umgebracht hat.«

»Wer war es?«, hauchte der Captain. »Er wollte den Namen nicht nennen.« Picards Miene verfinsterte sich. »Sind Sie sicher, dass Zuka Juno umgebracht wurde?«

»Nun… äh… nicht in dem Sinne«, erwiderte Reg. »Ich schätze, vor Gericht werden Halluzinationen nicht als Beweismittel anerkannt. Aber wie dem auch sei… Nach dem Kontakt mit dem Gendlii bin ich davon überzeugt, dass Zuka Juno keines natürlichen Todes starb.« Der Captain nickte nachdenklich und hob das Glas mit dem Pilzstück. »Wir haben bekommen, was wir wollten: die Kooperationsbereitschaft des Gendlii. Wenn wir darüber hinaus noch etwas erfahren, so ist das ein zusätzlicher Bonus. So sehe ich die Sache.«

»Ja, Sir«, sagte Reg, straffte die Gestalt und bemühte sich, seine Aufregung in Zaum zu halten. Er wollte so sehr jedes Rätsel in Verbindung mit der Mission lösen – und zu einem Helden werden –, dass er manchmal vergaß, worum es eigentlich ging. Wenn in einigen Tagen alle Bewohner der Kristallwelt tot waren, spielte die Identität des Schuldigen für niemanden mehr eine Rolle – außer vielleicht für einige Starfleet-Historiker. Das hatte ihm der Gendlii mitzuteilen versucht.

»Kann ich der nächste sein, Captain?«, fragte Keefe Nordine.

Picard sah zu den beiden Frauen Troi und Pazlar – keine von ihnen schien es besonders eilig zu haben, einen Kontakt mit dem Gendlii herzustellen. Er traute dem jungen Mann nicht ganz, aber der Gendlii hatte darauf hingewiesen, dass er mit allen kommunizieren wollte. Die Gehilfen warteten geduldig, mit Augenhöhlen, in denen Pilze wuchsen.

»Na schön«, sagte Picard. »Aber ich möchte einen Bericht.«

Reg schauderte, als er beobachtete, wie man dem dunkelhaarigen Fremden in den Daumen stach und seinen Finger dann in die Pilzmasse steckte. Er sah zu Melora und fragte sich, warum sie der Kommunikation mit dem Gendlii ganz offensichtlich ablehnend gegenüberstand. Dann erinnerte er sich

an den Hinweis des Wesens, Beichtvater für die ganze Kristallwelt zu sein, und er begriff: Der Kontakt mit einer solchen Entität konnte eine demütigende und ernüchternde Erfahrung sein. Picard und Reg hatten nicht gewusst, was sie erwarten würde, vielleicht im Gegensatz zu Melora.

Fühlt sie sich wegen irgendetwas schuldig?

Während Barclay noch daran dachte, weswegen sich Melora schuldig fühlen konnte, gaben die Gehilfen Keefe Nordine ein Stück vom Pilz. Kurze Zeit später fiel er in eine Art Trance: Augen und Lippen blieben in Bewegung, aber er kommunizierte nicht mehr mit den Personen in seiner Nähe.

»Es ist fast wie beim Empfang von Subraum-Mitteilungen, die einen weiten Weg hinter sich haben«, flüsterte Barclay dem Captain zu. »Man kann die Nachricht hören und antworten, aber die Kommunikation erfolgt nicht in Echtzeit.«

»Ja«, bestätigte Picard. Er beobachtete aufmerksam, wie Nordine seine stumme Zwiesprache mit dem Riesenpilz beendete. Aufregung glühte im Gesicht des jungen Mannes.

»Ich fasse einfach nicht, warum ich nie hierher gekommen bin!«, brachte er hervor. »Es hätte mich vielleicht davor bewahrt, verrückt zu werden.«

»Was hat Ihnen der Gendlii gesagt?«, fragte Picard.

Nordine runzelte besorgt die Stirn. »Einiges davon ist persönlicher Natur und ich muss darüber nachdenken. Das Geschöpf forderte mich auf, Ihnen zu helfen, um mich zu rehabilitieren. Und es meinte, ich sollte die großspurige Tour aufgeben – weil ich Sie damit nicht beeindrucken kann.«

Der Abenteurer lachte und schüttelte den Kopf. »Diese alte Pflanze ist sehr klug. Sie hat mich sofort durchschaut.«

Der Captain wandte sich an Melora Pazlar. »Möchten Sie jetzt einen Kontakt herstellen, Lieutenant?«

»Ich habe mich dagegen entschieden«, erwiderte sie brüsk. »Dieses Zeug zu essen… Als Kind wurde mir schlecht davon. Außerdem muss ich den Shuttle fliegen. Ich möchte mein Pilotengeschick auf keinen Fall beeinträchtigen lassen.«

»Ich spüre keine negativen Folgen«, sagte Reg. »Nicht die geringsten.«

»Sie müssen den Shuttle auch nicht durch das Labyrinth aus Prismen fliegen«, entgegnete Melora scharf.

»Der Gendlii hat darauf hingewiesen, dass er mit uns allen sprechen will«, beharrte Picard.

»Das sagt er immer.« Melora wandte sich an die Gehilfen und fragte: »Ich bin doch nicht verpflichtet, von ihm zu nehmen und von mir zu geben, oder?«

Die Elaysianer schüttelten den Kopf. »Nein«, intonierten sie.

Der Captain presste verärgert die Lippen zusammen und sah Deanna Troi an. »Was ist mit Ihnen, Counselor?«

»Ich möchte dies auf keinen Fall verpassen.« Die Betazoidin lächelte mutig und streckte ihre Hand dem Hauptgehilfen entgegen. Reg wandte den Blick ab – er konnte einfach nicht so viel Blut sehen.

Einige Sekunden später kehrte seine Aufmerksamkeit zur Counselor zurück, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie sie ein Pilzstück aß. Reg hielt es für sehr selbstlos vom Gendlii, Teile des eigenen Körpers anzubieten, um eine Kommunikation mit jenen zu ermöglichen, die sich von ihm Antworten erhofften. Wie beunruhigend dies alles für jene Geschöpfe gewesen sein musste, die vor Äonen zum ersten Mal von dem Pilz gegessen hatten. Bestimmt waren sie davon überzeugt gewesen, den Verstand zu verlieren, ohne zu ahnen, dass sie den Kontakt mit einer fremden Wesenheit erlebten.

Trois Augen rollten und sie schien zu schlafen.

»Sie haben so viel hinter sich«, sagte die tröstende Stimme einer Frau – ihre eigene. »Entspannen Sie sich.«

Deanna glaubte, auf einem Floß zu liegen, das auf den sanften Wellen eines Meeres schwamm, jenes dunkelblauen Ozeans, den sie in ihren früheren Träumen gesehen hatte. Es mochte Milliarden von Jahren her sein, dass die Kristallwelt ein Planet mit Meeren gewesen war, aber die Spezieserinnerungen an jene Zeit erwiesen sich als bemerkenswert frisch.

»Wir nehmen die gleiche Aufgabe wahr«, sagte ihre eigene, verständnisvolle Stimme. »Wir kümmern uns um jene, die ein Trauma erlitten haben. Sie sind traumatisiert, Counselor Troi, und Sie wissen es nicht einmal. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, es gibt ein Loch in Ihrem Bewusstsein. Aber es ist nicht leer, sondern wurde gefüllt. Wenn ich könnte, würde ich die betreffenden Gehirnzellen zerstören, damit Sie nie wieder leiden müssen. Aber ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, nie etwas aus meiner eigenen Erinnerung zu tilgen, ganz gleich, wie abscheulich oder störend es sein mag – vielleicht braucht man es irgendwann einmal.«

Deanna spürte Hände, die ihre Stirn und das Haar berührten. Sie öffnete die Augen und sah Will Riker, der sich über sie beugte und besonders herzlich lächelte. Sie freute sich sehr über diesen Anblick, obgleich sie wusste, dass es nicht wirklich Will war; trotzdem empfand sie diese Präsenz als sehr beruhigend.

»Imzadi«, sagte Will leise, »du bist nicht allein. Du hast Freunde und ich bin einer von ihnen. Weil du wie ich bist, ein Schwamm für die Emotionen und Wünsche anderer, steht dein Geist Eindringlingen offen. Wenn die Zeit kommt, dich deiner Furcht zu stellen, musst du dich an dich selbst erinnern. Du darfst nie deine eigene Identität vergessen, wie verlockend auch immer es sein mag, die Maske eines anderen Selbst zu tragen. Die Entität in deinem Bewusstsein ist mächtig, aber letztendlich sucht sie das, was wir alle suchen: Vergebung.«

Das Wasser schwappte über den Rand des Floßes und spritzte auf Deanna, brachte Kälte und verscheuchte Behaglichkeit. Als sie die Augen öffnete, überraschte es sie zunächst, dass sie nicht mehr auf einem Ozean schwamm. Dafür sah sie sich von einem cremefarbenen Pilzmeer umgeben.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Captain Picard.

»Ja.« Deanna nickte langsam.

»Haben Sie etwas erfahren, das für uns wichtig ist?«

Troi wurde ernst. »Nur dies: Wenn ich erneut den Verstand verliere, so sollte ich hierher gebracht werden. Können Sie dafür sorgen, Sir?«

»Ich verspreche es«, erwiderte der Captain.

Will Riker hatte nicht das Gefühl, in den magnetischen Stiefeln kopfüber zu hängen, aber er empfand es trotzdem als seltsam, sich auf diese Weise an der Außenhülle der Schale zu bewegen. Aus dem gegenwärtigen Blickwinkel gesehen wirkte der Planet wie eine Hohlwelt, wie ein Schweizer Käse aus Metall, das sich dem Horizont entgegenwölbte. Die schwarzen Flecken waren Öffnungen zum Weltraum und fügten dem Anblick etwas Gespenstisches hinzu. Weiter oben erstreckten sich ein hellblauer Himmel und die Konturen der Prismen. Aus dieser Entfernung betrachtet hätte man sie für glitzerndes Kinderspielzeug halten können.

Tangre Bertoran veränderte seine Position so, dass er parallel zu Riker, Data und LaForge schwebte. Mit einer Hand öffnete er ein großes Gehäuse, das elektrische Verbindungen und einen pulsierenden Transformer enthielt. »Die Injektionskupplungen eignen sich besonders für eine energetische Verbindung mit den Kraftfeldern.« LaForge nickte und blickte aufs Display seines Handcomputers. »Wir haben bereits festgestellt, dass wir unsere energetischen Transferleitungen mit einer speziellen Modulation an Ihre Systeme anpassen können. Die Eindämmungsfelder stellen allerdings noch immer ein Problem dar.«

»Wie auch immer wir vorgehen…«, sagte Bertoran. »Es wird uns nie gelingen, allen Starfleet-Spezifikationen zu genügen. Es spielt auch keine Rolle. Wenn wir keinen Versuch wagen, sterben wir alle. Wenn wir keinen Erfolg erzielen, steht uns ebenfalls der Tod bevor – zumindest den meisten von uns. An Bord der Enterprise können Sie vermutlich überleben, wenn die Kristallwelt ihre Atmosphäre verliert, aber wir anderen können dann niemanden mehr für das Versagen der Kraftfelder verantwortlich machen.«

LaForge sah verlegen zu Riker und zuckte mit den Schultern. »Ich denke, wir sollten einfach weitermachen.«

»Vielleicht lässt sich ein Test durchführen«, schlug Bertoran vor. »Sie verstehen sich doch gut auf Simulationen, nicht wahr? Gibt es die Möglichkeit, bei einem Test herauszufinden, ob unsere Maßnahmen die gewünschte Wirkung haben?«

Riker sah von LaForge zu Data. »Was meinen Sie?«

»Ein Test ist durchaus möglich«, erwiderte der Androide. »Mit Hilfe von Computersimulationen haben wir bereits eine Situationsanalyse vorgenommen. Doch nur ein Test unter realistischen Bedingungen kann zuverlässige Informationen liefern.«

»Also führen wir einen Test unter realistischen Bedingungen durch«, sagte Bertoran fröhlich. »Commander Riker, Sie sollten die Enterprise möglichst nahe an die Injektionskupplungen heranbringen und wir dehnen das Kraftfeld so weit aus, dass es Ihr Schiff umschließt. Dann brauchen Sie die Schilde nicht mehr. Zumindest dieser Teil lässt sich verifizieren.«

Der Elaysianer fuhr fort: »Anschließend stellen wir die Verbindungen her und leiten Energie von der Enterprise in die Generatoren. Sie werden bestimmt damit fertig. Immerhin haben sie sich auch der gesteigerten Aufnahme von dunkler Materie angepasst. Nur auf die letzte, entscheidende Maßnahme verzichten wir zu jenem Zeitpunkt – die Schale zu deaktivieren und die Energie der Enterprise in unsere Kraftfelder zu leiten. Ich nehme an, Sie werden die Crew in einer Sektion sammeln, um weniger Energie für die Lebenserhaltungssysteme zu benötigen.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Riker. »Die Stationen auf der Brücke und im Maschinenraum bleiben besetzt, doch die meisten Besatzungsmitglieder werden sich im vorderen Beobachtungsraum einfinden.«

Bertoran nickte. »Dann haben wir alles getan, was möglich ist. Sollen wir den Test in achtundvierzig Stunden durchführen? Dadurch bleiben uns noch einige zusätzliche Tage, falls etwas schief geht.«

Riker sah erneut zu LaForge und Data, die beide nickten. Dann blickte er über den endlosen metallenen Horizont – es fiel ihm schwer, sich die Enterprise in unmittelbarer Nähe der Schale vorzustellen. Doch sie mussten damit beginnen, Energie zu sparen, und die Schilde beanspruchten einen großen Teil des energetischen Potenzials. Das große Schiff hatte gefährlichere Missionen als die gegenwärtige hinter sich gebracht und Riker sah keinen Grund, Einwände zu erheben, auch deshalb, weil die ganze Sache auf seine Idee zurückging. Bertoran hatte deutlich darauf hingewiesen: Die Gefahr drohte in erster Linie den Bewohnern der Kristallwelt, nicht der Crew der Enterprise.

»Na schön«, sagte er. »Treffen wir Vorbereitungen für einen Test in achtundvierzig Stunden.«

Tangre Bertoran lächelte breit und rieb sich die Hände. »Ausgezeichnet! Commander Riker, ich zweifle nicht daran, dass die Enterprise die Kristallwelt retten wird.«

»Wohin jetzt?«, fragte Melora Pazlar, als sie die Luke des Shuttles schloss. Sie schien es recht eilig damit zu haben, den Gendlii zu verlassen, und Reg Barclay fand das seltsam. Sie war auch die Einzige gewesen, die nicht mit dem Riesenpilz kommuniziert hatte, obwohl sie im Gegensatz zu ihren Begleitern von der Kristallwelt stammte.

Zugegeben: Wenn ihm eine Wahl geblieben wäre, hätte er gern auf die rituelle Aufnahme von Körpersubstanz verzichtet. Doch inzwischen blickte er voller Zufriedenheit auf jene Erfahrung zurück. Zwar wollte der Gendlii die Identität des Saboteurs nicht preisgeben, aber der Umstand, dass jemand Bescheid wusste, beruhigte Reg. Wenn die Krise überstanden und der Dimensionsriss geschlossen war – vielleicht konnten sie den Gendlii dann dazu bringen, ihnen mehr zu verraten.

»Lieutenant Pazlar«, sagte Captain Picard, »wie lang sind die geschätzten Flugzeiten zum Alpusta-Territorium, der Yiltern- Enklave und dem Heimatprisma des Lipul-Cheftechnikers?«

Melora sah auf die Anzeigen. »Vierzehn Stunden bis zu den Alpusta. Sie sind am weitesten entfernt. Etwa acht Stunden bis zur Yiltern-Enklave. Und das Heimatprisma des Lipul- Cheftechnikers ist etwa zehn Flugstunden von hier entfernt.«

»Und die Enterprise?«

»Das lässt sich besonders schwer abschätzen, denn von hier aus gibt es keine direkte Route zum Schiff. Acht bis zehn Stunden, denke ich.«

Picard runzelte die Stirn und wirkte alles andere als erfreut. Barclay wusste, was ihm Sorgen bereitete: die langen Reisezeiten. Denn gerade die Zeit wurde immer knapper. Andererseits: Auf – beziehungsweise in – diesem einzigartigen Planeten verfügten sie über das schnellste Transportmittel; sie hatten also kaum einen Grund zur Klage.

Der Captain sah zu Keefe Nordine, dem geheimnisvollen Passagier. Mit überkreuzten Beinen schwebte er in der Luft, wie ein indischer Fakir, und seine Lippen formten ein sehr zufriedenes Lächeln. Von ihnen allen schien er den größten Gefallen am Gespräch mit dem Gendlii gefunden zu haben. Reg fragte sich, worüber sie gesprochen hatten.

»Lieutenant, bringen Sie uns zum Schiff zurück«, sagte der Captain. »Vielleicht müssen wir uns teilen und mit zwei Shuttles aufbrechen, um rechtzeitig zu allen Cheftechnikern zu gelangen.«

Zwei Einsatzgruppen – Reg schauderte bei der Vorstellung, denn es bedeutete, dass er die Leitung einer Gruppe übernehmen musste. Immerhin war er der amtierende Cheftechniker der Elaysianer, der Mann mit den Kristallen. Ihm lag nichts daran, eine Einsatzgruppe zu leiten, aber er wusste, dass ihm mit ziemlicher Sicherheit keine andere Wahl blieb.

Melora ging ihre Checkliste durch. »An alle, bitte anschnallen. Bereiten Sie sich auf den Start vor.«

»Brauchen Sie keine Ruhepause?«, fragte Deanna Troi.

»Ich ruhe mich aus, wenn wir die Enterprise erreicht haben«, erwiderte Melora. »Ich fühle mich gut. Sie und die anderen können unterwegs schlafen.«

»Bekomme ich Gelegenheit, mich vom Bordarzt untersuchen zu lassen?«, fragte Keefe Nordine.

»Ja«, bestätigte der Captain. »Wenn Dr. Crusher Ihre atrophierten Muskeln nicht in Ordnung bringen kann, so ist niemand dazu imstande.«

Nordine lächelte und zog sich zu einem Sessel. »Dann sollte sich diese Kiste endlich in Bewegung setzen!«

Picard runzelte die Stirn und zog den Gurt straff. »Starten Sie, wenn Sie bereit sind, Lieutenant.«

»Ja, Sir!«, antwortete Pazlar. Sie schien es gar nicht abwarten zu können, sich von dem intelligenten Pilz zu entfernen.

Wenige Sekunden später glitt der Shuttle fort von dem Kristallhaufen, der in einem Umhang aus Pilzsubstanz steckte. Reg bemerkte, dass Deanna Troi aus dem Fenster sah und beobachtete, wie die weiße Erscheinung in der Ferne verschwand.

»Woran denken Sie?«, fragte er.

»Ich denke daran, dass wir den Gendlii retten müssen«, sagte die Counselor. »Ich meine, wir müssen alle Bewohner der Kristallwelt retten, aber der Gendlii stellt etwas Besonderes dar.«

»Das stimmt«, pflichtete Reg ihr bei. »So etwas habe ich nie zuvor gesehen.«

Deanna nickte geistesabwesend und sah erneut aus dem Fenster. »Zumindest nicht in dieser Dimension.«