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26. Mai 1940
Es war fast einen
Monat her, seit man Gregs Leiche gefunden hatte, und nicht ganz
drei Wochen seit seiner Beerdigung.
Amber hatte geweint,
als sie aus seinem Testament erfahren hatte, dass er Rose ihrer
Fürsorge anvertraut hatte, und manchmal weinte sie nachts um den
Cousin, den sie verloren hatte. Irgendwie fiel es ihr leichter, um
Greg zu weinen als um Robert und Luc. Jetzt war sie allein mit der
Verantwortung für vier kleine Kinder, ihre Großmutter, die noch
nicht wieder richtig auf den Beinen war, das Gut und die
Fabrik.
Tom Mosley war
zusammen mit dreiunddreißig anderen Faschisten verhaftet und ins
Gefängnis in Brixton verbracht worden. Sie dachte an Diana. Wie
lange es doch her war, dass sie ihren Hofknicks vor Robert geübt
und dann von ihm ins Ritz eingeladen worden war, wo sie der schönen
Aristokratin zum ersten Mal begegnet war. Das war nicht nur eine
andere Zeit, sondern ein ganz anderes Leben gewesen. Was würde sie
dieser jungen Frau sagen, wenn sie ihr heute begegnen würde?
Welchen Rat würde sie ihr geben, wovor würde sie sie
warnen?
Amber blieb stehen
und drehte sich um. Sie beobachtete, wie die Sonnenstrahlen durch
das frisch entfaltete Laub der Buchen entlang der Einfahrt fielen,
während sie auf Bruno wartete, der im Frühlingsgras
schnupperte.
Am Samstag hatte sie
einen Brief vom Ministerium bekommen, in dem man ihr mitteilte,
dass die herzoglichen Tore in Osterby, auf die Robert so stolz
gewesen war, als er sie hatte entwerfen und aufstellen lassen,
sowie die Geländer vor ihrem Londoner Haus requiriert wurden, um
den Bedarf an Rohmaterial zur Produktion neuer Panzer zu decken.
Robert hatte seine Tore geliebt. Robert … Manchmal kam es ihr vor,
als entglitten er und Luc ihr; ihre Bilder waren noch in ihrem
Kopf, wurden aber immer weniger real und verschwammen mit Dingen,
an denen die beiden keinen Anteil gehabt hatten.
Der Krieg hatte so
viele Veränderungen mit sich gebracht, und jeden Tag gab es
neue.
In der Kirche war
Amber am Vortag aufgefallen, dass mehrere Menschen schwarze
Armbinden trugen, um anzuzeigen, dass sie jemanden verloren hatten.
Auf See hatte es durch die deutschen U-Boote erschreckend hohe
Verluste gegeben, und jetzt waren die Zeitungen voll von schlechten
Nachrichten aus Frankreich, das vor kurzem von den Deutschen
überfallen worden war. Es waren so viele widersprüchliche
Geschichten in Umlauf, dass es schwer war, zu beurteilen, was den
Tatsachen entsprach und was nicht. Wenn Jay doch nur bei ihr
wäre.
Amber drehte sich
auf dem Absatz um und ging schnell davon, als versuchte sie ihren
ungewollten Gedanken zu entfliehen. Bruno war gezwungen, die
Verfolgung einer interessanten Kaninchenfährte aufzugeben und ihr
nachzulaufen.
Später wollten sie
alle in die Kirche gehen, da der Tag zum Nationalen Tag des Gebets
für die britische Armee in Frankreich ausgerufen worden war. Sie
hatte bereits ihre eigenen privaten Gebete gesprochen, wie jeden
Tag seit Jays Abreise. Das Gebet vor dem Schlafengehen war Robert
und Luc vorbehalten und jetzt natürlich auch Greg.
»Selbstverständich
werden sie die Truppen evakuieren müssen, wenn sie jetzt, da die
Deutschen Calais eingenommen haben, noch etwas vom britischen
Expeditionskorps retten wollen.«
Die Stimme ihrer
Großmutter war schneidend vor Ungeduld, doch Amber hatte den
Verdacht, dass sich hinter ihrer Ungeduld nur ihre Angst verbarg.
Die Angst, die sie alle empfanden, nämlich dass es schlicht nicht
möglich war, ihre Soldaten aus Frankreich nach Hause zu bringen,
weil die Deutschen mit so großer Geschwindigkeit
vorrückten.
Amber hatte ihre
Großmutter überreden wollen, zu Hause zu bleiben, während sie mit
den Mädchen in die Kirche ging. Blanche sollte sich schließlich
noch ausruhen, auch wenn sie es ablehnte, den Rollstuhl zu
benutzen, den Dr. Brookes auf magische Weise für sie
herbeigezaubert hatte. Amber war jedoch nicht ganz überrascht
gewesen, als sie sich geweigert hatte, in Denham Place zu bleiben,
und darauf bestanden hatte, zusammen mit allen anderen für die
Männer in Frankreich zu beten.
Amber hatte mit dem
kleinen Austin zweimal fahren müssen, um alle zu der Kirche im nahe
gelegenen Dorf zu bringen. Die Mädchen trugen wie alle anderen ihre
Gasmasken. Amber war auf die Idee gekommen, die Schachteln, in
denen sie mitgeführt wurden, mit buntem Stoff zu beziehen, um dem
Ganzen für die Kinder den Schrecken zu nehmen. Rosafarbene Seide
bedeckte Roses Schachtel, Emeralds war natürlich mit smaragdgrüner
Seide bezogen, während Jays Mädchen jetzt eine strahlend gelbe und
eine himmelblaue Schachtel hatten. Ein wenig boshaft vielleicht,
hatte sie die Schachtel ihrer Großmutter mit taubengrauer Seide
bezogen, und für ihre eigene war es ihr gelungen, ein Stück
dunkelgoldene Seide aufzutreiben.
Diese Farben, die
den Mädchen die Angst nehmen sollten, waren angesichts der
Geschehnisse in Frankreich an diesem Tag jedoch
deplatziert.
»Ich werde ein
besonderes Gebet für Ellas und Janes Papa sagen«, erklärte Rose
ernst.
Sie war so ein
reizendes kleines Mädchen. Als Blanche Dr. Brookes endlich so weit
hatte, dass er ihr erlaubte, das Bett zu verlassen, hatte sie es
sich aus eigenem Antrieb zur Aufgabe gemacht, zur Stelle zu sein,
um ihrer Großmutter dies und das zu bringen und zu
holen.
»Ich möchte bloß mal
wissen, wer die Mäuler von all den verflixten Flüchtlingen stopfen
soll, die jetzt ins Land kommen«, sagte ein älterer Bauer. »Es ist
ja schon schwer genug, die eigene Familie satt zu
kriegen.«
Flüchtlinge aus den
Niederlanden, aus der Tschechoslowakei und aus Polen strömten ins
Land, und in den Gegenden, wo sie ankamen, waren Quartiermacher von
Tür zu Tür gegangen und hatten in allen Haushalten nachgefragt, ob
es irgendwo ein freies Zimmer gab.
Amber, die die
Pflichten ihrer Großmutter beim Women’s
Voluntary Service übernommen hatte, hatte an einem Treffen
des Notfall-Komitees teilgenommen, bei dem besprochen worden war,
wie die Ortsgruppe am besten helfen konnte.
Ihre offiziellen
Gebete waren gesprochen, und Amber hatte die Kinderfrau und die
Mädchen zurück zum Haus gefahren und dann ihre Großmutter, die
Köchin und Wilson.
Doch jetzt verspürte
sie aus irgendeinem Grund den Wunsch, noch einmal allein unterwegs
zu sein – diesmal nicht mit dem Automobil, mit dem sie nur
kostbares Benzin verbraucht hätte, sondern mit dem Fahrrad, damit
nicht einmal der treue Bruno darum bettelte, sie begleiten zu
dürfen.
Sie hatten gerade
einige wunderbar warme und sonnige Tage, ein Wetter, bei dem man
normalerweise den Wunsch verspürte, das Gesicht in die Sonne zu
halten, und bei dem einem das Herz leicht wurde vor Lebensfreude.
Doch für wie lange würde ihre geliebte Heimat noch vom Krieg
verschont bleiben? Wie konnten sie sich der Macht von Hitlers
Blitzkrieg allein widersetzen?
Die tapferen Männer
in Frankreich – war es nicht auch schon ein Gebet, hier und jetzt
an sie zu denken und Gott um Schutz für sie zu bitten?
Ein Bild von Jay
entstand hinter ihren geschlossenen Augenlidern: Jay und viele
andere Männer wie er. Bitte, lieber Gott, pass auf sie
auf.
Die Mädchen waren im
Bett, und nachdem die Erwachsenen sich in ängstlichem Schweigen die
Neun-Uhr-Nachrichten angehört hatten, hatte ihre Großmutter sich
überreden lassen, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen und sich
auszuruhen. Sie hatten nichts Neues erfahren, darin waren sie sich
hinterher einig gewesen und hatten das Gefühl gehabt, etwas
Entsetzliches werde ihnen absichtlich vorenthalten.
Amber hatte sich um
den Abwasch vom Abendessen gekümmert und den Tisch zum Frühstück
gedeckt, und dann war sie mit Bruno ein letztes Mal
hinausgegangen.Obwohl es jetzt elf Uhr war, hatte sie immer noch
keine Lust, ins Bett zu gehen.
Sie betrat die
Bibliothek und überlegte geistesabwesend, wie Mr Melrose wohl bei
seiner Jagd nach einem potenziellen Erben für die Herzogswürde
vorankam.Vielleicht war sie zu sentimental, aber sie hoffte, er
fand jemanden. Auch wenn er es zu verbergen versucht hatte, war
Robert doch stolz gewesen auf seine Abstammung und ihre Geschichte.
Sie musste sich nur in Erinnerung rufen, welche Freude es ihm
bereitet hatte, Luc alles beizubringen, was er wissen musste, um in
seine Fußstapfen zu treten.
Sie studierte die
Bücherregale und überlegte, ob es ihr beim Einschlafen helfen
würde, wenn sie etwas zu lesen mitnähme, da fiel ihr Blick auf eine
Ausgabe von Shakespeares Julius
Caesar.
Ihre Finger
zitterten leicht, als sie das Buch herauszog und auf den Tisch
legte. Das schwache Licht einer einzelnen Glühbirne, auf die sie
sich hier beschränkten, fiel auf die goldgeprägten Buchstaben auf
dem abgewetzten Leder.
Viele der Bücher in
der Bibliothek hatten dem Vorbesitzer gehört, so auch
dieses.
Im Buchdeckel stand
ein Name geschrieben: »Charles Vaughan Percy, dritter Earl
Sarisfield.«
Wer war er gewesen,
und wie war sein Buch hierhergekommen? Wahrscheinlich durch
Erbschaft. Amber hatte im Laufe ihrer Ehe erfahren, wie gerne die
Aristokratie die Errungenschaften ihrer Vorfahren hortete und über
Generationen weitergab.
Sie brauchte nicht
lange, um die Stelle zu finden, die sie interessierte. Andere
Herzen und Geister hatten offensichtlich dasselbe Bedürfnis
verspürt wie sie jetzt, denn das Buch fiel fast von selbst an der
richtigen Stelle auseinander.
Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt:
Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück;
Versäumt man sie, so muss die ganze Reise
Des Lebens sich durch Not und Klippen winden.
Wir sind nun flott auf solcher hohen See
Und müssen, wenn der Strom uns hebt, ihn nutzen;
Wo nicht, verlieren wir des Zufalls Gunst.
Amber nahm die Worte
schweigend in sich auf und las sie dann laut und voller
Entschlossenheit, und dabei spürte sie, wie ihr Herz sich mit Kraft
füllte und mit ihrer Liebe. Diese Kraft und diese Liebe sollten von
ihr auf die Männer übergehen, die sie jetzt so dringend
brauchten.
Bilder von ihren
Eltern, von Robert und von Luc zogen ihr durch den Sinn, und es kam
ihr irgendwie vor, als spürte sie sie um sich, als stünde sie an
einem Ufer und sie stünden neben ihr und sprächen ihr Mut zu, den
nächsten Schritt zu wagen.
Zu Jay?
Unerklärlicherweise, doch zu ihrer Freude – o ja, zu ihrer großen,
großen Freude – erkannte Amber, dass die Schuld gegenüber Robert
und Luc, die ihr so schwer auf der Seele gelegen hatte, sie nicht
mehr belastete.Tränen, nicht die brennenden, scharfen Tränen der
Bitterkeit, der Trauer und der Selbstvorwürfe, sondern die sanften,
heilenden Tränen der Erkenntnis, der Einsicht und der Liebe, rannen
ihr über das Gesicht. Sie wischte sie weg, klappte das Buch zu und
stellte es zurück ins Regal. In diesem Augenblick schlug die
Standuhr auf der Treppe Mitternacht. Sie erschrak. Es kam ihr vor,
als wäre sie erst vor wenigen Minuten in die Bibliothek gegangen,
nicht vor fast einer Stunde.
»Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt …«,
und sicher kam damit auch eine Zeit, und irgendwo tief in ihrem
Innern wusste Amber, dass sie ihre Flut wahrgenommen
hatte.
Es stimmte. Nach
angespannten Stunden und Tagen voller Gerüchte und Angst,
Rätselraten und Hoffnung wurde endlich offiziell die Nachricht
verbreitet, dass die Männer des britischen Expeditionskorps an der
Küste von Dünkirchen evakuiert wurden und dass diese Evakuierung an
dem Tag begonnen hatte, da das britische Volk für ihre Rettung und
ihre Sicherheit gebetet hatte.
Amber und Blanche
hatten die Zeitungsberichte ein ums andere Mal gelesen, alle
drängten sich um den Küchentisch, Tränen wurden vergossen, und es
wurde immer wieder nach Luft geschnappt, während Amber die Berichte
über die Evakuierung vorlas.
»Es ist noch nicht
vorbei, und wir dürfen nicht vergessen, dass es eine Niederlage ist
und kein Sieg«, verkündete Blanche scharf.
»Eine Niederlage im
Sinne der Kriegsführung«, sagte Amber emotional, »aber ein großer
Sieg für das menschliche Bemühen und den menschlichen Geist,
Großmutter.«
»Hier steht, dass
das gute Wetter und die ruhige See das ihre dazu beigetragen haben,
unsere Männer sicher nach Hause zu bringen«, erklärte die Köchin
und fügte gefühlvoll hinzu: »Es ist, als hätte Gott die Hand über
den Kanal gehalten, um ihn zu beruhigen.«
Nach der ersten
Euphorie kam für Amber jedoch die entmutigende Erkenntnis, dass
nicht alle Männer nach Hause kommen würden, und danach die Angst
und die Furcht, Jay könnte nicht unter ihnen sein.
Die Tage – einer,
dann noch einer, und dann noch zwei – bis zum 5. Juni schleppten
sich dahin, geschäftig und doch leer, weil die sehnlich erwartete
Nachricht ausblieb. Die Zeitungen und das Radio ließen sich
wortreich über die Evakuierung und den Triumph in letzter Minute
aus.
Weitere kleine
Schiffe waren dem Aufruf gefolgt, sich der Armada von Schiffen und
Mannschaften anzuschließen, die die Fahrt über den Kanal wagten, um
die wartenden Männer zurückzubringen. In der Luft kämpfte die Royal
Air Force heftig mit der Luftwaffe, um die deutschen Flugzeuge
daran zu hindern, die hilflosen Männer im Tiefflug anzugreifen, die
geduldig an Land und im Meer warteten …
Jeder, mit dem Amber
sprach, hatte aus zweiter Hand Geschichten über wunderbare
Heldentaten zu erzählen, und manche auch schreckliche Geschichten
über furchtbare Tragödien und Verluste.
»… und Mrs Lewis in
der Post hat gesagt, es kommen sehr viele Postkarten von Soldaten,
in denen steht, dass sie in Sicherheit sind. Ich habe gehört, der
Women’s Voluntary Service gibt sie aus,
wenn die Soldaten von Bord kommen. Vera Dawson hat erfahren, dass
ihr Enkelsohn in Sicherheit ist, und es kommen etliche Burschen
nach Macclesfield auf Urlaub, von denen ihre Familien schon
dachten, sie würden sie nie wiedersehen.«
Amber versuchte,
sich das Herz nicht so schwer werden zu lassen, als sie der Köchin
bei der Aufzählung guter Nachrichten zuhörte.
Es war inzwischen
vier Tage her, seit die Nachricht über die Evakuierung aus
Dünkirchen verbreitet worden war, und sie hatten immer noch nichts
von Jay gehört.
»Ich hoffe, es geht
ihm gut, nicht nur um seinetwillen, sondern auch wegen seiner zwei
Mädchen«, hatte Maurice erst am Morgen zu Amber gesagt, als sie zur
Fabrik gegangen war, um die Forderung der Regierung nach Steigerung
der Fallschirmproduktion zu besprechen, während sie zugleich
ankündigte, bei Rohseide werde es Versorgungsengpässe
geben.
»Was zum Teufel
erwarten sie denn, woraus wir die verdammten Dinger fertigen
sollen?«, hatte Maurice protestiert. »Aus Luft?«
»Wir müssen mit dem
Beschaffungsministerium sprechen«, hatte Amber geantwortet. »Ich
fahre mit dem Fahrrad heute Nachmittag zur Kontrollstelle und
schaue, was sie zu sagen haben.«
Was sie zu sagen
hatten, war, dass sie ihr Möglichstes taten, um einen steten
Zufluss von Rohseide zu gewährleisten und neue Zulieferer
auszumachen – was natürlich gar nichts hieß.
»Wir können die
Fabrik nicht vierundzwanzig Stunden am Tag produzieren lassen, wie
man uns vorgeschlagen hat, wenn wir nicht genug Rohmaterial haben,
um die Fallschirme zu produzieren«, hatte Amber erklärt. »Im
Augenblick haben wir noch genug für zwei Monate, wenn wir normale
Schichten arbeiten, und für einen, wenn wir rund um die Uhr
produzieren.«
Der Mann vom
Ministerium war mitfühlend, aber unerschütterlich gewesen. Mehr als
das, was er ihr schon gesagt hatte, konnte er ihr nicht
mitteilen.
Nachdem sie die
Dienststelle des Ministeriums verlassen hatte, war sie zum Bahnhof
geradelt, um den anderen Freiwilligen vom Women’s Voluntary Service zu helfen, die Tee an die
geretteten Soldaten ausschenkten, die auf einen kurzen Urlaub nach
Hause kamen, bevor sie zu ihren Einheiten zurückkehren
mussten.
So viele müde,
niedergeschlagene junge Männer und auch einige nicht mehr ganz so
junge, doch Jay war nicht darunter.
Jetzt war sie zurück
in Denham Place und hörte der Köchin zu, die ihr die guten
Nachrichten aus der Nachbarschaft erzählte, während ihr eigenes
Herz immer schwerer wurde.
Sie hatte
versprochen, später hinüber zum Gutshof zu radeln, um mit Jays
Stellvertreter über dessen Wunsch zu sprechen, das
Landwirtschaftsministerium um weitere Hilfskräfte zu bitten –
entweder Landmädchen oder Internierte, was, sei ihm egal, hatte er
ihr schon erklärt.
Es gab so viel zu
tun, dass sie eigentlich gar keine Zeit hatte, krank vor Sorge um
Jay zu sein, doch natürlich war sie das. Und sie war nicht die
Einzige.
Sie hatten
wunderbares Wetter, und die Kinder veranstalteten draußen eine Art
Picknick. Amber saß bei ihnen und schaute zu, wie Ella mit ihrem
Sandwich spielte, ihr normalerweise strahlendes, fröhliches Gesicht
blass und besorgt.
»Was ist los?«,
fragte Amber sie leise.
»Ich habe Bauchweh«,
sagte Ella, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie
erklärte: »Er tut weh, wenn ich an meinen Daddy denke.« Ihre Lippen
zitterten, und erste Tränen rannen ihr über die
Wangen.
Wortlos nahm Amber
sie in den Arm. Wie konnte sie ihr sagen, dass sie auch »Bauchweh«
hatte, wenn sie an Jay dachte – und Herzweh?
»Du darfst dir keine
Sorgen machen, Herzchen«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, es geht
ihm gut.«
»Versprichst du mir
das?«, fragte Ella.
Amber zerriss es
fast das Herz. »Ja, das verspreche ich dir«, flüsterte sie, denn
sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
»Ich dachte, du
hättest gesagt, du wolltest heute Abend noch zum
Gutshof.«
Amber reichte ihrer
Großmutter eine Tasse Tee. »Ja, das habe ich auch vor, aber ich
dachte, ich höre mir vorher noch die Neun-Uhr-Nachrichten
an.«
Ihre Großmutter
mochte es nicht zugeben, doch Amber sah, dass sie immer
gebrechlicher und älter wurde. Gregs Tod war ein schrecklicher
Schock für sie gewesen, umso mehr, wie Amber vermutete, wegen der
Spannung zwischen ihnen.
Die BBC hatte eine
neue Stimme, die an diesem Abend eine Nachbemerkung zu den
Nachrichten machte: die des Romanschriftstellers J. B. Priestley.
Der Klang seiner sachlichen Stimme, die über den Äther zu ihnen
drang, um von der Evakuierung in Dünkirchen zu erzählen und von der
Rolle, welche die, wie er sie nannte, »kleinen Ausflugsdampfer«
dabei gespielt hatten, überschwemmte Ambers Herz mit
Gefühlen.
»Diese
Vergnügungsdampfer«, sagte er zu den Zuhörern, »haben ihre
unschuldige Welt verlassen, um in das Inferno zu segeln und unsere
Soldaten zu retten. Einige werden nie zurückkehren, doch sie alle
sind jetzt, wie die kleine Gracie
Fields und ihre tapferen und übel zugerichteten Schwestern,
unsterblich.«
»Sentimentaler
Unsinn«, sagte Blanche spitz, doch Amber sah Tränen in den
stahlgrauen Augen schimmern, und sie wusste, dass die Worte ihre
Großmutter genauso gerührt hatten wie sie.
Es war zehn Uhr
vorbei, als Amber vom Gutshof zurückkehrte, denn da der Abend so
warm war, hatte sie sich entschieden, zu Fuß zu gehen, statt das
Fahrrad zu nehmen.
In dem Augenblick,
da sie sich der Hintertür des Hauses näherte, erstarrte Bruno, der
auf dem Rückweg fröhlich neben ihr hergelaufen war, plötzlich,
schnüffelte am Boden, jaulte aufgeregt auf und lief zum
Haus.
Ambers Herz fing an
zu hämmern. Auch sie lief los, bevor sie sich dessen bewusst wurde.
Sie wagte kaum zu hoffen, und doch konnte sie nicht anders. Sie sah
ihn, bevor er sie sah, denn er hatte sich hingehockt, um den
verzückten Hund mit der rechten Hand hinter dem Ohr zu kraulen. Am
Handgelenk der linken Hand trug er einen dicken
Verband.
Jay.
Die Freude brach in
ihr auf wie ein Feuerwerk und durchströmte sie mit ihrem hellen
Licht. Eine Sekunde lang blieb sie stehen, schwelgte in seinem
Anblick und dem Wissen, dass er sicher zu Hause war. Es war gewiss
die schönste, ehrlichste, reinste Freude, die sie je empfunden
hatte.
Amber trat näher,
ihr Herz sang schon seinen Namen, doch dann öffnete sich die Tür
zur Halle, und Bunty kam in die Küche geeilt und rief: »Jay,
Menschenskind, das Haus hier ist so groß, dass ich dachte, ich würd
mich verlaufen. Oh, wie schön, dass du sicher und wohlbehalten
wieder zu Hause bist!« Da erstarben Ambers Herz und alle Freude in
ihr.
Bunty hier, und mit
Jay!
Steif trat Amber in
die Küche.
Buntys »Oh …«, als
sie Amber sah, verriet eine Mischung aus Befangenheit und
Enttäuschung, die umso aufschlussreicher war, als sie sofort an
Jays Seite trat und sich besitzergreifend dicht zu ihm
stellte.
»Ich dachte, ihr
wärt schon alle ins Bett gegangen, bis Bruno auf mich
losstürmte.«
Als Amber
hereingekommen war, hatte Jay Bruno losgelassen und war
aufgestanden.
»Die anderen sind
auch schon im Bett«, sagte Amber. »Ich musste noch mal zum
Gutshof.«
Wie gespreizt das
klang, ihre Stimme war ganz steif von der Anstrengung, die es sie
kostete, ihre wahren Gefühle zu verbergen. In so wenigen Sekunden
aus absolut himmlischer Freude in akute Eifersucht zu stürzen war
nicht leicht, besonders nicht, wenn sie sich vorstellte, wie
demütigend es gewesen wäre, wenn sie wirklich auf Jay zugelaufen
wäre und sich ihm in die Arme geworfen hätte, bevor sie Bunty
gesehen hatte.
»Die Mädchen werden
sich freuen, dass du wohlbehalten zurück bist. Sie haben sich große
Sorgen um dich gemacht, besonders Ella.«
Amber hörte den
scharfen Vorwurf in ihrer Stimme.
»Wir waren unter den
Letzten, die vom Strand weggebracht wurden. Ich habe aber so eine
Postkarte ausgefüllt.«
Amber nickte, wagte
nicht zu sprechen. Es war fast elf Uhr und immer noch hell, doch
nicht mehr lange. Bunty machte keine Anstalten, in ihr Quartier
zurückzukehren. Hieß das, dass sie hoffte, die Nacht mit Jay hier
im Haus zu verbringen? In Jays Armen? In Jays Bett?
Der Schmerz,
unmittelbar und tödlich, packte Amber und malträtierte sie so sehr,
dass sie kaum noch Luft bekam.
»Ich gehe rauf und
mache dein Bett zurecht«, erklärte sie Jay brüsk, unfähig, ihn
anzusehen.
Bunty zögerte noch,
doch dann sagte sie schließlich unwillig: »Ich mache mich wohl
besser mal auf den Weg, obwohl ich sicher was zu hören kriege, weil
ich so spät komme. Wir sollen um zehn da sein.«
»Sag Mrs Jenkins, es
sei meine Schuld, dass du zu spät kommst. Ich schaue morgen rein
und bitte sie um Verzeihung«, sagte Jay lächelnd.
»Gute Nacht, Euer
Gnaden«, rief Bunty höflich, als sie zur Tür ging, natürlich in
Jays Begleitung.
»Gute Nacht«,
antwortete Amber kurz angebunden.
Sie hatte gelogen,
als sie gesagt hatte, sie müsse Jays Bett richten. Es war bezogen
worden und wartete auf ihn, seit sie erfahren hatten, dass das
britische Expeditionskorps evakuiert wurde, doch es war eine gute
Möglichkeit gewesen, um zu verhindern, dass Jay und Bunty diskret
nach oben verschwanden. Sie verzog das Gesicht. Verwandelte sie
sich jetzt etwa in eine gemeine, manipulative Frau, die aus lauter
Eifersucht zu solchen Tricks griff?
Sie wartete nicht
ab, um zu sehen, wie lange es dauerte, bis Jay schließlich
hereinkam. Sie ertrug es nicht.
Jay und Bunty. Nun,
eigentlich sollte sie das nicht überraschen. Bunty hatte aus ihrer
Schwärmerei für Jay von Anfang an keinen Hehl gemacht.
Doch sie war so
jung, ein Mädchen noch, und Jay brauchte … Wen? Sie? Die Frau, die
ihn abgewiesen und ihm gesagt hatte, sie mache ihn für den Tod
ihres Mannes und ihres Sohnes verantwortlich? Müde ging Amber die
Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer.
Natürlich freute
sich der ganze Haushalt über Jays Rückkehr, und obwohl er beim
Frühstück bereitwillig alle Fragen beantwortete, sah Amber in
seinen Augen die Schatten der Erinnerungen, über die er nicht reden
mochte.
An einem Punkt
musste sie vom Tisch aufstehen, so stark war ihr Verlangen, die
Hand auszustrecken und ihn zu berühren, ihre Hand auf seine Hand zu
legen, ihm ihr Herz auszuschütten und ihm endlich zu sagen, wie
sehr sie ihn liebte. Auf dem Rückzug hatte er am Arm eine
Verletzung erlitten. Die Handsehnen waren verletzt worden, und er
erklärte ihnen, man habe ihn gewarnt, dass man ihn deswegen
vielleicht dienstunfähig stellen werde. Amber entschuldigte sich
und entfernte sich, sobald es ging, unter dem Vorwand, sie müsse
sich um irgendwelchen Papierkram kümmern, was nicht einmal ganz
gelogen war.
Sie saß immer noch
in der Bibliothek über ihren Unterlagen, als Jay eine Stunde später
mit ernster Miene hereinkam.
»Das mit Greg tut
mir leid. Du hattest viel am Hals.«
»Nicht annähernd so
viel wie du.«
»Ich gehe wohl
besser hinüber zu Mrs Jenkins und erkläre ihr, warum Bunty gestern
so spät heimgekommen ist. Was für ein Glück, dass sie gerade
vorbeifuhr, als ich aus dem Bahnhof trat, und mich erkannt hat. Ich
hatte versucht, euch anzurufen und Bescheid zu sagen, und als
niemand ranging, dachte ich, ich müsste zu Fuß gehen.«
»Dann hattest du
Bunty nicht gebeten, dich abzuholen?«
»Gütiger Himmel,
nein, warum um alles in der Welt sollte ich?«
Sie sahen einander
an. Amber merkte nicht, wie sie ihren Stuhl zurückschob und
aufstand, um zu ihm zu gehen, doch sie hörte die Dringlichkeit in
Jays Stimme, als er ihren Namen sagte.
»Jay, ich
…«
Das schrille Läuten
des Telefons ließ sie beide zusammenfahren.
»Ich gehe besser
ran«, sagte Amber. »Die anderen sind inzwischen alle ein wenig
taub, sogar Großmutter, obwohl sie es niemals zugeben
würde.«
Zu Ambers
Überraschung war die Anruferin Cassandra, die fragte, ob sie
Neuigkeiten von Jay hätten.
»Ja, in der Tat. Er
ist hier«, antwortete Amber, hielt Jay den Hörer hin und sagte:
»Cassandra.«
Während er mit
seiner Cousine sprach, stand Amber am Bibliotheksfenster und
versuchte, ihre konfusen Gedanken zu ordnen. Jay und Bunty hatten
nichts miteinander. Jay war nicht in Bunty verliebt. Jay
…
»Ich muss rüber nach
Fitton Hall.«
Amber sah ihn
an.
»Mein Großvater. Es
geht ihm anscheinend nicht gut. Dr. Brookes ist bei
ihm.«
»Ich fahre dich«,
bot Amber an.
»Amber?«
»Ja?«
»Ich weiß, dass das
nicht der richtige Zeitpunkt ist, aber ich muss es dir sagen. Ich
habe viel an dich und an uns gedacht, als … als ich befürchten
musste, ich käme womöglich nicht zurück.«
»Ich habe auch viel
an dich gedacht.«
Irgendwie berührten
sich ihre Hände, Fingerspitzen drückten gegen Fingerspitzen. Ambers
Herz pochte. Sie konnte kaum atmen, als wäre plötzlich kein
Sauerstoff mehr in der Luft.
Dann lag sie in
seinen Armen, atmete seinen geliebten Duft ein, klammerte sich an
ihn und küsste ihn so leidenschaftlich, wie er sie küsste, hungrig
und gierig, als gäbe es nur das Hier und Jetzt und nichts und
niemanden sonst.
Es war Jay, der sich
zuerst löste, sie ein Stück von sich weghielt, während sie von der
Macht ihrer Empfindungen zitterte.
»Du musst nach
Fitton Hall«, erinnerte sie ihn.
»Ja.«
Keiner rührte
sich.
»Ich habe deine
Karte benutzt.«
»Ehrlich?«
»Sie hat mir das
Leben gerettet und mir Hoffnung gegeben und etwas, wofür es sich zu
überleben lohnte, weil sie von dir war. Ich liebe dich,
Amber.«
»Und ich liebe
dich.«
Es war die
Wahrheit.
Keiner von beiden
sagte etwas, als Amber Jay nach Fitton Hall fuhr, bis auf kurze
Bemerkungen über das Gut und die Fabrik, vertraute Kurzschrift
zwischen ihnen, die es überflüssig machte, langatmige Erklärungen
abzugeben. Sie verstanden einander so gut.
»Ich fahre jetzt
nach Hause«, sagte Amber zu Jay, als sie ihn abgesetzt hatte. »Ruf
an, wenn du zurückkommen willst.«
»Also, ich weiß
nicht, warum um alles in der Welt Jay es so eilig hatte, nach
Fitton Hall zu kommen, bloß um Barrant zu sehen«, sagte Blanche
gereizt.
Sie war nicht
erfreut gewesen, als sie erfahren hatte, wohin er gefahren
war.
»Seinem Großvater
geht es nicht gut, Großmutter«, erinnerte Amber sie ruhig.
»Natürlich will er ihn sehen.«
»Also, ich wüsste
nicht, warum. Barrant hatte nie viel für ihn übrig. Was hat
Cassandra denn genau gesagt?«
»Sie hat gesagt,
dass sie nach Dr. Brookes geschickt hat.«
»Sie regt sich
unnötig auf. Barrant wird uns noch alle überleben, denk an meine
Worte.«
Amber war den ganzen
Tag in der Nähe des Hauses geblieben und hatte auf Jays Anruf
gewartet, und als er bis zehn Uhr abends noch nicht angerufen
hatte, kam sie zu dem Schluss, dass er wohl über Nacht in Fitton
Hall bleiben würde.
Sie wollte gerade
für die Nacht abschließen, als die Hintertür aufging und Jay
hereinkam.
»Du hättest anrufen
sollen«, sagte sie, doch als sie ihn richtig ansah, wusste sie
Bescheid. »Dein Großvater …«
»Er ist tot. Es war
sehr friedlich, er war bereit zu gehen, ja, ich glaube, er wollte
gehen. Dr. Brookes hat gemeint, er hätte noch so lange gewartet,
bis ich wieder da bin. Ich war bis zum Schluss bei ihm. Nur wir
beide.« Jay zog einen Stuhl unter dem Tisch heraus und ließ sich
daraufplumpsen. »Er hat mir eine Nachricht für deine Großmutter
aufgetragen.«
»Was?«
»Sie haben sich
geliebt, Amber, das hat er mir erzählt. Zumindest war sie in ihn
verliebt.Wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist ihm erst später
klar geworden, was er für sie empfand. Aber da war es zu spät, weil
sie beide mit anderen Partnern verheiratet waren.«
»Sie hat immer
behauptet, sie hasse ihn, aber das ist wieder typisch für sie. Oh,
wie schrecklich, Jay, so lange in so viel Bitterkeit und Bedauern
gelebt zu haben.«
»Ja.« Er nahm ihre
Hand. »Wir dürfen nicht zulassen, dass uns das auch einmal
passiert, Amber. Ich weiß, was du wegen Robert und Luc empfindest,
und …«
Amber legte die
Fingerspitzen der freien Hand auf seine Lippen. »Ich liebe sie und
werde sie immer lieben, aber dich liebe ich auch,
Jay.«
Diesmal war ihr Kuss
zärtlich und sanft.
»Ich möchte dich
heiraten, das weißt du, nicht wahr?«, wollte Jay
wissen.
»Ja.«
»Je eher, desto
besser. Dieser Krieg …«
»Ja.«
Nachdem Jay
abgeschlossen hatte, gingen sie Hand in Hand nach oben. Jay wollte
vor ihrer Schlafzimmertür ihre Hand loslassen, doch Amber schlang
ihre Finger fest um seine und schüttelte den Kopf.
»Ich muss heute
Nacht mit dir zusammen sein«, sagte sie. »Ich brauche deine Liebe,
Jay, und ich muss dir meine Liebe geben können.«
Erst später, in den
stillen dunklen Stunden vor der Morgendämmerung, drehte Amber sich
in Jays Armen um, hob den Kopf von seiner Brust und fragte
neugierig: »Was sollst du meiner Großmutter denn von deinem
Großvater ausrichten?«
»Was? O ja. Er hat
gesagt: ›Sag Blanche, dass sie recht hatte und ich unrecht, und
dass es mir leidtut.‹«
»Dass sie nicht
geheiratet haben, was meinst du?«
»Ich weiß
nicht.«
»Wir dürfen wirklich
niemals zulassen, dass es uns auch so ergeht.«
»Das tun wir nicht«,
versicherte er ihr. »Als sie mich an Bord des Marineschiffs gehievt
haben, das mich nach Hause gebracht hat, habe ich mir geschworen,
deine Liebe zu gewinnen und den Rest meines Lebens darauf zu
verwenden, dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe.«
»Barrant ist also
tot?«
»Ja,
Großmutter.«
Sie hatte es
natürlich gewusst – wie hätte es auch anders sein können? Sie hatte
es gewusst, und in ihren Gedanken und ihrem Herzen war sie zu ihm
gegangen, um bei ihm zu sein. Waren sie da gewesen für ihn, hatten
sie auf ihn gewartet, um ihn über die Schwelle des Todes ins
Jenseits zu begleiten, ihr Sohn, sein Sohn, ihre gemeinsamen
Söhne?
Wäre alles anders
gekommen, wenn sie ihm nie von Marcus erzählt hätte? Wenn sie
einfach zugelassen hätte, dass er wie alle Welt glaubte, der Sohn,
den sie im ersten Jahr ihrer Ehe empfangen hatte, sei Henry
Pickfords Sohn und nicht Barrants?
Hatte es doch an
ihrem Stolz und ihrem Wunsch nach Vergeltung gelegen, dass sie
beide verloren hatte, Marcus und seinen Bruder, den Sohn, den sie
nicht einmal hatte halten dürfen, den Sohn, den man ihr bei der
Geburt abgenommen und Barrants Frau gereicht hatte, damit sie ihn
als ihr eigenes Kind aufzog?
Wie wütend Barrant
geworden war, als sie ihm von Marcus erzählt hatte und gelacht
hatte, weil sie seinen Sohn hatte und er keinen Erben. Du hättest
mich heiraten sollen, hatte sie ihn damals verhöhnt, doch es war
ein bitteres, rachsüchtiges Höhnen gewesen, denn er hatte sie
abgewiesen, und ihr Sohn würde niemals Anspruch auf sein
Geburtsrecht geltend machen können.
Er hatte sie
angezogen wie eine Droge. War das der Grund für Gregs Schwäche?
Hatte sie ihn infiziert? War sie der Grund, warum er süchtig war
nach den Dingen, die ihn umgebracht hatten, genau so, wie sie
süchtig gewesen war nach Barrant, voll bitterem Verlangen? Sie
hatte ihn nicht zwingen können, sie zu seiner Frau zu machen, aber
sie hatte ihn auch nicht aufgeben können, und so war sie weiterhin
seine Liebhaberin geblieben. Blanche weigerte sich, das Wort
»Geliebte« zu benutzen, denn das stand für eine Frau, die von der
Gnade eines Mannes abhängig war, die sein bezahltes Spielzeug
war.
In der Arena ihres
gegenseitigen Begehrens war sie Barrant als Ebenbürtige begegnet,
auch wenn Barrant das nie akzeptiert hatte.
Wie sie es genossen
hatte, dass er neidisch zuschaute, als Marcus zu dem Sohn
herangewachsen war, auf den jeder Mann stolz gewesen wäre, während
Barrant nur Töchter hatte. Wie sie es genossen hatte, Barrant zu
verhöhnen und zu verspotten und ihn dann in der Leidenschaft seines
Zorns und seines Verlangens in sich aufzunehmen.
Ihr zweiter Sohn war
genauso empfangen worden, doch diesmal war es unmöglich gewesen,
das Kind als das ihres Ehemanns auszugeben.
Henry Pickford war
nicht in der Position, sich von ihr scheiden zu lassen. Sie besaß
die Fabrik, und sie besaß auch ihn, doch er und Barrant hatten
einen schrecklichen Preis dafür ausgehandelt, dass sie weiterhin
als »anständig« gelten konnte.
Das Kind, das
abzutreiben sie sich geweigert hatte, würde heimlich zur Welt
kommen und dann Barrant übergeben werden, damit er es als sein
eigenes aufzog.
Ihr Sohn, Barrants
Erbe, ihr Zweitgeborener, nahm den Platz ein, der rechtmäßig ihrem
Erstgeborenen zugestanden hätte; ihr Zweitgeborener, der
verantwortlich war für den Tod ihres Erstgeborenen und der zusammen
mit ihm gestorben war.
Marcus hätte sich
niemals anwerben lassen dürfen. Dazu hatte keine Notwendigkeit
bestanden. Das hatte sie ihm gesagt und ihn angefleht, nicht zu
gehen, doch er besaß den starken Willen und den sturen Stolz seines
Vaters. Er würde sich nicht einen Feigling schimpfen lassen,
besonders nicht von Barrant de Vries’ Sohn, diesem arroganten
jungen Narren.
Sie waren zusammen
in den Krieg gezogen, hatten zusammen gekämpft und waren zusammen
gefallen, Marcus, ihr Sohn, ihr wunderbarer, kostbarer Junge, von
dem sie geglaubt hatte, er sei zu Höherem bestimmt – die politische
Karriere, zu der Greg sich als unfähig erwiesen hatte, hätte leicht
auf Marcus’ Schultern geruht. Er war ein leidenschaftlicher Redner
gewesen, ein Mann, begnadet mit dem Bewusstsein für die Nöte
anderer, ein sehr viel besserer Mann als sein Vater. Ihr Sohn.
Marcus hatte sein
Leben gegeben in dem vergeblichen Versuch, seinen verletzten Bruder
zu retten. Barrants Gesicht war aschfahl gewesen, als man ihnen das
gesagt hatte.
Wie sehr sie ihn
damals gehasst hatte und wie sehr sie diesen Hass über die Jahre
geschürt hatte. Er hatte ihr seine Liebe verwehrt, er hatte ihr ihr
Kind gestohlen, und er hatte seine beiden Söhne sterben lassen, nur
weil er zu stolz war, wo doch ein Wort von ihm genügt hätte, damit
beide zu Hause geblieben wären.
Jetzt war er bei
ihnen.
Sie hatte immer
gehofft, sie wäre diejenige, die sie zuerst wiedersehen würde, um
ihnen zu sagen, wie sehr sie sie liebte.
Wie neidisch sie
Barrants Erben beobachtet hatte, als er heranwuchs. Und wie Barrant
sich amüsiert hatte. Sie erinnerte sich, mit welcher Grausamkeit er
das Kind bei der Taufe aus den Armen seiner Amme genommen und ihr
gegeben hatte, damit sie es hielt. Selbst jetzt spürte sie noch,
wie ihr das Herz in der unter dem Kleid eng geschnürten Brust
gepocht hatte, wie die Milch eingeschossen war, als sie ihr Baby in
den Armen hielt.
War es Grausamkeit
gewesen, oder hatte Barrant nur gewollt, dass sie ihren gemeinsamen
Sohn im Arm hielt und er ihr dabei zuschauen konnte?
Woher kam dieser
Gedanke? Und warum hatte sie jetzt ein Gefühl von Frieden und
Ganzheit statt der vertrauten Bitterkeit, die sie bei dem Gedanken
an ihre toten Kinder sonst immer überkam?
Barrant und ihre
gemeinsamen Söhne. Vereint. Sie warteten jetzt auf
sie.