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Als Amber nicht ganz neun Monate nach ihrer Hochzeit einen kräftigen kleinen Jungen zur Welt brachte, von dem jeder sagte, er sei seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, weinte Robert Tränen der Freude und hielt das Kind, als wollte er es nie wieder loslassen, während Amber wie betäubt dalag und zusah. Erst jetzt konnte sie endlich die schreckliche Angst abschütteln, die sie während ihrer ganzen Schwangerschaft gequält hatte, die Angst, ihr Kind könnte wegen dem, was mit Louises Kind passiert war, irgendeinen Schaden genommen haben. Ihren Sohn zu sehen und zu halten und zu wissen, dass er gesund und munter war, war eine so große Freude, dass sie es kaum ertrug.
Erst als sie endlich mit ihrem Sohn allein war, konnte Amber ihn ängstlich ganz genau in Augenschein nehmen. Er war mit einem recht dunklen Lockenschopf zur Welt gekommen – wie ihr Vater und wie Robert. Er hatte blaue Augen, und als sie ihn anschaute, sah sie ihren eigenen Vater in seinen Zügen, nicht Jean-Philippe. Erleichtert drückte sie ihn an sich und fragte sich ein wenig benommen, was sie erwartet hatte. Dass er mit einem Ring im Ohr zur Welt käme?
Ihr Sohn sollte nie etwas über seinen leiblichen Vater erfahren. Um seinetwillen. Robert würde ihn lieben – ja, er liebte ihn schon jetzt. Als Roberts legitimer Sohn würde er nie erfahren, was es hieß, unerwünscht zu sein und ein Außenseiter. Aber würde er etwas spüren, wenn er älter wurde? Sicher nicht, warum auch?
»Ich liebe dich«, flüsterte Amber und wiegte ihn. »Alles, was ich für dich getan habe und tun werde, entstammt meiner Liebe zu dir und wird es immer tun, das verspreche ich dir.«
Sie wünschte, Jay könnte ihn sehen. Sie stellte sich das Lächeln vor, das er ihr beim Anblick des Babys schenken würde. Ein Lächeln, das ihr versicherte, dass er verstand und dass sie das Richtige getan hatte. Sie schrieben sich noch, aber anders als früher. Schließlich war sie verheiratet, und Jay war jetzt verlobt.
Zuerst war Amber schockiert gewesen über die Nachricht von Jays stürmischer Romanze, schockiert, doch natürlich freute sie sich sehr für ihn, hatte sie sich entschlossen versichert.
Ihre Großmutter würde am nächsten Tag kommen, sie hatte darauf bestanden, nach London zu reisen, um ihr erstes Urenkelkind zu sehen. Was würde Blanche wohl von ihm halten?
 
Die ganze Fahrt nach London war der Schmerz da, krampfte sich um ihr Herz und machte ihr das Atmen schwer. Blanche wünschte, Jay hätte nicht darauf bestanden, sie zu begleiten, denn wegen seiner Gegenwart in dem Erste-Klasse-Eisenbahnabteil musste sie ihre Gefühle verbergen.
Wie gut sie sich an die Geburt ihres ersten Kindes erinnerte. Es war eine langwierige und schmerzhafte Geburt gewesen, das Baby hatte in der Steißlage gelegen. Die Hebamme hatte es schließlich drehen können, und danach war es so schnell auf die Welt gekommen, dass sie über seine Ungeduld gelacht hatte.
Blanche hatte gehört, in den ersten Stunden nach der Geburt ähnelte ein Baby am meisten seinem Vater; so sorgte die Natur dafür, dass der Vater sein Kind annahm – vorausgesetzt, er bekam es zu sehen. Henry war nicht da gewesen, als Marcus geboren worden war. Sie hatte ihn so sehr geliebt. Ihr erstes Kind, ein Sohn, wie hätte sie ihn nicht lieben können?
Selbst jetzt war der Schmerz über seinen Tod so schneidend und klar wie in der Nacht, in der sie aus dem Schlaf geschreckt war und gewusst hatte, dass er tot war. Ein ganzer Zug von tapferen jungen Männern aus Cheshire war in jener Nacht gestorben, unter ihnen auch Barrant de Vries’ Sohn, der den Angriff angeführt hatte, bei dem sie gefallen waren.
Barrant hatte beim Gedenkgottesdienst in der Gemeindekirche offen geweint, doch die Tränen, die Blanche womöglich vergossen hätte, waren in der Hitze ihres Hasses auf Barrant verdampft. Sie betete, dass Amber niemals solches Leid erfahren würde. Warum sollte sie? Amber würde das Leben führen, das Blanche sich so leidenschaftlich ersehnt und nie bekommen hatte. Ihr würde keine Tür verschlossen bleiben. Als Roberts Frau, und als zukünftige Herzogin, konnte sie, wenn sie wollte, eine wichtige Gastgeberin großer Politiker werden, die hinter den Kulissen die Fäden zog. Blanche wusste: Mit dem richtigen Mann an ihrer Seite hätte auch sie sehr viel erreichen können. Sie hatte sich nach all dem verzehrt, was sie als Barrants Frau hätte haben können. Doch er hatte sie ausgelacht und abgewiesen.
Nun, jetzt war sie diejenige, die ihn auslachen konnte. Ihr Urenkelsohn würde zu denen gehören, die in Zukunft das Land führten, während die Linie de Vries praktisch ausgestorben war. Sie hätte Barrant so viel geben können – sie hatte ihm so viel gegeben -, und er hatte ihr so viel genommen. Zu viel.
 
Amber hielt ängstlich die Luft an, während Blanche das Baby inspizierte, das sie in den Armen hielt.
»Er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte sie schließlich und lächelte Robert an, während Amber einen erleichterten Seufzer ausstieß.
»Amber glaubt, er sähe ihrem Vater ähnlich«, erklärte Robert und warf seiner Frau einen verschmitzten Blick zu.
»Einem russischen Emigranten? Unsinn. Ich sehe ganz deutlich, dass er deine Nase hat, Robert. Aber wenn es um ihren Vater geht, war Amber immer schon viel zu sentimental. Jay hat mich gebeten, dir seine besten Wünsche auszurichten, Amber. Er wohnt im Club seines Großvaters, solange ich hier bin. Ich habe ihm gesagt, es sei nicht nötig, dass er mich begleitet, aber er hat darauf bestanden.«
»Jay ist in London?« Amber war verdutzt.
Warum war sie so enttäuscht, dass er sie nicht besuchte oder ihr geschrieben hatte, er begleite ihre Großmutter? Es war dumm. Er hatte jetzt sein eigenes Leben. Und ich habe meines, dachte sie und hielt zufrieden ihren Sohn in den Armen.
 
Sechs Wochen nach seiner Geburt wurde Ambers Sohn in der privaten Kapelle auf Osterby auf den Namen Lucius Robert Vernon Devenish getauft und erhielt den Ehrentitel Viscount Audley. Sein Urgroßvater nahm an der Taufe teil, zusammen mit Ambers Großmutter. Beth wurde seine Patentante, und seine Patenonkel wurden Alistair und Sir Charles Afton-Blake, ein ehemaliger Schulfreund von Robert.
Um das Ereignis gebührend zu feiern, schenkte Lord Robert seiner Frau ein Diamantcollier, und der Herzog überreichte ihr aus dem Familienschmuck eine Parüre, die Robert unglaublich hässlich fand.
Nach ihrer Rückkehr nach London gaben Robert und Amber ein Fest, das die Times und die Vogue zum Fest der Saison kürten. Cecil Beaton fotografierte die junge Familie. Lord Robert stand stolz an der Seite seiner Frau, die ihren Sohn wiegte.
Der seidene Faden hatte gehalten, und sie waren in Sicherheit.