22
 
»Dich heiraten? Das verstehe ich nicht.Warum solltest du wollen, dass ich dich heirate? Du liebst mich nicht, es gibt keinen Grund …«
»Doch, es gibt einen Grund. Schau, ich muss vor meinem dreißigsten Geburtstag heiraten, wenn ich das Vermögen erben will, das mein Großvater mütterlicherseits mir hinterlassen hat. Und was die Liebe angeht, so stimmt es natürlich, dass meine Veranlagung ausschließt, dass ich eine Frau körperlich liebe, doch mir liegt sehr viel an dir, Amber. Ich gebe zu, dass es mich in letzter Zeit sehr beschäftigt hat, wie ich mein Erbe sichern kann, doch der Gedanke, dass die Lösung die sein könnte, dass wir beide heiraten, ist mir erst gestern Abend gekommen. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher erkenne ich, wie vernünftig diese Lösung wäre. Ich brauche eine Frau, um mein Erbe zu erhalten, und du brauchst einen adeligen Ehemann, um deine Großmutter zufriedenzustellen und deinen guten Ruf zu schützen.«
Amber zitterte innerlich. Lord Roberts Bemerkung über ihren Ruf hatte ihr bewusst gemacht, in welcher Gefahr sie schwebte. Sie musste nur an Beths Bemerkung über Louise und an Caroline Fitton Leghs Tod denken, um zu wissen, welches Schicksal sie erwartete, wenn ihre Beziehung mit Jean-Philippe bekannt würde.
Doch ihre Ehrlichkeit zwang sie, mit bebender Stimme zu sagen: »Aber du könntest jede heiraten.«
»Nein, Amber, das könnte ich nicht. Es gibt sicher Männer meiner Art, die heiraten und, wenn auch zögernd, ihren ehelichen Pflichten nachkommen, doch mir wäre das ein Gräuel. Ich will ganz offen zu dir sein. Wenngleich ich dich mag und bewundere und als Freundin auch liebe, werde ich dir nie ein richtiger Ehemann sein können. Da du bereits um die Natur meines Begehrens weißt, kann ich dies zu dir sagen, und da ich auch weiß, dass du dein Herz bereits einem anderen geschenkt hast, kann ich sicher sein, dass nicht die Gefahr besteht, dass du dich in mich verliebst.
Ich weiß, wie du dich fühlst, glaub mir. Ich habe das auch schon durchgemacht und musste mich dem Schmerz stellen, dem du dich jetzt stellen musst, und dem Gefühl, dass das Leben vorbei ist und nicht länger lohnt, gelebt zu werden. Im Moment kannst dir nicht vorstellen, dass irgendetwas schlimmer sein könnte als deine gegenwärtige Verzweiflung, aber es ist möglich, Amber. Hast du dir schon einmal vor Augen geführt, welches Schicksal dich erwartet, wenn deine Affäre mit Jean-Philippe Folgen hat? Wenn du feststellst, dass du ein Kind erwartest?«
Amber spürte, wie ihr sämtliches Blut aus dem Gesicht wich.
»Wir können uns keine Verzögerung erlauben. Wir müssen so schnell wie möglich heiraten.«
»Du kannst mich unmöglich heiraten wollen in dem Wissen, ich könnte ein Kind von Jean-Phi lippe erwarten.«
»Doch, das versichere ich dir.«
»Aber wenn ich ein Kind bekomme und es wird ein Junge …?«
»Dann hätte ich für einen Erben gesorgt und wäre sehr stolz darauf. Besonders mein Großvater wird entzückt sein, falls sich herausstellt, dass du ein Kind erwartest.«
Bis Lord Robert das Schreckgespenst einer potenziellen Schwangerschaft heraufbeschworen hatte, hatte Amber seinem Heiratsantrag wenig Interesse entgegengebracht. Sie hatte nur gedacht, er könne sie unmöglich heiraten wollen. Doch jetzt war zu der Verzweiflung, dass Jean-Phi lippe sie betrogen hatte, eine sehr greifbare Angst hinzugekommen.
Die Sonne wärmte den Strand, und es war zu spät, sich zu wünschen, sie hätte ihrem inneren Drang nachgegeben, als sie das Gästehaus verließ: ins Meer hinauszugehen und sich mitsamt ihrer Sorgen einfach zu ertränken.
In der Villa erwachte allmählich die Familie, man würde sie vermissen. Wie jemand, der aus einem Traum aufwacht, sah sie mit beängstigender Klarheit das Risiko, das sie eingegangen war, und die Gefahr, in der sie schwebte.
»Armes Kind«, sagte Lord Robert leise. »Das Leben ist grausam, besonders gegenüber den Mutigen und den Unschuldigen, doch es muss nicht so schlimm sein, wie du jetzt befürchtest. Wir werden gut zurechtkommen, Amber. Wenn du mich heiratest, hast du die Freiheit, zu wählen, was du mit deinem Leben anfangen möchtest … innerhalb vernünftiger Grenzen.«
»Ich könnte Design studieren?«
Lord Robert neigte den Kopf. »Wenn du willst.«
Eine winzige Knospe der Hoffnung brach in ihr auf und verdorrte sofort wieder.
»Aber wir können nicht heiraten. Niemand wird uns lassen. Lady Levington …«
»Sei versichert, sobald ich meiner Patentante diskret zu verstehen gebe, dass ich mich schon in London in dich verliebt habe und dass mich nach so langer Trennung letzte Nacht leider die Leidenschaft überwältigt hat, wird sie einsehen, dass wir ohne Verzögerung heiraten müssen. Ich rede mit dem Botschafter in Paris. Es ist wahrscheinlich das Beste, wenn wir dort heiraten, mit Sondererlaubnis. Ich bin überzeugt, deine Großmutter wird entzückt sein zu hören, dass du den Erben eines Herzogtums heiratest, und uns nicht nur ihre Erlaubnis geben, sondern auch ihren Segen. Bei Henry liegt die Sache, fürchte ich, anders.«
Henry!
»Was ist?«, wollte Lord Robert wissen, als er ihre Miene sah.
Amber wollte es ihm nicht sagen, doch ihre Ehrlichkeit zwang sie dazu.
»Er hat dir wehgetan und gedroht? Nun, verlass dich darauf, das wird er nie wieder tun.«
Amber zitterte und war den Tränen nahe, als sie erkannte, dass Lord Roberts Sorge allein ihr galt. Es tat so weh, dass Jean-Philippe sie betrogen hatte, wo sie doch gedacht hatte, er würde sie vor Henry beschützen.
Sie hatte großes Glück. Lord Robert bot ihr so vieles: den Schutz seines Namens und die Sicherheit, die sie dadurch erlangen würde – und ihr Kind, falls sie schwanger war. Sie dachte wieder an Louise und Caroline Fitton Legh und an Henry, und sie wusste, sie konnte nur eine Entscheidung treffen und Lord Robert nur eine Antwort geben. Wer sonst würde ihr helfen? Ihre Großmutter sicher nicht.
Doch ein Teil von ihr sehnte sich noch und weinte vor Verzweiflung um das, was man ihr so grausam entrissen hatte. Es schien unmöglich, dass so etwas passieren konnte. Noch vor einem Tag war die einzige Zukunft, die sie sich hatte vorstellen können, die mit Jean-Phi lippe gewesen.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, berührte Lord Robert sie sanft. »Es wird alles gut. Das verspreche ich dir.« Er nahm ihre Hand und hielt sie tröstend. »Wir gehen besser zur Villa zurück und berichten meiner Patentante unsere Neuigkeit.« Blanche hatte Lord Roberts Brief nicht nur einmal gelesen, sondern zweimal. Er war mit der übrigen Morgenpost gekommen, unter der auch Briefe von Amber und von Greg gewesen waren, die sie jedoch noch nicht angerührt hatte. Die Brise, die durchs offene Fenster hereinwehte, warf das Schreibpapier ein wenig auf, trotz seiner Dicke. Automatisch legte Blanche die Hand darauf und runzelte die Stirn, als sie bemerkte, dass ihre Finger zitterten.
Dafür war allein die Eile verantwortlich, mit der Lord Robert verkündet hatte, er werde Amber heiraten, sonst nichts. Wie auch, wo es doch so eine vorteilhafte Ehe für Amber und für die Familie war, weit vorteilhafter als alles, worauf Blanche gehofft hatte, selbst wenn Lord Robert seine Absichten als Feststellung formuliert hatte, statt sie um ihr Einverständnis zu bitten.
Sämtliche Fragen, die ein Vormund einer Braut womöglich stellen wollte, hatte er vorweggenommen und beantwortet. Lord Robert hatte ihr Ansprechpartner bei seinen Banken genannt – dieselben wie ihre eigenen -, damit Blanche sich einen Überblick über seine finanzielle Stabilität verschaffen konnte. Ein Brief vom britischen Botschafter bestätigte seine Identität, ein juristisches Dokument traf sehr großzügige finanzielle Vorkehrungen für Ambers Zukunft, und Lord Robert erklärte, dass er alles dafür tun werde, Amber in ihrer Ehe sehr glücklich zu machen.
Doch eines hatte er versäumt: Lord Robert hatte sie nicht gebeten, bei ihrer Hochzeit dabei zu sein.
»Wir sind uns darin einig, dass wir so schnell und so leise wie nur möglich Mann und Frau werden sollten«, hatte er geschrieben, »ohne großes Aufsehen und, noch wichtiger, ohne weitere Verzögerung.«
Es gab nur einen Grund, in solcher Hast zu heiraten: Entweder wussten sie, dass Amber ein Kind erwartete, oder sie befürchteten es.
Blanche hoffte auf Letzteres. Sie konnte ihnen auf keinen Fall schreiben und sie fragen, und wenn sie recht hatte und sie bereits ein Liebespaar waren, dann war es – um Ambers willen – desto besser, je eher sie heirateten.
Es mochte Blanches Stolz verletzen, dass sie nicht gebeten worden war, zur Heirat nach Paris zu reisen, doch sie hatte nicht die Absicht, das irgendjemanden wissen zu lassen.
Sie nahm Ambers Brief, öffnete ihn und las ihn rasch.
Nachdem sie ihrer Großmutter mitgeteilt hatte, dass sie heiraten würde, und sie gebeten hatte, wegen der praktischen Details Lord Roberts Brief zu lesen, fuhr Amber fort:
Ich hoffe, Du verzeihst uns die Eile, mit der alles vonstattengehen muss. Wenn Du ihn kennenlernst, wirst du ihn in unserer Familie willkommen heißen und genauso glücklich sein über meine Heirat wie ich. Ich liebe und respektiere Robert, und ich habe jedes Vertrauen in unsere gemeinsame Zukunft. Mit Roberts Titel habe ich Deine Erwartungen und Wünsche für mich hoffentlich erfüllt.
Da ihre Enkeltochter letztendlich Herzogin werden würde, konnte Blanche nicht leugnen, dass sie das getan hatte.
Sie stand von ihrem Schreibtisch auf und ging zum Fenster. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich selbst mit siebzehn, bis über beide Ohren verliebt in Barrant de Vries. Was für einen Brief sie wohl an ihren Vater geschrieben hätte, wenn Barrant darauf bestanden hätte, sie so überstürzt zu heiraten? Keinen so gefassten und geschäftsmäßigen.
Doch Barrant so leidenschaftlich zu lieben hatte ihr kein Glück gebracht, sondern nur Schmerz, ermahnte sich Blanche. Sie hatte getan, was sie für Amber für das Beste hielt, um ihr die Erfahrung eines solchen Schmerzes zu ersparen.
Sie schaute zur Tür ihres Arbeitszimmers. Jay würde bald kommen. Der alte Jagdhund war in der Nacht gestorben, und Jay hatte ihn mitgenommen, um ihn auf dem Haustierfriedhof von Denham Place zu begraben. Dort waren Steine, auf denen die Namen von Hunden, Pferden und sogar von einem Papagei standen, die im Besitz derer gewesen waren, die im Laufe der Generationen in Denham Place gelebt hatten. In letzter Zeit hatte Blanche sich öfter an Jay gewandt, wenn sie bestimmte Dinge besprechen wollte. Nicht, weil sie seinen Rat suchte – Blanche würde sich niemals in eine Position bringen, wo sie den Rat eines anderen brauchte -, sondern weil er einen gesunden, schlauen Kopf auf den Schultern trug, was mehr war, als man von Greg behaupten konnte, und mehr auch, als sie bei einem de Vries erwartet hätte. Jay kam offensichtlich nach der väterlichen Seite der Familie.
Es stimmte, dass Blanche Jay ursprünglich eingestellt hatte, um Barrant zu verhöhnen, doch mit seinem Fleiß und seinem ruhigen, kenntnisreichen Selbstvertrauen hatte er ihren Respekt gewonnen, so wie er gerade dabei war, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Sie wollte ihn eben suchen gehen, da fiel ihr ein, dass sie Gregs Brief noch nicht gelesen hatte.
Er war langatmig und abschweifend, voller Beschwerden über Henry Jardine und Lobesreden über »meinen guten Freund Lionel Shepton«.
Er langweile sich in Hongkong, schrieb Greg. Er wolle Shanghai besuchen, doch sei er knapp bei Kasse. Er habe seinem Freund, dessen Geldanweisung nicht wie angenommen gekommen war, etwas geliehen, und jetzt brauche Greg selbst unbedingt Geld. Würde seine Großmutter ihm bitte welches schicken? Blanche seufzte. Ihre Pläne für Amber mochten sich zufriedenstellend entwickeln, doch bei Greg lag die Sache vollkommen anders.
 
Jay stützte sich auf seinen Spaten. Es würde ein heißer Tag werden, die Sonne vertrieb schon den leichten Nebel, der im Tal unterhalb von Denham Place lag, und er spürte ihre warmen Strahlen.
Er war in der Nacht mit dem Gefühl aufgewacht, nach dem Hund sehen zu müssen, ohne zu wissen, warum. Der Hund hatte auf ihn gewartet, hatte den Kopf gehoben und ihn mit Augen, die fast blind waren, angesehen und noch ein letztes Mal mit dem Schwanz gewedelt. Dann war er gestorben, während Jay ihn gestreichelt hatte.
Es war nicht sein Hund gewesen, doch das hatte keine Rolle gespielt, sie hatten die letzten Monate zusammen verbracht, und der Hund, der ein höfliches Tier gewesen war, hatte auf ihn gewartet, um ihm Lebewohl zu sagen.
Dafür konnte Jay ihm nur denselben Respekt zollen. Er hatte ihn an einem geschützten Fleck zwischen anderen seiner Art begraben, und er würde seinen Namen in einen Stein meißeln lassen, um die Stelle zu markieren. Er würde seine Gesellschaft vermissen, gestand Jay sich ein, als er zum Haus zurückging.
 
In der Zwischenzeit war die Post gekommen, und Jays Herz machte einen freudigen Satz, als er Ambers Handschrift sah. Allein ihr Anblick nach einer solchen Aufgabe war fast so tröstlich wie die mitfühlenden Worte, die sie für ihn gehabt hätte, wenn sie da gewesen wäre.
Nur in Augenblicken der Schwäche, so wie diesem, erlaubte er sich den emotionalen Luxus, so persönlich an sie zu denken, als Mann, der sie liebte und immer lieben würde. Er hatte von Anfang an gewusst, dass seine Liebe zu ihr keine Zukunft hatte. Wie sehr Blanche ihn auch als Gutsverwalter schätzte, würde sie ihm doch niemals erlauben, um Amber zu werben. Eher würde sie ihn auf der Stelle entlassen. Jay wusste das, zudem wäre er nie in der Lage, Amber das zu bieten, was sie verdiente, und so achtete er streng darauf, nichts zu sagen oder zu tun, was sie ermutigen würde, ihn als etwas anderes zu sehen denn als Freund.
Er war nicht so eitel, sich einzubilden, Amber hätte sich in ihn verliebt, nur weil er sie liebte, doch sie war jung und verletzlich, und sie hatte sich Trost suchend an ihn gewandt. Ein manipulativer Mann hätte eine junge Frau wie sie leicht davon überzeugen können, dass das, was sie für ihn empfand, Liebe war. Doch das wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen, selbst wenn Blanche ihm erlaubt hätte, um sie zu werben. Amber war noch jung und wusste noch wenig über das Leben und sich selbst. Jay hoffte, wenn die Zeit kam, würde er stark genug sein, um zurückzutreten und sich für sie zu freuen. Bis dahin blieb ihm das bittersüße Vergnügen ihrer Briefe und ihres Vertrauens, und sein hungriges Herz labte sich daran.
Er öffnete den Brief und setzte sich, um ihn zu lesen.
»Lieber Jay, ich schreibe Dir, um Dir zu erzählen, dass ich Lord Robert heiraten werde.«
Der Schock über diese Worte, so unerwartet und unwillkommen, traf ihn wie ein Schlag. Bevor er merkte, was er tat, zerknüllte er den Brief. Dann schaute er auf den Papierball, legte ihn auf den Tisch und strich ihn mit zitternden Händen glatt.
Er las ihn noch einmal, und vor Schmerz stieg Übelkeit in ihm auf, als er sah, was er zuvor überlesen hatte: Ambers Brief enthielt einen Hinweis auf den Grund ihrer Hochzeit, ohne ihn deutlich zu formulieren. Sie hatte sich in einen anderen Mann verliebt und war von diesem betrogen worden, und Lord Robert rettete sie vor den Folgen. Er war ihr Retter, und sie war ihm dankbar. Ein Satz, der sich auf Lady Fitton Legh, deren Schande und Tod bezog, verriet ihm, was Amber befürchtete.
Ich weiß, wie schockiert Du sein musst. Ich schäme mich sehr und würde es verstehen, wenn Du denkst, dass ich tief gesunken bin. Ich kann mich sehr glücklich schätzen, dass Lord Robert bereit ist, mich vor den Folgen meiner Dummheit zu bewahren. Ich würde es verstehen, wenn Du nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest, Jay, denn ich habe mich wirklich sehr schlecht benommen.
Jay litt Qualen um sie. Sein liebes, liebes Mädchen. Er verstand sehr wohl, warum sie Lord Robert dankbar war. Und er wusste, dass er alles gegeben hätte, wenn er derjenige hätte sein können, der sich um sie kümmern durfte.
Er stand auf, ging zum offenen Kamin und warf Ambers Brief in die Flammen, schaute zu, wie er Feuer fing, während der Schmerz seiner Liebe zu ihr sich den Weg durch sein Herz brannte.
 
Blanche kam ins Zimmer, als Jay sich gerade wieder dem Schreibtisch zuwandte.
Der Hundekorb, fiel ihr beim Eintreten auf, war verschwunden.
»Amber wird heiraten«, sagte sie unvermittelt.
Jay nickte. Er wagte nicht, etwas zu sagen.
»Lord Robert hat mir geschrieben, dass sie sofort in der britischen Botschaft in Paris heiraten möchten. Ich habe keine Zeit, eine Reise vorzubereiten, um an der Hochzeit teilzunehmen. Ich möchte mich jedoch davon überzeugen, dass Lord Roberts Referenzen so ausgezeichnet sind, wie die Empfehlungen, die er mir geschickt hat, andeuten.«
Sollte er Blanche von Lord Roberts sexueller Orientierung erzählen? Was wäre damit gewonnen? Nichts lag ihm ferner, als Amber in irgendeiner Weise zu schaden. Sie hatte deutlich gemacht, dass sie jetzt den Schutz eines respektablen Ehemanns brauchte, also war alles, was die Eheschließung aufschob oder gar verhinderte, nicht in ihrem Interesse. Sie wusste schließlich, was Lord Robert war, und sie mochte ihn, wie Jay wusste.
Es war nicht nur der alte Hund, der ihm keine Gesellschaft mehr leistete, er musste sich auch von seinen eigenen unerreichbaren Träumen verabschieden.
 
Zwei Wochen nach seinem Heiratsantrag wurden Amber und Lord Robert mit Sondergenehmigung in der St. Michael’s Church in Paris, der offiziellen Kirche der britischen Botschaft, getraut. Amber trug ein Hochzeitskleid von Vionnet, mit Perlen und winzigen Diamanten bestickt, und den Spitzenschleier, den die Devenish-Bräute seit vielen Generationen getragen hatten. Er war zusammen mit einem Teil des Familienschmucks per Kurier an die britische Botschaft in Paris geschickt worden.
Lord Levington führte sie dem Bräutigam zu, und Beth, die eine schlichtere Version von Ambers Hochzeitskleid in einem hübschen Lavendelblau trug, war ihre einzige Brautjungfer, während ein junger Diplomat aus der Botschaft den Dienst als Roberts Trauzeuge versah.
Sehr zu Ambers Erleichterung war Beth begeistert gewesen, als sie erfuhr, dass Amber Lord Robert heiraten wollte, und hatte sie sogar damit geneckt, sie habe sich schon die ganze Zeit gedacht, dass Amber auf dem besten Weg war, sich in ihn zu verlieben.
Es war leichter – und sicherer – gewesen, sie in diesem Glauben zu belassen.
Alle waren sich darin einig, dass Amber bemerkenswert ruhig gewesen war. Nur sie allein wusste, dass sie beinahe zusammengebrochen wäre, als die bezwingenden altehrwürdigen Worte der Vermählungszeremonie ernst in der eindrucksvollen Stille der Kirche erklangen. Es war ein schmerzlicher Augenblick, in dem sie sich verzweifelt nach dem Trost ihrer Eltern gesehnt hatte.
Und Jean-Philippe?, hatte sie sich gefragt, als Robert ihr den Ring auf den Finger geschoben hatte.
Nein! Jean-Philippe hatte sie angelogen und betrogen. Sie hatte ihn geliebt, doch damit musste Schluss sein. Aber sie konnte ihn genauso wenig hassen wie ihre Großmutter Barrant de Vries.
Seit der schrecklichen Szene, als sie ihn damit konfrontiert hatte, was Lord Robert ihr erzählt hatte, hatte sie Jean-Philippe nicht mehr gesehen; und sie hatte auch nicht den Wunsch dazu. Sie wollte ihn nie wiedersehen und am liebsten vergessen, dass sie ihn je gekannt hatte.
Hatte ihre Großmutter dieselbe Dankbarkeit für Henry Pickford empfunden, die Amber für Robert empfand? Auf keinen Fall wollte Amber ihrer Großmutter ähnlich sein.
Robert neigte den Kopf, und seine Lippen waren freundlich und warm, als sie über ihren Mund strichen. Sie waren verheiratet. Es war vollbracht. Sie war in Sicherheit.
Robert führte sie den Mittelgang hinunter, während der Organist die Kirche mit dem Brausen von Händels triumphaler Musik erfüllte.
Obwohl eine Kirche nicht der rechte Ort für solche Gedanken war, hatte sie schreckliche Alpträume über Caroline Fitton Legh gehabt. Wie erbärmlich unglücklich und verängstigt musste sie gewesen sein, von Greg verlassen und von ihrem Mann verstoßen. Was hatte sie für einen schrecklichen Preis gezahlt.
Amber hatte so viel Glück. Robert hatte sie vor der Schande und der Schmach bewahrt, die Louise im Augenblick erleben musste, und womöglich vor der noch schrecklicheren Situation, in der Caroline Fitton Legh sich befunden und in die Jean-Philippe sie gebracht hatte, ohne einen einzigen Gedanken an sie zu verschwenden. In Situationen wie diesen zahlte immer die Frau den Preis, nicht der Mann.
Sie würde nie vergessen, was Robert für sie getan hatte, und sie würde ihm immer dankbar sein, sagte Amber sich leidenschaftlich und leistete innerlich einen ernsten Schwur, dass ihre Liebe und ihre Loyalität von nun an allein Robert galten.
Das Kirchenportal flog auf, und sie traten hinaus in den Sonnenschein.
Ganz in die Intensität ihrer Gefühle versunken, wandte Amber sich mit vor Dankbarkeit überfließendem Herzen zu Robert um. Diesen Augenblick fing Cecil mit der Kamera ein. Das Foto begleitete später eine Flut begeisterter Artikel in den Gesellschaftsspalten der britischen Zeitungen, die über ihre Hochzeit berichteten. Eine junge Frau, die ihren Bräutigam liebevoll ansieht. Wer konnte davon unberührt bleiben?
 
Nach der kirchlichen Zeremonie lud der Botschafter alle zu einem Hochzeitsessen in der britischen Botschaft ein. Während Lord und Lady Levington ihr äußerlich eine Stütze gewesen waren, hegte Amber doch den Verdacht, dass die beiden, gewiss aber Lady Levington, es im Grunde missbilligten, dass Robert sie heiratete. Wie hätte es auch anders sein können, schließlich hatten sie Amber nicht für gut genug befunden, ihren Sohn zu heiraten! Und als Erbe eines Herzogtums rangierte Robert im Adelsverzeichnis um einiges höher als Henry.
Nicht dass sie darüber ein Wort verloren hätten, und Lady Levington hatte wirklich alles getan, um bei den Hochzeitsvorbereitungen behilflich zu sein. Doch es herrschte eine ausgeprägte Kühle, die, wie Amber befürchtete, ihr auch von anderer Seite entgegenschlagen würde.
In den Augen von Roberts Welt hatte sie wahrlich eine gute Partie gemacht, und Mütter wohlgeborener Töchter auf der Suche nach einem Ehemann würden ihr das verübeln. Man hatte sie toleriert, als sie nur Beths Schulfreundin gewesen war, doch würden diejenigen, die geglaubt hatten, gesellschaftlich über ihr zu stehen – und über denen sie jetzt dank der Hochzeit mit Robert stand – sie subtile Feindseligkeit spüren lassen?
Dabei war das ihre geringste Sorge. Erleichtert hatte sie festgestellt, dass Henry bei seinen Freunden geblieben war, statt mit nach Paris zu kommen. Der Gedanke daran, wie er sich benommen und was er getan hatte, war nur schwer zu ertragen. Robert hatte ihr gesagt, er habe Henry gewarnt, es werde ihm nicht gut bekommen, sollte er je ein Wort über Amber und Jean-Philippe verlieren. Henry würde es nicht wagen, irgendjemandem irgendetwas zu erzählen.
Robert hatte dem Botschafter gesagt, sie wünschten keine großen Umstände; trotzdem wurden Toasts ausgebracht, Glückwunschkarten mussten gelesen werden, und zahlreiche Geschenke warteten auf sie.
Unter den Karten fand Amber eine von Jay, in der er ihr alles Gute wünschte.
Der liebe Jay. Amber mochte ihn sehr. Er war ihr ein wahrer und guter Freund gewesen, dem sie sich immer hatte anvertrauen können. Ihre Großmutter hatte eine Karte an sie beide geschickt und einen kühlen, typisch distanzierten Brief an Amber, in dem sie erklärte, sie freue sich auf ihre Rückkehr und darauf, Robert endlich kennenzulernen.
Die Party dauerte länger, als Amber erwartet hatte, und sie war erleichtert und dankbar, als Robert verkündete, es sei Zeit für sie beide zu gehen.
 
Nach der Hochzeit verbrachten sie eine Woche in Paris, wo sie im George V. in einer Suite wohnten, die so groß war, dass ihre Schlafzimmer durch zwei riesige Salons getrennt waren. Die Levingtons kehrten nach Juan-les-Pins zurück und Cecil Beaton nach London.
Wie Amber während ihrer Saison und bei ihrem Aufenthalt in der Villa gelernt hatte, galt es in der Aristokratie als ganz normal, dass verheiratete Paare getrennte Schlafzimmer hatten. Selbst Diana Guinness hatte ihr eigenes Schlafzimmer und kein gemeinsames mit ihrem Ehemann Bryan, dabei waren sie sehr verliebt. Es bestand also kein Grund, befangen zu sein, weil sie und Robert getrennte Zimmer hatten, oder sich Sorgen zu machen, die Leute könnten das bei einem frisch verheirateten Paar komisch finden.
Eine verheiratete Frau der gehobenen Gesellschaft brauche eine ganz andere Garderobe als eine unverheiratete Debütantin, sagte Robert zu Amber, als sie gegen seine Aufforderung protestierte, sie müsse sich alle neuen Kleider kaufen, die ihr gefielen.
Und Robert kaufte ihr nicht nur Kleider. Am ersten Morgen nach ihrer Hochzeit ging er mit ihr zu Cartier und sagte, sie brauche ihren eigenen Schmuck und nicht nur die Familienerbstücke, die sie bei formellen Gelegenheiten würde tragen müssen. Sein Hochzeitsgeschenk waren zwei schwarz-weiße Schlangenarmreife mit gelben Diamantaugen, die Amber insgeheim viel zu dramatisch fand, als dass sie sich damit wirklich wohl gefühlt hätte.
Seit sein Großvater sich zur Ruhe gesetzt hatte und die ganze Zeit auf Osterby lebte, dem imposanten Landsitz der Familie, wurde das Londoner Haus am Eaton Square praktisch nicht mehr genutzt. Es sollte ihr neues Zuhause werden, doch Robert warnte sie: »Im Augenblick ist es weit davon entfernt, dass man darin wohnen könnte. Zwischenzeitlich müssen wir uns also mit dem Haus am Cheyne Walk begnügen, wo wir recht beengt leben werden.«
Natürlich war ihre Heirat ein Thema von großem Interesse für die vornehme Gesellschaft, die in Paris lebte oder die Stadt besuchte, und natürlich wurde das frisch vermählte Paar gefeiert und zu allen möglichen Ereignissen eingeladen, wo Robert sich seiner Braut gegenüber als der perfekte Gatte zeigte: aufmerksam, zärtlich und ihr augenscheinlich in Liebe zugetan.
Am Abend vor ihrer Rückkehr nach London besuchten sie als Gäste des britischen Botschafters eine Dinnergesellschaft. Die meisten anderen Gäste hatte Amber bereits kennengelernt, die meisten, aber eben nicht alle, und ihr Magen verknotete sich vor Verzweiflung, als sie Jean-Phi lippe mit einer Frau den Raum betreten sah, die sie von einem Foto her als Mrs de Wittier erkannte.
Sie war sehr elegant, musste Amber widerstrebend zugeben, und sehr dünn, die Haut spannte sich straff über ihre Gesichtsknochen, und ihre Augen waren so wachsam und räuberisch wie die eines Geiers. Jean-Philippe, weit davon entfernt, Verlegenheit oder Scham zu zeigen, deutete Amber sogar spöttisch eine leichte Verbeugung an, als er sie sah, und unter den wilden, dunklen Locken blitzte sein Ohrring auf.
Ambers Magen verkrampfte sich, und sie wurde von schmerzlicher Liebe zu ihm durchflutet, die sie nicht empfinden wollte. Ein Blick von ihm hatte genügt, um die verschlossene Tür aufzureißen, hinter die sie ihre Erinnerungen an ihre gemeinsame Leidenschaft geschoben hatte. Der Schmerz war so stark, dass sie ihn kaum ertrug. Sich vor Augen zu führen, was er war, sich daran zu erinnern, dass er sich der Frau, mit der er zusammen war, gegen Geld hingab, war eine schwache Abwehr gegen ihre Liebe.Wenn er nach ihr rufen, zu ihr kommen würde, würde sie …
»Amber.«
Robert trat vor sie und versperrte ihr den Blick.
»Vergiss nicht, wo du bist und wer du jetzt bist.«
Amber hätte am liebsten geweint, doch das ging nicht. Sie war jetzt Roberts Frau, und sie war es ihm schuldig, sich entsprechend zu betragen.
Sie spürte, dass Jean-Phi lippe sie ansah und sie zwingen wollte, seinen Blick zu erwidern, damit er sie noch mehr quälen konnte, doch sie weigerte sich, voller Angst, was sie tun würde, wenn sie ihm in die Augen blickte und darin Verlangen sehen würde. Jean-Philippe liebte sie nicht. Wenn er sie lieben würde, hätte er sie nicht so angelogen. Doch Robert konnte ihr auch nicht der Ehemann sein, auf den sie stets gehofft hatte.
Es kam ihr vor, als wollte der Abend nie enden, und als er endlich vorüber war, hätte Amber nicht dankbarer sein können.
 
Am nächsten Morgen beim Aufwachen war Amber schwindelig.
Der Anblick und der Duft des Frühstücks, das Robert sich schmecken ließ, hoben ihr den Magen, und sie entschuldigte sich vom Tisch und eilte ins Bad.
Bei ihrer Rückkehr grinste Robert sie an und meinte, er hoffe, das Baby würde schickliche acht Monate mit seiner Ankunft warten, woraufhin Amber vorschriftsmäßig in Ohnmacht fiel.
Als sie wieder zu sich kam, protestierte sie und erklärte ihr Unwohlsein mit der Aufregung des vorangegangenen Abends und dem Fisch, den sie gegessen hatte, doch Robert ließ sich nicht recht überzeugen und war von da an sehr fürsorglich und behandelte sie, als wäre sie aus zartestem Porzellan.
 
Drei Tage nach ihrer Rückkehr nach London reisten sie nach Macclesfield, um an der Feier teilzunehmen, die Blanche zu Ehren ihrer Hochzeit unbedingt nachträglich hatte geben wollen, und natürlich, damit Blanche Robert kennenlernen konnte.
Amber war enttäuscht, als sie erfuhr, dass Jay nicht in Denham Place war, sondern Urlaub genommen hatte, um seine Eltern in Dorset zu besuchen.
Amber hatte gewusst, dass Robert Blanches Billigung finden würde. Wie hätte es auch anders sein können, wo er doch alle ihre Kriterien für einen Schwiegerenkelsohn erfüllte und obendrein noch überaus freundlich und charmant war? Was sie jedoch nicht geahnt hatte, war, dass Robert von ihrer Großmutter genauso begeistert sein würde.
Kurz vor ihrer Abreise kam Blanche in Ambers Zimmer hinauf, wo diese einen Brief an Beth schrieb, während Robert die Behaglichkeit der Bibliothek von Denham Place genoss.
»Ich bin sehr erfreut und glücklich über diese Ehe, Amber«, erklärte Blanche ihr. »Robert ist alles, was ich mir für dich als Ehemann wünschen konnte, und mehr.«
»Du meinst, weil er mich zur Herzogin machen wird?«, fragte Amber trocken. Sie konnte einfach nicht widerstehen.
»Roberts gute Kinderstube spricht für sich, ganz ungeachtet seines Titels«, sagte Blanche kühl. »Das dürfte wohl jedem bewusst sein. Du hast großes Glück.«
»Ach ja?« Zu spät erkannte Amber, dass die Schärfe in ihrer Stimme mehr verriet, als klug war. »Ich meine, ja, habe ich, nicht wahr?«, verbesserte sie sich.
Blanche runzelte die Stirn. In dem Augenblick, da sie Robert begegnet war – noch bevor sie die anerkennenden und respektvollen Blicke der Gäste bei dem Fest für die Frischvermählten gesehen hatte -, hatte sie gewusst, dass niemand unbeeindruckt von ihm bleiben konnte, und das nicht allein wegen seines Titels und seines Reichtums. Und sie hatte recht behalten.
Noch mehr jedoch war sie von Roberts Charme und seiner offensichtlichen Freundlichkeit entzückt gewesen. Es war augenscheinlich, wie sehr er Amber schätzte, und Blanche wusste, dass sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen musste. Doch sie spürte auch, dass Amber nicht glücklich war. Sie war zu dünn, zu nervös, zu kratzbürstig und zornig, obwohl sie sich alle Mühe gab, diesen Zorn zu verbergen, und es war kein Wort über den Grund ihrer überstürzten Heirat gefallen.
»Amber, ich mache mir große Sorgen um dich.«
»Das tust du nicht. Du hast dir nie Sorgen um mich gemacht. Du wolltest, dass ich einen Aristokraten heirate. Also, das habe ich getan. Für dich ist die Sache damit erledigt.«
Bevor eine von ihnen mehr sagen konnte, kam Robert herein, was ihr Gespräch, sehr zu Ambers Erleichterung, abrupt beendete. Sie war froh, dass sie am nächsten Morgen nach London zurückkehren würden, doch enttäuscht, dass sie Jay nicht gesehen hatte. Sie hatte sich so auf ihn gefreut. Das Haus hatte verlassen gewirkt ohne ihn und Greg, obwohl sie einen Brief von Greg bekommen hatte, in dem er ihr zur Hochzeit alles Gute wünschte und sich dafür entschuldigte, dass er kein Geschenk geschickt hatte. Er sei, wie er erklärte, leider ziemlich knapp bei Kasse.
 
»Und es macht dir nichts aus, für Mrs Pickford zu arbeiten, wo das Gut deines Vaters ganz in der Nähe liegt?«, fragte Lydia. »Nein, warum sollte es?«, antwortete Jay und streckte die Hand aus, um ihr über den Zauntritt zu helfen.
Lydias Großmutter wohnte in demselben kleinen Marktflecken wie seine Eltern, und sie kannten sich fast ihr Leben lang, obwohl Jay sie einige Jahre nicht gesehen hatte.
Ihre augenfällige Bewunderung für ihn hätte willkommener Balsam für Jays schmerzendes Herz sein müssen. Er hätte sich auch darüber gefreut, wenn er bei Vernunft gewesen wäre, doch wer war schon bei Vernunft, wenn er verliebt war? Lydia war nicht Amber, und Jay fand Lydias Eifer und ihre plötzlichen Stimmungsschwankungen zwischen fast überreizter Fröhlichkeit und großer Verzweiflung unangenehm, obschon sie ihm auch leidtat.
Sie hatte ihm erzählt, dass die zweite Ehe ihres Vaters nach dem Tod ihrer Mutter sie sehr unglücklich gemacht hatte und dass die Feindseligkeit, die ihre Stiefmutter ihr gegenüber an den Tag legte, sie sehr bedrückte. Zögernd hatte sie ihm gestanden, dass ihre Stiefmutter sie nicht gut behandelte und einen Keil zwischen sie und ihren Vater treiben wollte, und natürlich hatte Jay da Mitleid mit ihr gehabt.
Sie hatten sich heute zufällig getroffen, als Jay einen Spaziergang gemacht hatte, und obwohl er zu höflich war, es zu zeigen, wäre Jay lieber allein gewesen.
»Ich muss zurück, sonst langweilst du dich noch mit mir«, sagte Lydia jetzt.
»Nicht doch«, protestierte Jay, mehr, weil er wusste, dass sie es erwartete, als dass es seinen Gefühlen entsprach.
»Begleitest du mich? Mir ist nie so recht wohl, wenn ich allein durch den Wald gehe.«
»Natürlich«, versicherte Jay ihr und fiel in ihre Schritte ein.
Sie hatten gutes Wetter, auch wenn es vielleicht ein wenig zu warm war, um wirklich weit zu wandern, und als sie das Haus von Lydias Großmutter erreichten und Lydia ihm etwas Kaltes zu trinken anbot, bevor er sich auf den Heimweg machte, nahm Jay froh an und folgte ihr dankbar in die Küche des adretten Hauses.
Er war ein wenig überrascht, als Lydia einen Stuhl vor einen Schrank zog und unbedingt hinaufsteigen wollte, um ein Glas herabzuholen, obwohl er angeboten hatte, er könne das gerne für sie tun. Sie plapperte die ganze Zeit fröhlich weiter. Ihr unnatürlich munteres Betragen ermüdete Jay, und er hätte sich gerne verabschiedet.
»Du kannst mir gerne den Stuhl festhalten«, Lydia fing an zu kichern, »aber du musst versprechen, nicht auf meine Beine zu schauen.«
»Lydia, bitte, lass mich das Glas holen«, flehte Jay, doch es war zu spät. Lydia wankte auf dem Stuhl, verlor das Gleichgewicht und fiel ihm direkt in die Arme.
Jay überlegte noch, ob ihr Sturz nicht doch mehr Absicht gewesen war denn Unfall, als Lydia seinen Verdacht bestätigte, indem sie ihm die Arme um den Hals schlang und ihn küsste.
Jay hatte nie damit gerechnet, in eine solche Situation zu geraten, und fühlte sich sehr unbehaglich. Er wollte Lydia nicht kränken, doch er empfand nichts für sie. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
»Oh, ist es nicht wunderbar, dass wir uns wieder begegnet sind?«, flüsterte Lydia glücklich. »Als wir Kinder waren, hätte ich mir nie vorstellen können, dass wir uns mal ineinander verlieben würden, du?«
Verlieben?
»Lydia, es tut mir leid, aber …«
»Du musst dich nicht entschuldigen.« Ihre Stimme war tief und besorgniserregend eindringlich. »Ich … oh.«
Jay hörte, wie hinter ihm die Tür aufging, und dann sagte Lydia aufgeregt: »Großmama, ist das nicht herrlich? Jay und ich sind verliebt und wollen uns verloben.«
Jay konnte nichts tun. Es war unmöglich, die Sache richtigzustellen oder zu leugnen, was sie gesagt hatte. Er war gefangen von seiner eigenen Moral und von Lydias Überschwang. Wie hatte sein Leben nur so eine falsche Wendung nehmen können?