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Lady Rutland war
nicht entzückt, dass nur Amber zu der privaten Dinnerparty
eingeladen war, die Beths Eltern an dem Abend von Beths Debütball
gaben, und Louise nicht. Doch da ihre Großmutter Amber nicht nur
geschrieben hatte, wie sehr sie sich über ihre Einladung nach
Südfrankreich freue, sondern sie auch noch angerufen hatte, hatte
Amber sich berechtigt gefühlt, Lady Rutlands Verärgerung zu
ignorieren.
Lord und Lady
Levingtons Haus am Belgrave Square war viel prächtiger als Lady
Rutlands Haus am Cadogan Place. Die Blumen, die den Ballsaal
schmückten, waren aus dem Treibhaus in Chevenely geschickt worden,
ihrem Landsitz, wo sie speziell für Beths Ball gezogen worden
waren.
Da sie dem Earl of
Levington bisher noch nicht begegnet war, hatte Amber sich Sorgen
gemacht, die Einladung nach Südfrankreich könnte zurückgezogen
werden, wenn sie nicht die Billigung von Beths Vater gewann. Doch
zu ihrer großen Erleichterung war Lord Levington ihr sehr
freundlich begegnet und hatte ihr gleich die Befangenheit
genommen.
Man hatte Amber für
das Dinner Beths älteren Bruder, Henry, Viscount Hollowes, als
Tischherrn zugewiesen. Henry hatte ein frisches Gesicht, Beths
weiches braunes Haar und die haselnussbraunen Augen seines Vaters.
Sein Betragen war ein wenig unbeholfen und angespannt, und er hatte
beim Dinner mit Amber in ernstem Tonfall über Australien
gesprochen.
»Henry ist den
Umgang mit Mädchen nicht gewohnt«, hatte Beth ihr anvertraut.
»Mummy meinte, es wäre gut für ihn, wenn er hier in London bliebe,
während ich meine Saison absolviere, aber Daddy fand es wichtiger,
dass er mit ihm nach Australien fährt.«
Beth strahlte an
diesem Abend, was nicht zuletzt auf die Anwesenheit von Alistair
zurückzuführen war, dem Sohn ihrer Patentante, vermutete Amber, als
sie ihre Freundin später auf dem Tanzparkett mit Alistair
herumwirbeln sah. Mit seinem kräftigen Körperbau, seinem rotblonden
Haar und seinen leuchtend blauen Augen mochte der Ehrenwerte
Alistair McCrea nicht so aufregend erscheinen wie einige der
eleganteren Debütantinnenträume, doch er hatte eine beruhigende
Art. Er war ein junger Mann, der seine Pflichten einst sehr ernst
nehmen würde, das sah Amber, und diese Pflichten würden sich
natürlich auch auf seine Frau erstrecken. Er würde nicht nur den
Titel seines Vaters und dessen schottische Ländereien erben,
sondern von einem Großonkel mütterlicherseits auch ein kleines Gut
in Hertfordshire, wie Beth Amber anvertraut hatte. Amber hatte den
Verdacht, dass Beth schon auf dem besten Weg war, sich in ihn zu
verlieben.
Die Glückliche,
dachte Amber, sich in jemanden zu verlieben, der so angemessen ist.
Doch Beth gehörte zu denen, die ihren Eltern gerne eine Freude
machten, besonders ihrer Mutter, der sie sehr nahe
stand.
Über der Vorfreude
auf Südfrankreich konnte Amber fast die Szene vergessen, deren
Zeugin sie in der Nacht ihres Balls geworden war, und wie sehr sie
die Ausflüge mit Lord Robert vermisste. Fast. Doch nicht
ganz.
Beth hatte ihn in
letzter Zeit nicht erwähnt, und Amber hatte nicht nach ihm fragen
wollen, denn sie befürchtete, ihre Fragen könnten sie verraten.
Diana und Bryan Guinness waren mit einer Gruppe, zu der auch Dianas
Bruder Tom Mitford, Jim Lees-Milne, Oswald Mosley mitsamt Frau
sowie der Romancier Evelyn Waugh gehörten, auf dem Ball. Amber
erkannte sie alle, entweder war sie ihnen persönlich vorgestellt
worden oder man hatte sie ihr bei früheren Gelegenheiten
gezeigt.
Amber tanzte mit
Henry und hatte dabei alle Mühe, sich nicht unbehaglich zu fühlen,
denn er stierte sie schweigend an. Ihr Blick fiel auf die Gruppe,
die sich um Oswald Mosley drängte, einen gut aussehenden Mann im
Stil von Rudolph Valentino. Oswald Mosley wurde von allen
Boulevardzeitungen gefeiert, weil er wegen der Ablehnung des nach
ihm benannten Memorandums, das Pläne für umfangreiche öffentliche
Aufträge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur
Einkommenssicherung für die Armen beinhaltete, von der Regierung
unter Ramsay MacDonald zurückgetreten war. Amber fand, dass alles,
was die schreckliche Situation entlastete, in der Männer keine
Arbeit fanden, um ihre Familien zu ernähren, bejubelt und sofort
umgesetzt werden sollte. Nicht dass sie viel von Politik verstand,
natürlich nicht.
Sie waren fast auf
Höhe der Gruppe, als Diana, die neben Mosley stand, plötzlich
aufkreischte und dann lachte, den Kopf schüttelte und rief: »Oh,
Mosley, du Bestie«, bevor sie sich an ihren Mann wandte und sagte:
»Er hat mir gerade etwas Eiskaltes in den Rücken fallen lassen,
Bryan.«
»Du Arme«,
protestierte die hübsche Brünette, die an Tom Mitfords Arm hing,
während Oswald Mosley die Faust öffnete und einige der kleinen rosa
Flauschbällchen offenbarte, mit denen die Tische zum Dinner
geschmückt gewesen waren.
»Es war nur einer
hiervon, in Champagner gekühlt«, sagte er in schleppendem Tonfall,
die Neckerei offensichtlich genießend. »Du hast mein Memorandum so
hitzig verteidigt, Diana, dass ich es als meine Pflicht betrachtet
habe, dich abzukühlen, bevor du den Ruf des armen Ramsay in Schutt
und Asche legst.«
Der Tanz war zu
Ende, und Amber war ziemlich froh, aus Henrys festem Griff
freizukommen.
»Du musst deine
Partnerin für den nächsten Tanz suchen gehen«, erinnerte sie ihn
sanft, als er keine Anstalten machte, von ihrer Seite zu
weichen.
Stattdessen platzte
er heraus: »Ich würde viel lieber noch einmal mit dir tanzen!«, und
Amber fühlte sich von Neuem unbehaglich.
Doch im nächsten
Augenblick sagte eine vertraute Stimme: »Ah, aber Miss Vrontsky hat
mir diesen Tanz versprochen, Henry, alter Bursche!« Zu erleichtert,
um befangen zu sein, drehte sie sich um und schaute Lord Robert ins
Gesicht.
»Ich nehme an, Sie
waren nicht besonders darauf erpicht, noch einmal mit ihm zu
tanzen?«, fragte er, sobald Henry außer Hörweite war.
»Eigentlich nicht«,
gab Amber zu, »aber Sie müssen nicht bleiben und mit mir tanzen,
wenn Sie …« Sie hatte sich verhaspelt und schwieg
verlegen.
»Ich möchte sehr
gerne mit Ihnen tanzen.«
Amber spürte
verärgert, wie sie rot wurde.
»Aber ich finde, wir
sollten stattdessen ein wenig umhergehen«, schlug Lord Robert vor
und bot ihr den Arm. »Dabei können wir uns besser
unterhalten.«
Lord Robert kannte
das Haus offensichtlich gut, denn er fand bald ein schmales
Vorzimmer zum Ballsaal, dessen Türen sich auf einen Balkon
öffneten. Er war gerade breit genug, dass zwei Menschen darauf
stehen und die Nachtluft genießen konnten.
»Es tut mir leid,
dass ich mich so dumm benommen habe …«, erklärte
Amber.
»Sie haben sich
nicht dumm benommen. Ich bezweifle, dass Sie sich überhaupt jemals
dumm benehmen können, Amber.« Als sie ihn mit großen Augen unsicher
anschaute, fuhr er fort: »Was ich getan habe, war unverzeihlich.
Manche Dinge sollten im Privaten bleiben. Ungesehen und
ungehört.«
»Ich würde meinen,
es ist nicht immer leicht, seine Gefühle zu verbergen, wenn sie
sehr stark sind.« Jetzt blickte Amber hinaus in die Dunkelheit,
denn sie brachte es nicht über sich, Lord Robert direkt
anzusehen.
»Sie sind ebenso
mitfühlend wie freundlich. Ich habe töricht geliebt, und ich habe
den Preis dafür bezahlt.«
Bei seinen Worten
wurde Amber ganz traurig ums Herz.
»Ich habe immer
gedacht, jemanden zu lieben würde bedeuten, so glücklich zu sein
wie meine Eltern, aber die Liebe ist nicht immer so, nicht
wahr?«
»Nein. Liebe kann
vieles sein, gelegentlich sogar verdammt schmerzhaft. Ich hoffe,
wenn Sie die Liebe finden, dann jene Art von Liebe, die Ihre Eltern
geteilt haben.« Er räusperte sich und sagte dann abrupt: »Ich habe
Sie und unsere gemeinsamen Ausflüge sehr vermisst.«
»Ehrlich?« Jetzt
drehte Amber sich um und sah ihn an. »Ich habe Sie auch vermisst.
Ich dachte, Sie wären wütend auf mich, weil …«
»Nicht doch. Wenn
ich wütend war, dann auf mich selbst.« Er griff nach ihrer Hand und
hielt sie fest. »Wollen wir wieder Freunde sein?«
»O ja.«
»Wollen wir die
Erneuerung unserer Freundschaft mit dem Du besiegeln?«
»Ja,
gerne.«
Sie schauten
einander an und lächelten.
»Da wird Cecil sich
aber freuen. Er findet dich sehr vielversprechend, weißt du, und
würde dich gerne, glaube ich, als zweite Syrie Maugham
sehen.«
Amber machte große
Augen bei dem Kompliment. Syrie Maugham, die ehemalige Frau des
berühmten Bühnenautors, war die im Augenblick gefeiertste
Inneneinrichterin.
»Meine Großmutter
würde mir nie erlauben, dass ich ein Geschäft eröffne«, erklärte
sie Robert traurig.
»Nein, aber dein
Mann vielleicht, wenn du ihn sorgfältig auswählst und er reich
genug ist«, meinte er.
Amber lachte. »Dann
muss ich jetzt also einen adeligen Ehemann finden, der meiner
Großmutter gefällt und der reich genug ist, um es Cecil recht zu
machen.«
Robert sah sie an.
»Ich hoffe, du findest eine Möglichkeit, deinem Herzen zu folgen,
Amber, denn wenn jemand das verdient hat, dann du.«
Seine Freundlichkeit
rührte Amber fast zu Tränen, und Lord Robert spürte wohl, wie nah
sie davorstand, von ihren Gefühlen überwältigt zu werden, denn er
sagte neckend: »Wir gehen besser zurück in den Ballsaal, bevor
Henry einen Suchtrupp ausschickt und du des Versuchs beschuldigt
wirst, meinen Ruf zu ruinieren, indem du mich auf diesen Balkon
hinausgelockt hast.«
Amber lachte wieder.
Sie war so froh, dass sie wieder Freunde waren. Noch wichtiger war
jedoch, dass sie da draußen auf dem Balkon erkannt hatte, dass er
jetzt nur noch der liebe Robert war, ihr Freund, und nicht mehr.
Ihre früheren Gefühle waren verschwunden, und sie erkannte sie als
das, was sie gewesen waren: ihre erste richtige Verliebtheit. Wer
konnte ihr einen Vorwurf machen, wo er doch so gut aussah? Doch
jetzt wusste sie, dass sie die wahre Liebe erkennen würde, wenn sie
ihr schließlich begegnen würde.