13
In weniger als einer
Woche würden sie nach Südfrankreich aufbrechen, und im Haus am
Belgrave Square waren die Reisevorbereitungen in vollem
Gange.
»Also, meine
Lieben«, sagte Lady Levington zu Beth und Amber, »die Jüngeren
fahren mit der Kinderfrau direkt nach Juan-les-Pins, während wir
drei in Paris Station machen, ehe wir uns zu ihnen gesellen. Ihr
braucht für Südfrankreich noch die passende Garderobe, und die
kauft man am besten in Paris.«
Paris! Amber und
Beth tauschten begeisterte Blicke.
»Oh, Amber, ich bin
so aufgeregt«, platzte Beth heraus, nachdem ihre Mutter zu einem
dringenden Telefonat gerufen worden war. »Das wird so viel Spaß
machen. Wir brauchen neue Tenniskleider und Schwimmsachen. Ach, und
ich hoffe stark, dass Mummy uns einen dieser neuen Strandpyjamas
kaufen lässt, die laut Vogue jetzt
jeder trägt.«
Als Amber eine halbe
Stunde später die Stufen zu Lady Rutlands Haus am Cadogan Place
hinaufstieg, war sie in Gedanken noch bei der aufregenden Reise
nach Südfrankreich. Sie wusste, dass Louise und Lady Rutland
unterwegs waren, um eine ältliche Cousine von Lady Rutland in
Richmond zu besuchen.
»Sie haben Besuch,
Miss«, sagte der Butler, als er sie einließ. »Ein Mr Fulshawe. Er
lässt ausrichten, dass er im Auftrag Ihrer Großmutter hier ist. Ich
habe ihn in die Bibliothek geführt.«
Jay war hier? Im
Auftrag ihrer Großmutter? Wie bedrohlich das klang. Rasch lief
Amber durch die Halle und machte die Tür zur Bibliothek auf, wobei
sie versuchte, ihre Besorgnis zu zügeln.
Jay stand vor dem
kalten Kamin. Er trug Stadtkleidung, und sie bemerkte überrascht,
dass er darin keineswegs verkleidet wirkte, wie sie eigentlich
erwartet hätte. Im Gegenteil, er war sehr attraktiv und
elegant.
»Deine Großmutter
hat mich hergeschickt«, sagte er. »Ich bringe leider schlechte
Nachrichten.«
»Schlechte
Nachrichten?« Ihre Gedanken rasten.Was meinte er? Forschend
betrachtete sie seine Miene, konnte aber keinen Hinweis entdecken.
»Was ist denn? Was ist passiert? Etwas mit der
Fabrik?«
Er schüttelte den
Kopf.
»Greg?« Vor Sorge
klang ihre Stimme ganz scharf. »Es geht um Greg, stimmt’s?«, rief
sie, als sie bemerkte, dass er eine kleine Bewegung machte. »Ihm
ist etwas zugestoßen. Was denn, Jay? Oh, bitte, sag es
mir.«
»Greg ist nichts
passiert, obwohl es in gewisser Weise auch ihn betrifft. Es geht um
Caroline Fitton Legh.«
»Caroline Fitton
Legh?«, wiederholte Amber ausdruckslos. Jay war den ganzen Weg nach
London gekommen, um ihr etwas über Caroline Fitton Legh zu
erzählen? Ihre Sorge um Greg hatte sich zerstreut, sie war jetzt
vor allem verwirrt.
»Es fällt mir nicht
leicht, es dir zu sagen, Amber, aber Caroline ist
tot.«
Sie hatte sich eine
ganze Menge schlimmer Neuigkeiten ausgemalt, aber Caroline Fitton
Leghs Tod hatte nicht dazugehört. Sie war so jung, so lebendig –
gewesen. Es schien unmöglich. Amber dachte daran, wie schön sie an
dem Nachmittag ausgesehen hatte, als sie und Greg sie in Fitton
Hall besucht hatten. Sie war so nett gewesen, so freundlich und so
voller Herzenswärme. Amber konnte es nicht fassen. Wie sie wohl
gestorben war? Sie erinnerte sich daran, was Cassandra gesagt
hatte: dass Greg in Lady Fitton Legh verliebt sei. Aber als Amber
ihn darauf angesprochen hatte, hatte Greg nur gelacht.
Ihr war ein wenig
unbehaglich. Irgendwie hatte sie Angst.
»Wie ist das nur
passiert?«
»Ein Unfall«,
antwortete Jay knapp. »Möchte meine Großmutter, dass ich zur
Beerdigung nach Hause komme? Bist du deswegen hier?«
Jay schüttelte den
Kopf. »Lord Fitton Legh hat angekündigt, dass die Beisetzung im
engsten Familienkreis stattfinden soll.«
»Ich kann es kaum
glauben«, meinte Amber. »Zu Hause müssen alle furchtbar schockiert
sein. Vor allem die arme Cassandra.«
Unter Jays Augen
lagen dunkle Schatten, und sein Gesicht wirkte ein wenig
eingefallen.
»Amber.« Er hielt
inne und atmete aus. »Deine Großmutter hat mir aufgetragen … also,
ich meine, sie möchte, dass ich dir etwas sage. Komm, setz
dich.«
Gehorsam setzte
Amber sich auf den Stuhl, den er für sie bereithielt, und wartete
unsicher, bis er ihr gegenüber Platz genommen hatte. Im Kamin
brannte kein Feuer, und es war kalt im Raum, denn diese Seite des
Hauses lag von der Sonne abgewandt.
»Du weißt sicher,
dass Greg auf dem Weg nach Hongkong ist.«
»Ja, natürlich«,
sagte Amber. »Er schien sich darauf zu freuen, als er mir davon
geschrieben hat, obwohl ich nicht recht verstehe, was das jetzt mit
…« Sie hielt inne, als Jay die Hand hob, um sie zu
unterbrechen.
»Es gibt keinen
einfachen Weg, es dir beizubringen, und mir wäre es lieber, wenn
nicht ich derjenige wäre, der es dir erzählen muss, aber deine
Großmutter meint, du solltest es erfahren, und ich muss zugeben,
dass ich ihr in diesem Punkt recht gebe. Wenn du nach Macclesfield
zurückkommst, würdest du ohnehin davon hören, aber zweifellos als
so wilde Geschichte, dass du nicht wüsstest, was du davon halten
solltest.«
Amber drehte sich
vor Nervosität schier der Magen um. Sie hatte keine Ahnung, was Jay
ihr zu erzählen hatte, aber dass es etwas Unangenehmes war, das
spürte sie.
Jay blickte Amber
an. Auf der Zugfahrt nach London – erster Klasse, auf Anraten
seiner Dienstherrin – hatte er die ganze Zeit über das
bevorstehende Treffen nachgedacht und darüber, was und wie viel er
ihr sagen und wie er es ausdrücken sollte.
Überrascht hatte er
dann festgestellt, wie sehr Amber in der kurzen Zeit gereift war:
ihre Art, ihn zu empfangen, ihr Auftreten, die Haltung, mit der sie
ihre Gefühle bezähmte. Das Mädchen, das er gekannt hatte, war
verschwunden, und an seine Stelle war eine ruhige, selbstsichere
junge Frau getreten.
Er atmete tief
durch. »Deine Großmutter hat Greg nach Hongkong geschickt, weil er
und Lady Fitton Legh etwas miteinander hatten.«
Amber nahm die
gemessenen Worte in sich auf und sah Jay dann an. »Du meinst, sie
hatten eine Affäre?«
»Ja.«
»Großmutter hat Greg
weggeschickt, weil sie herausgefunden hat, dass er in Lady Fitton
Legh verliebt war?«
»Nein. Also, das
heißt, ich glaube nicht, dass sie ineinander verliebt waren, es
waren wohl eher Zufall und Gelegenheit, die sie zusammengeführt
haben.«
»Ja«, bestätigte
Amber.
Jay war erstaunt,
wie ruhig sie das alles aufnahm, wie unbeteiligt sie sich
angesichts der Neuigkeiten zeigte. Meine Güte, zwischen ihr und dem
Mädchen, das er so gut gekannt hatte, lagen wirklich
Welten.
»Leider ist Lord
Fitton Legh als Erster hinter die Affäre gekommen, nicht deine
Großmutter, und es wurde schon ein wenig getuschelt, ehe deine
Großmutter ihn zu der Einsicht bewegen konnte, es wäre am klügsten,
so wenig wie möglich von der ganzen Sache nach außen dringen zu
lassen. Er hat verlangt, dass Greg zur Strafe aus Cheshire
weggeschickt würde, aber ich glaube, deiner Großmutter und Greg war
es durchaus recht, dass Greg ein wenig Abstand
gewann.«
Greg hatte sich
darauf gefreut, nach Hongkong zu gehen – das wusste Amber aus
seinem Brief -, also hatte er Caroline wohl nicht geliebt. Jetzt
erinnerte sie sich auch daran, dass er an jenem Nachmittag, an dem
sie nach Fitton Hall gefahren waren, nervös gewirkt hatte. Und
hatte sie sich nicht über Lady Fitton Leghs beinahe ungebührlich
vertrauliches Verhalten ihm gegenüber gewundert? Hatte sie sich
vielleicht mehr aus Greg gemacht als umgekehrt?
»Ich verstehe das
nicht ganz. Was hat Gregs Hongkongreise mit Lady Fitton Leghs Tod
zu tun?«
Jay seufzte. Er
hatte gewusst, dass sie an diesen Punkt kommen würden.
»Lady Fitton Legh
war schwanger.«
Amber erriet sofort,
was er ungesagt ließ. »Von Greg?«
»Das weiß ich
nicht.«
»Aber es ist
möglich, dass das Kind von Greg war?«
»Ja«, räumte Jay
ein. Was hätte er sonst sagen sollen? In ganz Cheshire wurde
darüber getratscht, und Cassandra hatte geschworen, Caroline habe
ihr erzählt, das Kind sei von Greg, und ihn beschuldigt, er wolle
sie verlassen.
»Weiß Lord Fitton
Legh, dass das Kind vielleicht von Greg war?«
»Ich nehme es an,
ja.«
»Ach, die arme
Caroline.«
»Sie war in einer
unglücklichen Lage.« Unhaltbar hätte es eher ausgedrückt, dachte er
im Stillen.
»Was ist
passiert?«
»Sie ist ertrunken,
im See. Cassandra hat sie gefunden und Alarm geschlagen, aber es
war zu spät. Man vermutet, dass sie vom Weg auf die Wiese getreten
ist, dort ausglitt und sich nicht mehr retten konnte. Es hatte
geregnet, und der Weg und das Ufer waren schlammig.«
Amber schluckte. Ein
tragischer Unfall – oder hatte Lady Fitton Legh sich das Leben
genommen, weil sie den Klatsch und die Schande nicht ertrug, ein
Kind unter dem Herzen zu tragen, das womöglich nicht von ihrem
Ehemann war? Hatte sie Greg vielleicht geliebt, obwohl er für sie
keine Liebe empfunden hatte? Wie es sich wohl anfühlte, einen Mann
zu lieben und dann in einer solchen Lage von ihm im Stich gelassen
zu werden? Amber schauderte.
Als Jay es bemerkte,
fragte er sich, ob er vielleicht zu viel gesagt hatte.
»Du bist
schockiert«, versuchte er sie zu trösten. »Aber es ist besser, du
weißt die Wahrheit, als sie dir aus irgendwelchen wilden
Geschichten zusammenzureimen. Ich weiß, wie viel Greg dir
bedeutet.«
»Aber was ist die
Wahrheit?«, fragte Amber. »Woher sollen wir das wissen? Wie
verzweifelt und einsam muss sie gewesen sein, dass sie sich selbst
und ihr Kind umgebracht hat.«
Jay ergriff ihre
Hand und hielt sie fest. Caroline Fitton Legh war oberflächlich und
egoistisch gewesen, Greg in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Amber
hingegen empfand sehr tief, egal ob es um andere Menschen ging oder
um sie selbst.
»Wir müssen
akzeptieren, dass es ein Unfall war, Amber, Lady Fitton Legh und
auch allen anderen zuliebe.«
Amber nickte.
Natürlich wusste jeder, dass Selbstmord gegen das Gesetz verstieß;
wer sich das Leben genommen hatte, durfte nicht auf geweihtem Boden
beerdigt und das Grab durfte nicht gekennzeichnet
werden.
»Ich bin froh, dass
du es mir erzählt hast, Jay.«
»Und jetzt sollten
wir von schöneren Dingen reden. Ich habe dir etwas mitgebracht, von
dem ich hoffe, dass es dich freut und dir Trost spendet«, sagte er
lächelnd. »Deine Großmutter hat mich beauftragt, verschiedene Dinge
und Papiere zu katalogisieren, die sich im Lauf der Jahre
angesammelt hatten, und darunter habe ich das hier
gefunden.«
Er klappte den
Aktenkoffer auf, den er auf der lederbezogenen Schreibfläche des
Mahagonischreibtisches abgestellt hatte, und holte etwas heraus,
das wie ein dicker Skizzenblock aussah.
Als er es Amber
überreichte, zitterten deren Hände.
»Ich nehme an, das
hat deinem Vater gehört.«
Den vertrauten
Geruch von Lavendelwasser und Tabak, vermischt mit Grafit und
Papier, den der Block verströmte, hatte sie längst erkannt, ehe sie
die Unterschrift ihres Vaters auf dem Deckblatt gesehen hatte. Mit
Tränen in den Augen drückte sie den Skizzenblock an sich und sah zu
Jay auf.
»Danke, oh, dank
dir, Jay.« Dann legte sie den Block auf den Schreibtisch und warf
sich in seine Arme.
Diesmal hielt er sie
nicht davon ab, sondern umfing sie tröstlich, während sie ihren
Tränen freien Lauf ließ.
»Ich werde meinen
Traum nie aufgeben, das zu tun, was mein Vater sich für mich
gewünscht hat«, erklärte Amber leidenschaftlich, nachdem Jay sie
freigegeben und ihr ein sauberes Taschentuch gereicht
hatte.
»Dann hat kein gut
aussehender junger Mann dein Herz erobert, seit du in London
bist?«, neckte Jay sie.
»Nein.«
»Sicher nicht? In
deinen Briefen erwähnst du recht oft einen gewissen Lord
Robert.«
Amber knetete das
Taschentuch mit den Fingern. »Ich mag ihn wirklich gern, wir sind
Freunde, aber mehr nicht. Ich habe gesehen, wie er einen anderen
Mann geküsst hat, und ich weiß, was das bedeutet. Manchmal kann die
Liebe einem wirklich Angst machen.«
Die Worte waren ihr
entschlüpft, ehe sie sichs versah. Brennende Röte stieg ihr ins
Gesicht.
»Ja«, stimmte Jay
ihr nüchtern zu. »Allerdings.« Er unterbrach sich und fügte dann
hinzu: »Eine Liebe, wie Lord Robert sie empfindet, verstößt gegen
das Gesetz, zumindest in diesem Land, und kann mit Gefängnis
bestraft werden, deswegen wird kaum darüber
gesprochen.«
»So etwas würde ich
auch nur zu dir sagen, Jay«, erwiderte Amber, da sie spürte, dass
er sie warnen wollte. »Irgendwie habe ich das Gefühl, ich könnte
dir alles anvertrauen.«
»Ich hoffe, dass du
immer so empfinden wirst.«
Schweigend sahen sie
einander an. Amber ergriff als Erste wieder das Wort.
»Wie lange bleibst
du in London?«
»Ich fahre heute
noch nach Macclesfield zurück.«
»So bald schon?«
Betrübt sah sie ihn an.
»Ja. Wenn ich meinen
Zug noch erwischen will, muss ich sogar schon gleich aufbrechen«,
versetzte er und schickte sich zum Gehen an.
Aus einem Impuls
heraus wandte Amber sich ihm zu. »Du schreibst mir doch weiterhin,
oder?« Als er nicht antwortete, bat sie ihn inständig: »Bitte, Jay,
du musst. Ich habe sonst keinen, dem ich vertrauen kann. Du bist
der einzige Mensch, der weiß, wie ich … die Dinge
empfinde.«
Jay wusste, dass sie
damit ihre Eltern meinte und dass man ihr ihre Träume genommen
hatte. Sein Herz sehnte sich nach ihr, und nicht nur sein Herz. Er
schloss die Augen. Es wäre vernünftiger, ihr die Bitte
abzuschlagen. Sie war kein Kind mehr, und er wusste nicht, ob er
sich darauf verlassen konnte, dass es ihm gelang, ihre alte,
harmlose Kinderfreundschaft aufrechtzuerhalten.
Schon bevor sie von
Denham Place nach London gegangen war, hatte ihm sein Körper
verraten, was sein Verstand nicht wahrhaben wollte. Er hatte es
gespürt, als er sie in den Armen gehalten und nie wieder hatte
loslassen wollen. Genau wie er sie jetzt in den Armen halten und
nie wieder loslassen wollte.
»Ich glaube, es wäre
besser, wenn ich es nicht täte«, sagte er leise.
»Besser? Für wen
wäre es besser?«, fragte Amber aufgewühlt. »Für mich nicht, Jay. Es
ist schon schlimm genug, dass meine Großmutter mich nicht das tun
lässt, was ich tun möchte; da möchte ich wenigstens wissen, was zu
Hause und in der Fabrik passiert. Werden noch volle Schichten
gearbeitet? Ist das Auftragsbuch voll? Ich weiß, dass es Großmutter
egal ist, was in der Fabrik passiert, aber mir nicht, Jay, und ich
dachte, dir auch nicht.«
Sie war zu jung und
zu unwissend, um sich darüber im Klaren zu sein, was sie mit ihm
machte und wie sehr ihr leidenschaftlicher Ausbruch ihn innerlich
zerriss – zwischen widerstreitenden Bedürfnissen und der Last
seiner Schuld.
Wenn er nachgab,
würde sie glauben, er täte es ihr zuliebe, aber er war sich
bewusst, dass er damit nur seiner eigenen Sehnsucht folgen würde,
indem er ihre Nähe suchte, das Band zwischen ihnen stärkte und sie
in seinem Herzen behielt, wo sie, wie er genau wusste, nichts zu
suchen hatte.
»Jay, bitte«, flehte
Amber. Sie wusste nicht, warum sie sich so verzweifelt an diesen
Kontakt klammerte, aber die Vorstellung, ihn zu verlieren, Jay aus
ihrem Leben zu verlieren, war mehr, als sie ertragen konnte. In
ihren Augen brannten Tränen, doch sie hielt sie zurück. Schließlich
war sie kein Kind mehr.Was die Stärke der Verbundenheit zwischen
ihr und Lord Robert anging, hatte sie sich geirrt; sie könnte es
nicht ertragen, wenn sie sich auch bei Jay getäuscht hätte. Sie
brauchte die Gewissheit, dass ihr Band stark war und sie sich auf
ihn verlassen konnte.
»Ich brauche deine
Briefe«, sagte sie. »Wenn ich mich auf dich nicht verlassen kann,
Jay, dann glaube ich nicht, dass ich je wieder mit Zuversicht auf
irgendjemanden zu bauen vermag. Bitte versprich mir, dass du mit
mir in Verbindung bleibst.«
Wie sollte er ihr
diesen Wunsch abschlagen? Unmöglich.
»Wenn es das ist,
was du dir wünschst«, erwiderte er.
»Ja, ja, das ist
es.«
»Also
gut.«
Sie sahen einander
an, und dann lief Amber spontan auf ihn zu. Im nächsten Augenblick
würde sie in seinen Armen liegen.
Als Jay zurücktrat,
merkte Amber, was sie gerade im Begriff war zu tun, blieb abrupt
stehen und errötete. Der arme Jay. Wie peinlich für ihn, wenn sie
sich wie ein Kind in seine Arme gestürzt hätte.
Sie streckte die
Hand aus und berührte ihn sacht am Ärmel. »Danke,
Jay.«
»Du hast sicher
schon gehört, dass Lord Fitton Legh mich angefleht hat, in Fitton
Hall zu bleiben und mich um das Kind zu kümmern?«, fragte Cassandra
wichtigtuerisch, während sie die breite Steintreppe herunterkam,
die zum Haupteingang des großväterlichen Herrenhauses führte. Die
späte Frühlingssonne ließ ihr Haar feurig auflodern, und sie hatte
– ob zufällig oder absichtlich, wusste Jay nicht – zu reden
begonnen, als sie oben auf der Treppe gestanden hatte, während er
sich gerade anschickte hinaufzugehen, sodass sie sich jetzt etwa
auf Augenhöhe befanden.
»Ja, Cassandra, ich
habe davon gehört«, versetzte Jay.
»Lord Fitton Legh
hat seine Cousine Elaine Fitton gebeten, nach Fitton Hall zu
kommen, als meine Anstandsdame. Aber sie ist viel zu alt, um sich
um das Kind zu kümmern.«
Jay wurde das Herz
schwer. So, wie Cassandra mit ihrer neuen Aufgabe prahlte, war sie
offenbar entzückt darüber, doch in ihren Worten klang nicht die
geringste Spur von Wärme für Carolines kleinen Sohn
an.
»Es ist betrüblich,
dass Caroline nicht mehr am Leben ist, um sich selbst um ihr Kind
zu kümmern«, meinte er, und es gelang ihm nicht, seine Gefühle aus
seiner Stimme herauszuhalten.
Er hatte Cassandra
nie sonderlich gemocht, aber etwas an ihrem gegenwärtigen Benehmen
beunruhigte ihn zutiefst, obwohl er nicht recht sagen konnte, was
es eigentlich war. Sie hatte Lady Fitton Legh nahegestanden, und
doch schien ihr Tod sie nicht weiter zu berühren, was ihn
bestürzte, zumal sie auch noch diejenige gewesen war, die die
Leiche gefunden hatte – wenigstens das hätte doch irgendeine tiefe
Wirkung auf sie haben müssen. Bei jedem anderen hätte er diese
Distanz für ein Mittel gehalten, um sich vor dem Schmerz zu
schützen, aber so war Cassandra nicht. Sie war ihren Gefühlen schon
immer hilflos ausgeliefert gewesen und hatte sie überall offen
gezeigt.
»Was ihr zugestoßen
ist, war doch ihre eigene Schuld«, verkündete sie selbstgerecht.
»Ich habe versucht, ihr zu helfen. Ich habe sie gewarnt, was
passieren würde, wenn Lord Fitton Legh herausfände, dass sie von
einem anderen Mann schwanger ist.«
Ihre
Selbstgefälligkeit erfüllte Jay mit Abscheu. Empfand sie denn nicht
das geringste bisschen Mitleid?
»Das sind doch reine
Spekulationen«, mahnte er.
»Nein, keineswegs.
Sie hat mir selbst gesagt, dass es unmöglich von ihrem Ehemann
stammen könnte. Sie war ein Dummkopf.« Cassandras Stimme schwoll
zornig an. »Sie hätte das Kind doch wegmachen lassen können. Jeder
weiß, dass es dafür Ärzte gibt. Und sie hätte es sich auch leisten
können, auch wenn ihr Vater einen Haufen Geld verloren hat. Sie
hätte nur ein paar Stücke von dem scheußlichen Schmuck verkaufen
müssen, den ihre Eltern ihr zur Hochzeit geschenkt haben.
Schließlich stand ja nicht zu erwarten, dass sie ihn noch einmal
tragen würde, nachdem Lord Fitton Legh ihr verboten hatte, an
Gesellschaften teilzunehmen … kein Wunder bei der Schande, die sie
über sich gebracht hatte.«
In ihrem Ton lag
echte Rachsucht. Und noch etwas anderes?
Jay wusste nicht,
warum, doch je länger er dem Ausbruch seiner Cousine lauschte,
desto unruhiger wurde er.
»Sie hätte auf mich
hören sollen«, fuhr Cassandra aufgebracht fort. »Ich habe ihr
gesagt, was passieren würde, wenn sie das Kind nicht wegmachen
ließe. Ich habe ihr gesagt, dass sie in Ungnade fallen würde und
dass Lord Fitton Legh das Kind nicht als seines akzeptieren würde,
wenn er es erführe. Ich habe ihr auch gesagt, dass jeder erfahren
würde, dass sie sich zur Hure gemacht und ihr Ehegelübde gebrochen
hat.«
Cassandras beinahe
schadenfrohe Befriedigung stieß Jay ab. Am liebsten hätte er sich
geweigert, ihr weiter zuzuhören, und wäre gegangen.
»Aber sie hat meine
Warnung ignoriert. Ich hätte ihr geholfen und sie begleitet, das
wusste sie. Es war ihre eigene Schuld. Es hätte nicht so kommen
müssen. Sie hat sich dafür entschieden.«
Cassandra klang nun
rechtschaffen kritisch, was Jays Unruhe nur noch verstärkte. Dies
war nicht die Haltung von jemandem, der behauptete, eine Freundin
der Toten gewesen zu sein, sondern von jemandem, der sich das Recht
herausnahm, über sie zu Gericht zu sitzen. Jay runzelte die Stirn,
denn derartige Gedanken widerstrebten ihm, und gleichzeitig fühlte
er sich verpflichtet, ihnen um Carolines willen
nachzugehen.
Ihre eigene Schuld. Diese herzlosen Worte weckten
in Jay etwas Unerwünschtes und Undenkbares. Der Verdacht,
Cassandras grausames Verhalten und ihre Weigerung, Lady Fitton Legh
zu helfen, könnten tatsächlich zu ihrem Tod beigetragen haben, ließ
sich nicht mehr abschütteln.
»Wenn Caroline dir
anvertraut hat, dass ihr Ehemann nicht der Vater ihres Kindes war«,
begann er düster, »dann …«
»Was dann?«, fragte
Cassandra trotzig. »Hätte ich etwa für sie lügen und behaupten
sollen, sie hätte einen Eid geschworen, dass das Kind von Lord
Fitton Legh war? Warum? Warum hätte ich das tun sollen? Ich habe
ihr gesagt, dass ich das nicht mache.«
Sein Verdacht war
also begründet. Jay war zu schockiert, um mit seiner Meinung hinter
dem Berg zu halten.
»Cassandra, wenn das
stimmt, was du da sagst, dann ist dir doch sicher klar, dass du
Caroline womöglich in den Tod getrieben hast.«
Über das Gesicht
seiner Cousine huschte ein merkwürdiger Ausdruck – weder Triumph
noch Schuldbewusstsein, aber etwas, das Jay mit der entsetzlichen
Gewissheit erfüllte, dass Cassandra sich ihrer Verantwortung nicht
nur bewusst war, sondern sich auch noch irgendwie eingeredet hatte,
was sie getan hatte, wäre moralisch gerechtfertigt.
Hart auf den Fersen
dieser Erkenntnis stellte sich eine weitere ein, ebenso
unwillkommen und unerfreulich.
Cassandra hatte
erklärt, sie habe weder lügen können noch lügen wollen, um Caroline
zu helfen – aber war ihre Behauptung, Greg hätte sich Caroline
gewaltsam genähert, nicht auch schon eine Lüge
gewesen?
Irgendetwas an der
ganzen Sache wollte Jay nicht gefallen, etwas Ungesundes und
Widerliches, das nach Betrug und Missgunst roch. Er wollte sich
nicht in die Sache hineinziehen lassen, doch er hatte das dringende
Gefühl, es sei seine Pflicht. Amber war so bekümmert gewesen über
die Ereignisse. Hauptsächlich wegen Greg natürlich – ihre Treue
galt in erster Linie ihrem Cousin -, aber auch wegen Caroline
Fitton Legh und ihres Kindes, obwohl sie Caroline im Gegensatz zu
Cassandra nicht einmal intim gekannt hatte. Instinktiv zuckte er
vor dem Wort »intim« und seinen geschmacklosen Bedeutungen zurück.
Mit ein Grund, warum Cassandras Mutter Fitton Leghs Einladung für
Cassandra so gern angenommen hatte, war – laut Jays eigener Mutter
-, dass Cassandra eine intensive Freundschaft mit einer Frau
begonnen hatte, die kürzlich in ihre Gegend gezogen war und die »an
Lesbos’ Altar betet« – wie Jays Mutter es delikat ausgedrückt
hatte.
Jay atmete tief
durch. »Du sagst, du hättest dich geweigert, für Caroline zu lügen
…«
Bevor er den Satz
vollenden konnte, fiel Cassandra ihm heftig ins Wort: »Wie hätte
ich das tun können? Es wäre moralisch falsch gewesen.«
»Und doch hast du
gelogen, als du Lord Fitton Legh erzählt hast, du hättest Greg
dabei ertappt, wie er sie vergewaltigen wollte, und wärst ihr zu
Hilfe geeilt.«
Cassandra kniff die
Lippen zusammen. Offensichtlich gefiel ihr nicht, was Jay
sagte.
»Das war etwas
anderes. Greg hat Strafe verdient«, rechtfertigte Cassandra sich.
»Caroline wollte es ihm heimzahlen. Sie wollte, dass er in Ungnade
fiel, und das wäre er auch, wenn sich seine Großmutter nicht
eingemischt hätte. Ich begreife nicht, wie du dich so erniedrigen
und dich von ihr kaufen lassen kannst, Jay, du bist schließlich ein
de Vries! Großvater findet das auch. Er sagt, du hättest keinerlei
Stolz oder Selbstachtung. Er sagt, du wärst ein Verräter an deinem
Namen und würdest von Blanche Pickford mehr halten als von deiner
eigenen Familie.«
»Mein Name ist
Fulshawe, nicht de Vries«, erklärte Jay kühl. »Und was meinen Stolz
und meine Selbstachtung angeht, so habe ich von beidem genug, um
mich für einen besseren Menschen zu halten, weil ich mir meinen
Lebensunterhalt selbst verdiene, so bescheiden er auch sein
mag.«
Jay war sich im
Klaren darüber, wie sehr es seinen Großvater ärgerte, dass er weder
mit ihm über Blanche reden noch sich als Spion betätigen wollte,
der Informationen über sie sammelte, die sie in einem ungünstigen
Licht zeigten, weil er wusste, dass Barrant sich darüber freuen
würde.
»Du bist ein de
Vries, Jay, und ich stimme mit Großvater darin überein, dass es
eine Schande ist, wie du dich von Blanche Pickford
herumkommandieren lässt.«
»Ehrliche Arbeit ist
keine Schande. Du solltest Großvater nicht auch noch ermutigen, an
seiner Feindseligkeit gegen Blanche festzuhalten,
Cassandra.«
»Dazu braucht er
keinerlei Ermutigung. Er hasst sie.«
»So, wie du Greg
Pickford hasst?«, meinte Jay trocken.
Cassandra stieg die
Zornesröte ins Gesicht. Sie hatte ihre Gefühle noch nie verbergen
können. Jay beobachtete sie.
»Caroline hat mich
dazu getrieben. Das verstehst du nicht. Ich habe sie
geliebt.«
Jetzt lagen in ihrer
Stimme echte Gefühle, eine Mischung aus Schmerz und Bitterkeit,
die, wie Jay glaubte, ihre wahren Gefühle für Caroline
ausdrückten.
»Sie hat gesagt,
dass sie mich liebt.« Cassandra schluchzte, und ihr Gesicht war rot
gefleckt. »Sie hat gesagt, es geschähe ihm nur recht und es täte
ihr leid, dass sie mich verletzt hätte. Mich hat sie geliebt, bis
Greg Pickford zwischen uns getreten ist. Das musste ich ihr doch
klarmachen, Jay.« Cassandras Stimme wurde härter. »Ich musste ihr
klarmachen, wie viel sie mir zu verdanken hatte. Dafür musste sie
mir noch bezahlen, und bestraft werden musste sie auch. Das
verstehst du doch, oder? Caro hat es verstanden, nachdem ich es ihr
erklärt habe. Schließlich hat sie mich verraten, und nicht nur
mich, sondern auch unsere Liebe. Sie hat zugelassen, dass er sein
Ding in sie steckt und seinen ekelhaften Samen in sie ergießt. Der
musste doch wieder rausgeholt werden. Sie konnte unmöglich
zulassen, dass er in ihr wächst und Frucht trägt. Das habe ich ihr
gesagt, und sie hat versprochen zu tun, was ich ihr gesagt habe.
Aber sie hat gelogen. Sie wollte mich austricksen, indem sie erst
so getan hat, als wollte sie es wegmachen lassen, und dann hat sie
gesagt, es wäre zu spät.«
Jay lauschte voller
Abscheu. Ihm war tatsächlich früher schon der Verdacht gekommen,
dass Cassandra leidenschaftlich in Caroline verliebt gewesen war,
aber er hätte sich nie träumen lassen, dass seine Cousine so
boshafte Pläne zu hegen in der Lage war wie die, die sie ihm gerade
offenbarte.
»Ich wollte, dass
sie mich am meisten liebt, das wusste sie«, fuhr Cassandra fort,
ohne Jays Entsetzen zu bemerken. »Sie hat mir geschworen, dass Greg
Pickford ihr überhaupt nichts bedeutet, und trotzdem hat sie sich
geweigert, sein Kind loszuwerden. Für sie ist es besser, dass sie
tot ist, Jay. Um ihretwillen. Sie hätte die Schande nicht
ertragen.«
Besser für Caroline?
Es war entsetzlich, aber Cassandra war ganz offensichtlich
überzeugt davon. So sehr, dass sie Caroline bedroht und sich
geweigert hatte, ihr zu helfen, und die arme Frau dadurch in den
Tod getrieben hatte? Eine schreckliche Vorstellung, die er jedoch
nicht von sich weisen konnte.
»Weißt du
eigentlich, was du da sagst?«, fragte Jay. »Weißt du, was du getan
hast? Ich glaube, dass du für Carolines Tod verantwortlich bist,
grad so, als hättest du sie eigenhändig ins Wasser gestoßen und ihr
beim Ertrinken zugesehen. Und du hast es aus Eifersucht getan, weil
sie Greg dir vorgezogen hat. Sie hatte ihre Fehler, das leugne ich
nicht, aber sie aus einem Gefühl der Kränkung heraus zu töten, nur
weil sie deine Gefühle nicht erwidert hat …«
»Das sollst du nicht
sagen. Sie hat mich geliebt, jawohl. Sie hat mir versprochen, das
Kind wegmachen zu lassen, und dann könnten wir zusammen
sein.«
Erbost stürzte sie
sich auf ihn, ließ Faustschläge auf sein Gesicht herabregnen und
versuchte ihm die Nägel in die Haut zu schlagen. Ihre Raserei
verlieh ihr derartige Kräfte, dass Jay mehrere Augenblicke
brauchte, ehe er sie abwehren konnte. Sie keuchte, und ihre Miene
war verzerrt vor Zorn und Schmerz.
»Sie hat mich
betrogen, weil sie dachte, ich liebte sie so sehr, dass ich
nachgeben würde, aber da hat sie sich getäuscht. Das konnte ich
nicht.«
»Du hast sie in den
Tod getrieben«, beschuldigte Jay sie rundheraus.
»Nein. Das sollst du
nicht sagen. Es stimmt nicht. Das wird dir noch leidtun, Jay, dass
du das zu mir gesagt hast«, warnte sie ihn. »Dafür werde ich
sorgen.«
Sie rannte an ihm
vorbei, stieg auf das Rad, das unten an der Treppe lehnte, und fuhr
wie von Sinnen die Auffahrt hinunter. Jay blieb angeekelt und
entsetzt zurück.
Trotz ihrer Fehler
hatte Caroline Fitton Legh es nicht verdient, dass sie auf diese
Weise, wie er vermutete, von Cassandra in den Tod gehetzt worden
war. Cassandra mochte ja glauben, ihre »Liebe« werde sie jeder
Schuld oder Verantwortung für ihre Taten entheben, doch Jay war
anderer Ansicht.
Natürlich konnte er
nichts unternehmen – Cassandra hatte Caroline Fitton Legh
schließlich nicht eigenhändig umgebracht -, doch das Verhalten
seiner Cousine schockierte ihn nicht nur zutiefst, es erfüllte ihn
auch mit dem größten Widerwillen.