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Berlin war genauso deutsch-monumental, wie Amber es sich vorgestellt hatte. Die Uniformen, die hohen Stiefel, die im Gleichschritt marschierten, und das zackige Salutieren zerrten an ihren Nerven; besonders unerträglich fand sie aber die blinde Heldenverehrung, die ein paar ihrer Landsleute Hitler entgegenbrachten. Zu diesem faschistisch gesinnten Grüppchen zählten auch Unity Mitford und ihre Schwester Diana. Zu Ambers Erleichterung neigte Robert inzwischen wieder dazu, Adolf Hitler mit Spott und Verachtung zu begegnen. Er hatte sich von seinem jungen Liebhaber also doch nicht so in seiner politischen Haltung beeinflussen lassen, wie sie befürchtet hatte.
Oberflächlich betrachtet, kamen sie so gut miteinander aus wie immer, doch bei genauerem Hinsehen offenbarten sich Spannungen, an denen teilweise auch Amber schuld war, wie sie genau wusste. Sie war nicht mehr das naive junge Mädchen, das Robert in allem gefolgt war, auf seinen Rat und seine Führung angewiesen und bereit, zu ihm aufzublicken und ihn auf ein Podest zu erheben. Nein, sie war eine Frau, die ihr Leben und ihre Geschäfte selbstständig führte. Und obwohl Amber es nicht aussprach, hegte sie manchmal den Verdacht, dass Robert ihr das verübelte. Auch wenn er bei dem Laden nachgegeben hatte, war Amber klar, dass er eigentlich nicht wollte, dass sie ihn führte. Einen Laden – ein Geschäft – zu besitzen und zu führen war für ein Mitglied der Aristokratie einfach undenkbar. Es trotzdem zu tun bedeutete eine Überschreitung der engen gesellschaftlichen Grenzen, die einer Frau in ihrer Stellung gesetzt waren.
Doch sie war keine Aristokratin, sie war die Tochter eines talentierten Künstlers und die Urenkelin eines erfolgreichen Kaufmanns, und darauf war sie stolz. Natürlich wollte sie Robert eine gute Frau sein, doch wollte sie dabei sich selbst treu bleiben, statt sich vereinnahmen und verbiegen zu lassen, um etwas aus sich zu machen, was sie gar nicht war – nur um Leuten zu gefallen, die sie ohnehin verachteten, egal was sie tat, um sie zu besänftigen.
Doch sie vermisste die offenen politischen Diskussionen, die sie früher mit Robert geführt hatte. Robert war gut informiert, und sie achtete seine Meinung – wenn sie denn von ihm kam und nicht von seinem gegenwärtigen Liebhaber. Die Situation mit den Mitfords war ein typisches Beispiel dafür.
»Ich würde mir da keine Gedanken machen«, hatte Robert gesagt, als sie die Mitfords erwähnt hatte. »Nach dem, was ich gehört habe, betrachtet selbst ihr verehrter Führer Unity als Dummkopf. Diana muss die Nazis natürlich wegen Tom Mosley unterstützen.«
»Unity mag ja ein Dummkopf sein, Robert, aber das macht es den Nazis nur umso leichter, ihre Ergebenheit für Hitler als Propaganda zu nutzen«, hatte Amber erwidert. »Ich meine, schau dir doch an, wie freundschaftlich sie mit den Goebbels verkehrt. Ach, mir wäre es wirklich lieber, wir wären gar nicht erst hergekommen. Mir kommt es falsch vor, und ich fühle mich nicht wohl dabei.«
»Du musst doch zugeben, dass die Eröffnung der Spiele einfach großartig war und makellos geplant«, meinte Robert jetzt, da ihm bewusst war, wie sehr ihr die Reise nach Deutschland widerstrebt hatte.
»Mit militärischer Präzision«, stimmte Amber trocken zu. »All diese schrecklich arischen jungen Frauen …« Sie war immer noch nicht glücklich darüber, wie Robert Lucs unschuldige Begeisterung ausgenutzt hatte, um sie dazu zu bringen, der Reise zuzustimmen; sie könne ja zu Hause bleiben, er und Luc würden allein fahren, hatte er gemeint. Dabei hatte er ganz genau gewusst, dass sie dem niemals zustimmen würde.
»Wie ich sehe, bist du fest entschlossen, an Berlin, dem Führer und den Spielen kein gutes Haar zu lassen«, neckte Robert sie leichthin.
»Hast du das etwa erwartet?«, fragte Amber. »Tut mir leid, Robert, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hinter all dieser zur Schau gestellten Volksgesundheit etwas grässlich Ungesundes liegt. Denk doch nur daran, wie die Nazis die Juden behandeln! Manche Kommentare, die Herr Göring gestern beim Abendessen abgegeben hat, waren widerlich und unverzeihlich. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich aufgestanden und gegangen. Unity hat tatsächlich damit angegeben, dass sie in München jetzt in einer Wohnung lebt, die einmal einer jüdischen Familie gehörte.«
»Da stimme ich dir zu, aber wir können nichts dagegen tun, und ich möchte dir raten, Amber, dich in der Öffentlichkeit nicht so deutlich zu äußern.«
Robert brauchte sie nicht zu warnen. Amber fühlte sich nicht nur nicht wohl in Deutschland, ihr war unbehaglich zumute, und ein wenig fürchtete sie sich sogar. Sie wäre mit Freuden wieder abgereist, obwohl alles unzweifelhaft ganz großartig war.
Die Deutschen waren offenbar fest entschlossen, die Welt zu beeindrucken. Am Vorabend waren die Gäste von einer Balletttruppe unterhalten worden, die im Mondschein für sie getanzt hatte. Danach war für sie ein fête champêtre veranstaltet worden.
An diesem Abend waren sie zu einer Gesellschaft bei den Goebbels geladen, die auf Schwanenwerder abgehalten wurde, einer Insel im Wannsee, auf der auch die Mitford-Schwestern erwartet wurden. Amber hatte sich äußerst unwohl gefühlt, als sie mit Diana geplaudert hatte, die sie anfangs so verehrt hatte, mit der sie jetzt aber nichts mehr verband.
»Ich bin froh, wenn wir endlich nach Hause fahren, Robert. Luc hat vorhin geklagt, ihm sei schlecht, und ich wäre wirklich froh, wenn wir heute Abend nicht zu dieser Veranstaltung gehen müssten.«
»Wenn Luc schlecht ist, liegt das vermutlich daran, dass er zu viel Eiscreme verdrückt hat. Bei Gladys ist er in den besten Händen. Es sähe sehr merkwürdig aus, wenn wir jetzt nicht hingingen, nachdem wir uns mit den Channons und dem britischen Botschafter dort verabredet haben.«
Amber seufzte. Natürlich hatte Robert recht. Wie immer war es der äußere Schein, der zählte. Bei ihrer ersten Auseinandersetzung wegen der Deutschlandreise hatte Robert behauptet, sie hätten die Pflicht, sich anzusehen, was in Berlin geschah, und ihre Reaktion sei zu gefühlsbetont.
»Morgen gibt es aber kein Eis mehr, mein Junge«, warnte Robert seinen Sohn in gespielter Strenge.
Sie waren in sein Zimmer gegangen, um ihm gute Nacht zu wünschen, ehe sie gingen. Luc war zwar immer noch blass, doch Gladys, das Kindermädchen, das sie vom Haus am Eaton Square mitgebracht hatten, versicherte ihnen, er habe etwas zu Abend gegessen.
Amber umarmte Luc noch einmal zärtlich. Im September sollte er auf Roberts alte Schule gehen; Roberts alter Koffer war bereits von Osterby gebracht worden. In Lucs Beisein hatten sie auf der Innenseite des Deckels seinen Namen unter den von Robert anbringen lassen, und Luc war dabei schier geplatzt vor Stolz und Begeisterung.
Amber war die Vorstellung verhasst, einen so kleinen Jungen aufs Internat zu schicken, doch Robert hatte ihr versichert, dies entspreche den Gepflogenheiten und Luc werde seine Schulzeit ebenso genießen wie er. Luc jedenfalls schien sich auf sein neues Leben zu freuen, aber sie würde ihn furchtbar vermissen. Ohne ihn würde sich ihr Leben leer anfühlen.
Sie sehnte sich danach, Jay zu schreiben und ihm zu erzählen, was sie seit ihrer Ankunft in Deutschland gesehen und erlebt hatte, doch das war unmöglich. Obwohl sie nicht darüber gesprochen hatten, hatten sich ihre Briefe verändert. Sie klangen inzwischen eher wie die knappen, beinahe unbehaglichen Mitteilungen von Fremden – oder von Menschen, die von Schuldgefühlen geplagt wurden -, und sie schmerzten auf gewisse Weise mehr, als wenn sie sich gar nicht geschrieben hätten. Zumindest hätte Amber dann so tun können, als wäre alles beim Alten; so aber musste sie akzeptieren, dass sie die ihr einst so kostbare Freundschaft verloren hatte.
»Komm, Liebling, sonst kommen wir noch zu spät.«
»Ist gut, Mummy, mir geht es schon viel besser«, versicherte Luc ihr feierlich.
Robert stand ungeduldig in der offenen Tür. Widerstrebend gesellte Amber sich zu ihm. Sie hatte keine Freude an ihrem Aufenthalt in Deutschland. Ihr gefiel die Atmosphäre nicht, sie sehnte sich nach ihrem Zuhause, ihrem Laden und vor allem nach Jay – aber diese Sehnsucht war ihr natürlich verboten …
 
Auf die Insel Schwanenwerder, wo die Gesellschaft stattfand, kam man über Pontons, die eigens vom Ufer ausgelegt worden waren und von jungen fackeltragenden Nazimädchen beleuchtet wurden.
»Wirklich furchterregend«, sagte Robert mit schleppender Stimme zu Chips Channon, neben dem sie gerade standen.
»Die erhobenen Arme, meinen Sie?«
»Nein, die gefletschten Zähne.«
»Robert«, mahnte Amber unter dem Schutz von Channons Gelächter, »wenn dich jemand hört!«
»Ja, mein Lieber«, meinte auch Channon warnend, »Sie müssen aufpassen. Hitler ist strikt gegen Gentlemen, die einer gewissen sexuellen Orientierung anhängen; zweifellos quält er sie deswegen mit all den strahlenden goldblonden Jungmännern in Lederstiefeln.«
 
Der Abend erwies sich als genauso schwierig, wie Amber befürchtet hatte.
Sie hatten die Channons irgendwo in der Menge verloren und standen nun bei den von Ribbentrops, die sie sehr herzlich begrüßt hatten und ganz offensichtlich entzückt waren von Führer und Vaterland und von allen anderen erwarteten, dass sie sich entsprechend beeindruckt zeigten.
Gerade als Amber sich mit einer diskreten Ausrede zu entfernen suchte, kamen Joseph Goebbels und seine Frau herüber, umgeben von einem kleinen Grüppchen finster dreinblickender SS-Leute.
Da Amber vor Joseph Goebbels und seinen ständigen Frauengeschichten gewarnt worden war und sie den unverhohlenen Blick spürte, mit dem er sie taxierte, rückte sie näher zu seiner Frau Magda.
Sie hörte gerade Magda Goebbels’ Erzählungen über ihre Kinder zu, als sie aufsah und zu ihrem Entsetzen direkt vor ihnen, in wenigen Metern Entfernung, Otto entdeckte.
Ihn und seine offene Arroganz kann man wirklich nicht verwechseln, dachte Amber bitter. Er war in Begleitung zweier Männer, die bei weitem nicht so gut aussahen und ein gutes Stück älter waren als er. Ambers Magen krampfte sich besorgt zusammen. Sie wollte Robert unbedingt weglotsen, doch es war unmöglich, Magda Goebbels in ihrem Monolog über die Tugenden ihrer zahlreichen Nachkommen zu unterbrechen.
Ein Blick in Roberts Gesicht verriet ihr, dass auch er Otto entdeckt hatte. Bis auf zwei rote Flecken, die auf seinen Wangen brannten, war Robert kreidebleich geworden. Für Flucht war es jetzt zu spät.Viel zu spät, da Joseph Goebbels ihnen die Neuankömmlinge bereits vorstellte.
»Der Herzog und ich sind uns schon begegnet«, verkündete Otto geringschätzig, übersah geflissentlich Roberts ausgestreckte Hand, wandte ihm betont den Rücken zu und begann ein Gespräch mit einem anderen Herrn.
Es war eine offene, vorsätzliche Abfuhr, und Amber war sich nicht sicher, was passiert wäre, wenn nicht Unity mit ihrem plötzlichen Auftritt und ihrer übersprudelnden Begeisterung für die wundervolle Olympiade für Ablenkung gesorgt hätte.
Joseph Goebbels lauschte ihren Ausführungen mit selbstgefälligem Grinsen, tätschelte ihr den Arm und stellte sie Otto vor, der daraufhin die Hacken zusammenschlug und sich über ihre Hand beugte.
»Wie angenehm, einer Engländerin zu begegnen, die völlig frei ist von jener Dekadenz, die so viele Ihrer Landsleute kennzeichnet«, hörte Amber Otto überschwänglich äußern. »Ich hoffe, Sie gestatten mir, Sie eines Abends zum Essen einzuladen.«
Er hielt immer noch ihre Hand, während Roberts Hände so verkrampft waren, dass Amber die Knöchel bleich durch die Haut schimmern sah.
Als Unity lachte und einen Schritt auf Otto zu tat, dachte Amber für einen schrecklichen Moment, Robert werde zwischen die beiden treten und sie körperlich auseinanderdrängen. Robert sah aus, als litte er Höllenqualen, seine Augen brannten in seinem starren Gesicht.
»Robert, ich möchte jetzt wirklich zurück ins Hotel und nach Luc sehen«, erklärte Amber, legte die Hand auf Roberts Arm und entschuldigte sich rasch bei den anderen, damit sie aufbrechen konnten, ohne Anlass zum Klatsch zu geben.
»Unserem Sohn geht es heute Abend nicht gut«, sagte sie zu Magda Goebbels.
»Dann müssen Sie natürlich zu ihm. Ich mache mir auch immer furchtbare Sorgen, wenn eines von meinen sechsen krank ist. Ich lasse einen Wagen kommen, der Sie zu Ihrem Hotel bringt.«
»Wirklich sehr freundlich von Ihnen.Vielen Dank.«
Seit Ottos Auftauchen hatte Robert noch kein Wort gesagt. In seinen Augen lag ein trostloser Ausdruck. Nein, nicht trostlos, korrigierte Amber sich. Es war eher der Blick eines Mannes, dem der Todesstoß versetzt worden war. Und doch spürte sie, dass er nur widerstrebend mit ihr aufbrach.
Otto war im Weggehen begriffen, und Robert hatte den Kopf gewandt und blickte verzweifelt in seine Richtung. Amber packte ihn noch fester, um ihn zurückzuhalten, denn sie befürchtete, er könnte Otto tatsächlich hinterherlaufen. Zu ihrer Erleichterung ließ er sich jedoch von ihr zu den Pontons ziehen.
Er schwieg immer noch, und auch auf dem Heimweg ins Hotel sagte er nichts. Er zog sich in sich selbst und seinen Schmerz zurück; Amber hatte fast das Gefühl, als hüllte er ihn ein wie ein kaltes Leichentuch.
 
Zumindest geht es Luc schon sehr viel besser, sagte Amber sich erschöpft, als sie sich in die Kissen kuschelte. Sie hatte ihre Zofe weggeschickt und wollte noch ein halbes Stündchen lesen, ehe sie das Licht ausmachte, doch als sie auf die Frisierkommode blickte, merkte sie, dass sie vergessen hatte, Martha zu bitten, ihren Schmuck Roberts Kammerdiener zu übergeben, damit der ihn sicher wegschloss.
Auch wenn ihr das prächtige Schmuckset aus Rubinen und Diamanten, das von Roberts Großmutter stammte, nie recht gefallen hatte, gehörte es doch zum Familienerbe. Amber stand auf und schlüpfte in ihren Morgenmantel aus cremefarbenem Satin, um den Schmuck selbst zu Robert zu bringen, statt ihre Zofe deswegen noch einmal zu stören.
Sie klopfte an die Verbindungstür zwischen den beiden Hotelzimmern, und als sie keine Antwort bekam, drückte sie einfach die Klinke nieder. Robert hatte seinen Kammerdiener Hulme offensichtlich für diese Nacht bereits entlassen. Das Zimmer wurde nur von der Nachttischlampe erhellt, doch die Tür zum Badezimmer stand offen, in dem ebenfalls Licht brannte.
Da Amber nicht einfach in sein Zimmer eindringen wollte, rief sie zögernd: »Robert, ich bin es. Ich habe vergessen, Martha zu sagen, dass sie Hulme die Rubine geben soll, deswegen bringe ich sie dir selbst. Ich lege sie auf die Kommode.«
Sie legte die Schmuckschatullen ab und wollte gerade das Zimmer verlassen, als sie aus dem Badezimmer ein Geräusch hörte. Es klang, als wäre etwas Metallisches auf die Marmorfliesen gefallen, und gleich darauf ging etwas Schwereres dumpf zu Boden.
Im Nu war sie am Badezimmer und riss die Tür weit auf.
Robert war auf dem Boden zusammengebrochen, und aus einem Schnitt am Handgelenk tropfte Blut. Es strömte nicht, es tropfte, wie Amber zu ihrer Erleichterung feststellte. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft, war ihren Gefühlen und ihren Gliedern weit voraus; er sammelte und ordnete Fakten und kam schließlich zu einem Schluss, bei dem ihr das Herz in die Hosen rutschte, während sie gleichzeitig automatisch zum Telefonhörer griff.
Innerhalb einer halben Stunde war das Handgelenk verbunden, und Robert lag sicher im Bett. Sie hatte Hulme gerufen, und gemeinsam hatten sie eine Geschichte von einem Unfall gesponnen. Robert hatte demnach eine Rasierklinge herumliegen lassen, sie vergessen und sich dann daran geschnitten, als er nach der Seife greifen wollte. Der anschließende Sturz war auf den Schock zurückzuführen.
Der Arzt, der gut genug Englisch sprach, um die Situation zu bewältigen, aber nicht gut genug, um Robert zu lange zu befragen, hatte den Schnitt gesäubert und verbunden. Amber hatte er versichert, dass es sich um kaum mehr als einen Kratzer handele und die Beule an seinem Kopf nichts Schlimmeres nach sich ziehen werde als höllische Kopfschmerzen.
Amber hatte das Gefühl, dass der Arzt den Verdacht hegte, Roberts Unfall könnte auf Unachtsamkeit infolge von zu hohem Alkoholkonsum zurückzuführen sein. Sie wurde ermahnt, ein Auge auf Robert zu haben und sich sofort mit dem Arzt in Verbindung zu setzen, falls Robert sich übergeben oder Anzeichen von Verwirrung zeigen sollte.
Robert, der bei Bewusstsein war, während der Arzt mit Amber sprach, hatte kurz darauf verkündet, er sei durchaus im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und wolle es auch weiterhin so halten.
 
Hat Robert sich wirklich das Leben nehmen wollen?, fragte Amber sich später besorgt, als sie am Bett des schlafenden Robert saß, wo sie und Hulme sich mit der Wache abwechselten, vorgeblich, um eventuelle Anzeichen einer Gehirnerschütterung sofort zu erkennen. In Wirklichkeit waren sie sich beide auch ohne Worte bewusst, was Robert getan hatte und dass es jeden weiteren Versuch zu verhindern galt.
Wieder einmal hatte sie einen Beweis dafür – wenn sie ihn denn noch gebraucht hätte -, was die Liebe Schreckliches anrichten konnte, welches Chaos, welche Verzweiflung sie hervorzurufen imstande war.
Amber sah auf Robert hinunter. Der arme Robert, sicher war der Schmerz so groß geworden, dass er geglaubt hatte, ihn nicht mehr ertragen zu können. Sie nahm die Hand ihres Ehemanns und hielt sie zärtlich.Von jetzt an würde sie dafür sorgen, dass Otto ihm nicht mehr zu nahe kam.
 
»Robert, ich finde, wir sollten wirklich nach Hause fahren.« In Ambers Stimme schwang Entschlossenheit, ebenso aber Verzweiflung und Furcht, als sie Roberts bleiche, allzu schmale Hand ergriff. Sie saßen auf dem Sofa in dem kleinen Wohnraum ihrer Hotelsuite. Es war zwei Tage her, dass sie ihn im Badezimmer gefunden hatte, und der Arzt hatte erklärt, seiner Ansicht nach bestehe nunmehr keinerlei Gefahr eines Rückfalls oder einer Gehirnerschütterung.
»Wegen mir ist das aber nicht nötig. Ich bin völlig wiederhergestellt. Du hast den Arzt doch gehört«, erwiderte Robert gereizt und entzog ihr seine Hand. Er wich ihrem Blick aus.
Amber hatte befürchtet, er werde sich weigern. Schließlich war Otto immer noch in Berlin. Ihre Anweisung, jeder Versuch von Otto, Kontakt mit Robert aufzunehmen, sei ihr zu berichten, hatte nichts ergeben. Der junge Deutsche hatte sich nicht gemeldet, doch die mitfühlenden und neugierigen Besuche und Anfragen verrieten Amber, dass die Nachricht von Roberts »Unfall« die Runde gemacht hatte. Der arme Robert. Seinen Selbstmordversuch konnte sie natürlich nicht billigen, aber Mitleid für seine Verzweiflung empfand sie durchaus. Inzwischen kannte sie Robert besser. Als junge Braut hatte sie vor allem seine Großzügigkeit und seine Großherzigkeit gesehen, nun kannte sie auch seinen empfindlichen Stolz und seinen Starrsinn.
»Eigentlich glaube ich, wir sollten Lucs wegen abreisen«, erklärte sie. Diese Ausrede hatte sie sich vorher zurechtgelegt, weil sie mit Roberts ablehnender Reaktion gerechnet hatte.
»Wegen Luc? Warum? Warum sollte Luc nach England zurückmüssen?« Wie immer sah man Robert deutlich an, wie sehr er seinen Sohn liebte.
»Er schläft und isst hier nicht so gut, wie er sollte, und auch wenn er nichts sagt, hat er Heimweh. Er wollte nach Deutschland mitkommen, und es war eine wunderbare Erfahrung für ihn, wie du ja schon gesagt hast, eine, an die er sich ein Leben lang erinnern wird, aber als ich den Arzt gebeten habe, sich Luc kurz anzusehen, und ihm erklärt habe, dass er im September aufs Internat geht, hat er gesagt, es wäre ganz gut für ihn, wenn wir mit ihm nach Hause fahren würden, damit er sich dort noch ein wenig erholen kann.«
»Nun, wenn der Arzt das gesagt hat, werden wir uns wohl danach richten müssen«, meinte Robert. »Aber wir müssen allen klarmachen, dass wir nur wegen Luc abreisen, nicht aus irgendeinem anderen Grund.«
Nicht seinetwegen, wollte Robert damit sagen, wie Amber sehr wohl wusste.
»Natürlich«, stimmte sie bereitwillig zu. Es kostete sie einige Anstrengung, äußerlich ruhig zu bleiben, während ihr innerlich vor Erleichterung ganz schwach wurde, denn sie hatte befürchtet, Robert werde sich störrisch weigern, nach Hause zu fahren.
Amber atmete tief durch und fragte dann: »Soll ich mit dem Hotel reden und die Dienstboten anweisen, oder …«
Bevor sie den Satz beenden konnte, fuhr Robert ihr gereizt ins Wort: »Ja, kümmer dich nur darum. Ich habe es satt, dass mich die Leute andauernd dumm fragen, wie es mir geht, und so tun, als stünde ich schon mit einem Bein im Grab.«
Amber stand auf. »Dann gehe ich jetzt und veranlasse alles.«
Sie wollte nicht riskieren, dass Robert es sich anders überlegte und sich weigerte abzureisen, in der Hoffnung, Otto werde sich bei ihm melden.
 
»Also, meine Liebe, dein Laden hat entschieden den Erfolg, den er verdient.«
»Danke, Cecil«, sagte Amber lächelnd.
Vor gut einem Monat waren sie aus Deutschland zurückgekehrt, und zu Ambers Erleichterung fühlte Luc sich in seiner neuen Schule wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Er schrieb überschwängliche Briefe nach Hause und bombardierte seine Eltern auf den regelmäßigen Nachmittagsausflügen mit seiner Begeisterung für das Internatsleben. Als von Geburt an sehr kontaktfreudiges Kind fand Luc im Internat die Kameradschaft, die er als Einzelkind entbehren musste, und Amber hatte gesehen, wie Robert vor Stolz die Brust schwoll, als Lucs Klassenlehrer zu ihnen sagte, er glaube fast, Luc habe das Zeug zum Schulsprecher.
»Er ist der geborene Anführer«, hatte der Hauslehrer gemeint. »Die anderen Knaben orientieren sich an ihm, und so etwas fördern wir gerne.«
Amber und Cecil hatten die Stimme erheben müssen, um das Geschnatter der Gäste auf der frühherbstlichen Einweihungsfeier zu übertönen, zu der Amber in die oberen Räumlichkeiten des Ladens in der Walton Street geladen hatte. Der schlanke junge Mann, den Cecil für sie als Geschäftsführer aufgetrieben hatte – »Er stammt aus einer vornehmen Familie, meine Liebe; zwar hat er kein Geld, aber dafür jede Menge Verbindungen!« -, hatte Amber schon erzählt, er werde förmlich überschüttet von Terminanfragen für eine Raumausstattung, und der Herausgeber der Vogue hatte angedeutet, in der Zeitschrift könne demnächst vielleicht ein Artikel über den Laden erscheinen.
Auch Robert war kurz aufgetaucht und hatte dabei so umwerfend gut ausgesehen, dass Amber das Herz wehtat. Für einen winzigen Augenblick hatte sie in ihm den Robert der National Gallery wiedergesehen. Cecils Assistenten übertrafen sich gegenseitig in ihren Bemühungen, ihm ein Lächeln zu entlocken, doch Amber konnte deutlich erkennen, wie unerträglich traurig er im Herzen war.
»Amber, für Isleworth muss ich einfach etwas von den neuen Entwürfen haben.«
»James.« Sie begrüßte James Lees-Milne mit einem warmen Lächeln und fragte dann besorgt: »Was meinst du? Werde ich mit meinem Laden Erfolg haben?«
»Zweifellos«, versicherte er ihr. »Aber ich könnte mir denken, dass Gordon Selfridge versuchen wird, dir sowohl die Stoffe als auch den Geschäftsführer abspenstig zu machen.«
»Was für ein Kompliment! Cecil hat Percy für mich gefunden.«
»Typisch Cecil«, grinste James und fuhr dann energisch fort: »Wenn du Zeit hast, würde ich gern etwas mit dir besprechen.«
»Oh, das ist nicht fair. Du musst es mir gleich erzählen.«
»Also schön. Ich will den National Trust dazu bewegen, einige seiner Häuser zu renovieren – und wo es möglich ist, würde ich gern auf authentische Stoffe zurückgreifen, und Denby Mill soll die Seide dafür produzieren.«
»James!«
»Freu dich nicht zu früh. Noch ist nichts unter Dach und Fach, und selbst wenn, wird der Profit nicht allzu groß ausfallen.«
»Aber für uns wird es eine hervorragende Werbung sein.«
»Genau, und da dies der Fall ist, erwarte ich einen beträchtlichen Preisnachlass.«
»Das wird davon abhängen, wie viel du bestellst«, erklärte Amber entschieden.
Sie hatte zu ihrer Überraschung bereits festgestellt, wie sehr sie das Handeln genoss – wieder etwas, das ihre Großmutter sicher nicht billigen würde. So geschäftstüchtig ihre Großmutter auch sein mochte, Amber wusste, dass sie alles Kaufmännische verachtete, und dazu zählte wohl auch das Feilschen um einen guten Preis.
Die Gäste brachen allmählich auf; die Speiselieferanten begannen aufzuräumen. Die morgigen Klatschspalten würden in Text und Bild von der Geschäftseinweihung und den anwesenden Gästen berichten.
Alle, die dabei gewesen waren und sich auf diesem Gebiet auskannten, hatten ihr versichert, ihr Laden werde Erfolg haben. Eigentlich sollte sie überglücklich sein. Es gab so vieles, wofür sie dankbar sein konnte. Warum also fühlte sie sich so unglücklich?