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Berlin war genauso
deutsch-monumental, wie Amber es sich vorgestellt hatte. Die
Uniformen, die hohen Stiefel, die im Gleichschritt marschierten,
und das zackige Salutieren zerrten an ihren Nerven; besonders
unerträglich fand sie aber die blinde Heldenverehrung, die ein paar
ihrer Landsleute Hitler entgegenbrachten. Zu diesem faschistisch
gesinnten Grüppchen zählten auch Unity Mitford und ihre Schwester
Diana. Zu Ambers Erleichterung neigte Robert inzwischen wieder
dazu, Adolf Hitler mit Spott und Verachtung zu begegnen. Er hatte
sich von seinem jungen Liebhaber also doch nicht so in seiner
politischen Haltung beeinflussen lassen, wie sie befürchtet
hatte.
Oberflächlich
betrachtet, kamen sie so gut miteinander aus wie immer, doch bei
genauerem Hinsehen offenbarten sich Spannungen, an denen teilweise
auch Amber schuld war, wie sie genau wusste. Sie war nicht mehr das
naive junge Mädchen, das Robert in allem gefolgt war, auf seinen
Rat und seine Führung angewiesen und bereit, zu ihm aufzublicken
und ihn auf ein Podest zu erheben. Nein, sie war eine Frau, die ihr
Leben und ihre Geschäfte selbstständig führte. Und obwohl Amber es
nicht aussprach, hegte sie manchmal den Verdacht, dass Robert ihr
das verübelte. Auch wenn er bei dem Laden nachgegeben hatte, war
Amber klar, dass er eigentlich nicht wollte, dass sie ihn führte.
Einen Laden – ein Geschäft – zu besitzen und zu führen war für ein
Mitglied der Aristokratie einfach undenkbar. Es trotzdem zu tun
bedeutete eine Überschreitung der engen gesellschaftlichen Grenzen,
die einer Frau in ihrer Stellung gesetzt waren.
Doch sie war keine
Aristokratin, sie war die Tochter eines talentierten Künstlers und
die Urenkelin eines erfolgreichen Kaufmanns, und darauf war sie
stolz. Natürlich wollte sie Robert eine gute Frau sein, doch wollte
sie dabei sich selbst treu bleiben, statt sich vereinnahmen und
verbiegen zu lassen, um etwas aus sich zu machen, was sie gar nicht
war – nur um Leuten zu gefallen, die sie ohnehin verachteten, egal
was sie tat, um sie zu besänftigen.
Doch sie vermisste
die offenen politischen Diskussionen, die sie früher mit Robert
geführt hatte. Robert war gut informiert, und sie achtete seine
Meinung – wenn sie denn von ihm kam und nicht von seinem
gegenwärtigen Liebhaber. Die Situation mit den Mitfords war ein
typisches Beispiel dafür.
»Ich würde mir da
keine Gedanken machen«, hatte Robert gesagt, als sie die Mitfords
erwähnt hatte. »Nach dem, was ich gehört habe, betrachtet selbst
ihr verehrter Führer Unity als Dummkopf. Diana muss die Nazis
natürlich wegen Tom Mosley unterstützen.«
»Unity mag ja ein
Dummkopf sein, Robert, aber das macht es den Nazis nur umso
leichter, ihre Ergebenheit für Hitler als Propaganda zu nutzen«,
hatte Amber erwidert. »Ich meine, schau dir doch an, wie
freundschaftlich sie mit den Goebbels verkehrt. Ach, mir wäre es
wirklich lieber, wir wären gar nicht erst hergekommen. Mir kommt es
falsch vor, und ich fühle mich nicht wohl dabei.«
»Du musst doch
zugeben, dass die Eröffnung der Spiele einfach großartig war und
makellos geplant«, meinte Robert jetzt, da ihm bewusst war, wie
sehr ihr die Reise nach Deutschland widerstrebt hatte.
»Mit militärischer
Präzision«, stimmte Amber trocken zu. »All diese schrecklich
arischen jungen Frauen …« Sie war immer noch nicht glücklich
darüber, wie Robert Lucs unschuldige Begeisterung ausgenutzt hatte,
um sie dazu zu bringen, der Reise zuzustimmen; sie könne ja zu
Hause bleiben, er und Luc würden allein fahren, hatte er gemeint.
Dabei hatte er ganz genau gewusst, dass sie dem niemals zustimmen
würde.
»Wie ich sehe, bist
du fest entschlossen, an Berlin, dem Führer und den Spielen kein
gutes Haar zu lassen«, neckte Robert sie leichthin.
»Hast du das etwa
erwartet?«, fragte Amber. »Tut mir leid, Robert, aber ich kann mich
des Eindrucks nicht erwehren, dass hinter all dieser zur Schau
gestellten Volksgesundheit etwas grässlich Ungesundes liegt. Denk
doch nur daran, wie die Nazis die Juden behandeln! Manche
Kommentare, die Herr Göring gestern beim Abendessen abgegeben hat,
waren widerlich und unverzeihlich. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich
aufgestanden und gegangen. Unity hat tatsächlich damit angegeben,
dass sie in München jetzt in einer Wohnung lebt, die einmal einer
jüdischen Familie gehörte.«
»Da stimme ich dir
zu, aber wir können nichts dagegen tun, und ich möchte dir raten,
Amber, dich in der Öffentlichkeit nicht so deutlich zu
äußern.«
Robert brauchte sie
nicht zu warnen. Amber fühlte sich nicht nur nicht wohl in
Deutschland, ihr war unbehaglich zumute, und ein wenig fürchtete
sie sich sogar. Sie wäre mit Freuden wieder abgereist, obwohl alles
unzweifelhaft ganz großartig war.
Die Deutschen waren
offenbar fest entschlossen, die Welt zu beeindrucken. Am Vorabend
waren die Gäste von einer Balletttruppe unterhalten worden, die im
Mondschein für sie getanzt hatte. Danach war für sie ein
fête champêtre veranstaltet
worden.
An diesem Abend
waren sie zu einer Gesellschaft bei den Goebbels geladen, die auf
Schwanenwerder abgehalten wurde, einer Insel im Wannsee, auf der
auch die Mitford-Schwestern erwartet wurden. Amber hatte sich
äußerst unwohl gefühlt, als sie mit Diana geplaudert hatte, die sie
anfangs so verehrt hatte, mit der sie jetzt aber nichts mehr
verband.
»Ich bin froh, wenn
wir endlich nach Hause fahren, Robert. Luc hat vorhin geklagt, ihm
sei schlecht, und ich wäre wirklich froh, wenn wir heute Abend
nicht zu dieser Veranstaltung gehen müssten.«
»Wenn Luc schlecht
ist, liegt das vermutlich daran, dass er zu viel Eiscreme verdrückt
hat. Bei Gladys ist er in den besten Händen. Es sähe sehr
merkwürdig aus, wenn wir jetzt nicht hingingen, nachdem wir uns mit
den Channons und dem britischen Botschafter dort verabredet
haben.«
Amber seufzte.
Natürlich hatte Robert recht. Wie immer war es der äußere Schein,
der zählte. Bei ihrer ersten Auseinandersetzung wegen der
Deutschlandreise hatte Robert behauptet, sie hätten die Pflicht,
sich anzusehen, was in Berlin geschah, und ihre Reaktion sei zu
gefühlsbetont.
»Morgen gibt es aber
kein Eis mehr, mein Junge«, warnte Robert seinen Sohn in gespielter
Strenge.
Sie waren in sein
Zimmer gegangen, um ihm gute Nacht zu wünschen, ehe sie gingen. Luc
war zwar immer noch blass, doch Gladys, das Kindermädchen, das sie
vom Haus am Eaton Square mitgebracht hatten, versicherte ihnen, er
habe etwas zu Abend gegessen.
Amber umarmte Luc
noch einmal zärtlich. Im September sollte er auf Roberts alte
Schule gehen; Roberts alter Koffer war bereits von Osterby gebracht
worden. In Lucs Beisein hatten sie auf der Innenseite des Deckels
seinen Namen unter den von Robert anbringen lassen, und Luc war
dabei schier geplatzt vor Stolz und Begeisterung.
Amber war die
Vorstellung verhasst, einen so kleinen Jungen aufs Internat zu
schicken, doch Robert hatte ihr versichert, dies entspreche den
Gepflogenheiten und Luc werde seine Schulzeit ebenso genießen wie
er. Luc jedenfalls schien sich auf sein neues Leben zu freuen, aber
sie würde ihn furchtbar vermissen. Ohne ihn würde sich ihr Leben
leer anfühlen.
Sie sehnte sich
danach, Jay zu schreiben und ihm zu erzählen, was sie seit ihrer
Ankunft in Deutschland gesehen und erlebt hatte, doch das war
unmöglich. Obwohl sie nicht darüber gesprochen hatten, hatten sich
ihre Briefe verändert. Sie klangen inzwischen eher wie die knappen,
beinahe unbehaglichen Mitteilungen von Fremden – oder von Menschen,
die von Schuldgefühlen geplagt wurden -, und sie schmerzten auf
gewisse Weise mehr, als wenn sie sich gar nicht geschrieben hätten.
Zumindest hätte Amber dann so tun können, als wäre alles beim
Alten; so aber musste sie akzeptieren, dass sie die ihr einst so
kostbare Freundschaft verloren hatte.
»Komm, Liebling,
sonst kommen wir noch zu spät.«
»Ist gut, Mummy, mir
geht es schon viel besser«, versicherte Luc ihr
feierlich.
Robert stand
ungeduldig in der offenen Tür. Widerstrebend gesellte Amber sich zu
ihm. Sie hatte keine Freude an ihrem Aufenthalt in Deutschland. Ihr
gefiel die Atmosphäre nicht, sie sehnte sich nach ihrem Zuhause,
ihrem Laden und vor allem nach Jay – aber diese Sehnsucht war ihr
natürlich verboten …
Auf die Insel
Schwanenwerder, wo die Gesellschaft stattfand, kam man über
Pontons, die eigens vom Ufer ausgelegt worden waren und von jungen
fackeltragenden Nazimädchen beleuchtet wurden.
»Wirklich
furchterregend«, sagte Robert mit schleppender Stimme zu Chips
Channon, neben dem sie gerade standen.
»Die erhobenen Arme,
meinen Sie?«
»Nein, die
gefletschten Zähne.«
»Robert«, mahnte
Amber unter dem Schutz von Channons Gelächter, »wenn dich jemand
hört!«
»Ja, mein Lieber«,
meinte auch Channon warnend, »Sie müssen aufpassen. Hitler ist
strikt gegen Gentlemen, die einer gewissen sexuellen Orientierung
anhängen; zweifellos quält er sie deswegen mit all den strahlenden
goldblonden Jungmännern in Lederstiefeln.«
Der Abend erwies
sich als genauso schwierig, wie Amber befürchtet
hatte.
Sie hatten die
Channons irgendwo in der Menge verloren und standen nun bei den von
Ribbentrops, die sie sehr herzlich begrüßt hatten und ganz
offensichtlich entzückt waren von Führer und Vaterland und von
allen anderen erwarteten, dass sie sich entsprechend beeindruckt
zeigten.
Gerade als Amber
sich mit einer diskreten Ausrede zu entfernen suchte, kamen Joseph
Goebbels und seine Frau herüber, umgeben von einem kleinen
Grüppchen finster dreinblickender SS-Leute.
Da Amber vor Joseph
Goebbels und seinen ständigen Frauengeschichten gewarnt worden war
und sie den unverhohlenen Blick spürte, mit dem er sie taxierte,
rückte sie näher zu seiner Frau Magda.
Sie hörte gerade
Magda Goebbels’ Erzählungen über ihre Kinder zu, als sie aufsah und
zu ihrem Entsetzen direkt vor ihnen, in wenigen Metern Entfernung,
Otto entdeckte.
Ihn und seine offene
Arroganz kann man wirklich nicht verwechseln, dachte Amber bitter.
Er war in Begleitung zweier Männer, die bei weitem nicht so gut
aussahen und ein gutes Stück älter waren als er. Ambers Magen
krampfte sich besorgt zusammen. Sie wollte Robert unbedingt
weglotsen, doch es war unmöglich, Magda Goebbels in ihrem Monolog
über die Tugenden ihrer zahlreichen Nachkommen zu
unterbrechen.
Ein Blick in Roberts
Gesicht verriet ihr, dass auch er Otto entdeckt hatte. Bis auf zwei
rote Flecken, die auf seinen Wangen brannten, war Robert
kreidebleich geworden. Für Flucht war es jetzt zu spät.Viel zu
spät, da Joseph Goebbels ihnen die Neuankömmlinge bereits
vorstellte.
»Der Herzog und ich
sind uns schon begegnet«, verkündete Otto geringschätzig, übersah
geflissentlich Roberts ausgestreckte Hand, wandte ihm betont den
Rücken zu und begann ein Gespräch mit einem anderen
Herrn.
Es war eine offene,
vorsätzliche Abfuhr, und Amber war sich nicht sicher, was passiert
wäre, wenn nicht Unity mit ihrem plötzlichen Auftritt und ihrer
übersprudelnden Begeisterung für die wundervolle Olympiade für
Ablenkung gesorgt hätte.
Joseph Goebbels
lauschte ihren Ausführungen mit selbstgefälligem Grinsen,
tätschelte ihr den Arm und stellte sie Otto vor, der daraufhin die
Hacken zusammenschlug und sich über ihre Hand beugte.
»Wie angenehm, einer
Engländerin zu begegnen, die völlig frei ist von jener Dekadenz,
die so viele Ihrer Landsleute kennzeichnet«, hörte Amber Otto
überschwänglich äußern. »Ich hoffe, Sie gestatten mir, Sie eines
Abends zum Essen einzuladen.«
Er hielt immer noch
ihre Hand, während Roberts Hände so verkrampft waren, dass Amber
die Knöchel bleich durch die Haut schimmern sah.
Als Unity lachte und
einen Schritt auf Otto zu tat, dachte Amber für einen schrecklichen
Moment, Robert werde zwischen die beiden treten und sie körperlich
auseinanderdrängen. Robert sah aus, als litte er Höllenqualen,
seine Augen brannten in seinem starren Gesicht.
»Robert, ich möchte
jetzt wirklich zurück ins Hotel und nach Luc sehen«, erklärte
Amber, legte die Hand auf Roberts Arm und entschuldigte sich rasch
bei den anderen, damit sie aufbrechen konnten, ohne Anlass zum
Klatsch zu geben.
»Unserem Sohn geht
es heute Abend nicht gut«, sagte sie zu Magda
Goebbels.
»Dann müssen Sie
natürlich zu ihm. Ich mache mir auch immer furchtbare Sorgen, wenn
eines von meinen sechsen krank ist. Ich lasse einen Wagen kommen,
der Sie zu Ihrem Hotel bringt.«
»Wirklich sehr
freundlich von Ihnen.Vielen Dank.«
Seit Ottos
Auftauchen hatte Robert noch kein Wort gesagt. In seinen Augen lag
ein trostloser Ausdruck. Nein, nicht trostlos, korrigierte Amber
sich. Es war eher der Blick eines Mannes, dem der Todesstoß
versetzt worden war. Und doch spürte sie, dass er nur widerstrebend
mit ihr aufbrach.
Otto war im Weggehen
begriffen, und Robert hatte den Kopf gewandt und blickte
verzweifelt in seine Richtung. Amber packte ihn noch fester, um ihn
zurückzuhalten, denn sie befürchtete, er könnte Otto tatsächlich
hinterherlaufen. Zu ihrer Erleichterung ließ er sich jedoch von ihr
zu den Pontons ziehen.
Er schwieg immer
noch, und auch auf dem Heimweg ins Hotel sagte er nichts. Er zog
sich in sich selbst und seinen Schmerz zurück; Amber hatte fast das
Gefühl, als hüllte er ihn ein wie ein kaltes
Leichentuch.
Zumindest geht es
Luc schon sehr viel besser, sagte Amber sich erschöpft, als sie
sich in die Kissen kuschelte. Sie hatte ihre Zofe weggeschickt und
wollte noch ein halbes Stündchen lesen, ehe sie das Licht
ausmachte, doch als sie auf die Frisierkommode blickte, merkte sie,
dass sie vergessen hatte, Martha zu bitten, ihren Schmuck Roberts
Kammerdiener zu übergeben, damit der ihn sicher
wegschloss.
Auch wenn ihr das
prächtige Schmuckset aus Rubinen und Diamanten, das von Roberts
Großmutter stammte, nie recht gefallen hatte, gehörte es doch zum
Familienerbe. Amber stand auf und schlüpfte in ihren Morgenmantel
aus cremefarbenem Satin, um den Schmuck selbst zu Robert zu
bringen, statt ihre Zofe deswegen noch einmal zu
stören.
Sie klopfte an die
Verbindungstür zwischen den beiden Hotelzimmern, und als sie keine
Antwort bekam, drückte sie einfach die Klinke nieder. Robert hatte
seinen Kammerdiener Hulme offensichtlich für diese Nacht bereits
entlassen. Das Zimmer wurde nur von der Nachttischlampe erhellt,
doch die Tür zum Badezimmer stand offen, in dem ebenfalls Licht
brannte.
Da Amber nicht
einfach in sein Zimmer eindringen wollte, rief sie zögernd:
»Robert, ich bin es. Ich habe vergessen, Martha zu sagen, dass sie
Hulme die Rubine geben soll, deswegen bringe ich sie dir selbst.
Ich lege sie auf die Kommode.«
Sie legte die
Schmuckschatullen ab und wollte gerade das Zimmer verlassen, als
sie aus dem Badezimmer ein Geräusch hörte. Es klang, als wäre etwas
Metallisches auf die Marmorfliesen gefallen, und gleich darauf ging
etwas Schwereres dumpf zu Boden.
Im Nu war sie am
Badezimmer und riss die Tür weit auf.
Robert war auf dem
Boden zusammengebrochen, und aus einem Schnitt am Handgelenk
tropfte Blut. Es strömte nicht, es tropfte, wie Amber zu ihrer
Erleichterung feststellte. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft, war
ihren Gefühlen und ihren Gliedern weit voraus; er sammelte und
ordnete Fakten und kam schließlich zu einem Schluss, bei dem ihr
das Herz in die Hosen rutschte, während sie gleichzeitig
automatisch zum Telefonhörer griff.
Innerhalb einer
halben Stunde war das Handgelenk verbunden, und Robert lag sicher
im Bett. Sie hatte Hulme gerufen, und gemeinsam hatten sie eine
Geschichte von einem Unfall gesponnen. Robert hatte demnach eine
Rasierklinge herumliegen lassen, sie vergessen und sich dann daran
geschnitten, als er nach der Seife greifen wollte. Der
anschließende Sturz war auf den Schock zurückzuführen.
Der Arzt, der gut
genug Englisch sprach, um die Situation zu bewältigen, aber nicht
gut genug, um Robert zu lange zu befragen, hatte den Schnitt
gesäubert und verbunden. Amber hatte er versichert, dass es sich um
kaum mehr als einen Kratzer handele und die Beule an seinem Kopf
nichts Schlimmeres nach sich ziehen werde als höllische
Kopfschmerzen.
Amber hatte das
Gefühl, dass der Arzt den Verdacht hegte, Roberts Unfall könnte auf
Unachtsamkeit infolge von zu hohem Alkoholkonsum zurückzuführen
sein. Sie wurde ermahnt, ein Auge auf Robert zu haben und sich
sofort mit dem Arzt in Verbindung zu setzen, falls Robert sich
übergeben oder Anzeichen von Verwirrung zeigen sollte.
Robert, der bei
Bewusstsein war, während der Arzt mit Amber sprach, hatte kurz
darauf verkündet, er sei durchaus im Vollbesitz seiner geistigen
Kräfte und wolle es auch weiterhin so halten.
Hat Robert sich
wirklich das Leben nehmen wollen?, fragte Amber sich später
besorgt, als sie am Bett des schlafenden Robert saß, wo sie und
Hulme sich mit der Wache abwechselten, vorgeblich, um eventuelle
Anzeichen einer Gehirnerschütterung sofort zu erkennen. In
Wirklichkeit waren sie sich beide auch ohne Worte bewusst, was
Robert getan hatte und dass es jeden weiteren Versuch zu verhindern
galt.
Wieder einmal hatte
sie einen Beweis dafür – wenn sie ihn denn noch gebraucht hätte -,
was die Liebe Schreckliches anrichten konnte, welches Chaos, welche
Verzweiflung sie hervorzurufen imstande war.
Amber sah auf Robert
hinunter. Der arme Robert, sicher war der Schmerz so groß geworden,
dass er geglaubt hatte, ihn nicht mehr ertragen zu können. Sie nahm
die Hand ihres Ehemanns und hielt sie zärtlich.Von jetzt an würde
sie dafür sorgen, dass Otto ihm nicht mehr zu nahe
kam.
»Robert, ich finde,
wir sollten wirklich nach Hause fahren.« In Ambers Stimme schwang
Entschlossenheit, ebenso aber Verzweiflung und Furcht, als sie
Roberts bleiche, allzu schmale Hand ergriff. Sie saßen auf dem Sofa
in dem kleinen Wohnraum ihrer Hotelsuite. Es war zwei Tage her,
dass sie ihn im Badezimmer gefunden hatte, und der Arzt hatte
erklärt, seiner Ansicht nach bestehe nunmehr keinerlei Gefahr eines
Rückfalls oder einer Gehirnerschütterung.
»Wegen mir ist das
aber nicht nötig. Ich bin völlig wiederhergestellt. Du hast den
Arzt doch gehört«, erwiderte Robert gereizt und entzog ihr seine
Hand. Er wich ihrem Blick aus.
Amber hatte
befürchtet, er werde sich weigern. Schließlich war Otto immer noch
in Berlin. Ihre Anweisung, jeder Versuch von Otto, Kontakt mit
Robert aufzunehmen, sei ihr zu berichten, hatte nichts ergeben. Der
junge Deutsche hatte sich nicht gemeldet, doch die mitfühlenden und
neugierigen Besuche und Anfragen verrieten Amber, dass die
Nachricht von Roberts »Unfall« die Runde gemacht hatte. Der arme
Robert. Seinen Selbstmordversuch konnte sie natürlich nicht
billigen, aber Mitleid für seine Verzweiflung empfand sie durchaus.
Inzwischen kannte sie Robert besser. Als junge Braut hatte sie vor
allem seine Großzügigkeit und seine Großherzigkeit gesehen, nun
kannte sie auch seinen empfindlichen Stolz und seinen
Starrsinn.
»Eigentlich glaube
ich, wir sollten Lucs wegen abreisen«, erklärte sie. Diese Ausrede
hatte sie sich vorher zurechtgelegt, weil sie mit Roberts
ablehnender Reaktion gerechnet hatte.
»Wegen Luc? Warum?
Warum sollte Luc nach England zurückmüssen?« Wie immer sah man
Robert deutlich an, wie sehr er seinen Sohn liebte.
»Er schläft und isst
hier nicht so gut, wie er sollte, und auch wenn er nichts sagt, hat
er Heimweh. Er wollte nach Deutschland mitkommen, und es war eine
wunderbare Erfahrung für ihn, wie du ja schon gesagt hast, eine, an
die er sich ein Leben lang erinnern wird, aber als ich den Arzt
gebeten habe, sich Luc kurz anzusehen, und ihm erklärt habe, dass
er im September aufs Internat geht, hat er gesagt, es wäre ganz gut
für ihn, wenn wir mit ihm nach Hause fahren würden, damit er sich
dort noch ein wenig erholen kann.«
»Nun, wenn der Arzt
das gesagt hat, werden wir uns wohl danach richten müssen«, meinte
Robert. »Aber wir müssen allen klarmachen, dass wir nur wegen Luc
abreisen, nicht aus irgendeinem anderen Grund.«
Nicht seinetwegen,
wollte Robert damit sagen, wie Amber sehr wohl wusste.
»Natürlich«, stimmte
sie bereitwillig zu. Es kostete sie einige Anstrengung, äußerlich
ruhig zu bleiben, während ihr innerlich vor Erleichterung ganz
schwach wurde, denn sie hatte befürchtet, Robert werde sich
störrisch weigern, nach Hause zu fahren.
Amber atmete tief
durch und fragte dann: »Soll ich mit dem Hotel reden und die
Dienstboten anweisen, oder …«
Bevor sie den Satz
beenden konnte, fuhr Robert ihr gereizt ins Wort: »Ja, kümmer dich
nur darum. Ich habe es satt, dass mich die Leute andauernd dumm
fragen, wie es mir geht, und so tun, als stünde ich schon mit einem
Bein im Grab.«
Amber stand auf.
»Dann gehe ich jetzt und veranlasse alles.«
Sie wollte nicht
riskieren, dass Robert es sich anders überlegte und sich weigerte
abzureisen, in der Hoffnung, Otto werde sich bei ihm
melden.
»Also, meine Liebe,
dein Laden hat entschieden den Erfolg, den er
verdient.«
»Danke, Cecil«,
sagte Amber lächelnd.
Vor gut einem Monat
waren sie aus Deutschland zurückgekehrt, und zu Ambers
Erleichterung fühlte Luc sich in seiner neuen Schule wie der
sprichwörtliche Fisch im Wasser. Er schrieb überschwängliche Briefe
nach Hause und bombardierte seine Eltern auf den regelmäßigen
Nachmittagsausflügen mit seiner Begeisterung für das
Internatsleben. Als von Geburt an sehr kontaktfreudiges Kind fand
Luc im Internat die Kameradschaft, die er als Einzelkind entbehren
musste, und Amber hatte gesehen, wie Robert vor Stolz die Brust
schwoll, als Lucs Klassenlehrer zu ihnen sagte, er glaube fast, Luc
habe das Zeug zum Schulsprecher.
»Er ist der geborene
Anführer«, hatte der Hauslehrer gemeint. »Die anderen Knaben
orientieren sich an ihm, und so etwas fördern wir
gerne.«
Amber und Cecil
hatten die Stimme erheben müssen, um das Geschnatter der Gäste auf
der frühherbstlichen Einweihungsfeier zu übertönen, zu der Amber in
die oberen Räumlichkeiten des Ladens in der Walton Street geladen
hatte. Der schlanke junge Mann, den Cecil für sie als
Geschäftsführer aufgetrieben hatte – »Er stammt aus einer vornehmen
Familie, meine Liebe; zwar hat er kein Geld, aber dafür jede Menge
Verbindungen!« -, hatte Amber schon erzählt, er werde förmlich
überschüttet von Terminanfragen für eine Raumausstattung, und der
Herausgeber der Vogue hatte angedeutet,
in der Zeitschrift könne demnächst vielleicht ein Artikel über den
Laden erscheinen.
Auch Robert war kurz
aufgetaucht und hatte dabei so umwerfend gut ausgesehen, dass Amber
das Herz wehtat. Für einen winzigen Augenblick hatte sie in ihm den
Robert der National Gallery wiedergesehen. Cecils Assistenten
übertrafen sich gegenseitig in ihren Bemühungen, ihm ein Lächeln zu
entlocken, doch Amber konnte deutlich erkennen, wie unerträglich
traurig er im Herzen war.
»Amber, für
Isleworth muss ich einfach etwas von den neuen Entwürfen
haben.«
»James.« Sie
begrüßte James Lees-Milne mit einem warmen Lächeln und fragte dann
besorgt: »Was meinst du? Werde ich mit meinem Laden Erfolg
haben?«
»Zweifellos«,
versicherte er ihr. »Aber ich könnte mir denken, dass Gordon
Selfridge versuchen wird, dir sowohl die Stoffe als auch den
Geschäftsführer abspenstig zu machen.«
»Was für ein
Kompliment! Cecil hat Percy für mich gefunden.«
»Typisch Cecil«,
grinste James und fuhr dann energisch fort: »Wenn du Zeit hast,
würde ich gern etwas mit dir besprechen.«
»Oh, das ist nicht
fair. Du musst es mir gleich erzählen.«
»Also schön. Ich
will den National Trust dazu bewegen, einige seiner Häuser zu
renovieren – und wo es möglich ist, würde ich gern auf authentische
Stoffe zurückgreifen, und Denby Mill soll die Seide dafür
produzieren.«
»James!«
»Freu dich nicht zu
früh. Noch ist nichts unter Dach und Fach, und selbst wenn, wird
der Profit nicht allzu groß ausfallen.«
»Aber für uns wird
es eine hervorragende Werbung sein.«
»Genau, und da dies
der Fall ist, erwarte ich einen beträchtlichen
Preisnachlass.«
»Das wird davon
abhängen, wie viel du bestellst«, erklärte Amber
entschieden.
Sie hatte zu ihrer
Überraschung bereits festgestellt, wie sehr sie das Handeln genoss
– wieder etwas, das ihre Großmutter sicher nicht billigen würde. So
geschäftstüchtig ihre Großmutter auch sein mochte, Amber wusste,
dass sie alles Kaufmännische verachtete, und dazu zählte wohl auch
das Feilschen um einen guten Preis.
Die Gäste brachen
allmählich auf; die Speiselieferanten begannen aufzuräumen. Die
morgigen Klatschspalten würden in Text und Bild von der
Geschäftseinweihung und den anwesenden Gästen
berichten.
Alle, die dabei
gewesen waren und sich auf diesem Gebiet auskannten, hatten ihr
versichert, ihr Laden werde Erfolg haben. Eigentlich sollte sie
überglücklich sein. Es gab so vieles, wofür sie dankbar sein
konnte. Warum also fühlte sie sich so unglücklich?