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»Greg, geht es dir gut?« Es war das zweite Mal in zwölf Stunden, dass Amber einem Familienangehörigen diese Frage stellen musste, doch obwohl sie Gefahr lief, sich zu wiederholen, hätte auch der unbeteiligtste Zuschauer in Gregs Fall sofort gewusst, warum sie ihn das fragte.
Greg hatte während des ganzen Abendessens getrunken, und Amber hegte den Verdacht, dass er auch schon getrunken hatte, bevor er reichlich spät nach unten gekommen war.
Jetzt waren sie allein in ihrem alten Lieblingsraum, dem Billardzimmer, und Greg trank immer noch, schenkte sich aus der mitgebrachten Ginflasche immer wieder nach.
»Natürlich geht’s mir gut«, antwortete er bitter. »Gott, hast du Zigaretten, Amber? Mir sind sie ausgegangen, und ich würde verdammt gern eine rauchen.«
»Tut mir leid, ich habe keine.« Sie war nie eine begeisterte Raucherin gewesen, und im Winter nach Lucs Geburt, als sie und Luc schrecklich erkältet gewesen waren, hatte sie ganz aufgehört.
Greg warf das Queue, das er vom Ständer genommen hatte, mit solcher Wucht auf den grünen Fries des Billardtischs, dass Amber zusammenzuckte.
Diese Gereiztheit, die während des Abendessens mehr als einmal aufgeflackert war, schockierte sie fast genauso sehr wie die äußerlichen Veränderungen. Ihr fröhlicher, gut aussehender Cousin war verschwunden, ein Fremder hatte seinen Platz eingenommen.
Der Gelbstich, der auch die Haut der kleinen Rose tönte, ließ Gregs Haut blässlich und kränklich aussehen. Seine Augen waren rot gerändert, und seine Hände fanden keine Ruhe. Wenn er sprach, dann in quengelndem, selbstmitleidigem Tonfall, bei dem ihre Großmutter die Lippen fest zusammenkniff.
»Man sollte doch meinen, jede normale Großmutter wäre froh und erleichtert, wenn sie ihren einzigen Enkel und Erben sicher zu Hause in die Arme schließen kann, aber wir beide wissen natürlich, dass unsere Großmutter kein bisschen normal ist. Himmel, Amber, sie ist hart. Ich meine, wessen Schuld ist es denn, dass ich überhaupt nach Hongkong musste, verdammt noch mal? Meine jedenfalls nicht. Sie hat doch darauf bestanden, dass ich da hinfahre und von einem Hungerlohn lebe.«
»Ich dachte, du wolltest gehen«, widersprach Amber. »Du schienst so glücklich zu sein dort, besonders nachdem du Lionel kennengelernt hattest. Das hast du in deinen Briefen geschrieben.«
»Das war, bevor der hinterhältige Scheißkerl mich aufs Kreuz gelegt hat. Wenn er nicht wäre, wäre ich inzwischen so gut wie mit Lucy verheiratet und …«
»Lucy? Hast du Roses Mutter so genannt?«
»Diese Schlampe hätte ich heiraten sollen? Ich wünschte, ich hätte sie nie kennengelernt. Die zwei, sie und der verdammte Lionel, haben mein Leben zerstört.«
Amber zuckte vor der Feindseligkeit in Gregs Stimme zurück. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Was ist passiert?«
Als Greg fertig war mit seiner Erzählung, wie er mit dem Glücksspiel und den Hurenhäusern von Hongkong bekannt gemacht worden war und wie er Lucy begegnet war und sich in sie verliebt hatte, war Amber schockiert und angewidert – von Greg ebenso wie von seinem hinterhältigen Freund.
Wie hatte das passieren können? Wie konnte der Cousin, den sie so bewundert und geliebt hatte, sich in diesen unmoralischen Mann verwandeln, der nicht das geringste Bewusstsein für seine Fehler besaß, ganz zu schweigen von irgendeiner Spur Schamgefühl?
»Wenn du Lucy liebst, wäre es vielleicht besser gewesen, in Hongkong zu bleiben und dich ihr zu Füßen zu werfen«, wandte Amber vorsichtig ein.
»Sie hätte mich geheiratet, wenn Lionel sie nicht gegen mich aufgehetzt hätte«, fuhr Greg fort, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. »Ich habe ihr von Großmutters Plänen für mich erzählt und dass ich wahrscheinlich noch einen Titel bekomme. Also, wenn sie Lionel heiratet, diesen hundserbärmlichen Lumpen, wird sie sich nie Lady irgendwas nennen können.«
Amber hörte Gregs Tirade mit wachsender Traurigkeit zu. »Jetzt beschwert Großmutter sich darüber, dass ich ein Kind gezeugt habe. Ja, was zum Teufel hat sie denn erwartet? Dass ich lebe wie ein Mönch?« Er hatte heftig zu schwitzen angefangen, seine Bewegungen und seine Worte waren fahrig und unkoordiniert.
»Ich glaube, Großmutter war sehr betroffen über deine Schulden, Greg«, sagte Amber leise.
»Sie war betroffen!« Er lachte schrill. »Das ist wirklich köstlich. Sie war aber nicht so betroffen, dass sie mir Geld geschickt hätte, um sie zu begleichen, oder? Die Chinesen lieben das Glücksspiel, aber sie hassen Verlierer. Weißt du, was sie da drüben machen, wenn man seine Spielschulden nicht bezahlen kann? Als Erstes schneiden sie einem die Hand ab, Finger für Finger, und dann …«
Greg hatte eine volle Flasche Gin mit ins Billardzimmer genommen, doch jetzt war sie leer, und in einem plötzlichen Anflug von Gewalt nahm er sie und warf sie gegen die Wand. Scherben spritzten über das Parkett, während er sich in einen Sessel fallen ließ, den Kopf in den Händen verbarg und anfing, unbeherrscht zu schluchzen.
»Wenn Lucy mich geheiratet hätte, wäre alles gut geworden«, weinte er. »Lionel hat Chung Hai so lange aufgehetzt, bis der verlangt hat, dass ich alle meine Schulden begleiche. Lionel wusste, dass ich das nicht konnte. Ich musste diese Schecks ausstellen, Amber … ich hatte keine Wahl … und als Chung Hai mir dann gedroht hat, weil ich Henry Jardines Unterschrift gefälscht hatte, und von mir verlangt hat, dass ich noch weitere Schecks unterschreibe – da wusste ich, dass ich so nicht weitermachen konnte und fliehen musste. Die Überfahrt hat mich den letzten Penny gekostet. Der verdammte Kapitän hat genau gewusst, dass ich am Ende war und er mir abknöpfen konnte, was er wollte. Ich wusste nicht, dass diese blöde Schlampe mir zum Hafen gefolgt war und sich mit dem Balg auf dem Schiff versteckt hatte.«
»Sie wollte sicher unbedingt mit dir zusammen sein, Greg.«
»Wollte wohl eher dafür sorgen, dass sich ihr Goldesel nicht verdrückt«, fuhr Greg heftig auf.
»Also, wenigstens hast du die kleine Rose sicher nach Hause gebracht.«
»Glaubst du wirklich, ich wollte das? Das habe ich doch nur ein paar verdammten Missionaren zu verdanken, die ihre Nase in Dinge gesteckt haben, die sie nichts angingen, und sich eingemischt haben. Das Balg wäre besser mit seiner Mutter gestorben.«
»Du meinst, wie Carolines Kind?«, fragte Amber leise.
Eine Minute lang dachte sie, er würde gar nichts sagen. Sein Gesicht wurde dunkelrot, und er starrte sie wütend an, dann stand er auf und schob sich an ihr vorbei.
»Das war nicht meine Schuld. Ich habe ihr gesagt, wir müssten vorsichtiger sein, wir hätten Glück gehabt, dass wir mit dem ersten durchgekommen sind«, lachte Greg trunken. »Das würde Großmutter gefallen, was, dass Fitton Leghs kostbarer Sohn in Wahrheit von einem Pickford gezeugt wurde?«
Amber konnte sich nicht rühren. Greg war so betrunken, dass er vermutlich gar nicht recht wusste, was er da redete.
»Was meinst du?«, fragte er Amber. »Soll ich es der Alten sagen?«
»Greg, ich glaube nicht …«
»Was glaubst du nicht?« Jetzt wurde er wütend. »Glaubst du, ich weiß nicht, wovon ich rede? Also, dann lass dir gesagt sein, dass ich es ganz genau weiß. Noch bevor das Balg auf die Welt kam, hat Caroline geschworen, dass es meines ist; sie hat behauptet, Fitton Legh bekäme keinen hoch, hätte noch nie einen hochbekommen. Kein Wunder, dass Cassandra ihn geheiratet hat – die zwei geben ein hübsches Pärchen ab. Das Balg ist von mir, Amber.«
 
Bevor sie zu Bett ging, ging Amber hinauf in den Kindertrakt, wo sie das Kindermädchen, das sich als Betsys Cousine Sheila vorstellte, für die späte Störung um Verzeihung bat.
»Heut Abend hat die Kleine ihre Säuglingsnahrung unten behalten«, erklärte sie Amber mit fröhlicher Stimme, als sie in das abgedunkelte Schlafzimmer trat, wo das kleine Mädchen tief und fest in seinem Kinderbettchen schlief.
»Unsere Betsy hat mir erzählt, dass die kleine Rose Sie gleich ins Herz geschlossen hat, Euer Gnaden. Bestimmt vermisst sie ihre Mutter.«
Amber beugte sich vor und fuhr Rose zärtlich über die Wange. Ihre Haut fühlte sich ein wenig wärmer und nicht mehr so wächsern an. Das arme kleine Ding. Hatte Greg recht? War Lord Fitton Leghs einziger Sohn und Erbe sein Kind? Ob es stimmte oder nicht, um des kleinen Jungen willen musste man Greg daran hindern, es auszuplaudern. Sie würde mit ihm darüber reden, wenn er nüchtern war, und ihm das Versprechen abnehmen, Stillschweigen zu bewahren.
 
Amber war die Einzige, die zum Frühstück heruntergekommen war. Greg schlief sicher seinen Rausch aus, und Wilson hatte ihr gesagt, ihre Großmutter habe leichte Kopfschmerzen und komme später herunter.
Als sie das Frühstückszimmer verließ, runzelte Amber die Stirn. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Großmutter je einmal nicht zum Frühstück erschienen wäre. Wenn Blanche Greg damit ihre Missbilligung zeigen wollte, dann war der Schuss nach hinten losgegangen.
Ein paar Minuten bei Rose, die heute Morgen viel besser aussah und sie tatsächlich anlächelte, hoben Ambers Stimmung, bis Dr. Brookes kam und ihr zeigte, wie verkrümmt die Beine des kleinen Mädchens waren. Er erklärte ihr, dass dies ein Zeichen für Rachitis sei und Gefahr bestehe, dass sich Roses verkümmerte Beinmuskulatur und Knochen nie wieder richtig erholten.
Was für einen schrecklichen Start ins Leben hatte die Kleine gehabt, unter so tragischen Umständen ihre Mutter zu verlieren und jetzt so krank zu sein. Sie tat Amber von Herzen leid. Es kam ihr grausam und ungerecht vor, vor allem, da Gregs Umstände ihr eigentlich einen besseren Start ins Leben hätten ermöglichen sollen. Greg sollte sich schämen, dass er seine Geliebte und sein Kind nicht besser behandelt hat, dachte Amber wütend. Jedes Kind verdiente es, geliebt zu werden, doch Greg empfand keine Liebe für die kleine Rose. Es fiel Amber schwer, das Verhalten ihres Cousins gegenüber Rose zu akzeptieren, und noch schwerer, es ihm zu verzeihen.
 
Greg stand im Bad und wurde von Krämpfen geschüttelt. Er hatte sich gerade heftig übergeben, und sein Kopf dröhnte. Aus Erfahrung wusste er, dass nichts anderes seinen Kopf und seinen Magen zu beruhigen vermochte als zwei Gläser Brandy, doch er wusste auch, dass die Flasche, die er am Vorabend mit nach oben genommen hatte, leer war.
Er betätigte die Spülung und merkte dann, dass er seine Blase erleichtern musste. Das helle Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, traf seine Augäpfel wie ein Schlag, und er musste blinzelnd den Blick senken.
Es war noch da, nässte jetzt ein wenig, rot und rau, aber nicht schmerzhaft, ein kleines Bläschen, völlig unbedeutend, wenn er nicht gewusst hätte, dass es sehr wohl von Bedeutung war. Als er Hongkong verlassen hatte, war es noch nicht da gewesen, und an dem Mädchen, das er in der letzten Nacht gehabt hatte, hatte er nichts bemerkt, aber er hatte auch nicht richtig hingesehen, dazu war er gar nicht in der Lage gewesen.
Er hatte es dem verdammten Jardine zu verdanken, dass ihm der heilige Schrecken in die Glieder gefahren war, denn der hatte darauf bestanden, dass der Arzt ihm kurz nach seiner Ankunft in Hongkong sämtliche Risiken eines Bordellbesuchs in allen Einzelheiten aufzählte.
Er konnte natürlich jederzeit den alten Brookes bitten, einen Blick darauf zu werfen. Es war sicher nichts Besonderes, nur eine kleine wunde Stelle. Doch dann würde er dastehen wie ein Idiot, und Brookes, das alte Klatschweib, würde sofort damit zu seiner Großmutter laufen. Besser, er behielt es für sich. Es war ja auch nichts. Nur eine kleine wunde Stelle. Nicht die geringste Chance, dass es das war … Er musste sich wieder übergeben.
 
»Ich habe solche Schuldgefühle wegen Rose«, sagte Amber zu Jay.
Sie waren in Jays Salon. Amber hatte vorbeigeschaut, um Jays Kinder zu sehen, die aus dem Kinderzimmer kurz nach unten gebracht worden waren, um sie zu begrüßen, und dann vom Kindermädchen wieder nach oben gescheucht worden waren. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Jay zu Hause war, und auch nicht damit, dass sie sich so sehr freuen würde, als sie hörte, dass er da war.
»Ich hätte viel mehr tun können. Greg Geld schicken, zum Beispiel.«
»Glaubst du wirklich, das hätte er für seine Geliebte und ihr Kind ausgegeben?«
»Du hattest recht, mich zu warnen, dass er sich sehr verändert hat«, räumte Amber traurig ein. »Ich erkenne ihn kaum wieder. In der einen Minute ist er unglaublich schlecht gelaunt, und in der nächsten …« Sie seufzte. »Er trinkt viel mehr, als gut für ihn sein kann. Was ist, warum schaust du so?«, wollte sie besorgt wissen.
»Ich will deine Sorgen nicht noch vergrößern, Amber, aber ich habe den Verdacht, dass das Glücksspiel nicht die einzige Sucht ist, die Greg sich in Hongkong zugelegt hat.«
»Sucht?«
»Wilson hat gesagt, wenn man Gregs neuem Kammerdiener Glauben schenken kann, dann raucht Greg regelmäßig Opium. Dr. Brookes scheint es jedenfalls für möglich zu halten. Deiner Großmutter haben wir noch nichts gesagt.«
»Opium?«
Amber war nicht mehr das naive Mädchen, das sie einmal gewesen war. Die Mitford-Schwestern mochten in gespielter Naivität über Mädchenhändler kichern, die unschuldigen jungen Dingern Opium gaben und sie außer Landes schafften, doch es war kein Geheimnis, dass in der besseren Gesellschaft etliche Männer und Frauen kokainabhängig waren, insbesondere Mitglieder der jungen High Society.
»Aber wenn er damit und mit dem vielen Alkohol aufhören würde, könnte er doch sicher wieder gesund werden, oder?«
»Ja«, stimmte Jay vorsichtig zu. Vermutlich glaubte er nicht, dass Greg je die Finger davon lassen würde.
Wie grausam das Leben doch war. Wer hätte je gedacht, dass Greg mit seinem unbeschwerten Charme und seinem Überschwang, abgöttisch geliebt von ihrer Großmutter und mit beneidenswerten Zukunftsaussichten, zu so einem schrecklichen und zerstörerischen Lebensstil hinabgezogen werden könnte?
»Wenn er nicht nach Hongkong gegangen wäre«, setzte sie an, um ihn zu verteidigen, doch Jay schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, die Schwäche liegt in Greg, Amber, nicht in seinen Lebensumständen.«
Es kam ihr treulos vor, es zuzugeben, doch im Herzen wusste Amber, dass Jay recht hatte.
»Es ist nicht zu spät, er kann sich noch ändern.«
»Wenn er es will«, stimmte Jay ihr zu.
»Glaubst du denn nicht, dass er es will?«
»Ich weiß es nicht, Amber. Wenn ich Greg im Augenblick anschaue, sehe ich einen selbstsüchtigen Mann, der sich in Selbstmitleid suhlt.«
Amber konnte nicht leugnen, dass die Beschreibung zutreffend war.
»Ich mache mir Sorgen um die kleine Rose«, sagte sie. »Großmutter hasst sie, und darauf, dass Greg ihr ein guter Vater ist, ist offensichtlich kein Verlass. Betsy und Sheila sind wunderbar, aber wenn sie aus irgendeinem Grund gehen, hat die Kleine niemanden mehr. Ich würde sie ja mit nach Hause nehmen, aber …«
»Ich verspreche dir, dass ihr nichts passiert«, versicherte Jay ihr. »Ich passe so gut auf sie auf, als wäre sie mein eigenes Kind, und ich halte dich über ihre Fortschritte auf dem Laufenden, darauf gebe ich dir mein Wort.«
»Oh, Jay, du bist so nett.« Tränen brannten in Ambers Augen, sie musste sie wegblinzeln. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, du bist immer so wunderbar freundlich und hilfsbereit.« Sie durfte nicht noch mehr sagen. Sie würde ihn in Verlegenheit bringen und, was noch gefährlicher war, Gefühle preisgeben, die ihr verboten waren. »Ich hatte gehofft, Lydia zu sehen«, sagte sie, um das Thema zu wechseln.
»Ich fürchte, das geht nicht. Ich musste gestern Abend Dr. Brookes herbitten. Wenn es ihr nicht gut geht, spricht sie manchmal davon, sich etwas anzutun, weil sie glaubt, sie wäre wertlos. Ich versichere ihr, dass das Unsinn ist, aber um ehrlich zu sein, glaube ich, dass meine Gegenwart die Situation nur verschlimmert. Dr. Brookes hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, sie schläft jetzt.«
»Jay, das tut mir sehr leid.« Voller Gewissensbisse, weil sie ihm auch noch ihre Probleme aufgeladen hatte, wo er doch genug eigene am Hals hatte, berührte Amber seinen Arm in einer zärtlichen Geste des Mitgefühls. »Und jetzt auch noch das. Du hast schon genug, worum du dich kümmern musst.«
»Nicht doch. Dein Verständnis und deine Freundlichkeit bedeuten mir sehr viel.«
Er hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Lydia war besonders gewalttätig gewesen, bevor sie in dem kranken Wunsch versunken war, sich zu bestrafen, der normalerweise ihren Wutausbrüchen folgte. Sie hatte seine Brust mit den Fingernägeln traktiert und tiefe Kratzer hinterlassen, die immer noch brannten. In Ambers Gegenwart, die seinem gequälten Herzen normalerweise so viel Trost bot, schmerzten sie heute noch mehr.
»Du bedeutest mir sehr viel, Amber. Sehr, sehr viel. Mehr, als gut ist.« Er hatte es nicht sagen wollen, doch es war zu spät, die Worte waren ausgesprochen, hatten ihn verraten und, was noch schlimmer war, Amber in Verlegenheit gebracht.
Jays Stimme, belegt und gepresst, hatte nur das wiederholt, was auch in ihrem Herzen war, wie Amber sich eingestehen musste, als sie einander in bedrücktem Schweigen ansahen. Sie sollte jetzt gehen, denn wenn sie nicht ginge … Doch sie sah in Jays Augen, was sich in ihren eigenen Augen widerspiegelte. Und dies veränderte das Schweigen, füllte es mit tausend feinen unausgesprochenen Hoffnungen und Versprechen.
Es lag schon lange zwischen ihnen, uneingestanden und gefährlich, und jetzt war es offen ausgesprochen worden.Verlangen, einmal erfahren, konnte nicht vergessen werden, und in den Jahren, da sie vom Mädchen zur Frau herangewachsen war, war auch ihre Sinnlichkeit gereift. Sie musste nicht überlegen, wie sie reagieren würde, wenn Jay sie berührte – sie wusste es. Umso stärker wünschte sie sich jetzt, er möge sie berühren.
Sie wollte ihn. Sie wollte, dass Jay sie glühend und leidenschaftlich berührte, schmeckte, ihre Sinne auf jede erdenkliche Art und Weise erfüllte.Tief in ihrem Körper pochte ein dumpfer Schmerz, ein so starkes Verlangen, dass es sich anfühlte wie ein Schrei unerfüllten Begehrens.
Sie musste gehen. Sie wandte sich ab, doch dann drehte sie sich wieder zu ihm um und überschritt die Grenze, die nie zu überschreiten sie sich geschworen hatte.
Sie lag in Jays Armen, ihr Herz pochte stürmisch, ihre Sinne erfassten in einem gierigen Schwindel alles, was sie von ihm zu packen bekamen, um seine Gegenwart auszukosten. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn mit derselben Leidenschaft, mit der er sie küsste. Es war wie die Hitze der Sonne nach der Kälte des Winters, Hoffnung nach einer Zeit der Verzweiflung, Leben nach Tod, der einzige Sinn und Zweck ihres Daseins.
»Ich wünsche mir schon so lange, dich so zu halten«, sagte Jay mit heiserer Stimme.
»Und ich dich«, flüsterte Amber.
Sie konnte nicht aufhören, sich nach Berührung zu sehnen, nach Nähe, das Wunder dieser Intimität nach all den Jahren der Dürre auszukosten. Und sie wollte noch viel mehr. Sie wollte sich mit ihm an einen abgelegenen Ort zurückziehen, um ihn mit jeder Faser kennenzulernen.
»Ich will dich so sehr.« Da, sie hatte es gesagt, zum Teufel mit den Folgen.
»Ich will dich noch mehr, und ich will dich schon viel länger«, antwortete Jay.
Sie lachte zitternd und strich mit den Fingerspitzen über seine Lippen, schloss die Augen vor der starken Welle des Verlangens, die sie überkam, als er ihre Hand nahm und ihre Fingerspitzen eine nach der anderen küsste.
»Wir sollten nicht …«, setzte sie an.
»Nein«, stimmte er ihr zu, ließ ihre Hand jedoch nicht los.
»Küss mich noch einmal«, bat sie ihn.
In seinen Armen zu liegen war genauso wunderbar wie in ihren Träumen. Mit ihm zusammen zu sein war, als würde sie nach Hause kommen, und sie …
»Na, was ist denn hier los? Oder brauche ich das gar nicht zu fragen?«
Sie fuhren im selben Augenblick auseinander, da sie Cassandras Stimme hörten, doch es war natürlich zu spät. Sie hatte sie gesehen.
»Ich bin doch sehr überrascht von dir, Jay, wo die arme Lydia so krank ist, aber bei den Pickfords war es natürlich schon immer gang und gäbe, anderen die Ehepartner auszuspannen und Ehen zu zerstören.«
Amber wollte vor den Worten zurückweichen, als wären es Schläge, und sich vor ihnen schützen, doch wie konnte sie das, wo sie doch so wohlverdient waren? Was sie getan hatte, war durch nichts zu rechtfertigen. Ihr war übel vor Scham und Schuld. Lydia war krank, und sie benahm sich so schändlich mit Lydias Mann. Bei anderen hätte sie ein solches Benehmen verachtet und verurteilt.
Die Schlange war in ihr Paradies eingedrungen und hatte die Schuldgefühle mitgebracht, die Amber für den Rest ihres Lebens verfolgen würden.
Wie hatte sie das nur zulassen können? Für Jay war es etwas anderes. Er war ein Mann, dessen Frau ihre Rolle in der Ehe nicht erfüllen konnte, ein Mann, belastet von der Sorge um eine kranke Frau, der – wie alle Männer – auch seine Bedürfnisse hatte.
Es wäre ihr Pflicht und ihre Verantwortung gewesen, ihn aufzuhalten, ungeachtet ihrer eigenen Gefühle, ungeachtet dessen, wie stürmisch und quälend, wie überwältigend und stark diese waren. Doch das hatte sie nicht getan, und jetzt musste sie den Preis dafür bezahlen.