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»Greg, geht es dir
gut?« Es war das zweite Mal in zwölf Stunden, dass Amber einem
Familienangehörigen diese Frage stellen musste, doch obwohl sie
Gefahr lief, sich zu wiederholen, hätte auch der unbeteiligtste
Zuschauer in Gregs Fall sofort gewusst, warum sie ihn das
fragte.
Greg hatte während
des ganzen Abendessens getrunken, und Amber hegte den Verdacht,
dass er auch schon getrunken hatte, bevor er reichlich spät nach
unten gekommen war.
Jetzt waren sie
allein in ihrem alten Lieblingsraum, dem Billardzimmer, und Greg
trank immer noch, schenkte sich aus der mitgebrachten Ginflasche
immer wieder nach.
»Natürlich geht’s
mir gut«, antwortete er bitter. »Gott, hast du Zigaretten, Amber?
Mir sind sie ausgegangen, und ich würde verdammt gern eine
rauchen.«
»Tut mir leid, ich
habe keine.« Sie war nie eine begeisterte Raucherin gewesen, und im
Winter nach Lucs Geburt, als sie und Luc schrecklich erkältet
gewesen waren, hatte sie ganz aufgehört.
Greg warf das Queue,
das er vom Ständer genommen hatte, mit solcher Wucht auf den grünen
Fries des Billardtischs, dass Amber zusammenzuckte.
Diese Gereiztheit,
die während des Abendessens mehr als einmal aufgeflackert war,
schockierte sie fast genauso sehr wie die äußerlichen
Veränderungen. Ihr fröhlicher, gut aussehender Cousin war
verschwunden, ein Fremder hatte seinen Platz
eingenommen.
Der Gelbstich, der
auch die Haut der kleinen Rose tönte, ließ Gregs Haut blässlich und
kränklich aussehen. Seine Augen waren rot gerändert, und seine
Hände fanden keine Ruhe. Wenn er sprach, dann in quengelndem,
selbstmitleidigem Tonfall, bei dem ihre Großmutter die Lippen fest
zusammenkniff.
»Man sollte doch
meinen, jede normale Großmutter wäre froh und erleichtert, wenn sie
ihren einzigen Enkel und Erben sicher zu Hause in die Arme
schließen kann, aber wir beide wissen natürlich, dass unsere
Großmutter kein bisschen normal ist. Himmel, Amber, sie ist hart.
Ich meine, wessen Schuld ist es denn, dass ich überhaupt nach
Hongkong musste, verdammt noch mal? Meine jedenfalls nicht. Sie hat
doch darauf bestanden, dass ich da hinfahre und von einem
Hungerlohn lebe.«
»Ich dachte, du
wolltest gehen«, widersprach Amber. »Du schienst so glücklich zu
sein dort, besonders nachdem du Lionel kennengelernt hattest. Das
hast du in deinen Briefen geschrieben.«
»Das war, bevor der
hinterhältige Scheißkerl mich aufs Kreuz gelegt hat. Wenn er nicht
wäre, wäre ich inzwischen so gut wie mit Lucy verheiratet und
…«
»Lucy? Hast du Roses
Mutter so genannt?«
»Diese Schlampe
hätte ich heiraten sollen? Ich wünschte, ich hätte sie nie
kennengelernt. Die zwei, sie und der verdammte Lionel, haben mein
Leben zerstört.«
Amber zuckte vor der
Feindseligkeit in Gregs Stimme zurück. »Das verstehe ich nicht«,
sagte sie. »Was ist passiert?«
Als Greg fertig war
mit seiner Erzählung, wie er mit dem Glücksspiel und den
Hurenhäusern von Hongkong bekannt gemacht worden war und wie er
Lucy begegnet war und sich in sie verliebt hatte, war Amber
schockiert und angewidert – von Greg ebenso wie von seinem
hinterhältigen Freund.
Wie hatte das
passieren können? Wie konnte der Cousin, den sie so bewundert und
geliebt hatte, sich in diesen unmoralischen Mann verwandeln, der
nicht das geringste Bewusstsein für seine Fehler besaß, ganz zu
schweigen von irgendeiner Spur Schamgefühl?
»Wenn du Lucy
liebst, wäre es vielleicht besser gewesen, in Hongkong zu bleiben
und dich ihr zu Füßen zu werfen«, wandte Amber vorsichtig
ein.
»Sie hätte mich
geheiratet, wenn Lionel sie nicht gegen mich aufgehetzt hätte«,
fuhr Greg fort, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. »Ich habe ihr
von Großmutters Plänen für mich erzählt und dass ich wahrscheinlich
noch einen Titel bekomme. Also, wenn sie Lionel heiratet, diesen
hundserbärmlichen Lumpen, wird sie sich nie Lady irgendwas nennen
können.«
Amber hörte Gregs
Tirade mit wachsender Traurigkeit zu. »Jetzt beschwert Großmutter
sich darüber, dass ich ein Kind gezeugt habe. Ja, was zum Teufel
hat sie denn erwartet? Dass ich lebe wie ein Mönch?« Er hatte
heftig zu schwitzen angefangen, seine Bewegungen und seine Worte
waren fahrig und unkoordiniert.
»Ich glaube,
Großmutter war sehr betroffen über deine Schulden, Greg«, sagte
Amber leise.
»Sie war betroffen!« Er lachte schrill. »Das ist
wirklich köstlich. Sie war aber nicht so betroffen, dass sie mir
Geld geschickt hätte, um sie zu begleichen, oder? Die Chinesen
lieben das Glücksspiel, aber sie hassen Verlierer. Weißt du, was
sie da drüben machen, wenn man seine Spielschulden nicht bezahlen
kann? Als Erstes schneiden sie einem die Hand ab, Finger für
Finger, und dann …«
Greg hatte eine
volle Flasche Gin mit ins Billardzimmer genommen, doch jetzt war
sie leer, und in einem plötzlichen Anflug von Gewalt nahm er sie
und warf sie gegen die Wand. Scherben spritzten über das Parkett,
während er sich in einen Sessel fallen ließ, den Kopf in den Händen
verbarg und anfing, unbeherrscht zu schluchzen.
»Wenn Lucy mich
geheiratet hätte, wäre alles gut geworden«, weinte er. »Lionel hat
Chung Hai so lange aufgehetzt, bis der verlangt hat, dass ich alle
meine Schulden begleiche. Lionel wusste, dass ich das nicht konnte.
Ich musste diese Schecks ausstellen, Amber … ich hatte keine Wahl …
und als Chung Hai mir dann gedroht hat, weil ich Henry Jardines
Unterschrift gefälscht hatte, und von mir verlangt hat, dass ich
noch weitere Schecks unterschreibe – da wusste ich, dass ich so
nicht weitermachen konnte und fliehen musste. Die Überfahrt hat
mich den letzten Penny gekostet. Der verdammte Kapitän hat genau
gewusst, dass ich am Ende war und er mir abknöpfen konnte, was er
wollte. Ich wusste nicht, dass diese blöde Schlampe mir zum Hafen
gefolgt war und sich mit dem Balg auf dem Schiff versteckt
hatte.«
»Sie wollte sicher
unbedingt mit dir zusammen sein, Greg.«
»Wollte wohl eher
dafür sorgen, dass sich ihr Goldesel nicht verdrückt«, fuhr Greg
heftig auf.
»Also, wenigstens
hast du die kleine Rose sicher nach Hause gebracht.«
»Glaubst du
wirklich, ich wollte das? Das habe ich doch nur ein paar verdammten
Missionaren zu verdanken, die ihre Nase in Dinge gesteckt haben,
die sie nichts angingen, und sich eingemischt haben. Das Balg wäre
besser mit seiner Mutter gestorben.«
»Du meinst, wie
Carolines Kind?«, fragte Amber leise.
Eine Minute lang
dachte sie, er würde gar nichts sagen. Sein Gesicht wurde
dunkelrot, und er starrte sie wütend an, dann stand er auf und
schob sich an ihr vorbei.
»Das war nicht meine
Schuld. Ich habe ihr gesagt, wir müssten vorsichtiger sein, wir
hätten Glück gehabt, dass wir mit dem ersten durchgekommen sind«,
lachte Greg trunken. »Das würde Großmutter gefallen, was, dass
Fitton Leghs kostbarer Sohn in Wahrheit von einem Pickford gezeugt
wurde?«
Amber konnte sich
nicht rühren. Greg war so betrunken, dass er vermutlich gar nicht
recht wusste, was er da redete.
»Was meinst du?«,
fragte er Amber. »Soll ich es der Alten sagen?«
»Greg, ich glaube
nicht …«
»Was glaubst du
nicht?« Jetzt wurde er wütend. »Glaubst du, ich weiß nicht, wovon
ich rede? Also, dann lass dir gesagt sein, dass ich es ganz genau
weiß. Noch bevor das Balg auf die Welt kam, hat Caroline
geschworen, dass es meines ist; sie hat behauptet, Fitton Legh
bekäme keinen hoch, hätte noch nie einen hochbekommen. Kein Wunder,
dass Cassandra ihn geheiratet hat – die zwei geben ein hübsches
Pärchen ab. Das Balg ist von mir, Amber.«
Bevor sie zu Bett
ging, ging Amber hinauf in den Kindertrakt, wo sie das
Kindermädchen, das sich als Betsys Cousine Sheila vorstellte, für
die späte Störung um Verzeihung bat.
»Heut Abend hat die
Kleine ihre Säuglingsnahrung unten behalten«, erklärte sie Amber
mit fröhlicher Stimme, als sie in das abgedunkelte Schlafzimmer
trat, wo das kleine Mädchen tief und fest in seinem Kinderbettchen
schlief.
»Unsere Betsy hat
mir erzählt, dass die kleine Rose Sie gleich ins Herz geschlossen
hat, Euer Gnaden. Bestimmt vermisst sie ihre Mutter.«
Amber beugte sich
vor und fuhr Rose zärtlich über die Wange. Ihre Haut fühlte sich
ein wenig wärmer und nicht mehr so wächsern an. Das arme kleine
Ding. Hatte Greg recht? War Lord Fitton Leghs einziger Sohn und
Erbe sein Kind? Ob es stimmte oder nicht, um des kleinen Jungen
willen musste man Greg daran hindern, es auszuplaudern. Sie würde
mit ihm darüber reden, wenn er nüchtern war, und ihm das
Versprechen abnehmen, Stillschweigen zu bewahren.
Amber war die
Einzige, die zum Frühstück heruntergekommen war. Greg schlief
sicher seinen Rausch aus, und Wilson hatte ihr gesagt, ihre
Großmutter habe leichte Kopfschmerzen und komme später
herunter.
Als sie das
Frühstückszimmer verließ, runzelte Amber die Stirn. Sie konnte sich
nicht daran erinnern, dass ihre Großmutter je einmal nicht zum
Frühstück erschienen wäre. Wenn Blanche Greg damit ihre
Missbilligung zeigen wollte, dann war der Schuss nach hinten
losgegangen.
Ein paar Minuten bei
Rose, die heute Morgen viel besser aussah und sie tatsächlich
anlächelte, hoben Ambers Stimmung, bis Dr. Brookes kam und ihr
zeigte, wie verkrümmt die Beine des kleinen Mädchens waren. Er
erklärte ihr, dass dies ein Zeichen für Rachitis sei und Gefahr
bestehe, dass sich Roses verkümmerte Beinmuskulatur und Knochen nie
wieder richtig erholten.
Was für einen
schrecklichen Start ins Leben hatte die Kleine gehabt, unter so
tragischen Umständen ihre Mutter zu verlieren und jetzt so krank zu
sein. Sie tat Amber von Herzen leid. Es kam ihr grausam und
ungerecht vor, vor allem, da Gregs Umstände ihr eigentlich einen
besseren Start ins Leben hätten ermöglichen sollen. Greg sollte
sich schämen, dass er seine Geliebte und sein Kind nicht besser
behandelt hat, dachte Amber wütend. Jedes Kind verdiente es,
geliebt zu werden, doch Greg empfand keine Liebe für die kleine
Rose. Es fiel Amber schwer, das Verhalten ihres Cousins gegenüber
Rose zu akzeptieren, und noch schwerer, es ihm zu
verzeihen.
Greg stand im Bad
und wurde von Krämpfen geschüttelt. Er hatte sich gerade heftig
übergeben, und sein Kopf dröhnte. Aus Erfahrung wusste er, dass
nichts anderes seinen Kopf und seinen Magen zu beruhigen vermochte
als zwei Gläser Brandy, doch er wusste auch, dass die Flasche, die
er am Vorabend mit nach oben genommen hatte, leer war.
Er betätigte die
Spülung und merkte dann, dass er seine Blase erleichtern musste.
Das helle Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, traf seine
Augäpfel wie ein Schlag, und er musste blinzelnd den Blick
senken.
Es war noch da,
nässte jetzt ein wenig, rot und rau, aber nicht schmerzhaft, ein
kleines Bläschen, völlig unbedeutend, wenn er nicht gewusst hätte,
dass es sehr wohl von Bedeutung war. Als er Hongkong verlassen
hatte, war es noch nicht da gewesen, und an dem Mädchen, das er in
der letzten Nacht gehabt hatte, hatte er nichts bemerkt, aber er
hatte auch nicht richtig hingesehen, dazu war er gar nicht in der
Lage gewesen.
Er hatte es dem
verdammten Jardine zu verdanken, dass ihm der heilige Schrecken in
die Glieder gefahren war, denn der hatte darauf bestanden, dass der
Arzt ihm kurz nach seiner Ankunft in Hongkong sämtliche Risiken
eines Bordellbesuchs in allen Einzelheiten aufzählte.
Er konnte natürlich
jederzeit den alten Brookes bitten, einen Blick darauf zu werfen.
Es war sicher nichts Besonderes, nur eine kleine wunde Stelle. Doch
dann würde er dastehen wie ein Idiot, und Brookes, das alte
Klatschweib, würde sofort damit zu seiner Großmutter laufen.
Besser, er behielt es für sich. Es war ja auch nichts. Nur eine
kleine wunde Stelle. Nicht die geringste Chance, dass es
das war … Er musste sich wieder
übergeben.
»Ich habe solche
Schuldgefühle wegen Rose«, sagte Amber zu Jay.
Sie waren in Jays
Salon. Amber hatte vorbeigeschaut, um Jays Kinder zu sehen, die aus
dem Kinderzimmer kurz nach unten gebracht worden waren, um sie zu
begrüßen, und dann vom Kindermädchen wieder nach oben gescheucht
worden waren. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Jay zu Hause
war, und auch nicht damit, dass sie sich so sehr freuen würde, als
sie hörte, dass er da war.
»Ich hätte viel mehr
tun können. Greg Geld schicken, zum Beispiel.«
»Glaubst du
wirklich, das hätte er für seine Geliebte und ihr Kind
ausgegeben?«
»Du hattest recht,
mich zu warnen, dass er sich sehr verändert hat«, räumte Amber
traurig ein. »Ich erkenne ihn kaum wieder. In der einen Minute ist
er unglaublich schlecht gelaunt, und in der nächsten …« Sie
seufzte. »Er trinkt viel mehr, als gut für ihn sein kann. Was ist,
warum schaust du so?«, wollte sie besorgt wissen.
»Ich will deine
Sorgen nicht noch vergrößern, Amber, aber ich habe den Verdacht,
dass das Glücksspiel nicht die einzige Sucht ist, die Greg sich in
Hongkong zugelegt hat.«
»Sucht?«
»Wilson hat gesagt,
wenn man Gregs neuem Kammerdiener Glauben schenken kann, dann
raucht Greg regelmäßig Opium. Dr. Brookes scheint es jedenfalls für
möglich zu halten. Deiner Großmutter haben wir noch nichts
gesagt.«
»Opium?«
Amber war nicht mehr
das naive Mädchen, das sie einmal gewesen war. Die
Mitford-Schwestern mochten in gespielter Naivität über
Mädchenhändler kichern, die unschuldigen jungen Dingern Opium gaben
und sie außer Landes schafften, doch es war kein Geheimnis, dass in
der besseren Gesellschaft etliche Männer und Frauen kokainabhängig
waren, insbesondere Mitglieder der jungen High
Society.
»Aber wenn er damit
und mit dem vielen Alkohol aufhören würde, könnte er doch sicher
wieder gesund werden, oder?«
»Ja«, stimmte Jay
vorsichtig zu. Vermutlich glaubte er nicht, dass Greg je die Finger
davon lassen würde.
Wie grausam das
Leben doch war. Wer hätte je gedacht, dass Greg mit seinem
unbeschwerten Charme und seinem Überschwang, abgöttisch geliebt von
ihrer Großmutter und mit beneidenswerten Zukunftsaussichten, zu so
einem schrecklichen und zerstörerischen Lebensstil hinabgezogen
werden könnte?
»Wenn er nicht nach
Hongkong gegangen wäre«, setzte sie an, um ihn zu verteidigen, doch
Jay schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, die
Schwäche liegt in Greg, Amber, nicht in seinen
Lebensumständen.«
Es kam ihr treulos
vor, es zuzugeben, doch im Herzen wusste Amber, dass Jay recht
hatte.
»Es ist nicht zu
spät, er kann sich noch ändern.«
»Wenn er es will«,
stimmte Jay ihr zu.
»Glaubst du denn
nicht, dass er es will?«
»Ich weiß es nicht,
Amber. Wenn ich Greg im Augenblick anschaue, sehe ich einen
selbstsüchtigen Mann, der sich in Selbstmitleid
suhlt.«
Amber konnte nicht
leugnen, dass die Beschreibung zutreffend war.
»Ich mache mir
Sorgen um die kleine Rose«, sagte sie. »Großmutter hasst sie, und
darauf, dass Greg ihr ein guter Vater ist, ist offensichtlich kein
Verlass. Betsy und Sheila sind wunderbar, aber wenn sie aus
irgendeinem Grund gehen, hat die Kleine niemanden mehr. Ich würde
sie ja mit nach Hause nehmen, aber …«
»Ich verspreche dir,
dass ihr nichts passiert«, versicherte Jay ihr. »Ich passe so gut
auf sie auf, als wäre sie mein eigenes Kind, und ich halte dich
über ihre Fortschritte auf dem Laufenden, darauf gebe ich dir mein
Wort.«
»Oh, Jay, du bist so
nett.« Tränen brannten in Ambers Augen, sie musste sie wegblinzeln.
»Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, du bist immer so
wunderbar freundlich und hilfsbereit.« Sie durfte nicht noch mehr
sagen. Sie würde ihn in Verlegenheit bringen und, was noch
gefährlicher war, Gefühle preisgeben, die ihr verboten waren. »Ich
hatte gehofft, Lydia zu sehen«, sagte sie, um das Thema zu
wechseln.
»Ich fürchte, das
geht nicht. Ich musste gestern Abend Dr. Brookes herbitten. Wenn es
ihr nicht gut geht, spricht sie manchmal davon, sich etwas anzutun,
weil sie glaubt, sie wäre wertlos. Ich versichere ihr, dass das
Unsinn ist, aber um ehrlich zu sein, glaube ich, dass meine
Gegenwart die Situation nur verschlimmert. Dr. Brookes hat ihr ein
Beruhigungsmittel gegeben, sie schläft jetzt.«
»Jay, das tut mir
sehr leid.« Voller Gewissensbisse, weil sie ihm auch noch ihre
Probleme aufgeladen hatte, wo er doch genug eigene am Hals hatte,
berührte Amber seinen Arm in einer zärtlichen Geste des Mitgefühls.
»Und jetzt auch noch das. Du hast schon genug, worum du dich
kümmern musst.«
»Nicht doch. Dein
Verständnis und deine Freundlichkeit bedeuten mir sehr
viel.«
Er hatte die ganze
Nacht kaum ein Auge zugetan. Lydia war besonders gewalttätig
gewesen, bevor sie in dem kranken Wunsch versunken war, sich zu
bestrafen, der normalerweise ihren Wutausbrüchen folgte. Sie hatte
seine Brust mit den Fingernägeln traktiert und tiefe Kratzer
hinterlassen, die immer noch brannten. In Ambers Gegenwart, die
seinem gequälten Herzen normalerweise so viel Trost bot, schmerzten
sie heute noch mehr.
»Du bedeutest mir sehr viel, Amber. Sehr, sehr viel.
Mehr, als gut ist.« Er hatte es nicht sagen wollen, doch es war zu
spät, die Worte waren ausgesprochen, hatten ihn verraten und, was
noch schlimmer war, Amber in Verlegenheit gebracht.
Jays Stimme, belegt
und gepresst, hatte nur das wiederholt, was auch in ihrem Herzen
war, wie Amber sich eingestehen musste, als sie einander in
bedrücktem Schweigen ansahen. Sie sollte jetzt gehen, denn wenn sie
nicht ginge … Doch sie sah in Jays Augen, was sich in ihren eigenen
Augen widerspiegelte. Und dies veränderte das Schweigen, füllte es
mit tausend feinen unausgesprochenen Hoffnungen und
Versprechen.
Es lag schon lange
zwischen ihnen, uneingestanden und gefährlich, und jetzt war es
offen ausgesprochen worden.Verlangen, einmal erfahren, konnte nicht
vergessen werden, und in den Jahren, da sie vom Mädchen zur Frau
herangewachsen war, war auch ihre Sinnlichkeit gereift. Sie musste
nicht überlegen, wie sie reagieren würde, wenn Jay sie berührte –
sie wusste es. Umso stärker wünschte sie sich jetzt, er möge sie
berühren.
Sie wollte ihn. Sie
wollte, dass Jay sie glühend und leidenschaftlich berührte,
schmeckte, ihre Sinne auf jede erdenkliche Art und Weise
erfüllte.Tief in ihrem Körper pochte ein dumpfer Schmerz, ein so
starkes Verlangen, dass es sich anfühlte wie ein Schrei unerfüllten
Begehrens.
Sie musste gehen.
Sie wandte sich ab, doch dann drehte sie sich wieder zu ihm um und
überschritt die Grenze, die nie zu überschreiten sie sich
geschworen hatte.
Sie lag in Jays
Armen, ihr Herz pochte stürmisch, ihre Sinne erfassten in einem
gierigen Schwindel alles, was sie von ihm zu packen bekamen, um
seine Gegenwart auszukosten. Sie schlang ihm die Arme um den Hals
und küsste ihn mit derselben Leidenschaft, mit der er sie küsste.
Es war wie die Hitze der Sonne nach der Kälte des Winters, Hoffnung
nach einer Zeit der Verzweiflung, Leben nach Tod, der einzige Sinn
und Zweck ihres Daseins.
»Ich wünsche mir
schon so lange, dich so zu halten«, sagte Jay mit heiserer
Stimme.
»Und ich dich«,
flüsterte Amber.
Sie konnte nicht
aufhören, sich nach Berührung zu sehnen, nach Nähe, das Wunder
dieser Intimität nach all den Jahren der Dürre auszukosten. Und sie
wollte noch viel mehr. Sie wollte sich mit ihm an einen abgelegenen
Ort zurückziehen, um ihn mit jeder Faser
kennenzulernen.
»Ich will dich so
sehr.« Da, sie hatte es gesagt, zum Teufel mit den
Folgen.
»Ich will dich noch
mehr, und ich will dich schon viel länger«, antwortete
Jay.
Sie lachte zitternd
und strich mit den Fingerspitzen über seine Lippen, schloss die
Augen vor der starken Welle des Verlangens, die sie überkam, als er
ihre Hand nahm und ihre Fingerspitzen eine nach der anderen
küsste.
»Wir sollten nicht
…«, setzte sie an.
»Nein«, stimmte er
ihr zu, ließ ihre Hand jedoch nicht los.
»Küss mich noch
einmal«, bat sie ihn.
In seinen Armen zu
liegen war genauso wunderbar wie in ihren Träumen. Mit ihm zusammen
zu sein war, als würde sie nach Hause kommen, und sie
…
»Na, was ist denn
hier los? Oder brauche ich das gar nicht zu fragen?«
Sie fuhren im selben
Augenblick auseinander, da sie Cassandras Stimme hörten, doch es
war natürlich zu spät. Sie hatte sie gesehen.
»Ich bin doch sehr
überrascht von dir, Jay, wo die arme Lydia so krank ist, aber bei
den Pickfords war es natürlich schon immer gang und gäbe, anderen
die Ehepartner auszuspannen und Ehen zu zerstören.«
Amber wollte vor den
Worten zurückweichen, als wären es Schläge, und sich vor ihnen
schützen, doch wie konnte sie das, wo sie doch so wohlverdient
waren? Was sie getan hatte, war durch nichts zu rechtfertigen. Ihr
war übel vor Scham und Schuld. Lydia war krank, und sie benahm sich
so schändlich mit Lydias Mann. Bei anderen hätte sie ein solches
Benehmen verachtet und verurteilt.
Die Schlange war in
ihr Paradies eingedrungen und hatte die Schuldgefühle mitgebracht,
die Amber für den Rest ihres Lebens verfolgen würden.
Wie hatte sie das
nur zulassen können? Für Jay war es etwas anderes. Er war ein Mann,
dessen Frau ihre Rolle in der Ehe nicht erfüllen konnte, ein Mann,
belastet von der Sorge um eine kranke Frau, der – wie alle Männer –
auch seine Bedürfnisse hatte.
Es wäre ihr Pflicht
und ihre Verantwortung gewesen, ihn aufzuhalten, ungeachtet ihrer
eigenen Gefühle, ungeachtet dessen, wie stürmisch und quälend, wie
überwältigend und stark diese waren. Doch das hatte sie nicht
getan, und jetzt musste sie den Preis dafür bezahlen.