50
Endlich war es
vorbei, die Reste des Truthahns waren in der Speisekammer verstaut,
und der Abwasch war erledigt. Ihre Großmutter war auf ihr Zimmer
gegangen, um sich auszuruhen, die Kinderfrau hatte Rose und Emerald
mit hinauf in den Kindertrakt genommen, um sie zu Bett zu bringen.
Endlich konnte Amber aufhören, so zu tun, als wäre der Tag etwas
anderes gewesen als eine schreckliche Tortur und als hätte sie ihn
nicht in jeder Minute mit anderen, glücklicheren Weihnachtsfesten
verglichen.
In Fitton Hall
würden die Festlichkeiten zweifellos noch andauern. Die Fitton
Leghs hatten mehrere Gäste und Mitglieder der weitläufigen
Fitton-Legh-Familie eingeladen. Sie würden Scharaden und andere
Spiele spielen, und das Haus wäre erfüllt von Freude und Gelächter.
Auch Amber hatte Weihnachten früher so gefeiert und erwartet, es
auch in Zukunft so feiern zu können. In einem Zimmer würden sie die
Teppiche zusammenrollen und ein Grammophon aufstellen, damit die,
die Lust dazu hatten, tanzen konnten. Sie hatte noch nie mit Jay
getanzt.
Amber wirbelte
unbeholfen herum und stieß mit einem Küchenstuhl zusammen, blind
vor Tränen, die zu vergießen sie kein Recht zu haben glaubte. Wenn
sie weinen musste, dann sollte sie um ihren toten Mann und ihren
toten Sohn weinen, und nicht wegen der Tatsache, dass sie noch nie
mit dem Mann getanzt hatte, mit dem zu tanzen sie nicht das Recht
hatte.
»Du kommst also
nicht mit uns zum Bahnhof, um Jay zu verabschieden und ihm alles
Gute zu wünschen?«
»Nein,
Großmutter.«
»Nun, die Leute
werden das seltsam finden.«
»Bestimmt denken sie
sich gar nichts dabei. Die merken doch nicht mal, dass ich nicht da
bin. Ich muss jetzt los, ich habe ein paar Briefe zu
schreiben.«
»Amber, ich muss
dich etwas fragen, bevor ich gehe.«
Jay! Sie hatte sich
schon vorher in Anwesenheit anderer von ihm verabschiedet, es war
nicht nötig, dass er sie jetzt aufsuchte. Mit brennenden Ohren
drehte sie sich zu ihm um.
Er trug natürlich
seine Uniform. Hauptmann Jay Fulshawe. Man hatte ihn zum Hauptmann
ernannt, nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen
hatte.
»Wenn mir etwas
zustoßen sollte, möchte ich, dass du die Vormundschaft über die
Mädchen übernimmst«, sagte er ohne Einleitung. »Sie kennen und
lieben dich.«
Was war mit Bunty –
warum fragte er nicht sie? Die Worte lagen ihr auf der Zunge, doch
sie schaffte es zum Glück, sie hinunterzuschlucken.
»Ich …«
»Hier sind die
entsprechenden Unterlagen. Ich habe sie unterzeichnet und meine
Unterschrift bezeugen lassen. Ich bitte dich nicht um meinetwillen,
sondern wegen der Mädchen. Du weißt, was es bedeutet, Waise zu
sein. Du bist der einzige Mensch, dem ich zutraue, sie zu verstehen
und ihnen zu helfen. Ihnen Liebe zu geben.«
Sie wollte sich
weigern, doch wie konnte sie? Es wäre boshaft und kleinlich. Was
zwischen ihr und Jay war, war nicht die Schuld der
Mädchen.
»Du lässt mir keine
Wahl«, sagte sie. »Es wäre netter gewesen, wenn du mich vorher
gefragt hättest.«
»Das hätte ich tun
sollen, ja, aber es war nicht viel Zeit. Wir werden nach … wir
brechen früher auf, als ich ursprünglich erwartet
hatte.«
Sie wurden an die
Front geschickt – das sprach er nicht offen aus. Ihr war eiskalt
und brennend heiß zugleich.
»Ich nehme an, ich
muss auch unterzeichnen, nicht wahr?«
»Ja, hier«, sagte
er, legte das Dokument auf den Tisch und beugte sich darüber, um
ihr die entsprechende Stelle zu zeigen.
Er roch anders,
nicht so, wie sie ihn kannte, sondern nach einem anderen Jay, nach
Khaki und Leder, nach militärischer Disziplin und nach
Krieg.
Amber zitterte. Weil
er so nah bei ihr stand? Nein, weil sie Robert und Luc betrog,
indem sie mit ihm allein war.
»Jemand wird meine
Unterschrift bezeugen müssen«, sagte sie.
»Ich gehe deine
Großmutter holen.«
»Jay, warte bitte
einen Augenblick.« Sie sah ihm an, dass er befürchtete, sie hätte
es sich anders überlegt. Schreckliche Traurigkeit überkam sie. Ihre
Hand zitterte leicht, als sie die Schreibtischschublade
aufzog.
»Das ist für dich«,
sagte sie und holte das kleine Stoffquadrat heraus, das sie vor
Wochen dort hineingelegt hatte, als sie erfahren hatte, dass er in
den Krieg ziehen würde.
Sie sah zu, wie er
es auseinanderfaltete.
»Es ist eine unserer
seidenen Landkarten für den Notfall«, erklärte sie
überflüssigerweise. »Aber du hast natürlich schon eine bekommen
…«
»Nein, habe ich
nicht, Amber …«
»Wir holen jetzt
wohl besser jemanden, der uns diese Unterschrift bezeugt, nicht
wahr?«
»Ja«, sagte er
leise. »Ich gehe deine Großmutter suchen.«
Bis Jay mit ihrer
Großmutter zurückkehrte, hatte Amber sich wieder
gefangen.
Ihre Hand zitterte,
als sie ihren Namen schrieb, doch dann war es erledigt. Im Falle
seines Todes wäre sie der rechtliche Vormund von Jays
Töchtern.
Der Blick ihrer
Großmutter verriet Amber, dass sie erwartete, dass sie es sich
anders überlegte und mit den anderen zum Bahnhof ging, um Jay zu
verabschieden, doch sie konnte nicht.
»Ich kümmere mich
darum, dass Mr Mackenzie die Papiere bekommt«, ließ sie Jay wissen.
Mr Mackenzie war der Sekretär des Anwalts ihrer
Großmutter.
Ihre Großmutter war
zu den anderen in die Halle gegangen, sie waren
allein.
»Danke.«
Sie wusste, dass er
sie ansah, doch sie konnte seinen Blick nicht
erwidern.
Das angespannte
Schweigen im Raum lastete schwer auf ihnen. Sie spürte, dass Jay
zögerte, wartete, wollte, dass sie sich umdrehte und ihn anschaute,
doch sie tat es nicht. Sie hörte, wie er langsam ausatmete, als
bereitete es ihm Schmerzen, und dann ging er zur Tür, öffnete sie
und schloss sie leise hinter sich.
Vom Fenster der
Bibliothek sah sie die Automobile zum Bahnhof fahren. Sein
Großvater würde nicht da sein. Er war erkältet, und außerdem war es
natürlich sowieso schwierig für ihn, irgendwo hinzukommen, aber
vielleicht würde Cassandra zum Bahnhof fahren und Bunty natürlich
mit ihrem unaufrichtigen Lächeln und ihrer augenfälligen
Bewunderung.
Vor ihrem geistigen
Auge hatte Amber plötzlich ein Bild von Robert, der sie ziemlich
traurig ansah.
»Ich gehe wegen dir
und Luc nicht hin«, sagte sie energisch. »Das weißt
du.«
Bruno war aus der
Küche herbeigetappt, um sich neben sie zu setzen und sich an sie zu
lehnen, als spürte er ihren Schmerz und ihr Bedürfnis nach
Trost.