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Endlich war es vorbei, die Reste des Truthahns waren in der Speisekammer verstaut, und der Abwasch war erledigt. Ihre Großmutter war auf ihr Zimmer gegangen, um sich auszuruhen, die Kinderfrau hatte Rose und Emerald mit hinauf in den Kindertrakt genommen, um sie zu Bett zu bringen. Endlich konnte Amber aufhören, so zu tun, als wäre der Tag etwas anderes gewesen als eine schreckliche Tortur und als hätte sie ihn nicht in jeder Minute mit anderen, glücklicheren Weihnachtsfesten verglichen.
In Fitton Hall würden die Festlichkeiten zweifellos noch andauern. Die Fitton Leghs hatten mehrere Gäste und Mitglieder der weitläufigen Fitton-Legh-Familie eingeladen. Sie würden Scharaden und andere Spiele spielen, und das Haus wäre erfüllt von Freude und Gelächter. Auch Amber hatte Weihnachten früher so gefeiert und erwartet, es auch in Zukunft so feiern zu können. In einem Zimmer würden sie die Teppiche zusammenrollen und ein Grammophon aufstellen, damit die, die Lust dazu hatten, tanzen konnten. Sie hatte noch nie mit Jay getanzt.
Amber wirbelte unbeholfen herum und stieß mit einem Küchenstuhl zusammen, blind vor Tränen, die zu vergießen sie kein Recht zu haben glaubte. Wenn sie weinen musste, dann sollte sie um ihren toten Mann und ihren toten Sohn weinen, und nicht wegen der Tatsache, dass sie noch nie mit dem Mann getanzt hatte, mit dem zu tanzen sie nicht das Recht hatte.
 
»Du kommst also nicht mit uns zum Bahnhof, um Jay zu verabschieden und ihm alles Gute zu wünschen?«
»Nein, Großmutter.«
»Nun, die Leute werden das seltsam finden.«
»Bestimmt denken sie sich gar nichts dabei. Die merken doch nicht mal, dass ich nicht da bin. Ich muss jetzt los, ich habe ein paar Briefe zu schreiben.«
 
»Amber, ich muss dich etwas fragen, bevor ich gehe.«
Jay! Sie hatte sich schon vorher in Anwesenheit anderer von ihm verabschiedet, es war nicht nötig, dass er sie jetzt aufsuchte. Mit brennenden Ohren drehte sie sich zu ihm um.
Er trug natürlich seine Uniform. Hauptmann Jay Fulshawe. Man hatte ihn zum Hauptmann ernannt, nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen hatte.
»Wenn mir etwas zustoßen sollte, möchte ich, dass du die Vormundschaft über die Mädchen übernimmst«, sagte er ohne Einleitung. »Sie kennen und lieben dich.«
Was war mit Bunty – warum fragte er nicht sie? Die Worte lagen ihr auf der Zunge, doch sie schaffte es zum Glück, sie hinunterzuschlucken.
»Ich …«
»Hier sind die entsprechenden Unterlagen. Ich habe sie unterzeichnet und meine Unterschrift bezeugen lassen. Ich bitte dich nicht um meinetwillen, sondern wegen der Mädchen. Du weißt, was es bedeutet, Waise zu sein. Du bist der einzige Mensch, dem ich zutraue, sie zu verstehen und ihnen zu helfen. Ihnen Liebe zu geben.«
Sie wollte sich weigern, doch wie konnte sie? Es wäre boshaft und kleinlich. Was zwischen ihr und Jay war, war nicht die Schuld der Mädchen.
»Du lässt mir keine Wahl«, sagte sie. »Es wäre netter gewesen, wenn du mich vorher gefragt hättest.«
»Das hätte ich tun sollen, ja, aber es war nicht viel Zeit. Wir werden nach … wir brechen früher auf, als ich ursprünglich erwartet hatte.«
Sie wurden an die Front geschickt – das sprach er nicht offen aus. Ihr war eiskalt und brennend heiß zugleich.
»Ich nehme an, ich muss auch unterzeichnen, nicht wahr?«
»Ja, hier«, sagte er, legte das Dokument auf den Tisch und beugte sich darüber, um ihr die entsprechende Stelle zu zeigen.
Er roch anders, nicht so, wie sie ihn kannte, sondern nach einem anderen Jay, nach Khaki und Leder, nach militärischer Disziplin und nach Krieg.
Amber zitterte. Weil er so nah bei ihr stand? Nein, weil sie Robert und Luc betrog, indem sie mit ihm allein war.
»Jemand wird meine Unterschrift bezeugen müssen«, sagte sie.
»Ich gehe deine Großmutter holen.«
»Jay, warte bitte einen Augenblick.« Sie sah ihm an, dass er befürchtete, sie hätte es sich anders überlegt. Schreckliche Traurigkeit überkam sie. Ihre Hand zitterte leicht, als sie die Schreibtischschublade aufzog.
»Das ist für dich«, sagte sie und holte das kleine Stoffquadrat heraus, das sie vor Wochen dort hineingelegt hatte, als sie erfahren hatte, dass er in den Krieg ziehen würde.
Sie sah zu, wie er es auseinanderfaltete.
»Es ist eine unserer seidenen Landkarten für den Notfall«, erklärte sie überflüssigerweise. »Aber du hast natürlich schon eine bekommen …«
»Nein, habe ich nicht, Amber …«
»Wir holen jetzt wohl besser jemanden, der uns diese Unterschrift bezeugt, nicht wahr?«
»Ja«, sagte er leise. »Ich gehe deine Großmutter suchen.«
Bis Jay mit ihrer Großmutter zurückkehrte, hatte Amber sich wieder gefangen.
Ihre Hand zitterte, als sie ihren Namen schrieb, doch dann war es erledigt. Im Falle seines Todes wäre sie der rechtliche Vormund von Jays Töchtern.
Der Blick ihrer Großmutter verriet Amber, dass sie erwartete, dass sie es sich anders überlegte und mit den anderen zum Bahnhof ging, um Jay zu verabschieden, doch sie konnte nicht.
»Ich kümmere mich darum, dass Mr Mackenzie die Papiere bekommt«, ließ sie Jay wissen. Mr Mackenzie war der Sekretär des Anwalts ihrer Großmutter.
Ihre Großmutter war zu den anderen in die Halle gegangen, sie waren allein.
»Danke.«
Sie wusste, dass er sie ansah, doch sie konnte seinen Blick nicht erwidern.
Das angespannte Schweigen im Raum lastete schwer auf ihnen. Sie spürte, dass Jay zögerte, wartete, wollte, dass sie sich umdrehte und ihn anschaute, doch sie tat es nicht. Sie hörte, wie er langsam ausatmete, als bereitete es ihm Schmerzen, und dann ging er zur Tür, öffnete sie und schloss sie leise hinter sich.
Vom Fenster der Bibliothek sah sie die Automobile zum Bahnhof fahren. Sein Großvater würde nicht da sein. Er war erkältet, und außerdem war es natürlich sowieso schwierig für ihn, irgendwo hinzukommen, aber vielleicht würde Cassandra zum Bahnhof fahren und Bunty natürlich mit ihrem unaufrichtigen Lächeln und ihrer augenfälligen Bewunderung.
Vor ihrem geistigen Auge hatte Amber plötzlich ein Bild von Robert, der sie ziemlich traurig ansah.
»Ich gehe wegen dir und Luc nicht hin«, sagte sie energisch. »Das weißt du.«
Bruno war aus der Küche herbeigetappt, um sich neben sie zu setzen und sich an sie zu lehnen, als spürte er ihren Schmerz und ihr Bedürfnis nach Trost.