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Weihnachten 1937
Das also war es. Sie
hatte es natürlich gewusst, die Anzeichen waren unverkennbar
gewesen, selbst wenn sie sich alle Mühe gegeben hatte, sie nicht zu
beachten. Doch nun hatte sie den unwiderlegbaren Beweis, und dank
ihrer Vogel-Strauß-Haltung war es inzwischen zu spät, um noch etwas
dagegen zu unternehmen.
Amber legte die Hand
auf ihren gnädigerweise noch flachen Bauch. Hätte sie das Leben,
das in ihr heranreifte, zerstören können, wenn dies noch möglich
gewesen wäre? Warum nicht? Würde sie nicht andere Leben zerstören,
wenn sie es nicht tat? Das Leben ihres Sohnes, der so tat, als
ließe ihn Weihnachten völlig kalt, seine Vorfreude aber kaum
verhehlen konnte; das Leben ihrer eigenen Familie; ihre Großmutter,
die vor ein paar Tagen aus Macclesfield angereist war, um
Weihnachten bei ihnen zu verbringen, im Schlepptau den immer noch
zornigen Greg und die kleine Rose; ihr eigenes Leben mit seiner
Wohltätigkeitsarbeit; ihr Engagement in der Seidenfabrik und
natürlich ihr geliebter und sehr erfolgreicher Laden. Das Leben
ihres Ehemanns, der bereits ihre Trennung plante, bevor er
überhaupt von diesem Kind wusste.
Seit ihrer Rückkehr
aus Frankreich hatte Robert kaum mit ihr gesprochen, hielt sich
räumlich wie emotional von ihr fern. Nachdem auf Anordnung der
Regierung inzwischen sein Briefverkehr überwacht wurde und man ihn
ausdrücklich gewarnt hatte, er dürfe unter keinen Umständen
versuchen, mit Otto in Kontakt zu treten oder gar das Land zu
verlassen, machte Robert keinen Hehl daraus, dass er Amber die
Schuld an allem gab. Wenn er doch das Wort an sie richtete, war
seine Stimme kalt und schneidend, doch die meiste Zeit ging er ihr
einfach aus dem Weg. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er
verkünden würde, dass er seine Anwälte hinzugezogen und ihre
Trennung in die Wege geleitet hatte. Der Umstand, dass sie
Jean-Philippes Kind unter dem Herzen trug, konnte die Trennung nur
beschleunigen – und im Nachhinein auch rechtfertigen.
Im besten Fall wäre
sie Gegenstand zahlreicher Klatschgeschichten, schlimmstenfalls
fiele sie vollkommen in Ungnade. Doch um ihre eigene Lage machte
sie sich die wenigsten Gedanken, am meisten sorgte sie sich um Luc.
Luc, der den Mann anbetete, den er für seinen Vater hielt. Dass Luc
die väterliche Liebe verlieren sollte, ängstigte und bekümmerte sie
weitaus mehr als der Umstand, dass Luc womöglich Roberts Titel und
den Besitz verlieren würde. Nachdem sie nun zum zweiten Mal
schwanger war, würde Robert sich sicher bemüßigt fühlen, öffentlich
bekannt zu geben, dass er nicht Lucs leiblicher Vater war. Sie
hatte gehofft, Robert werde Luc trotz ihrer Trennung auch weiterhin
als seinen Sohn behandeln und ihm seine Liebe schenken. Robert
hatte gesagt, er wolle nicht, dass Luc verletzt würde. Doch diese
zweite Schwangerschaft änderte alles.
Anfangs hatte sie es
kaum glauben können – und noch weniger glauben wollen -, als sich
die morgendliche Übelkeit eingestellt hatte. Doch jetzt hatte ihr
der gepflegte und sehr diskrete Londoner Arzt, den sie vor einiger
Zeit konsultiert hatte, bestätigt, ein Irrtum sei unmöglich und sie
sei tatsächlich schwanger.
Sie erhob sich von
dem Hocker vor ihrer Frisierkommode, auf dem sie die letzte halbe
Stunde gesessen hatte, nachdem sie die Zofe weggeschickt
hatte.
Robert war am
Nachmittag aus London gekommen, um Weihnachten mit der Familie zu
verbringen. Jetzt war er wohl in seinem Schlafzimmer, wo er sich
zum Abendessen umzog. Sie musste es ihm sagen, je früher, desto
besser. Um Lucs willen musste sie ihn anflehen, ihn nicht zu
verleugnen.Würde er sich darauf einlassen? Konnte er hinauswachsen
über die Bitterkeit, die er ihr entgegenbrachte, und sich als
großzügig erweisen, oder war das einfach zu viel
verlangt?
An Heiligabend aßen
sie immer eine Stunde früher zu Abend, damit noch Zeit blieb, die
Dienstboten in der Halle unter dem riesigen Weihnachtsbaum zu
bescheren.
Weihnachten. Ein
Fest, an dem man dankbar war für die Geburt eines Kindes. Aber
nicht dankbar für ihr Kind.
Eine Träne lief ihr
die Wange hinunter und blitzte im Licht auf wie ein Diamant, bevor
sie sie wegwischte. Für Tränen war es zu spät. Jetzt konnte sie nur
noch der Wirklichkeit ins Gesicht sehen.
Sie ging zu der
Verbindungstür zwischen ihren Schlafzimmern, klopfte kurz an und
trat dann in Roberts Zimmer.
Seine Züge hatten in
den letzten Monaten eine gewisse Strenge und Bitterkeit angenommen,
die noch ausgeprägter wurden, wenn er sie ansah.
»Ich muss mit dir
reden, bevor wir zum Essen hinuntergehen«, sagte sie.
»Allein.«
»Danke, Hulme«,
entließ Robert seinen Kammerdiener, wartete ab, bis der den Raum
verlassen hatte, und fragte Amber dann: »Möchtest du dich
setzen?«
Amber schüttelte den
Kopf. Robert hatte gesagt, er würde es ihr niemals verzeihen, dass
sie ihn gegen seinen Willen nach England zurückgebracht hatte, und
sie wusste, dass er es auch so gemeint hatte. In den letzten
Monaten hatte er eine unnachgiebige Willenskraft gezeigt, von der
sie gar nicht gewusst hatte, dass er sie besaß, und hatte sich aus
der tiefen Verzweiflung emporgekämpft, in die er nach der Rückkehr
aus Frankreich verfallen war.
Während jener ersten
Wochen, als Winston Churchill ihm angedroht hatte, ihn unter
Hausarrest zu stellen, sollte er versuchen, nach Deutschland zu
gelangen, hatte Amber nicht nur um sein Leben gebangt, sondern auch
um seine geistige Gesundheit. Es spielte keine Rolle, dass das
alles nur zu seinem Besten geschah und weil ihnen etwas an ihm lag;
er hatte zu Amber gesagt, dem Leid, das sie ihm auferlegten, sei
der Tod wahrlich vorzuziehen.
Am Ende hatte
Churchill ihn aus seiner Verzweiflung herausgeholt, indem er ihn
daran erinnerte, dass er seinem Vaterland gegenüber eine Pflicht
habe, die er vor seine Gefühle setzen müsse.
»Es fällt mir nicht
leicht, es dir zu sagen«, begann Amber. »Ich wollte nicht … ich
hätte mir nie vorgestellt … aber ich bin schwanger.«
Robert hatte sich
von ihr abgewandt, als sie zu sprechen angefangen hatte, und
schwieg so lange, dass Amber sich schon fragte, ob er sie überhaupt
verstanden hatte. Schließlich sagte er mit schwerer Stimme: »Ja,
das habe ich mir schon gedacht.«
»Du hast es
gewusst?«
Er schaute sie an,
und sein Mund setzte zu dem Lächeln an, das sie immer so geliebt
hatte, verhärtete sich dann jedoch zu einer zynischen
Grimasse.
»Besonders schwer
war es ja nicht zu erraten, bei deiner morgendlichen Übelkeit. Ich
nehme an, Jean-Philippe ist der Vater?«
»Ja«, gestand Amber
beschämt ein. »Jetzt wirst du unsere Trennung natürlich
beschleunigen wollen oder vielleicht sogar die Scheidung
einreichen? Ich könnte es verstehen, aber, Robert, bitte lass uns
Luc aus der Sache heraushalten. Er verehrt dich so, und wenn er
jetzt herausfinden müsste, dass du nicht sein Vater …«
»Das traust du mir
zu?« Zorn war an die Stelle des Zynismus getreten. »Du hältst ja
nicht besonders viel von mir, Amber. Luc ist mein Sohn und wird es immer bleiben, nichts
kann daran etwas ändern, das liegt mir wirklich fern. Gerade wegen
Luc habe ich ja von Anfang an gesagt, dass wir bei unserer Trennung
behutsam vorgehen müssen, damit er niemals daran zweifelt, dass wir
ihn beide lieben, auch wenn wir nicht mehr als Paar zusammenleben.
Wegen Luc habe ich bisher auch gezögert, eine Trennung in die Wege
zu leiten; ich wollte erst mit ihm reden. Jetzt allerdings müssen
wir es angehen, die zeitliche Planung ist natürlich noch heikler
geworden. Vielleicht sollte ich auch sagen, bei der Scheidung
spielt der richtige Zeitpunkt eine wichtige Rolle.«
Amber stieß einen
zittrigen Seufzer der Erleichterung aus. Robert würde Luc nicht
wehtun. Er liebte ihn und betrachtete ihn immer noch als seinen
Sohn. Das hatte er gesagt, und sie hatte gespürt, dass es ihm damit
ernst war. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Wann soll das Kind
auf die Welt kommen?«
»Ende
Mai.«
»Dann wirst du die
Scheidung so rasch wie möglich über die Bühne bringen wollen, damit
du Jean-Philippe heiraten kannst, ehe das Kind kommt.«
Amber war entsetzt.
»Das steht überhaupt nicht zur Debatte, für keinen von uns.
Jean-Philippe … das war nicht geplant, ein Ausrutscher, eine
einmalige Sache, keine Affäre auf Dauer.«
»Aber du liebst ihn,
und wenn er bereit wäre, dich zu heiraten, würdest du
…«
»Nein, ich liebe ihn
nicht«, sagte Amber schwankend. »Was zwischen uns war, ist
Vergangenheit.«
Mehr brachte sie
nicht über die Lippen. Es tat ihr unglaublich weh, so zu reden,
zumal sie Robert nicht sagen konnte, dass der Anblick seiner
Erniedrigung und seines Schmerzes mit verantwortlich war für die
Empfängnis dieses Kindes, das sie weder wollte noch je würde lieben
können, dem sie als Mutter aber moralisch verpflichtet
war.
»Hast du schon
irgendwem davon erzählt?«, fragte Robert.
»Nein, ich wollte
nicht … das heißt, ich hatte gehofft, dass ich mich
täusche.«
»Vermutlich ist es
jetzt zu spät …«
»Ja«, kam Amber ihm
zuvor, »ja, für einen Abbruch ist es zu spät.«
»Dann wäre es,
glaube ich, unter den Umständen das Beste, wenn wir uns nicht
scheiden ließen, vor allem in Lucs Interesse.«
»Keine Scheidung?
Aber …«
»Du sagst, du hast
nicht vor, Jean-Philippe zu heiraten. In dem Fall gibt es keinen
Grund, warum wir uns den schmuddeligen Unannehmlichkeiten einer
Scheidung aussetzen sollten, schließlich müsste einer von uns
zugeben, dass er mit einem Dritten im Bett war, und die nötigen
Beweise dazu liefern.«
Amber wurde übel,
und diesmal war es nicht wegen ihrer Schwangerschaft. Laut Gesetz
konnte eine Scheidung nur dann ausgesprochen werden, wenn einer der
Ehepartner zugab, Ehebruch begangen zu haben, und somit die Schuld
auf sich nahm. Es war schon vorgekommen, dass jemand, der die
Scheidung wünschte, irgendwen angeheuert hatte, um die Nacht mit
ihm oder ihr zu verbringen, um über das nötige Beweismaterial zu
verfügen; tatsächlich hatte sich das Ganze zu einem richtigen
Geschäftszweig ausgewachsen, bei dem ein gewisser Typ junger Frauen
gemietet werden konnte, um den Ruf der Gattin oder der Geliebten zu
schützen. Robert hatte natürlich jedes Recht, sich von ihr scheiden
zu lassen, da sie ja bereits Schuld auf sich geladen hatte. Eine
Trennung war die bei weitem respektablere und angenehmere
Lösung.
»Wenn du dir ganz
sicher bist, dass du dich nicht von mir scheiden lassen willst …«,
war alles, was sie hervorbrachte.
»Vollkommen sicher«,
versetzte Robert und fügte hinzu: »Ich glaube nicht, dass wir jetzt
schon irgendwen in unsere Pläne einweihen müssen. Luc sollte
natürlich unsere Hauptsorge gelten. Was das Baby angeht, so bin ich
Luc zuliebe bereit, es als meines anzuerkennen, wenn du das
möchtest. Ich möchte nicht, dass Luc irgendwie darunter leidet oder
in der Schule von den anderen Jungen verspottet wird. Ich muss dich
aber warnen, dass ich es nicht sehen möchte und nichts mit ihm oder
mit dir zu tun haben möchte. Ich werde es nie auf dieselbe Art als
mein Kind ansehen wie Luc. Tatsächlich halte ich es für das Beste,
wenn wir nach Weihnachten vollkommen getrennt voneinander leben.
Natürlich wird das alles rechtliche Auswirkungen haben, aber wir
werden bestimmt einen Weg finden. Luc ist und bleibt mein Erbe,
während dieses Kind …«
Er unterbrach sich,
als er sah, dass Amber zu weinen begonnen hatte. »Tut mir leid. Ich
wollte dir nicht wehtun.«
»Das hast du auch
nicht.« Sie weinte vor Erleichterung, vor Erleichterung und
Schuldgefühlen. Erleichterung, weil er sie nicht zwang, aller Welt
ihre Umstände zu erklären, und Schuldgefühle, weil sie sich so sehr
wünschte, sie hätte dieses Kind nie empfangen.
»Es wird vermutlich
ziemlich schwierig, Luc von Bruno zu trennen, wenn er in die Schule
zurückmuss«, meinte Amber zu Robert, als sie durch das Fenster
zusahen, wie Luc mit dem jungen Labrador über den gefrorenen Rasen
tobte.
»Keineswegs. Luc ist
alt und intelligent genug, um zu begreifen und zu akzeptieren, dass
eine Schule nicht der richtige Ort für einen Hund ist und dass
Landhunde aufs Land gehören. Jarvis sagt, Bruno würde einen guten
Jagdhund abgeben, wenn er erst einmal richtig abgerichtet ist. Bis
er so weit ist, wird Luc selbst alt genug sein, um ihn zum Schießen
mitzunehmen.«
»Robert, er ist noch
ein kleiner Junge.«
»Ich war fünf, als
ich zum ersten Mal mit dem Gewehr rausgegangen bin. Es gehört zu
seiner Stellung einfach dazu, Amber. Du hast ja auch nichts
dagegen, dass er die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner
studiert oder dass deine Großmutter ihn an seine Manieren
erinnert.«
Amber seufzte
kleinlaut. Am zweiten Weihnachtsfeiertag war Luc ein Stück mit der
Jagd mitgegangen und hatte anschließend den ganzen Tag von nichts
anderem mehr geredet. Robert tat gut daran, darauf zu bestehen,
dass Luc all diese Dinge lernte, die er eines Tages können musste,
doch für sie war Luc immer noch ihr kleiner Junge, auch wenn er
sich Rose gegenüber schon als erwachsen und fürsorglich
zeigte.
Sie empfand die
kühle Stimmung, die seit ihrer Rückkehr aus Frankreich zwischen ihr
und Robert herrschte, als sehr bedrückend. Sie vermisste die Wärme
seines neckenden Lächelns, die Scherze, die er früher so gern
gemacht hatte. Sie vermisste auch die Bewunderung, die er ihrer
Erscheinung immer entgegengebracht hatte, und sein Interesse an
ihren Aktivitäten. Es fühlte sich an, als wäre ihr eine warme Decke
von den Schultern gezogen worden, sodass sie einer Kälte ausgesetzt
war, die ihr bis tief in die Seele drang. War es ihr Schicksal, all
die männlichen Freunde zu verlieren, die ihr etwas bedeuteten,
zuerst Jay und jetzt auch noch Robert? Sie mochte Robert nicht wie
einen Ehemann und Liebhaber lieben, aber die Liebe hatte
schließlich viele Facetten. Und nun würde sie von ihm getrennt
leben müssen, während sie sich auf die Geburt ihres Kindes und das
formelle Ende ihrer Ehe vorbereitete. Sie vermisste den Robert, den
sie geheiratet hatte, sehr. Dieser Robert, Ottos Robert, war nicht
ihr Robert. Dieser Robert würde ihr, wie er bereits angekündigt
hatte, niemals verzeihen.
Amber schaute durch
die Fenster des königlichen Ruheraums in Osterby, wie das kleine
Zimmerchen neben dem Schlafzimmer in den Prunkräumen genannt wurde,
und ließ den Blick über den Landschaftsgarten zum Graben schweifen,
hinter dem die Rehe im Park das Futter fraßen, das man ihnen auf
den verharschten Schnee gestreut hatte.
Mehrere bitterkalte
Frostnächte nach einem Schneefall hatten die Landschaft in ein
herrliches Kontrastbild von Schwarz und Silberweiß
verwandelt.
Am nächsten Tag
würde ihre Großmutter mit Greg und Rose nach Macclesfield
zurückkehren, am Tag darauf würden Robert und Luc nach London
fahren und Robert würde Luc ins Internat bringen, während sie in
Osterby bleiben sollte.
Sie hatte viel zu
tun, und außerdem war sie nicht in der Stimmung für Gesellschaft.
Ihr schmerzte immer noch der Kopf von der Konfrontation mit Greg,
als der sich wieder einmal über Blanches Testamentsänderung
beschwert hatte.
Bildete sie es sich
nur ein, oder sah ihr Cousin wirklich so aus, als ginge es ihm
gesundheitlich noch schlechter, seit sie ihn das letzte Mal gesehen
hatte? Er wirkte jedenfalls dünner, und die geplatzten Äderchen auf
seiner Nase und seinen Wangen traten noch deutlicher hervor. Seine
Zähne hatten sich verfärbt, und Amber musste, zwischen Mitleid und
Verzweiflung hin- und hergerissen, den Blick abwenden, wenn sie
sah, wie seine Hände zitterten oder wie er mitten im Satz den Faden
verlor und einfach verstummte.
Sie brauchte etwas
frische Luft, um die Kopfschmerzen zu vertreiben, und auch den
traurigen Geruch nach Verzweiflung und Schuld, den das Haus zu
verströmen schien.
Wie alle Landsitze
besaß auch Osterby einen Raum, wo allerhand Arbeitsmäntel, Hüte und
Gummistiefel aufbewahrt wurden, doch Amber ging nach oben, um sich
ihren eigenen warmen Tweedmantel anzuziehen. Sie wand sich einen
Schal um Hut und Hals und schlüpfte in ein paar feste Schuhe, bevor
sie in die eiskalte Luft hinaustrat.
Es war so kalt, dass
ihr Lungen und Nase brannten, und obwohl sie Handschuhe trug,
musste sie die Hände tief in die Taschen ihres Tweedmantels
stecken, um nicht zu frieren. Sie ging über die Terrasse und dann
die Stufen hinunter in den formellen Garten, und von dort aus in
den eigentlichen Park.
Die Rehe schauten
desinteressiert auf, als sie an ihnen vorbeiging. Ihr Kummer lag
ihr bleischwer auf der Brust. Robert würde ihr niemals verzeihen,
dass sie ihn von Otto getrennt hatte, und doch täte sie es wieder,
wenn sie noch einmal vor dieser Entscheidung stünde.
Der Klang von Lucs
Gelächter holte sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und
entdeckte Robert und Luc, die auf sie zukamen. Luc rannte mit
seinem Hund voraus.
»Schau, Mummy, wie
schlau Bruno ist«, rief er aufgeregt, bückte sich nach dem Ball,
mit dem der Hund gespielt hatte, und schleuderte ihn in ihre
Richtung.
Amber sah, wie er in
hohem Bogen auf sie zuflog, ohne darauf zu achten, dass ihr der
Hund vor die Füße lief, und im nächsten Augenblick war sie auch
schon über ihn gestolpert.
Sie hörte sich im
selben Moment aufschreien, da Roberts Warnruf ertönte, und dann sah
sie ihn auf sich zurennen, während sie auf dem Boden lag und von
einem scharfen Schmerz durchbohrt wurde.
Robert kniete neben
ihr, Luc stand unsicher daneben. »Alles in Ordnung?«, fragte Robert
heiser.
»Ich weiß nicht.
Mein … ich habe Schmerzen.«
Sie sah die
Erkenntnis dunkel in seinen Augen aufschimmern. Er wandte sich ab
und schaute zum Haus. Er würde sie hier liegen lassen. Schmerz und
Schuldgefühle stritten sich in ihr, doch am Ende behielt der
Schmerz die Oberhand. Darüber hörte Amber, wie Robert sagte: »Luc,
sei ein guter Junge und lauf zum Haus. Sag Bates, er soll Dr.
Archer anrufen. Schnell. Sag ihm, dass es dringend
ist.«
Die Schmerzen waren
so heftig, dass sie kaum noch Luft bekam.
»Komisch, wie sich
manche Dinge regeln«, stieß sie hervor, während Robert neben ihr
saß und ihre Hand hielt. »Wir wollen dieses Kind beide nicht. Ich
frage mich, ob es das spürt.«
»Sei still.« Roberts
Hand schloss sich fester um ihre. Dann sah er auf. »Deine
Großmutter kommt und, wie es aussieht, der halbe
Haushalt.«
»Es tut mir leid,
Robert, furchtbar leid«, wisperte Amber, als sie erneut eine
Schmerzwelle erfasste und schließlich in die Dunkelheit
hinabzog.
Langsam kam sie zu
sich; als erster Sinn kehrte der Geruchssinn zurück: Sie roch Frost
und Erde und ihre eigene Angst, die sich mit dem Parfüm ihrer
Großmutter vermischte.
Widerstrebend schlug
sie die Augen auf. Blanche hatte Roberts Platz übernommen und
blickte grimmig auf sie herab.
»Was für ein
Irrsinn, bei so kaltem Wetter spazieren zu gehen«, schalt sie, als
hätte sie das mit dem Baby irgendwie schon erraten.
»Der Arzt ist da«,
meldete Robert.
Dr. Archer war ein
altmodischer Landarzt von ruhigem Wesen und langsamer Sprechweise.
Unter seiner Anleitung wurde Amber auf einer Trage in ihr Zimmer
hinaufgebracht, wo er sie gründlich untersuchen
wollte.
»Ich vermute, Sie
haben sich die eine oder andere Rippe gebrochen«, erklärte
er.
Er wandte sich
Robert zu, der sich zu ihm hinunterbeugte und ihm etwas
zuraunte.
»Ah, ja, verstehe.
Nun denn, dann müssen wir einfach das Beste hoffen …«
Der Arzt blieb eine
ganze Stunde. Nachdem er gegangen war, kam Robert zu ihr ins
Zimmer.
»Hast du mit Dr.
Archer gesprochen?«, fragte sie teilnahmslos.
»Ja. Du sollst ein
paar Tage ruhen, und falls du anfängst zu bluten, müssen wir ihn
sofort rufen lassen.«
»Ja«, stimmte Amber
ihm zu.
Robert war ans
Fenster getreten, das auf den Park hinausging, in dem Amber
spazieren gewesen war. Als er sich wieder umdrehte, war seine Miene
düster und verschlossen, sodass sie nicht sagen konnte, was er
dachte.
Während der Nacht
blutete sie ein wenig, sagte aber niemandem Bescheid. Sie zog sich
ganz in sich selbst zurück, zog sich zurück von dem Kind in ihrem
Leib und verschloss sich vor dem lauten Protest ihres
Mutterinstinkts, doch am Morgen hatte die Blutung aufgehört, und am
Ende der Woche verkündete Dr. Archer, das Baby sei in Sicherheit
und sie könne wieder aufstehen.
Ihre Schuldgefühle
drückten sie jedoch schwer. Im Kindertrakt nahm sie Rose auf den
Schoß und spürte, wie ihre Liebe zu Gregs Tochter ihr das starre
Herz erwärmte. Wenn sie Gregs unerwünschtes mutterloses Kind lieben
konnte, warum konnte sie dann für das Kind, das in ihr heranwuchs,
keine Liebe empfinden?
Sie liebte Luc um
seiner selbst willen – bestimmt konnte sie das neue Kind auch
lieben, wenn es erst einmal auf der Welt war. Aber was war, wenn
sie es nicht lieben konnte?
Rose zappelte auf
Ambers Schoß herum, weil sie merkte, dass diese in Gedanken ganz
woanders war. Pflichtbewusst drückte Amber ihr einen Kuss auf den
seidigen dunklen Scheitel. Roses fernöstliche Mandelaugen, die
einen starken Kontrast zu ihrem makellosen englischen Rosenmündchen
bildeten, verliehen ihren Zügen exotische Schönheit.
Sie wünschte, dass
Greg ihrem Vorschlag zugestimmt hätte, Rose bei ihr zu lassen, wenn
er und Blanche nach Macclesfield zurückkehrten, doch er war immer
noch sehr zornig auf sie und hatte ihr die Bitte glattweg
abgeschlagen.
Sie hatte viele
Pläne für das neue Jahr geschmiedet: neue Stoffe für den Laden,
hoffentlich neue Aufträge vom National Trust, ihre Idee, aus den
Entwürfen ihres Vaters und Vanbrughs detaillierten
Architekturzeichnungen ein Musterarchiv für Denham Place
einzurichten. Doch nun musste sie die Bedürfnisse des neuen Lebens,
das sie unter dem Herzen trug, an erste Stelle rücken. Dabei war
ihr der Laden so wichtig.
Wichtiger als das
Leben ihres Kindes?
Schuld und Groll
stießen aufeinander. Sie wollte kein zweites Kind von
Jean-Philippe. Wie sollte sie Jay gegenübertreten? Wenn es sein
Kind gewesen wäre … Und dennoch war sie Jean-Philippe unendlich
dankbar. Dankbar dafür, dass er ihr einen Teil ihrer selbst
zurückgegeben hatte. Aber nicht für das Kind, das in ihr
heranwuchs.