45
 
Weihnachten 1937
 
Das also war es. Sie hatte es natürlich gewusst, die Anzeichen waren unverkennbar gewesen, selbst wenn sie sich alle Mühe gegeben hatte, sie nicht zu beachten. Doch nun hatte sie den unwiderlegbaren Beweis, und dank ihrer Vogel-Strauß-Haltung war es inzwischen zu spät, um noch etwas dagegen zu unternehmen.
Amber legte die Hand auf ihren gnädigerweise noch flachen Bauch. Hätte sie das Leben, das in ihr heranreifte, zerstören können, wenn dies noch möglich gewesen wäre? Warum nicht? Würde sie nicht andere Leben zerstören, wenn sie es nicht tat? Das Leben ihres Sohnes, der so tat, als ließe ihn Weihnachten völlig kalt, seine Vorfreude aber kaum verhehlen konnte; das Leben ihrer eigenen Familie; ihre Großmutter, die vor ein paar Tagen aus Macclesfield angereist war, um Weihnachten bei ihnen zu verbringen, im Schlepptau den immer noch zornigen Greg und die kleine Rose; ihr eigenes Leben mit seiner Wohltätigkeitsarbeit; ihr Engagement in der Seidenfabrik und natürlich ihr geliebter und sehr erfolgreicher Laden. Das Leben ihres Ehemanns, der bereits ihre Trennung plante, bevor er überhaupt von diesem Kind wusste.
Seit ihrer Rückkehr aus Frankreich hatte Robert kaum mit ihr gesprochen, hielt sich räumlich wie emotional von ihr fern. Nachdem auf Anordnung der Regierung inzwischen sein Briefverkehr überwacht wurde und man ihn ausdrücklich gewarnt hatte, er dürfe unter keinen Umständen versuchen, mit Otto in Kontakt zu treten oder gar das Land zu verlassen, machte Robert keinen Hehl daraus, dass er Amber die Schuld an allem gab. Wenn er doch das Wort an sie richtete, war seine Stimme kalt und schneidend, doch die meiste Zeit ging er ihr einfach aus dem Weg. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er verkünden würde, dass er seine Anwälte hinzugezogen und ihre Trennung in die Wege geleitet hatte. Der Umstand, dass sie Jean-Philippes Kind unter dem Herzen trug, konnte die Trennung nur beschleunigen – und im Nachhinein auch rechtfertigen.
Im besten Fall wäre sie Gegenstand zahlreicher Klatschgeschichten, schlimmstenfalls fiele sie vollkommen in Ungnade. Doch um ihre eigene Lage machte sie sich die wenigsten Gedanken, am meisten sorgte sie sich um Luc. Luc, der den Mann anbetete, den er für seinen Vater hielt. Dass Luc die väterliche Liebe verlieren sollte, ängstigte und bekümmerte sie weitaus mehr als der Umstand, dass Luc womöglich Roberts Titel und den Besitz verlieren würde. Nachdem sie nun zum zweiten Mal schwanger war, würde Robert sich sicher bemüßigt fühlen, öffentlich bekannt zu geben, dass er nicht Lucs leiblicher Vater war. Sie hatte gehofft, Robert werde Luc trotz ihrer Trennung auch weiterhin als seinen Sohn behandeln und ihm seine Liebe schenken. Robert hatte gesagt, er wolle nicht, dass Luc verletzt würde. Doch diese zweite Schwangerschaft änderte alles.
Anfangs hatte sie es kaum glauben können – und noch weniger glauben wollen -, als sich die morgendliche Übelkeit eingestellt hatte. Doch jetzt hatte ihr der gepflegte und sehr diskrete Londoner Arzt, den sie vor einiger Zeit konsultiert hatte, bestätigt, ein Irrtum sei unmöglich und sie sei tatsächlich schwanger.
Sie erhob sich von dem Hocker vor ihrer Frisierkommode, auf dem sie die letzte halbe Stunde gesessen hatte, nachdem sie die Zofe weggeschickt hatte.
Robert war am Nachmittag aus London gekommen, um Weihnachten mit der Familie zu verbringen. Jetzt war er wohl in seinem Schlafzimmer, wo er sich zum Abendessen umzog. Sie musste es ihm sagen, je früher, desto besser. Um Lucs willen musste sie ihn anflehen, ihn nicht zu verleugnen.Würde er sich darauf einlassen? Konnte er hinauswachsen über die Bitterkeit, die er ihr entgegenbrachte, und sich als großzügig erweisen, oder war das einfach zu viel verlangt?
An Heiligabend aßen sie immer eine Stunde früher zu Abend, damit noch Zeit blieb, die Dienstboten in der Halle unter dem riesigen Weihnachtsbaum zu bescheren.
Weihnachten. Ein Fest, an dem man dankbar war für die Geburt eines Kindes. Aber nicht dankbar für ihr Kind.
Eine Träne lief ihr die Wange hinunter und blitzte im Licht auf wie ein Diamant, bevor sie sie wegwischte. Für Tränen war es zu spät. Jetzt konnte sie nur noch der Wirklichkeit ins Gesicht sehen.
Sie ging zu der Verbindungstür zwischen ihren Schlafzimmern, klopfte kurz an und trat dann in Roberts Zimmer.
Seine Züge hatten in den letzten Monaten eine gewisse Strenge und Bitterkeit angenommen, die noch ausgeprägter wurden, wenn er sie ansah.
»Ich muss mit dir reden, bevor wir zum Essen hinuntergehen«, sagte sie. »Allein.«
»Danke, Hulme«, entließ Robert seinen Kammerdiener, wartete ab, bis der den Raum verlassen hatte, und fragte Amber dann: »Möchtest du dich setzen?«
Amber schüttelte den Kopf. Robert hatte gesagt, er würde es ihr niemals verzeihen, dass sie ihn gegen seinen Willen nach England zurückgebracht hatte, und sie wusste, dass er es auch so gemeint hatte. In den letzten Monaten hatte er eine unnachgiebige Willenskraft gezeigt, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass er sie besaß, und hatte sich aus der tiefen Verzweiflung emporgekämpft, in die er nach der Rückkehr aus Frankreich verfallen war.
Während jener ersten Wochen, als Winston Churchill ihm angedroht hatte, ihn unter Hausarrest zu stellen, sollte er versuchen, nach Deutschland zu gelangen, hatte Amber nicht nur um sein Leben gebangt, sondern auch um seine geistige Gesundheit. Es spielte keine Rolle, dass das alles nur zu seinem Besten geschah und weil ihnen etwas an ihm lag; er hatte zu Amber gesagt, dem Leid, das sie ihm auferlegten, sei der Tod wahrlich vorzuziehen.
Am Ende hatte Churchill ihn aus seiner Verzweiflung herausgeholt, indem er ihn daran erinnerte, dass er seinem Vaterland gegenüber eine Pflicht habe, die er vor seine Gefühle setzen müsse.
»Es fällt mir nicht leicht, es dir zu sagen«, begann Amber. »Ich wollte nicht … ich hätte mir nie vorgestellt … aber ich bin schwanger.«
Robert hatte sich von ihr abgewandt, als sie zu sprechen angefangen hatte, und schwieg so lange, dass Amber sich schon fragte, ob er sie überhaupt verstanden hatte. Schließlich sagte er mit schwerer Stimme: »Ja, das habe ich mir schon gedacht.«
»Du hast es gewusst?«
Er schaute sie an, und sein Mund setzte zu dem Lächeln an, das sie immer so geliebt hatte, verhärtete sich dann jedoch zu einer zynischen Grimasse.
»Besonders schwer war es ja nicht zu erraten, bei deiner morgendlichen Übelkeit. Ich nehme an, Jean-Philippe ist der Vater?«
»Ja«, gestand Amber beschämt ein. »Jetzt wirst du unsere Trennung natürlich beschleunigen wollen oder vielleicht sogar die Scheidung einreichen? Ich könnte es verstehen, aber, Robert, bitte lass uns Luc aus der Sache heraushalten. Er verehrt dich so, und wenn er jetzt herausfinden müsste, dass du nicht sein Vater …«
»Das traust du mir zu?« Zorn war an die Stelle des Zynismus getreten. »Du hältst ja nicht besonders viel von mir, Amber. Luc ist mein Sohn und wird es immer bleiben, nichts kann daran etwas ändern, das liegt mir wirklich fern. Gerade wegen Luc habe ich ja von Anfang an gesagt, dass wir bei unserer Trennung behutsam vorgehen müssen, damit er niemals daran zweifelt, dass wir ihn beide lieben, auch wenn wir nicht mehr als Paar zusammenleben. Wegen Luc habe ich bisher auch gezögert, eine Trennung in die Wege zu leiten; ich wollte erst mit ihm reden. Jetzt allerdings müssen wir es angehen, die zeitliche Planung ist natürlich noch heikler geworden. Vielleicht sollte ich auch sagen, bei der Scheidung spielt der richtige Zeitpunkt eine wichtige Rolle.«
Amber stieß einen zittrigen Seufzer der Erleichterung aus. Robert würde Luc nicht wehtun. Er liebte ihn und betrachtete ihn immer noch als seinen Sohn. Das hatte er gesagt, und sie hatte gespürt, dass es ihm damit ernst war. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Wann soll das Kind auf die Welt kommen?«
»Ende Mai.«
»Dann wirst du die Scheidung so rasch wie möglich über die Bühne bringen wollen, damit du Jean-Philippe heiraten kannst, ehe das Kind kommt.«
Amber war entsetzt. »Das steht überhaupt nicht zur Debatte, für keinen von uns. Jean-Philippe … das war nicht geplant, ein Ausrutscher, eine einmalige Sache, keine Affäre auf Dauer.«
»Aber du liebst ihn, und wenn er bereit wäre, dich zu heiraten, würdest du …«
»Nein, ich liebe ihn nicht«, sagte Amber schwankend. »Was zwischen uns war, ist Vergangenheit.«
Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Es tat ihr unglaublich weh, so zu reden, zumal sie Robert nicht sagen konnte, dass der Anblick seiner Erniedrigung und seines Schmerzes mit verantwortlich war für die Empfängnis dieses Kindes, das sie weder wollte noch je würde lieben können, dem sie als Mutter aber moralisch verpflichtet war.
»Hast du schon irgendwem davon erzählt?«, fragte Robert.
»Nein, ich wollte nicht … das heißt, ich hatte gehofft, dass ich mich täusche.«
»Vermutlich ist es jetzt zu spät …«
»Ja«, kam Amber ihm zuvor, »ja, für einen Abbruch ist es zu spät.«
»Dann wäre es, glaube ich, unter den Umständen das Beste, wenn wir uns nicht scheiden ließen, vor allem in Lucs Interesse.«
»Keine Scheidung? Aber …«
»Du sagst, du hast nicht vor, Jean-Philippe zu heiraten. In dem Fall gibt es keinen Grund, warum wir uns den schmuddeligen Unannehmlichkeiten einer Scheidung aussetzen sollten, schließlich müsste einer von uns zugeben, dass er mit einem Dritten im Bett war, und die nötigen Beweise dazu liefern.«
Amber wurde übel, und diesmal war es nicht wegen ihrer Schwangerschaft. Laut Gesetz konnte eine Scheidung nur dann ausgesprochen werden, wenn einer der Ehepartner zugab, Ehebruch begangen zu haben, und somit die Schuld auf sich nahm. Es war schon vorgekommen, dass jemand, der die Scheidung wünschte, irgendwen angeheuert hatte, um die Nacht mit ihm oder ihr zu verbringen, um über das nötige Beweismaterial zu verfügen; tatsächlich hatte sich das Ganze zu einem richtigen Geschäftszweig ausgewachsen, bei dem ein gewisser Typ junger Frauen gemietet werden konnte, um den Ruf der Gattin oder der Geliebten zu schützen. Robert hatte natürlich jedes Recht, sich von ihr scheiden zu lassen, da sie ja bereits Schuld auf sich geladen hatte. Eine Trennung war die bei weitem respektablere und angenehmere Lösung.
»Wenn du dir ganz sicher bist, dass du dich nicht von mir scheiden lassen willst …«, war alles, was sie hervorbrachte.
»Vollkommen sicher«, versetzte Robert und fügte hinzu: »Ich glaube nicht, dass wir jetzt schon irgendwen in unsere Pläne einweihen müssen. Luc sollte natürlich unsere Hauptsorge gelten. Was das Baby angeht, so bin ich Luc zuliebe bereit, es als meines anzuerkennen, wenn du das möchtest. Ich möchte nicht, dass Luc irgendwie darunter leidet oder in der Schule von den anderen Jungen verspottet wird. Ich muss dich aber warnen, dass ich es nicht sehen möchte und nichts mit ihm oder mit dir zu tun haben möchte. Ich werde es nie auf dieselbe Art als mein Kind ansehen wie Luc. Tatsächlich halte ich es für das Beste, wenn wir nach Weihnachten vollkommen getrennt voneinander leben. Natürlich wird das alles rechtliche Auswirkungen haben, aber wir werden bestimmt einen Weg finden. Luc ist und bleibt mein Erbe, während dieses Kind …«
Er unterbrach sich, als er sah, dass Amber zu weinen begonnen hatte. »Tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.«
»Das hast du auch nicht.« Sie weinte vor Erleichterung, vor Erleichterung und Schuldgefühlen. Erleichterung, weil er sie nicht zwang, aller Welt ihre Umstände zu erklären, und Schuldgefühle, weil sie sich so sehr wünschte, sie hätte dieses Kind nie empfangen.
 
»Es wird vermutlich ziemlich schwierig, Luc von Bruno zu trennen, wenn er in die Schule zurückmuss«, meinte Amber zu Robert, als sie durch das Fenster zusahen, wie Luc mit dem jungen Labrador über den gefrorenen Rasen tobte.
»Keineswegs. Luc ist alt und intelligent genug, um zu begreifen und zu akzeptieren, dass eine Schule nicht der richtige Ort für einen Hund ist und dass Landhunde aufs Land gehören. Jarvis sagt, Bruno würde einen guten Jagdhund abgeben, wenn er erst einmal richtig abgerichtet ist. Bis er so weit ist, wird Luc selbst alt genug sein, um ihn zum Schießen mitzunehmen.«
»Robert, er ist noch ein kleiner Junge.«
»Ich war fünf, als ich zum ersten Mal mit dem Gewehr rausgegangen bin. Es gehört zu seiner Stellung einfach dazu, Amber. Du hast ja auch nichts dagegen, dass er die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner studiert oder dass deine Großmutter ihn an seine Manieren erinnert.«
Amber seufzte kleinlaut. Am zweiten Weihnachtsfeiertag war Luc ein Stück mit der Jagd mitgegangen und hatte anschließend den ganzen Tag von nichts anderem mehr geredet. Robert tat gut daran, darauf zu bestehen, dass Luc all diese Dinge lernte, die er eines Tages können musste, doch für sie war Luc immer noch ihr kleiner Junge, auch wenn er sich Rose gegenüber schon als erwachsen und fürsorglich zeigte.
Sie empfand die kühle Stimmung, die seit ihrer Rückkehr aus Frankreich zwischen ihr und Robert herrschte, als sehr bedrückend. Sie vermisste die Wärme seines neckenden Lächelns, die Scherze, die er früher so gern gemacht hatte. Sie vermisste auch die Bewunderung, die er ihrer Erscheinung immer entgegengebracht hatte, und sein Interesse an ihren Aktivitäten. Es fühlte sich an, als wäre ihr eine warme Decke von den Schultern gezogen worden, sodass sie einer Kälte ausgesetzt war, die ihr bis tief in die Seele drang. War es ihr Schicksal, all die männlichen Freunde zu verlieren, die ihr etwas bedeuteten, zuerst Jay und jetzt auch noch Robert? Sie mochte Robert nicht wie einen Ehemann und Liebhaber lieben, aber die Liebe hatte schließlich viele Facetten. Und nun würde sie von ihm getrennt leben müssen, während sie sich auf die Geburt ihres Kindes und das formelle Ende ihrer Ehe vorbereitete. Sie vermisste den Robert, den sie geheiratet hatte, sehr. Dieser Robert, Ottos Robert, war nicht ihr Robert. Dieser Robert würde ihr, wie er bereits angekündigt hatte, niemals verzeihen.
 
Amber schaute durch die Fenster des königlichen Ruheraums in Osterby, wie das kleine Zimmerchen neben dem Schlafzimmer in den Prunkräumen genannt wurde, und ließ den Blick über den Landschaftsgarten zum Graben schweifen, hinter dem die Rehe im Park das Futter fraßen, das man ihnen auf den verharschten Schnee gestreut hatte.
Mehrere bitterkalte Frostnächte nach einem Schneefall hatten die Landschaft in ein herrliches Kontrastbild von Schwarz und Silberweiß verwandelt.
Am nächsten Tag würde ihre Großmutter mit Greg und Rose nach Macclesfield zurückkehren, am Tag darauf würden Robert und Luc nach London fahren und Robert würde Luc ins Internat bringen, während sie in Osterby bleiben sollte.
Sie hatte viel zu tun, und außerdem war sie nicht in der Stimmung für Gesellschaft. Ihr schmerzte immer noch der Kopf von der Konfrontation mit Greg, als der sich wieder einmal über Blanches Testamentsänderung beschwert hatte.
Bildete sie es sich nur ein, oder sah ihr Cousin wirklich so aus, als ginge es ihm gesundheitlich noch schlechter, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte? Er wirkte jedenfalls dünner, und die geplatzten Äderchen auf seiner Nase und seinen Wangen traten noch deutlicher hervor. Seine Zähne hatten sich verfärbt, und Amber musste, zwischen Mitleid und Verzweiflung hin- und hergerissen, den Blick abwenden, wenn sie sah, wie seine Hände zitterten oder wie er mitten im Satz den Faden verlor und einfach verstummte.
Sie brauchte etwas frische Luft, um die Kopfschmerzen zu vertreiben, und auch den traurigen Geruch nach Verzweiflung und Schuld, den das Haus zu verströmen schien.
 
Wie alle Landsitze besaß auch Osterby einen Raum, wo allerhand Arbeitsmäntel, Hüte und Gummistiefel aufbewahrt wurden, doch Amber ging nach oben, um sich ihren eigenen warmen Tweedmantel anzuziehen. Sie wand sich einen Schal um Hut und Hals und schlüpfte in ein paar feste Schuhe, bevor sie in die eiskalte Luft hinaustrat.
Es war so kalt, dass ihr Lungen und Nase brannten, und obwohl sie Handschuhe trug, musste sie die Hände tief in die Taschen ihres Tweedmantels stecken, um nicht zu frieren. Sie ging über die Terrasse und dann die Stufen hinunter in den formellen Garten, und von dort aus in den eigentlichen Park.
Die Rehe schauten desinteressiert auf, als sie an ihnen vorbeiging. Ihr Kummer lag ihr bleischwer auf der Brust. Robert würde ihr niemals verzeihen, dass sie ihn von Otto getrennt hatte, und doch täte sie es wieder, wenn sie noch einmal vor dieser Entscheidung stünde.
Der Klang von Lucs Gelächter holte sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und entdeckte Robert und Luc, die auf sie zukamen. Luc rannte mit seinem Hund voraus.
»Schau, Mummy, wie schlau Bruno ist«, rief er aufgeregt, bückte sich nach dem Ball, mit dem der Hund gespielt hatte, und schleuderte ihn in ihre Richtung.
Amber sah, wie er in hohem Bogen auf sie zuflog, ohne darauf zu achten, dass ihr der Hund vor die Füße lief, und im nächsten Augenblick war sie auch schon über ihn gestolpert.
Sie hörte sich im selben Moment aufschreien, da Roberts Warnruf ertönte, und dann sah sie ihn auf sich zurennen, während sie auf dem Boden lag und von einem scharfen Schmerz durchbohrt wurde.
Robert kniete neben ihr, Luc stand unsicher daneben. »Alles in Ordnung?«, fragte Robert heiser.
»Ich weiß nicht. Mein … ich habe Schmerzen.«
Sie sah die Erkenntnis dunkel in seinen Augen aufschimmern. Er wandte sich ab und schaute zum Haus. Er würde sie hier liegen lassen. Schmerz und Schuldgefühle stritten sich in ihr, doch am Ende behielt der Schmerz die Oberhand. Darüber hörte Amber, wie Robert sagte: »Luc, sei ein guter Junge und lauf zum Haus. Sag Bates, er soll Dr. Archer anrufen. Schnell. Sag ihm, dass es dringend ist.«
Die Schmerzen waren so heftig, dass sie kaum noch Luft bekam.
»Komisch, wie sich manche Dinge regeln«, stieß sie hervor, während Robert neben ihr saß und ihre Hand hielt. »Wir wollen dieses Kind beide nicht. Ich frage mich, ob es das spürt.«
»Sei still.« Roberts Hand schloss sich fester um ihre. Dann sah er auf. »Deine Großmutter kommt und, wie es aussieht, der halbe Haushalt.«
»Es tut mir leid, Robert, furchtbar leid«, wisperte Amber, als sie erneut eine Schmerzwelle erfasste und schließlich in die Dunkelheit hinabzog.
Langsam kam sie zu sich; als erster Sinn kehrte der Geruchssinn zurück: Sie roch Frost und Erde und ihre eigene Angst, die sich mit dem Parfüm ihrer Großmutter vermischte.
Widerstrebend schlug sie die Augen auf. Blanche hatte Roberts Platz übernommen und blickte grimmig auf sie herab.
»Was für ein Irrsinn, bei so kaltem Wetter spazieren zu gehen«, schalt sie, als hätte sie das mit dem Baby irgendwie schon erraten.
»Der Arzt ist da«, meldete Robert.
Dr. Archer war ein altmodischer Landarzt von ruhigem Wesen und langsamer Sprechweise. Unter seiner Anleitung wurde Amber auf einer Trage in ihr Zimmer hinaufgebracht, wo er sie gründlich untersuchen wollte.
»Ich vermute, Sie haben sich die eine oder andere Rippe gebrochen«, erklärte er.
Er wandte sich Robert zu, der sich zu ihm hinunterbeugte und ihm etwas zuraunte.
»Ah, ja, verstehe. Nun denn, dann müssen wir einfach das Beste hoffen …«
 
Der Arzt blieb eine ganze Stunde. Nachdem er gegangen war, kam Robert zu ihr ins Zimmer.
»Hast du mit Dr. Archer gesprochen?«, fragte sie teilnahmslos.
»Ja. Du sollst ein paar Tage ruhen, und falls du anfängst zu bluten, müssen wir ihn sofort rufen lassen.«
»Ja«, stimmte Amber ihm zu.
Robert war ans Fenster getreten, das auf den Park hinausging, in dem Amber spazieren gewesen war. Als er sich wieder umdrehte, war seine Miene düster und verschlossen, sodass sie nicht sagen konnte, was er dachte.
Während der Nacht blutete sie ein wenig, sagte aber niemandem Bescheid. Sie zog sich ganz in sich selbst zurück, zog sich zurück von dem Kind in ihrem Leib und verschloss sich vor dem lauten Protest ihres Mutterinstinkts, doch am Morgen hatte die Blutung aufgehört, und am Ende der Woche verkündete Dr. Archer, das Baby sei in Sicherheit und sie könne wieder aufstehen.
Ihre Schuldgefühle drückten sie jedoch schwer. Im Kindertrakt nahm sie Rose auf den Schoß und spürte, wie ihre Liebe zu Gregs Tochter ihr das starre Herz erwärmte. Wenn sie Gregs unerwünschtes mutterloses Kind lieben konnte, warum konnte sie dann für das Kind, das in ihr heranwuchs, keine Liebe empfinden?
Sie liebte Luc um seiner selbst willen – bestimmt konnte sie das neue Kind auch lieben, wenn es erst einmal auf der Welt war. Aber was war, wenn sie es nicht lieben konnte?
Rose zappelte auf Ambers Schoß herum, weil sie merkte, dass diese in Gedanken ganz woanders war. Pflichtbewusst drückte Amber ihr einen Kuss auf den seidigen dunklen Scheitel. Roses fernöstliche Mandelaugen, die einen starken Kontrast zu ihrem makellosen englischen Rosenmündchen bildeten, verliehen ihren Zügen exotische Schönheit.
Sie wünschte, dass Greg ihrem Vorschlag zugestimmt hätte, Rose bei ihr zu lassen, wenn er und Blanche nach Macclesfield zurückkehrten, doch er war immer noch sehr zornig auf sie und hatte ihr die Bitte glattweg abgeschlagen.
Sie hatte viele Pläne für das neue Jahr geschmiedet: neue Stoffe für den Laden, hoffentlich neue Aufträge vom National Trust, ihre Idee, aus den Entwürfen ihres Vaters und Vanbrughs detaillierten Architekturzeichnungen ein Musterarchiv für Denham Place einzurichten. Doch nun musste sie die Bedürfnisse des neuen Lebens, das sie unter dem Herzen trug, an erste Stelle rücken. Dabei war ihr der Laden so wichtig.
Wichtiger als das Leben ihres Kindes?
Schuld und Groll stießen aufeinander. Sie wollte kein zweites Kind von Jean-Philippe. Wie sollte sie Jay gegenübertreten? Wenn es sein Kind gewesen wäre … Und dennoch war sie Jean-Philippe unendlich dankbar. Dankbar dafür, dass er ihr einen Teil ihrer selbst zurückgegeben hatte. Aber nicht für das Kind, das in ihr heranwuchs.