19
Amber war noch vor
dem Morgengrauen erwacht. Sie hatte kaum geschlafen und war immer
wieder aufgestanden, um unruhig auf und ab zu gehen und sich dann
mit dem Skizzenblock ihres Vaters in der Hand hinzusetzen, als
könnte sie das irgendwie beschützen.
Jean-Philippes
Behauptung, er wolle sie als Modell, war als Demütigung gedacht,
dessen war Amber sich sicher.
Um sechs Uhr brachte
das Dienstmädchen den café au lait und
ein Croissant und erbot sich, ihr beim Anziehen zu helfen. Amber
schüttelte den Kopf, schließlich wollte sie nicht, dass das Mädchen
ihre Nervosität bemerkte und den anderen Dienstboten davon
erzählte. Vom Duft des Kaffees wurde ihr übel, und von dem
Croissant brachte sie kaum einen Bissen hinunter.
Da sie nicht recht
wusste, was von ihr erwartet wurde oder wie lange die Sitzung
dauern sollte, kleidete sie sich schlicht in einen Faltenrock und
ein passendes Seidentwinset. Als Monsieur Lafitte in der Schule
Porträtstunden für sie organisiert hatte, waren die Modelle Kinder
gewesen, die nicht lange still sitzen konnten und so schnell wie
möglich wieder aufspringen wollten.
Es war halb sieben.
Sie hatte keinen Grund, es noch länger hinauszuschieben. Unter
anderen Umständen wäre sie froh gewesen, so früh aufstehen zu
müssen – der junge Morgen in seiner unberührten Reinheit war ein
ganz besonderer Anblick. Die Sonne war bereits aufgegangen und goss
ihr Licht über den Garten und die ruhige See dahinter. Die Luft war
erfüllt vom würzigen Aroma der Pinien und Zitronenbäume. Die Rosen
würden ihren Duft erst später entfalten.
Eine Eidechse
huschte vor ihr über den Pfad und brachte ein paar Steinchen ins
Rollen. Amber blieb stehen und schaute sich noch einmal zur Villa
um. Dann ging sie widerstrebend weiter zu dem Häuschen, das in
einem eigenen kleinen Gärtchen oben auf der Klippe verborgen lag.
Die weißen Mauern waren von Bougainvilleen überwuchert, und die
Sonne wärmte die Terrakottaziegel auf dem schrägen Dach. Das
Gartenhaus lag im Norden der Villa, näher am wilden Pinienwäldchen.
Die verschlossenen Fensterläden verrieten keinerlei Lebenszeichen.
Die Sonne glitzerte auf den Wellen. Amber beschattete die Augen und
steuerte auf die Tür zu, die fast hinter den Kletterrosen
verschwand. Kaum vorstellbar, dass ein Mann wie Jean-Philippe an so
einem Ort wohnte.
Die Tür stand offen.
Zögernd klopfte sie an, erwartete, dass auf ihr Klopfen hin
irgendein Dienstbote erschien, am besten die Anstandsdame, die
Jean-Philippe Lady Levington versprochen hatte, doch es war der
Künstler selbst, der die Tür weit aufriss und sie willkommen
hieß.
Das Häuschen war
älteren Datums als die Villa. Der Boden bestand aus einfachen
Steinfliesen, die Wände waren grob verputzt. Die Haustür führte
direkt in eine große Küche mit niedriger Decke, von deren
Deckenbalken Kräutersträuße hingen. Der Raum war erfüllt vom Geruch
nach Farbe und Terpentin, sodass Amber unwillkürlich nach Luft
schnappte.
Jean-Philippe trug
einen weiten weißen Kittel über einer Hose, die an den Knien
abgeschnitten war und den Blick auf seine muskulösen,
sonnengebräunten Waden freigab. Seine Füße waren nackt und staubig.
Er lächelte, als er sah, wie Amber sich in der Küche
umschaute.
»Das Gästehaus ist
vielleicht nicht so großartig wie die Villa, aber es hat etwas, was
der Villa fehlt. Zwischen ihm und der Landspitze im Norden liegt
nichts mehr, und mein Atelier geht in diese Richtung. Ein so reines
Morgenlicht habe ich noch nirgendwo sonst gesehen. Sein Leuchten
einzufangen könnte einen in den Wahnsinn treiben. Ich wollte gerade
Kaffee machen – willst du auch einen?«, fragte er und wies auf die
Kaffeekanne und die Tassen.
Amber schüttelte den
Kopf und sah zu, wie er sich einschenkte. Seine Hände, obwohl groß
und kantig, waren erstaunlich flink und beweglich.
Er hob die Tasse und
trank rasch. »Sie wollen deinen heimlichen Verehrer jetzt
wegschicken, n’est-ce
pas?«
»Sie haben gesagt,
ich solle früh kommen, damit Sie das Morgenlicht ausnutzen können«,
erinnerte ihn Amber und ignorierte seine Frage
einfach.
Er leerte die
Kaffeetasse, stellte sie auf den Tisch und befahl: »Komm mit.« Dann
ging er über einen schmalen, fensterlosen Flur in das
dahinterliegende Zimmer. Amber hatte in London Ateliers gesehen,
die genau zu diesem Zweck entworfen worden waren, doch das Licht,
das in dieses Zimmer strömte, war so intensiv, dass es ihr schier
den Atem raubte.
»Ah. Oui. Man spürt es da drin, nicht?«, meinte
Jean-Philippe und schlug sich auf die Brust, etwa da, wo das Herz
saß. »Es packt einen und überwältigt einen, aber dann, wenn man es
nicht einfangen kann, lacht es einen aus.«
Mehrere Leinwände
lehnten umgedreht an der Wand. Es roch nach Farbe und Schweiß,
Terpentin, Staub und Firnis. Es riecht, dachte Amber hilflos, nach
meinem Vater. Sie sah zum Fenster, weil sie nicht wollte, dass
Jean-Philippe merkte, wie bewegt sie war.
Der Raum wurde von
einer großen Leinwand auf einer Staffelei beherrscht, über die ein
Tuch drapiert war, ringsum die vertrauten Künstlerutensilien, davor
ein Stuhl, vermutlich für sie, damit sie ihm darauf Modell saß. Am
einen Ende des Raums stand ein Bett.
»Beth hat mir
erzählt, dass Sie ein Bild bei einer Ausstellung der Akademie
einreichen wollen.« Es war besser, höflich zu plaudern, als sich
von der Atmosphäre im Zimmer oder der Ausstrahlung des Mannes
überwältigen zu lassen.
»Ein Dummkopf, der
sein Genie dem prosaischen Blick von Leuten unterwirft, die sich
Kunstkritiker schimpfen. Wie wollen die verstehen, was es bedeutet,
Künstler zu sein? Ihre Gedanken kreisen nur um Geld und
Schirmherren. Und sie zwingen den Künstler unter ihr Joch. Aber man
muss ausstellen, muss sich auf dem Markt verkaufen. Geh und nimm da
drüben Platz. Ich sag dir, wie du dich hinsetzen
sollst.«
Er zog sich den
weichen Baumwollkittel über den Kopf, und die Muskeln an seinem
Oberkörper traten im Sonnenlicht so scharf hervor, dass Amber die
Luft wegblieb.
»Sie haben Lady
Levington versprochen, für mich eine Anstandsdame zu engagieren«,
erinnerte sie ihn.
Er zuckte die
Schultern, knüllte das Hemd lässig zusammen und warf es in eine
Ecke. »Wir brauchen keine«, erklärte er arrogant. »Außerdem würde
mich das Gequassel irgendeiner albernen Frau nur stören. Deine Züge
haben eine Qualität, die mich fasziniert. Ich möchte sie nicht
direkt mittelalterlich nennen, aber irgendwie spiegelt es sich
darin, und auch etwas Heidnisches.Vielleicht ist es dein russisches
Erbe. Reinheit verknüpft mit Leidenschaft, Unschuld mit
Sinnlichkeit. Dein missbilligender Blick kann nicht darüber
hinwegtäuschen, dass du es auch willst, Mam’selle Amber
Vrontsky.«
Er kam auf sie zu.
Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen, solange es noch
möglich war.
»Ich wollte dich
eigentlich vor diesen schlichten Wänden malen, Unschuld vor
Schlichtheit, aber letzte Nacht ist mir klar geworden, dass ich
etwas sehr Wichtiges übersehen habe. Deine Unschuld ist nur eine
Maske, die die Gesellschaft dir aufgezwungen hat. Wo habe ich es
nur hingetan? Ah, oui, da ist es ja.«
Er griff in einen alten Koffer hinter ihrem Stuhl und holte eine
Stoffbahn heraus. »Maintenant
…«
Er stand viel zu
dicht neben ihr, der heiße Geruch seines Körpers stieß sie ab und
ließ sie schwindeln, während er den Stoffballen aufwickelte und den
Stoff in üppigen Falten auf dem niedrigen Tisch vor ihr
drapierte.
Seide – Seide, wie
sie sie noch nie gesehen hatte. Sie blickte auf die schimmernden
Wogen dunkelblaugrünen Stoffs, bestickt mit scharlachroten, Feuer
speienden Drachen, deren Juwelenaugen im Licht
funkelten.
Unfähig, sich
zurückzuhalten, griff sie nach dem Stoff. Er fühlte sich warm an,
lebendig, er atmete, wie es nur die allerbeste Seide konnte.Wenn
sie die Augen schloss, konnte sie beinahe wieder ihren Vater hören,
wie er von Seide wie dieser hier erzählte, die angeblich nur für
die chinesischen Kaiser gefertigt worden war, unbezahlbar und
außerhalb der Sammlungen sehr reicher Kunstkenner kaum zu
finden.
Vielleicht täuschte
sie sich, vielleicht war es gar keine kaiserliche Seide, sondern
etwas Einfacheres, doch sobald sie den Stoff berührte, wusste sie,
dass sie sich nicht geirrt hatte.
»Nicht
bewegen.«
So verzaubert war
sie gewesen, dass sie Jean-Phi lippe beinahe vergessen hatte. Er
griff rasch nach dem Skizzenblock, kniete vor ihr nieder und warf
zügig etwas aufs Papier.
»Diese Mischung aus
Huldigung und Sehnsucht in deinem Blick ist perfekt.«
Amber zuckte
zusammen, und die Seide glitt ihr schwer aus den Fingern.
Jean-Philippes Bemerkung hatte ihr das Gefühl vermittelt, sie hätte
ihm einen unglaublich intimen Blick in ihr Inneres
gestattet.
»Das ist noch
besser, als ich gehofft hatte. Ich werde das Bild Die Tochter des Seidenhändlers nennen, und dann
werden wir ja sehen, ob diese langweiligen Kritiker in der Lage
sind, das Wort ›Händler‹ mit der Sehnsucht in deinem Blick in
Zusammenhang zu bringen. Nur jemand, der den wahren Wert von etwas
kennt, kann echte Begierde danach empfinden.«
»Woher stammt die
Seide?«, erkundigte sie sich, nicht bereit, auf seine Kommentare
einzugehen.
»Sie gehört meiner …
meiner Patentante. Als du letzte Nacht erwähnt hast, dass deine
Familie eine Seidenfabrik besitzt, wusste ich, dass ich dich vor
dieser Seide malen muss.«
Amber wurde
stocksteif und weigerte sich, ihn anzusehen. Sie war wütend, dass
er ihre Gefühle manipuliert hatte, und sie ärgerte sich darüber, so
leicht von ihm zu durchschauen zu sein, denn es vermittelte ihr ein
Gefühl der Unterlegenheit.
»Dann vermisst du
ihn also nicht, dieses Mondkalb, das nicht mal weiß, wie man dich
richtig küssen muss?«
Der unerwartete
Themenwechsel brachte sie noch mehr durcheinander.
»Soll ich dir
zeigen, was ein richtiger Kuss ist?«
Seine Stimme klang
jetzt weicher, aber immer noch spöttisch. Ambers Gesicht brannte,
als er den Block hinlegte und auf sie zukam. Sie war auf ihrem
Stuhl wie gefangen, konnte nicht entkommen, konnte nichts tun, als
er sich über sie beugte und seine große Hand auf ihre Wange legte,
die Finger wie flammende Brandzeichen auf ihrem Hals.
Sein Kopf verdeckte
das Licht, und als er seine Lippen auf ihre drückte, zeigte er
keinerlei Nachsicht für ihre Unerfahrenheit. Wie seine Nacktheit am
Vortag war auch dies, wie Amber sehr wohl erkannte, eine rohe
Zurschaustellung seiner Männlichkeit. Seine Zunge öffnete mit
raschen Bewegungen ihre geschlossenen Lippen. Er schmeckte nach
Salz und Gewürzen. Ihr Herz hämmerte. Mit der freien Hand fasste er
sie an der Schulter und fuhr ihr mit dem Daumen über das
Schlüsselbein. Ihr Körper fühlte sich schwer und doch irgendwie
schwerelos an.
Abrupt gab er sie
frei und trat zurück.
»Na, bist du jetzt
zufrieden, weil deine Neugier gestillt ist?«
»Ich war gar nicht
neugierig«, erklärte Amber zornig.
»Natürlich warst du
das. Ich habe es dir angesehen. Genau wie gestern am
Strand.«
»Nein«, stritt Amber
ab, aber er ignorierte sie. Er kehrte zu seiner Staffelei zurück
und wies sie an, die Seide wieder in die Hand zu
nehmen.
Drei Stunden lang
arbeitete er schweigend, durchbrach die Stille nur, um Amber
anzuschnauzen, sie solle stillhalten, als ihr schmerzender Arm zu
zittern begann, und im Zorn den Pinsel hinzuwerfen, als sie das
Zittern nicht unterdrücken konnte, oder um zu ihr zu gehen und ihre
Haltung nach seinen Wünschen zu korrigieren. Seine Berührungen
waren jetzt unpersönlich und ungeduldig.
Schweigend arbeitete
er weiter. Die Sonne stieg hoch in den Himmel hinauf, und die Luft
im Atelier wurde dick und stickig, aufgezehrt von seinem
gnadenlosen Tatendrang und Ambers Anspannung. Allmählich wurde ihr
in dem heißen Atelier schwindelig. Ihre Muskeln schmerzten, doch
sie wagte es nicht, sich noch einmal zu bewegen.
Endlich legte
Jean-Philippe den Pinsel nieder und sagte, sie könne sich jetzt
ausruhen.
»Morgen muss das
aber besser gehen, da musst du ganz still sitzen.«
Ungläubig starrte
Amber ihn an. Woher nahm er die Frechheit, zu glauben, sie könnte
nach allem, was er ihr angetan hatte, noch einmal
kommen?
Sie zitterte, als
sie an ihm vorbeieilte, wagte aber nicht, etwas zu
sagen.
Es war fünf Uhr. Der
Schlaf hatte sie fast die ganze Nacht geflohen. Sie konnte genauso
gut aufstehen, denn jetzt würde sie auch nicht mehr zur Ruhe
kommen.
Als sie am Vortag in
die Villa zurückgekehrt war, war sie fest entschlossen gewesen,
Jean-Philippe nicht mehr Modell zu sitzen, doch er hatte sie
überlistet. Kurz vor dem Abendessen war er aufgetaucht und hatte
Lady Levington bezirzt – was Henry finstere Blicke entlockte -,
bevor Amber Gelegenheit gehabt hatte, ihrer Gastgeberin ihren
Entschluss mitzuteilen.
Wie leicht und
flüssig ihm die Lügen über die Lippen kamen! Er hatte behauptet,
Amber schenkte ihm die Inspiration, die er so lange gesucht hatte,
und es sei ihm nun unmöglich, sein Werk ohne sie zu vollenden.Wie
subtil und klug er Lady Levington zu verstehen gegeben hatte, dass
Amber von seinem Rat und seiner Hilfe profitiert hätte und gern
wiederkommen wollte. Dabei erweckte er den Eindruck, dieser Rat
wäre rein intellektueller Natur, während er Amber gleichzeitig
anzügliche Seitenblicke zuwarf. Er war hassenswert und widerlich,
und das Herz sprang ihr nur deswegen so in der Brust, weil sie
zornig auf ihn war und in der Nacht nicht richtig geschlafen
hatte.
Nun war es ihr
unmöglich, Lady Levington zu erzählen, dass sie Jean-Philippe nicht
mehr Modell sitzen wollte, jedenfalls nicht, ohne einen triftigen
Grund vorzubringen. Und das konnte sie nun wirklich nicht.
Schließlich war es Ambers Ruf, der leiden würde, wenn Lady
Levington erfuhr, dass Jean-Philippe sie geküsst hatte. Sie hätte
das Atelier verlassen sollen, sobald sie gesehen hatte, dass keine
Anstandsdame für sie engagiert worden war. Dass sie es nicht getan
hatte, brachte sie in eine ziemlich unhaltbare Lage und warf ein
zweifelhaftes Licht auf sie. Nun war es zu spät, sich zu beschweren
– und das wusste Jean-Philippe ganz genau.
Jean-Philippe
öffnete die Tür, sobald sie klopfte. Amber spürte, wie er sie
musterte, weigerte sich jedoch, ihn anzusehen.
»Hast du
gefrühstückt?«
»Ich hatte keinen
Hunger«, erwiderte Amber angespannt.
Er gab einen Laut
von sich, der irgendwo zwischen Spott und Verärgerung lag. »Du
musst etwas essen. Setz dich.«
»Ich will aber
nicht«, protestierte Amber, doch es hatte keinen Sinn, denn schon
drückte er sie auf einen Stuhl am Küchentisch und schenkte Kaffee
und heiße Milch in eine große Tasse.
»Trink das«, sagte
er, stellte die Tasse vor ihr ab und schob ihr ein Körbchen mit
Croissants hin. »Ich fange nicht an, bevor du etwas gegessen hast«,
warnte er sie, »und wenn ich deinetwegen das Morgenlicht verpasse,
werde ich sehr zornig.«
Sobald sie an dem
beißenden Getränk genippt hatte, spürte sie, dass der Kaffee ihr
neue Lebensgeister einhauchte.
»Alors, fangen wir mit der Arbeit an«, erklärte
Jean-Phi lippe, sobald sie fertig war.
Der Stuhl war
fortgeschafft worden, die Seide lag wie tags zuvor auf dem
niedrigen Tischchen.
»Ich will, dass du
dich hier auf den Boden kniest«, wies Jean-Philippe sie an, »und
die Seide nimmst und sie leidenschaftlich an dich
drückst.«
Amber tat wie
geheißen, verspannte sich aber, als sie sein Stirnrunzeln
sah.
»Non! Das ist nicht gut. Stell dir vor, du bist
hierhergekommen, während dein Vater nicht da ist, und hast den
schönsten Stoff der Welt entdeckt, den er vor dir versteckt
gehalten hat. Du weißt, dass er ihn dir nicht geben wird, dass er
zornig sein wird über deinen Wunsch, die Seide zu besitzen, aber du
kannst nicht anders.Wenn du den Stoff berührst, verzehrst du dich
danach, du hältst ihn dicht an deine Haut, als wäre seine Berührung
die eines Liebhabers; dein Wunsch, die Seide zu besitzen, ist
stärker als alles andere.«
Amber streckte die
Hand nach der Seide aus. Sie war schön und selten, auf eine Seide
wie diese traf man nur einmal im Leben, doch sie konnte sie nie
besitzen, wie sehr sie sich auch danach verzehrte.
Völlig in ihre
Gefühle versunken, ließ sie die Seide erschrocken fallen, als
Jean-Phi lippe die Hand ausstreckte, ihr ärmelloses Oberteil
aufknöpfte und ein Stück herunterzog, um ihr Dekolleté und ihre
Schultern freizulegen.
Sie versuchte sich
ihm zu entziehen, doch er schüttelte den Kopf und sagte knapp: »So
muss es sein, die Seide an deiner Haut, während du deiner
Leidenschaft erliegst; du bist wie besessen davon.«
Hatte ihr Vater
nicht immer gesagt, man müsse die Seide mit allen Sinnen genießen?
Amber zitterte, als sie die kühle Berührung an ihrer nackten Haut
spürte. Irgendwie war der Stoff so gefallen, dass sich ein
gestickter Drache um ihre Brust schmiegte. Wenn jemand seinen
Umriss mit dem Finger nachzöge, würde er auch ihre Brust liebkosen.
Wie es wohl wäre, eine solch sinnliche Berührung zu spüren? Die
weiche Seide unter der schwieligen Hand des Künstlers? Sanfte Röte
kroch Amber über den Hals ins Gesicht, ihre Brust hob sich scharf,
als sie den Atem einsog, und ihre Augen brannten vor erwachender
Begierde. Versunken in ihre Geheimnisse, legte Amber die Wange auf
die kühle Seide.
»Oui. Das ist es.«
Jean-Philippes
triumphierende Worte weckten Amber aus ihren Träumereien, und ihr
wurde bewusst, dass sie sich vor dem fürchtete, was da mit ihr
geschah, vor den Gefühlen, die sie mit sich fortrissen. Sie ließ
die Seide fallen, schob sie von sich weg und zupfte ihr Oberteil
zurecht.
Mit zwei raschen
Schritten stand Jean-Phi lippe vor ihr und packte mit eisernem
Griff ihre Oberarme.
»Mach, was du eben
gemacht hast. Das war perfekt.«
»Ich will das nicht.
Ich will gehen.«
»Unmöglich. Ich
lasse dich nicht.«
Amber blickte zu ihm
auf und schüttelte den Kopf, um abzuwehren, was sie in seinem Blick
sah, doch es war zu spät. Er küsste sie
leidenschaftlich.
Sie zitterte, war
viel zu schwach, um sich zu bewegen, und so ließ sie sich von ihm
hochziehen. Er wühlte die Hände in ihr Haar und bedeckte ihr
Gesicht mit glühenden Küssen.
»Schau, was du mit
mir machst. Du hast deinen Zauberschleier über mich geworfen und
mich verhext. Du bist das schönste Wesen, das ich je gesehen habe,
eine jungfräuliche Verführerin, die mir das Herz geraubt hat und
den Willen. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, kann ich an
nichts anderes denken. Ich kann ohne dich nicht leben. Du bist mein
Fleisch und mein Wasser, mein Leben. Schau doch, wie du mich von
einem Künstler zurückverwandelst in einen Mann.« Er nahm ihre Hand
und legte sie auf jenes Körperteil, das sich ihr so schockierend
unverhüllt dargeboten hatte, als er nackt aus dem Meer gestiegen
war. Sie spürte, wie die Lebenskraft darin pulsierte, sie spürte
die Antwort in sich, ein schmerzvolles Sehnen, im Takt mit ihrem
keuchenden Atem.
»Sie dürfen so etwas
nicht sagen.«
»Ah, wie erbärmlich,
dass die Leidenschaft, welche die Natur dir in so reichem Maß
gegeben hat, von etwas so Hässlichem eingedämmt wird wie der
Konvention. Wie ich es genießen werde, sie aus dieser grausamen,
schmerzlichen Begrenzung zu befreien. Und du wirst es auch
genießen, meine Liebste. Du zitterst und schaust mich ungläubig an,
aber ich versichere dir, es ist wahr. Sieh nur …«
Bevor sie sich
rühren konnte, hatte er ihr Oberteil heruntergezogen und ihre
Brüste entblößt. Aus den Augenwinkeln glaubte Amber draußen vor dem
Fenster eine Bewegung wahrzunehmen, doch als sie den Kopf drehte,
um genauer hinzusehen, war niemand da.
Sie wandte sich
wieder zu Jean-Philippe, um ihm zu sagen, er solle sie freigeben,
doch es war zu spät.
Er hatte den Kopf
gesenkt, seine Zunge machte sich an ihrem nackten Fleisch zu
schaffen, und sie erzitterte unter dem Ansturm ihrer körperlichen
Reaktion. Nie gekannte wilde Leidenschaft nahm sie gefangen, und
Entzücken umfing sie, als er den restlichen Stoff mit den Zähnen
beiseiteriss und ihre Brüste ganz dem reinen, frühen Nordlicht
preisgab, perlmuttrosa Fleisch, gekrönt von krapproten Brustwarzen,
die sich unter Jean-Philippes Berührung aufrichteten.
»Ich habe lange
darauf gewartet, dass du in mein Leben trittst, ma chérie.«
So süße Worte, die
an ihre bloße Haut geraunt wurden und sich in ihr einsames Herz
ergossen.
»Dich zu begehren
und darauf zu warten, dass du mich auch begehrst, hat mich schier
in den Wahnsinn getrieben.«
»Ich hatte ja keine
Ahnung.«
»Das glaube ich dir
nicht. Du musst es von Anfang an gemerkt haben. Ich hätte es nicht
verbergen können, selbst wenn ich es versucht hätte.«
»Du hast mir Angst
gemacht.«
»Die Furcht einer
Jungfrau, die in Wahrheit eher Erregung ist als echte Angst. Du
hast nachts von mir geträumt, n’est-ce
pas? Oui? Hast du von mir
geträumt? Hast du mich in deinen Gedanken und Träumen mit
hinuntergenommen an den verborgenen Ort tief in dir? Wusstest du,
dass ich dich insgeheim beschworen habe, mich zu begehren, dass ich
meine Sehnsucht aus meinem einsamen Bett zu dir geschickt und mir
dabei vorgestellt habe, du würdest wie auf Kommando erwachen, um
sie zu empfangen? Hast du davon geträumt, dass ich die Dunkelheit
mit dir teile?«
Hatte sie all das
getan und es sich nur nicht eingestehen wollen? Jetzt, wo ihr
Körper sang und vor Sehnsucht schier verging, schien es unmöglich,
dass sie es nicht getan haben sollte. Nicht, wenn er so mit ihr
sprach, als wären sie schon miteinander verbunden.
»Vraiment. Wie vollkommen du bist. Meine ewige Muse,
vollkommen in jeder Hinsicht, nur dass ich, der ich ein bloßer
Sterblicher bin, diese Vollkommenheit niemals so einfangen kann,
wie es das Licht gerade tut.«
Amber erzitterte,
als er mit den Händen den Weg der Morgensonne auf ihrem nackten
Körper nachzeichnete und ihr dabei die restlichen Kleider
abstreifte.
Er erfüllte ihre
Sinne, überflutete sie mit schwindelerregenden Freuden.
Jean-Philippe hob sie auf die Arme und trug sie zum
Bett.
Sie lag auf der
Seide, eine Falte unter ihren Brüsten. Der Stoff liebkoste die
schwere, fremdartige Trägheit, die sich zwischen ihren Schenkeln
breitmachte. Durch halb geschlossene Augen sah Amber zu, wie
Jean-Phi lippe mit raschen Pinselschwüngen an der Staffelei
arbeitete. Bis auf die abgeschnittene Hose, die er am Vortag
getragen hatte, war er nackt. Ihre Trägheit verwandelte sich in ein
süßes Pochen, woraufhin sie unruhig auf dem Bett
herumrutschte.
Jean-Philippe legte
den Pinsel ab und trat zu ihr.
»Wenn du ungehorsam
bist und dich bewegst, dann musst du den Preis dafür zahlen.« Seine
Stimme, belegt und rau, ließ sie vor Vorfreude zittern, noch bevor
er die Lippen um ihre Brustspitze schloss und die Seide an dem
weichen Haar auf ihrem Venushügel rieb.
Wie hatte sie diese
Finger je für klobig und ungeschickt halten können? Ihr Körper
drängte ihm entgegen, den scharfen Aufschrei, der sich ihr entrang,
pflückte er ihr mit seinem Kuss von den Lippen, so rasch, dass sie
sich dessen kaum bewusst wurde.
Er schenkte ihr
Rotwein ein und sah zu, wie dieser ihre Lippen benetzte und ihre
Augen sinnlich verdunkelte, und dann sagte er, er müsse sich jetzt
wieder an die Arbeit machen und sie solle ihn nicht länger in
Versuchung führen.
Dabei war er es
doch, der sie verführte, protestierte Amber atemlos, als er noch
einmal seine Staffelei verließ, um ihre Glieder zurechtzurücken,
und dabei neue zitternde Sehnsucht in ihr entfachte.
»Heute Nacht träumst
du von mir, und morgen lasse ich deine Träume wahr werden«, sagte
er, nachdem er den Wein weggestellt und ihr beim Anziehen geholfen
hatte.
Amber hatte gerade
die Wegbiegung erreicht, wo sie außer Sichtweite des
Gartenhäuschens war, die Villa aber noch nicht sehen konnte, als
plötzlich Henry vor sie trat und ihr den Weg
versperrte.
»Henry! Ich dachte,
du und Lord Levington wolltet heute Morgen abreisen?«
Ohne auf ihre Frage
einzugehen, sagte er heiser: »Ich habe dich mit ihm gesehen. Ich
habe gesehen, wie du dich von ihm hast begrapschen lassen. Hure.«
Spuckend schrie er ihr das Wort entgegen, und seine Augen waren
tränennass.
Amber war entsetzt.
Sie wollte an ihm vorbeihuschen, doch er war schneller, packte sie
und zog sie mit sich zu Boden. Er riss an ihren Kleidern und
drückte ihr heiße, nasse Küsse, vor denen sie in Panik
zurückzuckte, auf die entblößten Körperstellen.
»Hör auf damit,
Henry.« Sie musste ihn zur Vernunft bringen. Wenn ihr das nicht
gelang, würde sie sich nicht mehr retten können.
»Warum nicht? Ihn
hast du doch auch rangelassen. Du gehörst mir. Ich habe dich
geliebt, aber jetzt hast du alles kaputt gemacht – du Hure, du
Hure.« Er schüttelte sie, bis ihr schwindelig wurde.
»Ich sage es
Jean-Phi lippe«, warnte sie ihn.
So abrupt, wie er
sie überfallen hatte, ließ er von ihr ab und stolperte
davon.
Schockiert und
angeekelt sog Amber die frische Luft in tiefen Zügen ein, während
sie versuchte, sich Kleider und Haare glatt zu streichen. Henrys
Mutter konnte sie sich nicht anvertrauen, denn sie würde ihr nicht
glauben wollen. Niemand würde ihr glauben. Sie schaute zum
Gästehaus, und bevor sie es sich anders überlegen konnte, rannte
sie dorthin zurück. Doch von Jean-Philippe war nirgends eine Spur
zu entdecken.
Henry hatte
behauptet, er habe sie beobachtet. Amber drehte sich der Magen um,
und Übelkeit brannte ihr in der Kehle. Sie hatte recht gehabt, als
sie geglaubt hatte, jemanden draußen am Fenster zu
sehen.
Sie konnte
glücklicherweise in die Villa huschen, ohne dass ihr jemand
begegnete. In ihrem Zimmer riss sie sich die Kleider vom Leib und
ließ sich ein Bad einlaufen. Sie tauchte ganz darin ein und
schrubbte sich gründlich ab.
Sie sehnte sich
danach, bei Jean-Phi lippe zu sein, um ihm zu erzählen, was Henry
ihr angetan hatte, und um sich in seinen Armen sicher zu
fühlen.
Als sie sich so weit
gefangen hatte, dass sie wieder nach unten gehen konnte, waren
Henry und sein Vater zu ihrer Erleichterung bereits
abgereist.
Am Nachmittag kam
die Kinderfrau herbeigeeilt, um Lady Levington zu suchen, und fand
sie in Ambers Gesellschaft. Sie berichtete, die kleine Arabella sei
sehr krank.
Der Arzt kam binnen
einer Stunde. Arabella habe starkes Fieber und müsse das Bett
hüten, erfuhr Amber von dem Dienstmädchen aus dem Kindertrakt, das
zu ihr geschickt worden war, um ihr auszurichten, Arabella weine
ständig nach ihrer Mutter und Lady Levington wolle sie vorerst
nicht allein lassen. Das bedeutete, dass Amber sich selbst
überlassen blieb, solange Arabella krank war.
Amber versicherte
dem Dienstmädchen, sie habe vollstes Verständnis und Lady Levington
müsse sich keine Gedanken um sie machen.
Da käme es doch
recht gelegen, dass Jean-Phi lippe sie gebeten habe, ihm Modell zu
sitzen, denn andernfalls hätte sie sich allein doch sicher
schrecklich gelangweilt, meinte Lady Levington später, als sie nach
unten kam, um sich bei Amber zu entschuldigen und das
Küchenpersonal anzuweisen, für die Kleine spezielle Krankenkost
zuzubereiten.
Amber schwieg. Was
hätte sie auch sagen sollen?
Ihre Gedanken wie
auch ihre Gefühle wirbelten in wirrem Chaos durcheinander. Sie
konnte kaum glauben, was geschehen war, was sie dabei gefühlt und
gewünscht hatte, die Empfindungen, die sie dabei durchlebt hatte.
All das war so neu, so unerwartet, dass sie sich fiebrig und
benommen fühlte und ihre Stimmung sich von einem Augenblick zum
anderen in größte Höhen hinaufschraubte, um gleich darauf in
tiefste Abgründe zu stürzen. In den Augen der Welt war das, was er
getan hatte, schlecht, das wusste sie, und doch konnte sie es nicht
bereuen. Es gehörte jetzt zu ihr, war ein Teil ihrer Gefühls- und
Gedankenwelt. Plötzlich verstand sie auch Carolines und Louises
unbesonnenes Verhalten. Nicht dass ihre Situation der ihren
ähnelte. Sie liebte Jean-Phi lippe, und er liebte sie; sie waren
frei, einander zu lieben. Sie hatte nichts weiter getan, als dem
Eheversprechen, das sie einander geben würden, ein wenig
zuvorzukommen, weil sie von ihren Gefühlen überwältigt worden
war.
Die Frau des Bäckers
warf den Kopf zurück und gab vor, nicht zu wissen, weswegen
Jean-Philippe gekommen war, doch er wusste genau, dass sie ihn am
Ende nicht zurückweisen würde, und er behielt recht.
Die Jungfrau und die
fruchtbare Mutter – er würde sie beide nehmen und beide
befriedigen. Er folgte Marianne in den kleinen Raum neben der
Küche, in dem sie ihre selbst gemachten Kräuterheilmittel
aufbewahrte, schob ihr mit der einen Hand den Rock hoch, zog mit
der anderen ihre Bluse nach unten und bearbeitete sie energisch und
geschickt mit den Fingern, während er ihr die Zunge in den heißen,
feuchten Mund steckte, genau so, wie er in wenigen Augenblicken in
ihren heißen Schoß eindringen würde. Und die ganze Zeit würde er
dabei an Amber denken.