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Amber war natürlich
in Ungnade gefallen. Mehr als zwei Wochen waren seit ihrem
Geburtstag vergangen, doch ihre Großmutter begegnete ihr immer noch
kalt und sprach nur dann mit ihr, wenn es unumgänglich
war.
»Glaubst du,
Großmutter hat Barrant de Vries geliebt, Greg?«, fragte Amber ihren
Cousin.
Sie hatten sich nach
dem Mittagessen im Billardzimmer getroffen. Amber saß im
Schneidersitz auf der Fensterbank, während Greg die Spitze seines
Queues einkreidete, bevor er sich über den Tisch beugte und
sorgfältig eine der Kugeln anvisierte.
»Woher zum Teufel
sollte ich das wissen?«, erwiderte er.
Wenn Großmutter
Barrant de Vries einmal geliebt hat, warum hasst sie ihn jetzt so
sehr?, fragte sich Amber. Sollte sie ihn damals geliebt haben,
unterschied sich diese Liebe jedenfalls sehr von der, die zwischen
ihren Eltern bestanden hatte.
»Großmutter redet
immer noch nicht mit mir. Oh, Greg, wenn ich doch bloß nicht
debütieren müsste!« Amber erschauderte.
»Ach, komm schon«,
meinte Greg aufmunternd. »So schlimm, wie du es dir jetzt ausmalst,
wird es vielleicht gar nicht. Ich dachte, euch Mädchen gefällt es,
hübsche Kleider zu tragen und auf Bälle zu gehen. Ich jedenfalls
würde mir diese Gelegenheit bestimmt nicht entgehen lassen, mich in
London zu vergnügen, das kann ich dir sagen.« Seine Augen glänzten.
»Da wären der Kit-Cat Club und das Embassy und der Slipper. Alles
Etablissements, wo man sich wirklich amüsieren kann.Vielleicht
sollte ich mit Großmutter reden und sie fragen, ob ich dich
begleiten darf, dann kann ich dir alle unerwünschten Verehrer vom
Hals halten.« Er setzte eine gespielt wilde Miene auf.
Amber
kicherte.
»Hör zu: Ich muss
später nach Fitton Hall rüberfahren; wenn du magst, kannst du
mitkommen. Das wird dich ein bisschen aufheitern.«
Greg war so nett.
Amber konnte sich glücklich schätzen, einen so fürsorglichen Cousin
zu haben.
»Ich dachte,
Großmutter hätte beim Frühstück gesagt, Lord Fitton Legh wäre
geschäftlich in London«, meinte Amber.
»Wirklich? Ich kann
mich nicht erinnern, aber es macht auch nichts, wenn er nicht da
ist. Ich will Lady Fitton Legh nur ein paar Bücher von Großmutter
zurückbringen.«
Amber nickte. Sie
freute sich darauf, Caroline Fitton Legh wiederzusehen. In der
Nachbarschaft hatte es ziemliches Aufsehen erregt, als Lord Fitton
Legh eine amerikanische Erbin heimgeführt hatte, die zwanzig Jahre
jünger war als er und kaum älter als Amber jetzt.
Blanche saß im
selben Wohltätigkeitskomitee wie Caroline Fitton Legh und die
verwitwete Marquise von Cholmondeley.
Letztere hatte Amber
im vergangenen Jahr an Weihnachten zu einer Kindergesellschaft
geladen. Amber erinnerte sich noch, dass es unter den erwachsenen
Gästen jede Menge Klatsch gegeben hatte, begleitet von erhobenen
Augenbrauen und den Worten »pas devant les
enfants«. Es war dabei anscheinend darum gegangen, dass der
Duke of Westminster Gabrielle Chanel, deren Kleider ihre Großmutter
so schätzte, nach Eaton Hall eingeladen hatte. Unschuldig hatte
Amber sich später bei Greg erkundigt, warum die Erwachsenen nicht
wollten, dass die Kinder von Mademoiselle Chanels Besuch in Eaton
Hall erfuhren, worauf Greg nur gelacht und der schockierten Amber
eröffnet hatte: »Weil sie die Geliebte des Herzogs ist, du
Gänschen.«
Jetzt jedoch war es
weniger das skandalöse Verhalten des Duke of Westminster, das Amber
beschäftigte, als die Ehe der Fitton Leghs. Hatten Carolines Eltern
gewollt, dass ihre Tochter einen Adeligen heiratete? War sie
deswegen Lord Fitton Leghs Frau geworden, obwohl der doch so viel
älter war als sie? Amber schauderte. Stand ihr auch so etwas bevor?
Amber eilte nach
unten. Unter ihrem cremeweißen Seidenjäckchen trug sie ihr »bestes«
schokoladenbraunes Nachmittagskleid. Die Dezembersonne brachte das
Muster aus kleinen cremeweißen Rauten zum Leuchten. Obwohl es neu
war, wirkte das Kleid mit dem hochgeschlossenen, cremeweiß
abgesetzten, eckigen Ausschnitt und dem kurzen Faltenrock noch
ziemlich schulmädchenhaft, genau wie die flachen Spangenschuhe aus
braunem Lackleder und die passende Handtasche. Ihr cremeweißer
Glockenhut war mit einem braunen Ripsband und einer einzelnen
schokoladenbraunen Seidenblume aufgeputzt. Amber hatte ihn tief in
die Stirn und ein wenig schräg aufgesetzt, so wie die Mannequins in
der Vogue ihre Hüte trugen. Cremeweiße
Lederhandschuhe vervollständigten das Ensemble.
Als Amber in die
Eingangshalle trat, stellte sie fest, dass Greg dort bereits auf
sie wartete und ungeduldig auf und ab ging.
Er hatte sich
ebenfalls umgezogen. Er trug jetzt einen Tweedanzug mit Oxfordhose,
die so weit war, dass man nur die Spitzen seiner braunen Budapester
sah. Den Hut hatte er in der Hand, sein dichtes blondes Haar, das
ihm normalerweise bis in die Augen fiel, war streng mit Brillantine
zurückgekämmt. Er sah sehr attraktiv aus.
»Fertig, altes
Mädchen?«
Amber nickte und
legte ihm die Hand auf den Arm, den er ihr mit schelmischem Lächeln
entgegenstreckte, während Wilson, der Butler ihrer Großmutter,
einem Dienstmädchen bedeutete, ihnen die Tür zu öffnen. Sie fühlte
sich furchtbar erwachsen und stolz, dass sie mit Greg ausging, um
einen Nachmittagsbesuch zu machen.
Gregs knallroter
Roadster, der Bugatti, den er seiner Großmutter bei seiner Rückkehr
aus Oxford abgeschmeichelt hatte, parkte auf der gekiesten
Einfahrt.
Fitton Hall lag im
Osten von Macclesfield, Denham Place im Westen. Die beiden
Landsitze wurden nicht nur durch die Stadt Macclesfield getrennt,
sondern auch durch das hübsche Dorf Alderley Edge, wo ursprünglich
die Eisenbahnlinie geendet hatte und wo nun alle reichen
Eisenbahnbarone wohnten. Es gab eine Abkürzung über eine schmale,
gewundene, steil abfallende Landstraße, auf der oft bäuerliche
Fuhrwerke unterwegs waren, doch Greg nahm die längere Strecke, die
über bessere Straßen führte. Als sie an Stanley Hall vorüberkamen
und dann den Hügel hinter Alderley zur eigentlichen »Edge«
erklommen, einem Steilhang, der sich über dem Ort erhob, hielt
Amber den Atem an. Über diese Felsklippe und ihre magischen
Eigenschaften waren viele Geschichten in Umlauf. Es hieß, dort sei
nie ein Vogel zu hören; manche behaupteten auch, in den Höhlen tief
unter dem Felsen habe Merlin gelebt. Er schlafe immer noch dort und
wache über Artus’ Schwert.
Als sie sich
Macclesfield näherten, berührte Amber Greg am Arm.
»Greg, könnten wir
an der Fabrik vorbeifahren, bitte?«
»Ich verstehe nicht,
was du in dieser langweiligen Fabrik siehst«, beschwerte er
sich.
Denby Mill war im
neopalladianischen Stil erbaut worden, der unter den
Fabrikbesitzern damals sehr beliebt gewesen war. In der Stadt gab
es mehrere Fabriken in diesem Stil, doch Denby Mill war die bei
weitem größte und auch profitabelste.
Ambers Mutter hatte
ihr erklärt, der Wohlstand ihrer Familie liege in der Ehe eines
Vorfahren mit der einzigen Tochter eines wohlhabenden Reeders aus
Liverpool begründet. Vom Erbe seiner Frau hatte dieser Vorfahr
nicht nur die Fabrik errichtet, sondern auch in den Bau von
Eisenbahnen und Kanälen investiert.
Blanche Pickford
hatte zusätzlich zu dem Vermögen, das sie nach dem Tod ihres Vaters
erhalten hatte, ein zweites Vermögen von einem unverheirateten
Onkel mütterlicherseits geerbt.
Ambers Mutter hatte
ihr außerdem erzählt, dass ihr Vorfahr sich durch die Familie
seiner Frau für den Fernen Osten zu interessieren begann. Auf seine
Seide ließ er die Kopie eines Gemäldes drucken, das ursprünglich
aus China stammte. Daraus war die berühmte chinesische Seide von
Denby Mill entstanden, die zum ersten Mal bei der Weltausstellung
vorgeführt worden war, wo Queen Victoria höchstpersönlich sie
bewundert hatte.
Wie andere in seiner
Stellung hatte auch ihr Vorfahr Josiah Denby einen kleinen Teil
seines Reichtums für philanthropische Zwecke gespendet, um den
Armen in der Stadt zu helfen. Damit hatte er eine Familientradition
begründet, die seit Generationen befolgt wurde.
Als Kind hatte Amber
immer furchtbar gerne zugehört, wenn ihre Mutter von ihrer Familie
erzählte.
In dem von einem
schmiedeeisernen Zaun umgebenen Garten neben der Fabrik stand eine
Statue von Denby. Als sie jetzt daran vorbeifuhren, lächelte Amber
still in sich hinein. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich als
Kind gewünscht hatte, er hätte etwas Aufregenderes geleistet, so
wie Miss Brocklehurst, die nach Ägypten gereist war und jede Menge
Artefakte mitgebracht hatte, darunter eine Mumie, die jetzt in
einem Museum im West Park untergebracht waren, wo man hingehen und
sie bestaunen konnte.
Nachdem sie die
Stadt und die Fabrik hinter sich gelassen hatten, nahm Greg die
Straße, die nach Fitton Hall und zum Wald von Macclesfield
führte.
Kurz darauf folgte
Greg der langen Allee zum Landsitz der Fitton Leghs. Am Torhaus
hielt er, bis jemand herauskam und das Tor für sie
öffnete.
Das elisabethanische
Haus und die Gärten waren berühmt für ihre Schönheit. Manche
behaupteten sogar, die Dark Lady in Shakespeares Sonetten sei eine
Fitton gewesen. Daneben hielt sich das Gerücht um ein tragisches
Ereignis in der Vergangenheit, wonach sich eine Fitton, die gegen
ihren Willen verheiratet worden war, in einem Teich zwischen dem
Landsitz und der Dorfkirche ertränkt haben sollte, weil ihr das
immer noch lieber war, als mit ihrem Bräutigam das geliebte Heim zu
verlassen.
»Oh, Greg, ist das
nicht hübsch?«, rief Amber aus, als sie zu der Fachwerkfassade mit
den mehrteiligen Fenstern blickte, während Greg den Wagen vor dem
Haupteingang zum Stehen brachte.
Ein Hausdiener
öffnete ihnen die Tür.
»Guten Tag, Mr
Pickford.«
Amber war ein
bisschen überrascht, dass ihr Cousin namentlich begrüßt wurde,
interessierte sich aber viel zu sehr für das Haus, um sich darüber
Gedanken zu machen.
Voll Ehrfurcht sah
sie sich in der getäfelten Eingangshalle um. Ob die Stickerei, die
sie auf den Kissen entdeckte, eine echte Handarbeit aus der Zeit
Jakobs I. war? Gern hätte sie sich die Kissen aus der Nähe
angesehen, doch der Diener wartete, dass sie ihm
folgten.
Auf dem
Steinfußboden der Halle lag ein Teppich, und in der Mitte stand ein
auf Hochglanz polierter Tisch, auf dem ein wunderschönes
Blumenarrangement aus Treibhauslilien und Rosen seinen Duft
verströmte. Eine Treppe, deren Geländer mit kunstvoll geschnitzten
Früchten und Blättern im Stile des niederländischen Bildhauers
Grinling Gibbons verziert war, führte hinauf zu einer offenen
Galerie. Von den Wänden blickten düstere Porträts verblichener
Fitton Leghs in schweren Rahmen auf die Besucher; die Feuerstelle
im Kamin war beinahe groß genug, um einer Person Platz zu
bieten.
»Komm schon«,
zischte Greg ungeduldig und zupfte Amber am Ärmel, als diese
innehielt, um das alles zu bestaunen.
Gehorsam folgte sie
dem Diener durch einen Flur mit Faltwerktäfelung, der in die
ursprüngliche große Halle führte. Sie war zwei Stockwerke hoch; die
Fenster gingen hinaus auf sanft gewellte Grünflächen, und an den
Wänden hingen Rüstungen, Schwerter und die Wappen der Fitton
Leghs.
Amber betrachtete
sie voller Interesse. Anlässlich des vierhundertsten Jahrestags der
Übertragung von Fitton Hall an ihre Familie war ihr Vater von Lord
Fitton Leghs inzwischen verstorbener Mutter beauftragt worden,
diese Wappen in ein Design für neue Tischwäsche zu integrieren.
Amber erinnerte sich gut daran, dass sie ihm dabei zugesehen hatte,
wie er mit konzentriert gerunzelter Stirn die verschiedenen
Helmzieren abgepaust und zu Entwürfen zusammengestellt hatte, ehe
er ihre Mutter rief und sie um ihre Meinung bat.
Die schweren
Vorhänge an den Fenstern waren mit Ananasmotiven bestickt, was, wie
Amber von ihrem Vater wusste, darauf hindeutete, dass sie von jenem
Fitton Legh in Auftrag gegeben worden waren, dessen Frau ein aus
dem Westindienhandel stammendes Vermögen mit in die Ehe gebracht
hatte.
Ein alter, mächtiger
Speisetisch füllte die Halle von einem Ende bis zum anderen. An der
Wand gegenüber stand ein reich geschnitzter Wandschirm, über dem
sich eine Sängerempore erhob.
»Nun komm schon.«
»Tut mir leid«,
entschuldigte sich Amber. »Aber das alles hier ist so herrlich. Ich
könnte es mir stundenlang anschauen.«
Jenseits der großen
Halle verbreiterte sich der Flur zu einem weitaus moderneren
rechteckigen Gang, und Amber erkannte, dass sie nun den von Robert
Adam erbauten Teil des Hauses betreten hatten. Die Wände waren in
hellem Taubenblau gestrichen, die Stuckarbeiten leuchteten weiß.
Symmetrisch verteilte Nischen boten Platz für Büsten, in denen
Amber weitere Fittons vermutete.
Mehrere elegante
Doppeltüren aus Mahagoni gingen von diesem Flur ab. Der Hausdiener
öffnete eine und kündigte die Besucher an.
Das Strohgelb der
Wände wiederholte sich auf den Satinpolstern der Regency-Möbel,
sodass der ganze Raum von einem weichen, warmen Licht erfüllt
schien.
Lady Fitton Legh saß
auf einem kleinen Sofa, neben ihr Cassandra, die, wie Amber wusste,
bei den Fitton Leghs wohnte. Die beiden Familien waren durch
Barrant de Vries’ verstorbene Frau verwandtschaftlich verbunden.
Als Kind hatte Cassandra nicht so viel Zeit in Cheshire verbracht
wie Jay, daher kannte Amber sie nicht besonders gut.
Cassandra war zwei
Jahre älter als Amber. Ihre Eltern wohnten in der Nähe von
Brighton; Jay hatte erzählt, Cassandra habe die Fitton Leghs
voriges Weihnachten besucht und sei von Lord Fitton Legh eingeladen
worden, als Gesellschafterin seiner Frau bei ihnen zu
bleiben.
Sobald sie ihre
Besucher sah, sprang Lady Fitton Legh vom Sofa auf, eilte auf sie
zu und rief in offenkundigem Entzücken: »Greg, was für eine
reizende Überraschung!«
Greg reagierte
merkwürdig gestelzt; er wich hastig zurück und klang längst nicht
so entspannt, wie es seinem Wesen entsprach, als er erwiderte:
»Meine Großmutter hat mir aufgetragen, Ihnen ein paar Bücher
zurückzugeben, und ich habe meine Cousine Amber
mitgebracht.«
Jedes Mal, wenn sie
Caroline Fitton Legh zu Gesicht bekam, staunte Amber von Neuem über
deren Schönheit. Ihre Augen, groß und veilchenblau, betonten die
Zartheit ihres Gesichts; ihre Lippen waren weich und voll und
schienen ein wenig zu zittern, was ihr einen traurigen und
verletzlichen Ausdruck zugleich verlieh. Ihr Teint war zart
gebräunt, genau wie bei den Mannequins in der Vogue; Amber hätte ihre eigene, typisch englische
Pfirsichhaut auf der Stelle dagegen eingetauscht. Ihr Haar war
dunkel und nach der neuesten Mode knabenhaft kurz geschnitten und
perfekt onduliert. Sie trug ein Kleid aus Seide, vom selben
Veilchenblau wie ihre Augen. Nie hatte Amber jemand so Schlanken
oder Zarten gesehen. Ihre Eheringe wirkten an der schmalen Hand
riesig und schwer.
Cassandra, die Platz
behalten hatte, stand nun auf und machte Anstalten, sich zwischen
die Neuankömmlinge und Caroline zu schieben. Die arme Cassandra,
dachte Amber mitleidig. Lady Fitton Leghs Schönheit unterstrich
Cassandras Reizlosigkeit. Cassandra war groß und dünn, hatte
strohiges, rotblondes Haar und galt allgemein als abweisend und
linkisch, sowohl in ihrer Art als auch in ihren Bewegungen. Selbst
Jay hatte Amber gestanden, dass er Schwierigkeiten habe, mit ihr
auszukommen, und dass sie sich nicht besonders nahe
standen.
Es war
offensichtlich, dass Cassandra von ihrer Ankunft nicht begeistert
war; das verrieten ihre Blicke.
»Sie müssen beide
zum Tee bleiben«, beharrte Lady Fitton Legh. »Cassandra und ich
haben uns eben schrecklich gelangweilt. Sie müssen uns einen Ihrer
köstlichen Witze erzählen, Greg, und uns zum Lachen bringen.«
Während sie noch sprach, klingelte sie nach dem Tee.
Amber war nicht klar
gewesen, dass ihr Cousin Caroline so gut kannte, dass er ihr Witze
erzählte.
»Ich liebe die
englische Teezeremonie«, erklärte Lady Fitton Legh und lachte.
»Greg, setzen Sie sich zu mir und achten Sie darauf, dass ich die
vielen kleinen Regeln einhalte.«
Doch statt ihrer
Einladung Folge zu leisten, schob Greg Amber nach vorn und sagte
munter: »Ich halte es für das Beste, wenn Amber sich zu Ihnen
setzt. Ich bin viel zu ungeschickt, ich würde nur irgendetwas
umwerfen, stimmt’s, Amber?«
»Ist das wahr, Miss
Vrontsky? Ist Ihr Cousin wirklich so ungeschickt, wie er behauptet,
oder zieht er uns nur auf?«
Zu Ambers
Erleichterung kamen in diesem Augenblick der Butler, zwei
Hausdiener und ein Dienstmädchen herein und enthoben sie einer
Antwort. Mit geübter Leichtigkeit deckten sie den Tisch: Zuerst
wandte sich der Butler an den Hausdiener, um die Spirituslampe für
den Wasserkocher von dem großen Silbertablett zu nehmen, das der
Hausdiener trug. Sobald er sie angezündet und den Wasserkocher
daraufgestellt hatte, griff er nach der Teekanne. Alles musste
akkurat in der richtigen Reihenfolge an den richtigen Platz auf der
frisch gestärkten Tischdecke gelegt werden, welche auf dem Tisch am
Sofa lag. Das Dienstmädchen breitete derweil eine weitere
Tischdecke über einen anderen Tisch und machte sich daran, mit dem
Porzellan einzudecken, das der zweite Hausdiener auf einem Tablett
bereithielt.
Die Hausdiener
gingen noch einmal auf den Flur hinaus und kehrten dann mit dem
Teewagen zurück, der mit winzigen entrindeten Sandwiches und einer
reichen Auswahl von Teebrötchen und Kuchen beladen war. So nervös
und eingeschüchtert, wie Amber sich fühlte, hatte sie nicht das
Gefühl, überhaupt einen Bissen hinunterzubringen.
Während Lady Fitton
Legh Greg mehrere Botschaften für seine Großmutter auftrug, bemühte
Amber sich höflich, Cassandra ins Gespräch zu ziehen, was kein
leichtes Unterfangen war, da Cassandra auf alles entweder mit einem
hölzernen Ja oder mit einem Nein antwortete. Als Lady Fitton Legh
schließlich klingelte und das Teegeschirr abtragen ließ, war Amber
äußerst erleichtert.
Doch ihre Hoffnung
auf einen baldigen Aufbruch wurde zunichtegemacht, als Lady Fitton
Legh meinte: »Greg, Lord Fitton Legh wird sehr böse auf mich sein,
wenn er erfährt, dass Sie hier waren und ich ihm nicht genau von
Ihrem Treffen mit dem Parteiausschuss berichten kann. Cassandra,
nimm Amber doch mit ins Musikzimmer, da kannst du ihr das Stück
vortragen, das du gerade einstudierst. Cassandra spielt
hervorragend Klavier, Amber.«
Einen Augenblick
dachte Amber, Cassandra würde sich tatsächlich weigern, denn sie
sah aus, als kochte sie vor Zorn, doch dann stand sie abrupt auf
und rannte mit hochrotem Kopf zur Tür, ohne auf Amber zu achten,
die Mühe hatte, Schritt mit ihr zu halten.
Auch im Musikzimmer
würdigte Cassandra Amber keines Blickes, was diese mit tiefem
Unbehagen erfüllte. Sie setzte sich ans Klavier, hob den Deckel und
ließ die Hände mit einem lauten, dissonanten Lärmen auf die Tasten
fallen, dass die Glastropfen am Kronleuchter
wackelten.
Während Amber sich
immer noch von ihrem Schrecken erholte, begann Cassandra, ohne
irgendeine Erklärung für ihr merkwürdiges Verhalten abzugeben, sehr
laut zu spielen. Eine Unterhaltung war dadurch unmöglich. Amber
wünschte sich, dass Greg sich beeilte und sie rettete.
Während sie spielte,
blieb Cassandras Gesicht feuerrot, und in ihren Augen zeigte sich
ein merkwürdiges Glitzern. Amber hatte keine Ahnung, was sie tun
sollte. Ein derartiges Benehmen war ihr einfach noch nicht
untergekommen. In der Schule waren sie alle einem sehr strengen
Regiment unterworfen gewesen, das ihnen eine öffentliche
Zurschaustellung ihrer Gefühle streng untersagt hatte. Für eine
Dame, so hatte man ihnen eingetrichtert, schickte es sich einfach
nicht, ihre Gefühle zu zeigen.
So abrupt, wie sie
zu spielen angefangen hatte, hörte Cassandra auch wieder
auf.
»Sie wissen, dass
Ihr Cousin in Caroline verliebt ist, nicht wahr? Nicht dass sie ihn
je anschauen würde. Sie macht sich über ihn lustig. Wir beide
machen uns über ihn lustig.«
Amber wusste nicht,
was sie darauf erwidern sollte. Sie fühlte sich äußerst
unbehaglich, und wenn sie ehrlich war, musste sie einräumen, dass
Cassandra ihr ein wenig Angst machte.
»Sie müssen ihm
sagen, dass er aufhören soll, hier vorbeizukommen und sie zu
belästigen. Wenn nicht, wird er große Schwierigkeiten
kriegen.«
»Bestimmt irren Sie
sich. Greg ist nur höflich«, entgegnete Amber tapfer.
»Nein, ich irre mich
nicht. Ich habe doch gesehen, wie er sie anschaut. Ich habe gehört,
was für Lügen er erzählt, was für Ausreden er vorbringt, nur um sie
sehen zu können, wenn er hier doch gar nichts verloren
hat.«
Sie knallte den
Klavierdeckel zu und rauschte ohne ein weiteres Wort aus dem
Zimmer.Verwirrt blickte Amber ihr nach.
»Na, fühlst du dich
jetzt ein bisschen besser?«, fragte Greg, als er mit Amber nach
Hause fuhr.
Amber warf ihrem
Cousin einen Blick zu. Er sah auf die Straße, schließlich steuerte
er den Wagen.
»Greg, Cassandra hat
etwas höchst Seltsames zu mir gesagt.«
»Was
denn?«
»Sie hat gesagt, du
wärst in Lady Fitton Legh verliebt.« Ein kurzes Schweigen trat ein,
und dann lachte Greg ein wenig zu laut.
»Himmel, was für
einen Unsinn ihr Mädchen zusammenschwafelt. Natürlich bin ich nicht
in sie verliebt. Lady Fitton Legh ist verheiratet. Ich könnte mir
vorstellen, dass Cassandra selbst für Lady Fitton Legh schwärmt,
wie ein verdrehtes Schulmädchen. Du weißt doch selbst, wie das bei
euch so ist«, neckte er sie. »Dauernd himmelt ihr irgendwen
an.«
Das klang recht
vernünftig, und Amber atmete erleichtert auf. Doch irgendetwas an
den Ereignissen des Nachmittags hatte sie beunruhigt.
Lady Fitton Legh war
so schön, dass es nicht weiter verwunderlich wäre, wenn Greg sich
tatsächlich in sie verliebt hätte, aber Amber war froh, dass dem
nicht so war.
Wie er selbst gesagt
hatte: Caroline Fitton Legh war verheiratet, und Amber wollte nun
wirklich nicht, dass ihrem Cousin das Herz gebrochen wurde, weil er
sich in jemanden verliebt hatte, der für ihn unerreichbar war und
der seine Gefühle niemals erwidern konnte.