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Gebete für die Toten

Simon Winter wand sich unbehaglich auf seinem Klappstuhl aus Eisen, während ein junger Rabbi die Grabrede hielt. Auch wenn die Trauergemeinde sich unter einem dunkelgrünen Zeltdach des Bestattungsinstituts versammelt hatte, setzte die sengende Mittagshitze der Schar zu. Vorwiegend waren ältere Menschen gekommen, deren dunkle Wollanzüge zu dampfen schienen. Simon Winter wünschte sich nichts sehnlicher, als seine Krawatte zu lockern, die ihm unter dem gestärkten Kragen seines einzigen verbliebenen weißen Anzughemds den Hals zuschnürte. Als er einen Blick in die Runde warf, dachte er: Wir sehen alle so aus, als könnten wir Sophie Millstein bald in ihrem Sarg Gesellschaft leisten. Er schämte sich ein wenig für den pietätlosen Gedanken, rechtfertigte ihn jedoch mit der Gewissheit, dass in absehbarer Zeit seine eigenen sterblichen Überreste in einer Kiste aufgebahrt oder in eine Urne gestopft würden, über der jemand anders, den er nicht kannte und der ihm von Herzen gleichgültig war, seine Abschiedsworte herunterleierte.

Der Rabbi, ein kleiner, runder Mann, der unter dem Kragen mit demselben Problem kämpfte wie Simon Winter, erhob seine Stimme:

»Diese Frau, Sophie Millstein, wurde ins Inferno gestürzt, um sich daraus wie ein Phönix zu erheben und mit Hingabe und Güte die geliebte Gefährtin von Leo und Mutter eines brillanten Sohns, Murray, zu werden …«

Die Stimme des jungen Geistlichen war schrill und nadelspitz. Winter richtete den Blick in den zartblauen Himmel und suchte den Horizont nach Wolken ab, die auf ein baldiges Gewitter und eine erfrischende Regenflut hoffen ließen. Doch er konnte weit und breit keine entdecken. Er sog die Luft ein, die ihm wie dichter, heißer Rauch in die Lungen drang.

Er saß allein in der hintersten Reihe und wies sich dafür zurecht, wegen der Hitze nicht bei der Sache zu sein.

Immerhin war es gut möglich, dass er da war.

Irgendwo da drüben, so gerade eben außer Sichtweite, im Schutz der Bäume. Oder mit gramgesenktem Haupt mitten unter den Trauergästen. Falls er auf der Jagd war, zog es ihn hierher – mitten in die Schar von Sophies alten Freunden.

Schließlich weiß er nicht, fügte Winter in Gedanken hinzu, dass jemand nach ihm sucht.

Im selben Moment beschlichen ihn Zweifel: falls er überhaupt existiert.

Neben ihm lauschten Mr. Finkel und die Kadoshs hingebungsvoll den Worten des Rabbi. Mrs.Kadosh hielt ein weißes Leinentaschentuch in der Hand, mit dem sie sich abwechselnd links und rechts die Augenwinkel trocken tupfte und den Schweiß von der Braue wischte. Ihr Mann war damit beschäftigt, ein gedrucktes Programm zusammenzurollen und wieder glatt zu streichen. Dann fächelte er sich mit dem Papier Luft zu, um sich – vergeblich – ein wenig Kühlung zu verschaffen.

Die anderen Bewohner des Sunshine Arms saßen quer verteilt in der Trauergemeinde. Winter sah, dass Mr.Gonzalez, der Vermieter, die gesamte Grabrede hindurch starr zu Boden blickte. Seine Tochter hatte ihren Vater zur Bestattung begleitet. Sie war so groß wie er und trug ein schmales, schwarzes Kleid, das bei einer Operngala ebenso angemessen gewesen wäre wie zu dem gegebenen Anlass.

Simon Winter seufzte. Ein halbes Jahr lang hatte Miss Gonzalez die leere Wohnung neben Sophie Millstein benutzt, um sie mit einer Reihe von Liebhabern zu teilen. Da sie es gewöhnlich versäumte, die Gardinen zu schließen, gab sie Winter Gelegenheit, sie zu beobachten. Er hegte sogar den Verdacht, dass sie sich seiner Blicke bewusst gewesen war und ihm die Einblicke in voller Absicht als Gefälligkeit gewährt hatte. Er schüttelte den Kopf. Als sie in exklusivere Apartments an der Brickell Avenue weiterzog, verlor das Sunshine Arms mit ihr einen beträchtlichen Teil seiner Anziehungskraft.

Bevor sie neben ihrem Vater Platz nahm, hatte sie über die Schulter geschaut, so dass sich für einen kurzen Moment ihre Blicke trafen. Mit einem zarten, traurigen Lächeln und einem kaum merklichen Nicken schien sie ihn daran erinnern zu wollen, was er an ihr verloren hatte, und darüber musste Simon Winter bei allem feierlichen Ernst und trotz der trüben Gedanken über seine ermordete Nachbarin innerlich herzlich lachen.

»Und so empfinden wir heute alle schmerzlich den Verlust dieser Frau …«, nahm die Rede des Rabbi den vorhersehbaren Verlauf.

Er riss sich von Mr.Gonzalez’ Tochter los und ließ den Blick noch einmal über die Reihen der Trauernden schweifen. Falls er hier ist, dachte Winter, dann entgeht ihm nichts. Er sucht die Gesichter ab und durchforstet dabei seine eigenen Erinnerungen.

Winter konzentrierte sich auf einen Mann zu seiner Rechten. Der Mann starrte den Rabbi an. Den alten Detective erfasste eine Woge der Erregung. Wieso bist du so neugierig?, fragte er innerlich.

Doch im nächsten Moment sah er, wie derselbe Mann sich zu der älteren Frau umdrehte, die neben ihm saß. Die Frau berührte ihn am Arm.

Nein, dachte Winter. Du bist allein. Bist du nicht immer allein?

Falls es dich gibt.

Um besser nachdenken zu können, neigte er ein wenig das Kinn zur Brust. Er hatte Irving Silver, Frieda Kroner und Rabbi Rubinstein geraten, nicht zur Beerdigung zu kommen. Er wollte dem Mann, den sie fürchteten, nicht den Vorteil verschaffen, sie zu sehen, bevor er sich über seine eigene Strategie im Klaren war. Sie hatten protestiert. Er hatte darauf bestanden.

Er sah sich die Menge noch einmal an und achtete besonders auf unbekannte Gesichter, doch es waren zu viele. Sophie Millstein hatte zu vielen Frauengruppen, Bridge-Clubs, Synagogenräten angehört. Fast hundert alte Leute rutschten auf ihren Stahlstühlen herum.

Die Worte des Rabbi schienen in der Hitze zu flirren.

»So viel durchzumachen und am Lebensabend eines gewaltsamen Todes zu sterben, ist eine Tragödie, die einem das Herz bricht …«

Winter sah sich nach Detective Robinson und der jungen Frau von der Staatsanwaltschaft um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Er vermutete allerdings, dass sich irgendein Vertreter der Kripo Miami Beach unter die Gäste gemischt hatte. Das gehörte in seinen aktiven Jahren zu den üblichen Verfahrensweisen bei Fällen ohne identifizierten Täter – selbst wenn der Hauptverdächtige einer anderen Altersgruppe und Ethnie angehörte. Man wusste nie, wen die Neugier hintrieb. Er schätzte, dass Robinson einen Untergebenen dazu verdonnert hatte; seine eigene Hautfarbe hätte es ihm nicht erlaubt, unerkannt die Menschen unter dem Zeltdach zu mustern.

Natürlich konnte es sehr gut sein, dass der Stellvertreter des Detective nach dem gänzlich Falschen suchte.

Simon Winter atmete langsam aus und zerknüllte das Programm in der geballten Faust. Er kämpfte mit einer unbändigen Wut und Frustration, die ihm in den Adern pochte.

Ich glaube erst mal gar nichts, schärfte er sich ein.

Vorerst habe ich nichts weiter als ein paar seltsame Zufälle und ein Trio verängstigter alter Leute sowie einen Alptraum aus einer anderen Ära.

Wieder blickte er in den Himmel. Die Wut verwandelte sich in Schuldgefühle. Weißt du wirklich noch, wie es geht? Wie man einem Anfangsverdacht so unerbittlich auf den Grund geht, dass man am Ende harte, unabweisliche Fakten hat?

Er biss die Zähne zusammen.

Benimm dich endlich so, wie du mal warst. Du willst, dass sie dich wieder mit Detective anreden? Dann verhalte dich auch wie einer. Stelle Fragen. Finde die Antworten dazu.

In der ersten Reihe, nicht weit vom Grab, zappelte ein Kind von vier oder fünf Jahren und versuchte, die Stimme des Rabbi zu übertönen, wurde aber von der Mutter augenblicklich zum Schweigen gebracht. Der Geistliche legte eine kurze Pause ein, sah den Jungen mit einem Lächeln an und fuhr fort:

»Wer also war diese Sophie Millstein, die anderen so viel gegeben und so viel in ihrem Leben erreicht hat? Ich habe das Gefühl, ich sollte mehr über diese bemerkenswerte Frau wissen und herausbekommen, was ich – so wie ihr Sohn und ihre Schwiegertochter und ihre geliebten Enkelkinder – aus Lektionen ihres Lebens lernen kann …«

Simon Winter sah von seinem Platz aus nur Murray Millsteins Rücken. Doch während der Rabbi sprach, sah er, wie der Anwalt seiner Frau den Arm um die Schulter legte und mit der Hand noch seinen Sohn erreichte, auf dem er sie ruhen ließ. Der Rabbi setzte seine Grabrede fort, und indem er mühelos ins Hebräische wechselte, sprach er das Kaddisch über dem Sarg, doch Winter hörte die Worte nicht mehr und spürte nicht mehr die drückende Hitze. Er sah nur, wie die Hand des jungen Vaters auf der Schulter seines Sohnes lag und der Sohn ganz sacht den Kopf zur Hand neigte und seine Wange daranschmiegte, so dass ihm in diesem einen Moment all die schrecklichen Kinderängste vor dem Sterben und dem Tod von der festen Berührung seines Vaters genommen wurden.

 

Winter bildete in der langen Kondolenzreihe, die sich nach der Feier bildete, fast das Schlusslicht. Er wartete einen Augenblick ab, in dem ihm mehr als nur eine Sekunde blieb, denn er wollte mehr tun als nur ein paar Worte des Trostes zu sprechen und zu gehen. Als die Menschentraube sich allmählich zerstreute und er sah, wie der junge Anwalt nach seiner Frau und den Kindern Ausschau hielt, trat er vor.

»Mr. Millstein, mein Name ist Simon Winter. Ich war ein Nachbar Ihrer Mutter …«

»Natürlich, Mr.Winter. Meine Mutter hat oft von Ihnen gesprochen.«

»Mein aufrichtiges Beileid für Ihren Verlust …«

»Danke.«

»Wissen Sie vielleicht, ob die Polizei …«

»Die Leute von der Kripo sagen, sie machen Fortschritte und sie würden mich auf dem Laufenden halten. Sie waren auch mal bei der Polizei, nicht wahr? Ich meine mich zu erinnern, dass meine Mutter …«

»Ja. Hier in Miami. Ich war Detective.«

»Meine Mutter hielt viel von Ihnen. Sie hat von allen ihren Nachbarn nur gut gesprochen. Womit waren Sie befasst?«

»Mord.«

Murray Millstein schwieg, als wöge er die einsilbige Antwort ab. Er war klein gewachsen, fast schmächtig, doch drahtig wie ein Langstreckenläufer, und er strahlte eine wache Aufmerksamkeit aus, die von einer Liebe zum Detail zu zeugen schien. Die Tränen, die Murray Millstein über den Mord an seiner Mutter weinte, dachte der alte Detective, würden im Verborgenen fließen. Der Anwalt musterte Winter eingehend, bevor er ruhig antwortete.

»Die Kripo Miami Beach scheint recht kompetent zu sein. Ist das auch Ihr Eindruck?«

»Ja, ganz bestimmt. Es ist nur – also, könnte ich Ihnen irgendwo ungestört ein paar Fragen stellen? Nicht gerade hier?«

Winter deutete mit der Hand auf die letzten Gäste, doch in dem Moment sah er, wie der Rabbi und der Bestattungsunternehmer zu ihnen herüberkamen.

»Wir werden heute auf Long Island Schiwa sitzen. Wir fliegen noch heute zurück. Gibt es etwas Bestimmtes, wonach Sie mich fragen wollten?«

»Nein, ich – es geht nur um etwas, das Ihre Mutter zu mir gesagt hat, kurz vor ihrem Tod.«

»Etwas, das sie gesagt hat?«

»Ja.«

»Was Ihrer Meinung nach etwas mit ihrem …«

»Ich bin mir nicht sicher. Es lässt mir keine Ruhe. Vielleicht bin ich einfach nur alt und sehe Gespenster. Wahrscheinlich war es nichts Wichtiges. Sie sollten der Kripo Miami Beach vertrauen. Ich bin sicher, dass man dem Tod Ihrer Mutter dort hohe Priorität einräumt.«

Murray Millstein zögerte nur einen Augenblick: »Für heute Nachmittag bin ich in der Wohnung meiner Mutter mit einer Spedition verabredet. Um vier. Wie wäre es, wenn wir dann reden würden?«

Winter nickte, und der jüngere Mann wandte sich zu den beiden Herren um.

 

Simon Winter wartete schon beim Posaunenengel im Hof des Sunshine Arms, als Murray Millstein in Begleitung eines Mannes in einem schlechtsitzenden, beigefarbenen Anzug eintraf. Der Sohn der Ermordeten sah sich kurz um, dann strebte er der Wohnungstür zu. Dort befand sich immer noch das große Schild, das in roten Druckbuchstaben verkündete: TATORT: ZUTRITT VERBOTEN. Winter sah, wie Murray Millstein, den Schlüssel in der Hand, plötzlich stehen blieb. Der Anwalt wandte sich an den Mann im Anzug und sagte: »Ich will da nicht rein. Gehen Sie einfach nur zügig durch alle Räume und denken Sie daran, nichts anzurühren. Danach können wir reden.«

Der Mann im Anzug nickte, und Murray Millstein schloss die Tür auf. Dann drehte er sich zu Winter um und ließ sich schwer auf die Eingangsstufen sinken.

»Ich wollte, dass sie in ein Seniorenheim zieht, Sie wissen schon, eins von denen in Fort Lauderdale, die sich auf alleinstehende ältere Menschen spezialisiert haben. Mit einem Gemeinschaftsprogramm. Betreuung rund um die Uhr. Bingo und anderen Freizeitaktivitäten.«

»Das hat sie mal erwähnt.«

»Sie wollte nicht. Sie hat sich hier wohl gefühlt.«

»Wenn man älter wird, kann Veränderung manchmal mehr Angst machen als irgendwelche Bedrohungen, die irgendwo da draußen lauern.«

»Das stimmt vermutlich. Aber das zählt nur so lange, wie all diese Dinge, die da draußen lauern, nicht bei Nacht in der Wohnung stehen und einen im Schlaf ermorden.« Aus Murray Millsteins Worten klangen bittere Selbstvorwürfe. »Geht es Ihnen auch so, Mr.Winter?«

»Ja. Nein. Wer weiß. Ich würde auch nicht gerne in eine dieser Anlagen ziehen. Obwohl ich es, wenn ich einmal da wäre, vermutlich gar nicht übel finden würde …«

»Das ist das Problem, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich.« Winter setzte sich neben Millstein auf die Treppe.

»Ich kann nicht da rein«, gestand der jüngere Mann. »Ich dachte, ich würde das packen. Und es müsste sein, ich meine, ich müsste gesehen haben, wo es passiert ist. Aber ich will nicht.« Er holte tief Luft. »Ist Blut zu sehen?«

Simon Winter schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Es herrscht nur ein ziemliches Chaos. Das ist an allen Tatorten so. Fingerabdruckpuder auf den Möbeln. Spuren der vielen Menschen, die rein- und rausgetrampelt sind. Ihrer Mutter wäre das ziemlich peinlich gewesen. Sie hielt alles sehr sauber und ordentlich.«

Murray Millstein lächelte. »Der Gedanke, in einem solchen Durcheinander zu sterben, hätte sie zutiefst beschämt.« Trotz der hochgezogenen Mundwinkel sprach die Trauer aus jedem seiner Worte.

»Ganz bestimmt.«

Sophie Millsteins Sohn atmete langsam aus.

»Es ist unglaublich schwer«, sagte er leise. »Da hat man diese Beziehung, die von all den banalen, aber auch all den schwierigeren Dingen im Leben geprägt ist. Man versucht, seine Mutter zu etwas zu bewegen, was sie nicht will. Sie beklagt sich gegenüber meiner Frau, und dann entwaffnet sie einen, indem sie den Enkelkindern Geschenke schickt. Ich wusste, dass sie alt wurde. Wahrscheinlich wusste ich auch, dass ihr nicht allzu viel Zeit blieb. Dabei gab es noch so vieles zu sagen. Als mein Vater starb, wissen Sie, da habe ich es begriffen. Ich habe gesehen, wie schrecklich es ist, Dinge mitteilen zu wollen und dann keine Chance mehr zu haben. Also war ich fest entschlossen, meiner Mutter noch alles zu sagen, was mir auf der Seele brennt. Aber irgendwie kam immer was dazwischen, ich war so eingespannt, und die Zeit zerrinnt einem zwischen den Fingern, Mr.Winter. Sie galoppiert davon, egal was man tut. Und dann wird sie von einer Sekunde zur anderen gekappt, einfach so, nur weil so ein Tier zehn oder zwanzig Dollar braucht, um sich die nächste Pfeife zu kaufen oder scheiß Crack zu besorgen oder was sonst ihm das Leben meiner Mutter wert ist …«

Murray Millstein hatte die Stimme erhoben, die Worte brachen wie ein Sturzbach aus ihm heraus und hallten quer über den Innenhof.

»So ein scheiß Junkie. Das vermuten sie. Schießt sich das Leben meiner Mutter in den Arm oder raucht ihre Zukunft in einer verdammten Pfeife. Wenn sie diese Bestie schnappen, hoffe ich, sie erlauben mir, ihm das Herz herauszureißen.«

Er schwieg, um nach Luft zu schnappen.

»Scheiß Bestie«, bekräftigte er in ätzendem Ton.

Dann verfiel er in Schweigen, als sei es ihm unangenehm, seinen Emotionen so lautstark freien Lauf gelassen zu haben. Einen Moment starrte er geradeaus, dann wandte er sich an Winter und fragte: »Meinen Sie, die kriegen den Bastard?«

»Ich weiß nicht. Sie verfügen heute über bessere technische Mittel und Methoden. Vielleicht.«

»Aber vielleicht auch nicht, richtig?«

»Vielleicht auch nicht. Bei den meisten Tötungsdelikten, die aufgeklärt werden, weiß man von Anfang an, wer es war. Ein Ehemann. Eine Ehefrau. Ein Geschäftspartner. Ein konkurrierender Drogendealer. Wer auch immer. Wenn sich dagegen zwei Lebensläufe zufällig berühren …«

»Ist es schwerer.«

»Ja.«

»Haben Sie mit dem Detective gesprochen? Dem jungen Schwarzen?«

»Ja, er machte auf mich einen kompetenten Eindruck.«

»Hoffentlich. Wir werden ja sehen.«

»Machen Sie weiter Druck«, riet Winter.

»Was?«

»Rufen Sie immer wieder an. Schreiben Sie an den Staatsanwalt. Wenden Sie sich an die Zeitung, die Fernsehsender. Erinnern Sie die Leute immer wieder daran. Das hilft. Auf diese Weise sorgen Sie dafür, dass der Fall auf dem Aktenstapel immer wieder ganz oben liegt, statt unter all dem anderen Mist begraben zu werden, der sich darauf türmt.«

»Sie kennen solche Fälle? Die einfach aus dem Blick geraten?«

»So etwas kennt jeder Detective. Sorgen Sie dafür, dass sie weiter über den Fall nachdenken. Vielleicht bekommen Sie dann Ergebnisse.«

»Das ist ein guter Rat.«

Einen Moment lang schwiegen sie beide, dann holte Murray Millstein zu einer Geste aus, die mehr als den Innenhof zu erfassen schien.

»Ich bin neununddreißig Jahre alt, und ich möchte hier so schnell wie möglich weg, um nie wieder herzukommen. Ich will, dass dieser gottverdammte Umzugsmensch seinen Kostenvoranschlag macht, damit ich in meinen Flieger und nach Hause komme.«

Er drehte sich halb zu Winter um.

»Und nun stellen Sie mir Ihre Fragen.«

»An dem Tag, an dem sie ermordet wurde, kam Ihre Mutter zu mir. Jemand hatte ihr Angst eingejagt. Sie hatte jemanden aus ihrer Vergangenheit wiedergesehen. Berlin 1943.«

»Tatsächlich?«

»Sagt Ihnen der Ausdruck ›der Schattenmann‹ etwas?«

Murray Millstein überlegte einen Moment. »Nein«, erwiderte er, »nicht, dass ich wüsste.« Er sprach den Namen nach, als könne er ihm durch die bloße Wiederholung entlocken, was es damit auf sich hatte. »Der Schattenmann? Nein, sagt mir nichts.«

»Hat Ihre Mutter viel über ihre Erlebnisse in der Kriegszeit erzählt?«

Murray Millstein schüttelte den Kopf. »Sind Sie mit den Besonderheiten der Beziehung zwischen Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern vertraut, Mr.Winter?«

»Nein.«

»Sie sind, äh, problematisch.« Als wollte er einen schwierigen Gedanken wegwischen, legte er, bevor er fortfuhr, die Hand an die Stirn.

»Sie wollte partout nicht über das KZ reden. Eigentlich über die ganze Zeit, bevor sie meinen Vater kennengelernt hatte. Sie sagte immer, ihr Leben hätte erst angefangen, als er sie mit in die Staaten nahm. Wussten Sie, dass sie, als sie hier ankam, kein Wort Englisch konnte? Sie hat nicht nur die Sprache gelernt, sie war genauso wildentschlossen, jede Spur ihres deutschen Akzents für immer auszumerzen. Mein Vater hat erzählt, sie wäre abends spät aufgeblieben und hätte vor einem Spiegel geübt.«

»Verstehe«, meinte Simon Winter.

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Murray Millstein offenbar gereizt. »Keine deutschen Autos. Keine deutschen Produkte. Wenn im gottverdammten Fernsehen irgendeine Sendung oder Meldung über Deutschland kam, hat sie umgeschaltet. Was ich damit sagen will: Auch wenn nie darüber gesprochen wurde, war ihr Überleben allgegenwärtig. Alles, was ich als Kind, in meiner Jugend und später bis zu dem Moment, als sie ermordet wurde, gedacht und getan habe, stand unausgesprochen in irgendeiner Beziehung zu dem, was ihr widerfahren ist. Es war immer da. Immer.«

Murray Millstein schüttelte den Kopf.

»Ich bin mit Geistern groß geworden«, erklärte er ausdruckslos. »Sechs Millionen Geistern.«

»Aber sie hat über ihre Erlebnisse nicht gesprochen …«

»Jedenfalls nicht mit mir. Allerdings hat sie ein Video aufgenommen. Für die Bibliothek des Holocaust Center hier in Miami Beach. Ich hab es nicht gesehen, aber sie hat es gemacht.«

»Woher …«

»Ich hab’s erfahren, weil die mir ein Spendengesuch geschickt haben. Für den guten Zweck. Sie wollten einen Beitrag. Ich habe ihnen Geld geschickt. Ich hab meine Mutter angerufen und ihr gesagt, ich wollte es sehen, und wir haben uns gestritten. Wahrscheinlich das erste Mal seit Jahren. Sie hat mir verboten, es zu ihren Lebzeiten zu sehen.«

»Werden Sie es sich jetzt anschauen?«

»Nein. Ja. Keine Ahnung.«

Murray Millstein stand auf. Der Mann im beigefarbenen Anzug kam aus der Wohnung. »Wie viel?«, fragte der Anwalt.

»Nach Long Island? Alles in allem? Zweitausendzweihundert, verpackt und gekennzeichnet. Das ist unser Sonderumzugsservice«, erwiderte der Mann.

»Na schön«, meinte Murray Millstein. »Muss zweifellos was Besonderes sein.« Er reichte dem Mann den Schlüssel. »Es kann ein paar Wochen dauern, bis die Polizei die Wohnung freigibt …«

»Keine Sorge, Mr.Millstein. Ein Anruf genügt, und wir sind zur Stelle. Ich schicke Ihnen den Vertrag.«

Der junge Mann nickte und sah auf die Uhr. »Ich muss los«, sagte er zu Winter. »Gehen Sie

»Was?«

»Gehen Sie und sehen Sie sich das Video an, Mr.Winter. Und erzählen Sie mir, was drauf ist.«

Murray Millstein wandte sich um und machte ein paar Schritte über den Hof, dann drehte er sich noch einmal halb zurück und sah Simon Winter über die Schulter an. »Ich hab Deutsch gewählt, wissen Sie.«

»Wie bitte?«

»An der Highschool. Ich hab Deutsch gelernt. Wir mussten eine Fremdsprache wählen, und ich hab Deutsch genommen. Sie hat das gehasst. Hat fast ein ganzes Schuljahr kaum mit mir gesprochen. Sie hat nicht mal ein deutsches Lexikon im Haus geduldet. Ich musste immer in der Schule lernen. Ich bekam eine Eins.«

Winter wusste nicht, was er sagen sollte. Er dachte nur, dass sich in der Welt manchmal ein schreckliches Ausmaß an Schmerz und Verletzungen zusammenballte und in einer ungerechten Verteilung auf einzelne Schicksale häufte.

Murray Millstein schien einen Moment angestrengt nachzudenken, bevor er hinzufügte: »Wissen Sie, was es bedeutet?«

»Was?« Simon Winter sah beinahe erschrocken auf, als hätte ein starker Wirbelwind alle seine Gedanken durcheinandergefegt, und die Stimme des jüngeren Mannes brächte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück.

»Der Schattenmann«, sagte Murray Millstein und zuckte mit den Achseln. »Wissen Sie, was das heißt?«

Simon Winter schüttelte den Kopf. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, nach der Wortbedeutung zu fragen.

»Es setzt sich zusammen aus Schatten und Mann.« Er schwieg und fügte hinzu: »Ich frage mich, was sie damit meinte?«

Doch Murray Millstein wartete keine Antwort ab. Simon Winter sah dem jungen Anwalt hinterher, der zügig durch den Innenhof und am Posaunenengel vorbeilief. Der Engel musste wohl an diesem Tag, so dachte der alte Detective, ein Klagelied anstimmen.