Fast im selben Moment, in dem Walter Robinson und Espy Martinez aus dem Verhörzimmer mit dem Hochgefühl traten, den Namen des Mannes zu kennen, der höchstwahrscheinlich Sophie Millstein ermordet hatte, fand sich Simon Winter im Büro des Morddezernats einem jungen Detective namens Richards gegenüber, der sich offenbar nicht recht entscheiden konnte, ob er dem älteren Mann mit Höflichkeit begegnen oder seine Ungehaltenheit über die Belästigung offen zeigen sollte.
»Danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen, Detective«, eröffnete Winter das Gespräch.
»Es ist ein abgeschlossener Fall, Mr.Winter. Ich musste mir die Akte aus dem Archiv besorgen.«
»Ich weiß Ihre Mühe zu schätzen.«
»Ja, schon gut, gern geschehen, aber mir ist immer noch nicht ganz klar, wieso Sie sich für den Tod dieses Mannes interessieren.«
Winter entschied sich für eine Lüge. »Na ja, Stein war mit mir verwandt – um einige Ecken – verschwägert, genauer gesagt. Und Sie wissen ja, wie schwer es ist, wenn man jemanden Jahre lang nicht gesehen hat und plötzlich erfahren muss, er sei gestorben, besonders, wenn es heißt, er hätte Selbstmord begangen. Deshalb wurde ich, weil ich nun mal hier in der Gegend wohne, gebeten, noch einmal nachzuhaken, auch wenn es schon Monate her ist. Sie wissen ja, wie manche Leute sind. Sie mäkeln herum. Können manches nicht fassen. Die meisten Menschen haben Probleme damit, die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie sind, und irgendwann schicken sie jemanden vor, der ein bisschen nachbohren soll …«
»Verstehe.«
»Familien. Manchmal können die einem …«
»Mächtig auf den Geist gehen. Kann ich nachvollziehen.«
»Sehen Sie«, meinte Winter und zuckte übertrieben mit den Achseln.
Dieses kleine Märchen schien Richards zu besänftigen und mit der Tatsache zu versöhnen, dass ihn ein neugieriger alter Mann bei der Arbeit störte.
»Ja, wer kennt das nicht. Aber, wie gesagt, der Fall ist abgeschlossen, Mr.Winter. Ziemlich eindeutige Sache. Ein Schuss. Abschiedsbrief. Da gab es für uns nicht mehr viel zu tun, außer aufzuräumen und die Leiche wegzuschaffen. Nichts Mysteriöses daran.«
»Waren Sie selbst am Fundort?«
»Ja. War mein Fall. Ich musste nur noch einen Bericht schreiben und eine Akte anlegen. Kann mich ehrlich gesagt nicht mehr allzu gut erinnern.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Die Putzfrau, soweit ich mich entsinne. Vielleicht vierundzwanzig Stunden nach Todeseintritt. Steht in meinem Bericht.«
Der junge Mann schob einen gefächerten Aktenordner über den Schreibtisch. »Sehen Sie selbst nach. War wirklich nichts Außergewöhnliches. Verkraften Sie die Fotos, Mr.Winter? Kein besonders schöner Anblick.«
»Ähm, ich denke schon. Danke, Detective.«
»Na ja, dann werfen Sie einen Blick drauf. Anschließend beantworte ich, soweit ich kann, gerne Ihre Fragen. Bei dieser Art von Todesfällen sieht eigentlich einer aus wie der andere, verstehen Sie? Man merkt sich keine Einzelheiten. Tasse Kaffee?«
»Nein danke.«
»Nun gut, bin gleich wieder da.«
Der junge Detective stand auf und ließ Winter auf der anderen Seite des Schreibtischs mit der Akte zurück. Für einen Augenblick zögerte der ältere Mann und strich wie ein Blinder beim Lesen der Brailleschrift mit den Fingern über die rauhe braune Pappe. Er musste an all die Fallakten denken, die er selbst in seinen Dienstjahren mit Fotos, Berichten, Zusammenfassungen und Beweismitteln gefüllt hatte. Er schmunzelte bei dem angenehmen Gefühl, endlich einmal wieder einen solchen Ordner in die Finger zu bekommen. Er nahm ihn vom Tisch auf und wog ihn in der Hand. Federleicht, dachte er. Dann streifte er mit einem Feuereifer, den er selbst vollkommen unangebracht fand, aber nun einmal nicht leugnen konnte, das Gummiband ab, das die Akte zusammenhielt.
Zuerst wandte er sich den Fotos vom Leichenfundort zu. Es gab nur ein halbes Dutzend Hochglanzbilder im Format zwanzig zu fünfundzwanzig, vielleicht ein Zehntel von dem, was bei einem Mordfall üblich war. Auf den beiden wichtigsten war ein älterer Mann zu sehen, der in einem Schreibtischsessel aus braunem Leder zusammengesunken saß. Die seitlich ausgestreckten Arme vermittelten den Eindruck ungläubigen Staunens. Zwischen seinen Augen war aus einer Schusswunde in der Stirn Blut heruntergelaufen und hatte den Kragen seines Sporthemds durchtränkt. An der Wand hinter Herman Stein zeichnete sich deutlich ein Spritzmuster ab, in dem das Blut sich mit Hirnmasse und Schädelsplittern vermischte. Unterhalb der von Blut und Schießpulver rotbraun und schwarz gefärbten Eintrittswunde starrten Steins Augen geradeaus. Sein Mund war leicht geöffnet, was den Eindruck der Verwunderung unterstrich. Der beinahe kahlköpfige Mann hatte nur noch ein paar Büschel weißer Haare über den Ohren. Mit dem blutverschmierten Gesicht erinnerte er an einen grotesken Wasserspeier. Simon Winter sah sich die Bilder sorgfältig an.
Sag was, forderte er innerlich den Toten auf.
Er blätterte zum nächsten Foto weiter. Darauf war ein großer Revolver, Kaliber achtunddreißig, abgebildet, der unterhalb von Steins ausgestreckter Hand auf dem Boden lag. Es folgte eine Nahaufnahme von Steins Gesicht. Als Nächstes hatte man die Schreibmaschine auf seinem Tisch festgehalten. In der Walze steckte das Blatt mit den Abschiedszeilen. Eine weitere Nahaufnahme bestätigte, dass Rabbi Rubinstein sich richtig erinnert hatte.
Simon Winter las: »Ich bin des Lebens müde und vermisse meine geliebte Hanna, und so mache ich mich jetzt zu ihr auf den Weg.«
Er legte die Fotos beiseite und nahm sich die Berichte des Detective vor. Sie enthielten eine kurze Beschreibung des Leichenfundorts sowie eine Liste von Nachbarn, die bezeugten, dass Mr. Stein vor seinem Tod unter Depressionen gelitten habe. Winter fand die Telefonnummer des nächsten Angehörigen, eines Sohnes mit dem ungewöhnlichen Namen G. Washington Stein, und eine Adresse an einer großen Universität in New England. Den Autopsiebericht, der die offensichtliche Todesursache bescheinigte, überflog er nur. Was passiert, wenn ein Bleispitzgeschoss Kaliber achtunddreißig aus nächster Nähe in die Stirn eines Menschen abgefeuert wird, ist ziemlich leicht vorhersagbar. Der toxikologische Befund war abgesehen von Spuren Ibuprofen – gegen Arthritis vermutlich – negativ. Winter stieß in einem weiteren Formular auf einen Vermerk über den Besuch des Rabbi bei Detective Richards, und er entdeckte eine Kopie von Steins Brief. Im Abschlussbericht des Detective blieb sein Inhalt unerwähnt. Das Fazit des jungen Ermittlers war schlicht und einfach: Selbstmord aufgrund von Altersdepression.
Er ging die Akte noch einmal durch, um zu sehen, ob er irgendetwas übersehen hatte. Außer der Bemerkung in dem Brief, den Stein vor seinem Tod geschrieben hatte, gab es keinen einzigen Hinweis auf den Schattenmann.
Als Simon Winter noch ratlos die Stirn runzelte, kam Mr.Richards mit einer Tasse Kaffee zurück.
»Ziemlich dürftig, wie?«, bemerkte der junge Mann.
»Ja, ziemlich dürftig.«
»Bei einem Fall wie diesem«, fuhr Richards fort, »wird nicht die komplette Maschinerie angeworfen. Das war ein Selbstmord wie aus dem Lehrbuch. Ein Mann, der offenbar keine Feinde hatte – selbst seine Nachbarn haben bestätigt, er sei stets höflich und freundlich gewesen. Seit dem Tod seiner Frau ungefähr fünf oder sechs Jahre vor seinem Selbstmord litt er an Depressionen. Im Badezimmerschränkchen habe ich ein Tablettendöschen mit Stimmungsaufhellern gefunden. Das steht auch im Bericht …«
Der Detective seufzte.
»Und er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen«, fügte er hinzu. »Diese letzten Worte und eine einzige Schusswunde im Kopf. Da braucht man kein Genie zu sein, um …«
»Die Waffe, gehörte die Stein?«
»Ähm, nein. Jedenfalls war sie nicht auf seinen Namen registriert. Eine von diesen vielen unerlaubten Revolvern, von denen es im Dade County Millionen geben muss. Ich hab die Seriennummer aufgeschrieben …«
Simon Winter notierte sich die Zahl. »Irgendwelche ballistischen Untersuchungen? Fingerabdrücke?«
»Wozu?«
»Hat die Putzfrau ausgesagt, ob sie die Waffe vorher schon mal gesehen hatte? Oder irgendjemand anders, Sie wissen schon, um zu bestätigen, dass sie ihm gehörte.«
Der junge Detective blätterte zügig durch die Berichte.
»Davon steht hier nichts. Aber das ist auch nicht verwunderlich. Die wenigsten wollen, dass ihre Putzfrau weiß, wo sie ihre Waffe verstecken. Sie könnte gestohlen werden.«
»Da haben Sie recht«, räumte Simon Winter ein. Dann fragte er: »Die Körperhaltung des Verstorbenen. Hat Sie das nicht irgendwie irritiert?«
»Inwiefern?«
»Na ja, wenn Sie sich erschießen wollen, dann halten Sie sich die Waffe doch normalerweise so …«
Er formte die Hand zu einer Pistole und drückte sie sich an die Schläfe.
»Oder so an den Kopf.«
Diesmal steckte er sich den Zeigefinger in den Mund.
»Sicher«, erwiderte Richards. »Damit hätte ich auch gerechnet. Ich hab noch nie daran gedacht, mir das Leben zu nehmen, deshalb bin ich auf diesen Umstand wohl nicht eingegangen.«
»Es ist doch ziemlich ungewöhnlich, wenn man sich so wie Stein eine große Handfeuerwaffe an die eigene Stirn hält. Ich meine, man muss sie festhalten, zielen und – ja, wie? –, um genügend Kraft zu haben, den Abzug mit dem Daumen betätigen.«
»Stimmt, das leuchtet mir ein. Was wollen Sie damit sagen?«
»Einfach nur, dass es ungewöhnlich ist.«
»Na ja, Selbstmord ist Selbstmord. Ich meine, er hätte auch aus dem Fenster springen können. Wohnte in seinem Wohnblock immerhin im zehnten Stock. Oder ins Meer rausschwimmen. Ist nur eine Straße entfernt. Er hätte sich auch vor einen Bus werfen können. Haben wir alles schon gehabt. Mag also durchaus sein, dass Sie oder ich es anders angestellt hätten, aber, na ja, jedem das Seine.« Richards musterte Simon Winter aufmerksam. »Sie kennen sich mit diesen Dingen ein bisschen aus, Mr.Winter?«
»War mal bei der Polizei. Kripo Miami. Seit Jahren im Ruhestand.«
»Hey, mein Vater war bei der städtischen Polizei. Hat leider in den späten Sechzigern ’ne Kugel ins Bein bekommen. Musste in Frühpension.«
Winter überlegte einen Moment, dann erinnerte er sich an einen untersetzten Mann mit gerötetem Gesicht.
»Ich erinnere mich. Ein Banküberfall, richtig? Er hat den Kerl über sechs Häuserblocks verfolgt, obwohl er die ganze Zeit blutete. Am Ende hat er ihn erwischt.«
»Donnerwetter, ja, das stimmt.« Der junge Detective strahlte. »Alle Achtung, haben Sie ein Gedächtnis!«
»Wie geht’s denn Ihrem Dad inzwischen?«
»Hält sich unten in Islamorada ein Fischerboot. ’ne Menge kaltes Bier und Mädels, die auf Ganzkörperbräune stehen. Dem alten Herrn geht’s prächtig.«
»Das hört man gerne.«
»Sagen Sie, Mr. Winter, soll ich das alles für Sie kopieren? Bringt Sie vielleicht auf andere Gedanken.«
»Das wäre toll. Eine letzte Frage noch …«
»Nur zu.«
»Die Waffe. Die haben Sie direkt unter seiner Hand gefunden, richtig?«
»Ja. Genau da. Eine Kugel fehlte. Fünf waren noch in der Trommel.«
»Aber wenn man die Wucht des Schusses bedenkt und wie er die Hände zurückwirft …«
Zur Demonstration streckte Simon Winter im Zeitlupentempo die Hände aus und sackte dann auf seinem Sitz zurück.
»… na ja, müsste die Waffe nicht ein Stück weiter weg sein?«
Der junge Detective schmunzelte. »Sie haben’s immer noch ganz schön drauf, Mr.Winter. Ja, schon möglich … Wenn es so ein kleines Ding, Kaliber zweiundzwanzig oder fünfundzwanzig wäre. Aber dieser alte Achtunddreißiger muss Tonnen gewogen haben. Unhandlich wie ein Ziegel. Der konnte nicht weit fliegen.«
Simon Winter nickte. »War abgeschlossen, als die Putzfrau kam?«
»Ja. Wie gesagt, sie ist mit ihrem Generalschlüssel reingekommen. Was das betrifft, ist alles klar.«
Simon Winter nickte. »Ich würde mich trotzdem über diese Kopien freuen.«
»Kein Problem. Behalten Sie das nur für sich. Sind immerhin offizielle Polizeidokumente. Wir verstehen uns?«
»Also, ich denke, die Vorschriften sind noch mehr oder weniger die gleichen, seit ich hinter so einem Schreibtisch saß.«
Detective Richards lachte und trat an ein Kopiergerät, während Winter sitzen blieb und sich die letzten Momente im Leben von Herman Stein vor Augen führte. Es ist alles absolut klar und eindeutig, dachte er – andererseits auch vollkommen verquer und unmöglich. Beides zugleich.
Es erforderte eine Menge Geduld, sich durch das interne Telefonnetz der University of Massachusetts zu manövrieren. Jedes Mal, wenn er es mit der Direktwahl von Professor G. Washington Stein versuchte, geriet er ins telefonische Niemandsland. Erst, als er nach einigen Mühen die Sekretärin des Instituts für Anglistik am Apparat hatte, gelangte er ans Ziel. Er hatte diese Art von Telefonaten schon immer gehasst, bereits zu seiner Zeit als Detective. Doch immerhin tröstete ihn der Gedanke, dass seit dem Tod von Herman Stein Monate vergangen waren und bei seinem Sohn die Wunden hoffentlich schon ein wenig verheilt waren.
»Professor Stein?«
»Ja. Keine Verlängerungen. Die Abschlussarbeiten sind am Mittwoch fällig. Wer spricht da bitte?«
»Professor, mein Name ist Simon Winter …«
»Sie sind kein Student?«
»Nein, ich bin Detective. Ich rufe aus Miami an.«
»Ein Detective? Und in welcher Angelegenheit ermitteln Sie?«
Winter schwieg einen Moment, während er versuchte, eine möglichst knappe, präzise Antwort zu finden. Ihm fiel keine ein.
»Professor, ich muss mich bei Ihnen dafür entschuldigen, dass ich mich in einer schmerzhaften Angelegenheit an Sie wende, aber Ihr Vater hat kurz vor seinem Tod einen Brief an meine« – hier stockte er bei dem Versuch, die drei alten, verängstigten Menschen in der Wohnung des Rabbi ins Spiel zu bringen – »meine Klienten geschrieben …«
»Mein Vater hat einen Brief geschrieben? An wen?«
»An einen Rabbi, den er nicht kannte. Einen Mann, der während des Krieges in Berlin gelebt hatte, bis er denunziert und in ein Konzentrationslager verschleppt wurde.«
»Verstehe. Einen Brief an einen Mann, den er nicht kannte? Was stand in diesem Brief?«
»Er hätte einen Mann wiedererkannt, den er seit …«
»… dem Krieg nicht mehr gesehen hat.«
»Ja, richtig. Dieser Mann …«
»Den Schattenmann«, ergänzte der Professor in kaltem Ton.
Winter klopfte vor Aufregung das Herz. »Ja, das stimmt.«
Professor Stein schien tief Luft zu holen, und für einen Augenblick herrschte Schweigen in der Leitung. Dann fuhr er in nüchternem Ton fort:
»Mein Vater hat den Schattenmann oft gesehen, Mr.Winter. Er sah ihn in seinen Träumen, daraus wurden Alpträume, und er wachte nachts schreiend und schwitzend auf, so dass meine Mutter Stunden brauchte, um ihn wieder zu beruhigen. Er sah ihn in einer Schlange vor der Bank oder in einer Menschentraube vor einem Kino oder im Supermarkt mit einem Einkaufswagen. Er sah den Schattenmann auf der Schnellstraße an uns vorbeifahren oder an der nächsten Bushaltestelle warten. Einmal habe ich ihn zu einem Baseballspiel im Fenway Park mitgenommen, und er ist dem Schattenmann in der Herrentoilette begegnet. Ein anderes Mal erspähte er ihn in der Zuschauermenge bei einem Spiel der New York Knicks, das wir uns im Fernsehen angeschaut haben. Mr.Winter, der Schattenmann war allgegenwärtig. Er spukte meinem Vater immer im Kopf herum.«
Simon Winter sackte schwer zurück. Er saß in seinem eigenen Wohnzimmer, mitten auf seinem abgewetzten Sofa und hatte vor sich auf dem Tisch einen Schreibblock und mehrere angespitzte Bleistifte zurechtgelegt. Mit einem Schlag kam er sich lächerlich vor.
»Wenn er also kurz vor seinem Tod …«, fing Winter unsicher an.
»… jemandem erzählt hat, er hätte den Schattenmann gesehen? Dann wäre das nicht allzu ungewöhnlich, Mr.Winter.«
»Nicht allzu ungewöhnlich, aber doch ein bisschen?«
»Ja. Das Einzige, was daran ungewöhnlich ist, ist der Umstand, dass er jemand anderem davon berichtet hat. Normalerweise – mir fällt keine einzige Ausnahme ein – hat er, wenn er diesen Mann wieder einmal sichtete, entweder mich, meinen Bruder oder meine Schwester angerufen. Dann ist derjenige von uns die Begegnung in allen Einzelheiten mit ihm durchgegangen, hat ihm klargemacht, dass ihm die Erinnerung einen Streich gespielt hatte und die Erscheinung nicht real gewesen war. Soweit ich weiß, hat er sich niemals an einen Fremden gewandt.«
»Und Sie meinen, er hat diesen Mann nie wirklich gesehen?«
»Nein. Aber ich habe einen Tag vor seinem Tod mit ihm gesprochen, und er hat mir gegenüber nichts erwähnt. Doch er war erregt. Nervöser, beunruhigter und depressiver als ich ihn je zuvor erlebt hatte. Dabei hat er die ganze Zeit über unsere Mutter gesprochen und nicht über den Schattenmann. Wenn ich genau überlege, hat er ihn möglicherweise doch einmal erwähnt.«
»Und Sie konnten ihn beruhigen und ihm das, was er zu sehen glaubte, ausreden?«
»Richtig.«
»Wirkte er verängstigt?«
Der Professor überlegte, dann erwiderte er: »Vielleicht konnte man die Mischung an Gefühlen, mit denen er zu kämpfen hatte, zum Teil als Angst interpretieren. Ich weiß nur noch, dass ich danach beunruhigt war und meine Geschwister angerufen habe. Wir kamen zu dem Schluss, dass einer von uns nach Miami fliegen und ihn besuchen sollte. Aber bis wir alles arrangiert hatten, war es schon zu spät.«
Wieder legte der Professor eine Pause ein, dann fügte er hinzu: »Klinge ich gefühllos, Mr.Winter? Unsensibel?«
»Nein«, log Winter.
»Das ist eine merkwürdige Sache, Mr.Winter. Jemanden, den man liebt, dafür zu hassen, was er sich selbst angetan hat. Das stürzt einen in seltsam gemischte Gefühle.«
»Es tut mir leid, auf diese Weise daran zu rühren.«
»Nein, schon gut. Seltsamerweise ist es irgendwie leichter, mit einem Fremden darüber zu sprechen, als jemandem, den man kennt. Sind Sie meinem Vater je persönlich begegnet, Mr.Winter?«
»Nein.«
»Er war ein ungewöhnlicher Mann.«
»Inwiefern?«
»Er hatte ständig das Gefühl, der Welt etwas schuldig zu sein. Er versuchte andauernd, Schulden zu begleichen.«
»Geld?«
»Nein. Schulden der Seele, Mr.Winter.« Der Professor lachte, als käme ihm eine amüsante Erinnerung in den Sinn. »Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Mein voller Name lautet George Washington Woodburn Stein. Nicht gerade ein Allerweltsname, wie?«
»Nein.«
»Dann erzähle ich Ihnen mal, wie ich an meinen Namen gekommen bin, und das wird Ihnen ein bisschen dabei helfen zu verstehen, wie mein Vater war. Er wurde 1942 zusammen mit meiner Tante, meinem Onkel und meinen Großeltern gefasst. Sie lebten untergetaucht in Berlin …«
»Der Schattenmann?«
»Ja. Er kannte meinen Onkel, jedenfalls nach Aussage meines Vaters. Hat ihn während eines Luftangriffs in einem Bunker entdeckt.«
»Und?«
»Was denken Sie, Mr.Winter? Die Gestapo kam. Nahm sie mit. Sie sind alle im KZ umgekommen.«
»Das tut mir leid.«
»Mein Vater dagegen hat es geschafft zu überleben. Als der Krieg zu Ende ging, war er siebzehn. Gegen Ende war natürlich die Hölle los. Aufgrund der Frontverläufe hat die SS sie ständig von einem KZ zum anderen gejagt. Ich vermute, dass diese Märsche auf ihre Art genauso schlimm waren wie alles, was sie schon hinter sich hatten. Wenn man so viel durchgemacht hatte und immer noch am Leben war und am Ende nur wenige Kilometer von den Truppen der Alliierten entfernt den Erschöpfungstod vor Augen hat … Mein Vater hat erzählt, dass unterwegs viele starben, indem sie einfach am Straßenrand niedersanken, als versetzte ihnen die bloße Hoffnung aufs Überleben den Todesstoß.«
»Doch er hat überlebt.«
»Ja. Aber nur knapp. Er hat erzählt, er sei in einer Baracke zusammengebrochen. Es war Nacht, und sie waren Dutzende, aberwitzig nutzlose Meilen auf dem Todesmarsch. Sie hatten seit Tagen nichts gegessen, sie starben an Typhus, Grippe, Lungenentzündung und was weiß ich für Krankheiten, sie starben wie die Fliegen. Dabei konnten sie aus der Ferne schon Artilleriefeuer hören, und einmal hat er mir erzählt, dieses Geräusch hätte geklungen, als ob Hunderte von Menschen gleichzeitig an die Himmelspforten klopften. Er rechnete mit dem Tod. Als er am Morgen erwachte, war er erstaunt, die Sonne zu sehen, und er wusste, dass sein letzter Tag gekommen war, also kroch er aus seinem Bett – natürlich keinem richtigen Bett, einer Holzpritsche in einer der Baracken –, dann aus der Tür, obwohl er wusste, dass eine der SS-Wachen ihn erschießen würde, bevor er allzu weit kam, doch um ein letztes Mal die Sonne im Gesicht zu spüren, war es ihm das wert. Aber die Wachen hatten in der Nacht die Flucht ergriffen. Im Lager war es bis auf unartikulierte Laute des Staunens und des Sterbens ruhig. Mein Vater schleppte sich auf den Appellplatz hinaus. Arbeit macht frei. Dieses Motto stand am Tor. Wie er uns erzählte, beschloss er, dort auf seinen Tod zu warten. Mit siebzehn, Mr.Winter. Mit siebzehn wartete er in der Sonne darauf zu sterben.«
In der Leitung war ein tiefer Atemzug des Professors zu hören. »Ich habe meinen Vater geliebt«, versicherte er. »Aber, wissen Sie, manchmal kam es mir so vor, als hätte er seit diesem Tag die ganze Zeit darauf gewartet zu sterben.«
Der Professor verstummte und ergänzte nach einer Weile noch etwas, das ihm in Erinnerung geblieben war: »Das hat er sogar selbst gesagt, als er nach Miami Beach zog. Er wollte immer noch in der Sonne sterben. Für ihn schien es der richtige Ort zu sein.«
»Und was war mit Ihrem Namen?«, fragte Simon Winter.
»Er sagt, er sei eingeschlafen, als die Sonne aufging. Und nach einiger Zeit hörte er, wie ihn von oben ein Engel anredete. Er hat uns immer erzählt, wie sehr er staunte, dass dieser Engel Englisch sprach. Mein Vater konnte Englisch, denn er hat einen Teil seiner Kindheit … nun, das ist eine andere Geschichte. Aber er war mit der Sprache vertraut, und er hörte den Engel sagen: ›Aber hier ist jemand am Leben …‹ Also schlug er die Augen auf und dachte, er wäre im Himmel, doch stattdessen blickte er in das Gesicht von Sergeant George Washington Woodburn. Ein sehr schwarzes Gesicht, Mr.Winter. Ein schwarzer Engel. Sergeant Woodburn gehörte dem Achtundachtzigsten Panzerbataillon an. Wissen Sie übrigens, welchen Spitznamen die sich gaben? ›Eleanor Roosevelts Nigger‹, aber auch das ist eine andere Geschichte. Und so streckt mein Vater, Herman Stein, die Hand aus, berührt diesen Sergeant Woodburn an der Wange und fragt: ›Bin ich tot?‹, und Sergeant Woodburn antwortet: ›Nein, mein Junge. Bist du nicht.‹ Später fand mein Vater das absolut komisch. Der Sergeant hatte einen kräftigen Alabama-Akzent, wie Sie sich denken können, und wahrscheinlich war es fünf oder sechs Jahre her, seit mein Vater das letzte Mal Englisch gehört hatte – die gepflegte britische Variante, die der feinen Upper Class. Aber er sagte, er könne sich an jedes einzelne Wort des Sergeants erinnern. Und so hebt dieser Sergeant Woodburn meinen Vater auf, trägt ihn durchs ganze Lager und brüllt: ›Sanitäter! Sanitäter!‹, und mein Vater hat immer gesagt, das Einzige, woran er sich danach erinnern konnte, wären diese kräftigen Arme, die ihn hielten – er wog nur noch sechzig Pfund –, und dieser riesige schwarze Mann ruft nach einem Doktor und sagt: ›You ain’t dyin’ boy. No Sir. You ain’t gonna dy. Du wirst nicht sterben, mein Junge. Du bleibst mir schön am Leben …‹«
Man hörte dem Professor an, dass er aufgewühlt war.
»Sergeant Woodburn trägt also meinen Vater zu einer Ambulanz und einem Arzt und wiederholt die ganze Zeit: ›You ain’t dyin’, no Sir.‹ Als mein Vater das nächste Mal erwacht, liegt er in einem Lazarett, und so bleibt er am Leben. Deshalb bin ich nach Sergeant George Washington Woodburn benannt. Im Laufe meiner Kindheit und Jugend haben uns unsere Eltern alle paar Jahre ins Auto verfrachtet und nach Jefferson City in Alabama gefahren, um die Woodburns zu besuchen. Er wurde da Brandmeister. Hat sechs Söhne großgezogen. Der Jüngste studiert gerade hier an der Uni. Wir veranstalteten immer wieder Familientreffen, und jedes Mal haben mein Vater und der Brandmeister dieselbe Geschichte erzählt. Sie haben ihre Späße gemacht und gelacht, und der Brandmeister hat versucht, meinen Vater wie damals hochzuheben, aber er hat es nicht mehr geschafft, und alle fanden das zum Brüllen komisch. Er ist selbst vor wenig mehr als einem Jahr gestorben. Wir waren alle auf seiner Beerdigung. In Jefferson City, Alabama. Es war sehr heiß, und mein Vater hat stundenlang geheult. Haben wir alle.«
Der Professor holte wieder tief Luft. Simon Winter hörte, wie seine Stimme zu zittern begann.
»Sehen Sie, mein Vater, Mr.Winter, verstand etwas von Schulden.«
Winter fiel darauf keine passende Antwort ein. Doch er kam nicht in Verlegenheit, denn der Professor war offensichtlich noch nicht fertig.
»Ich schweife ab. Tut mir leid.«
»Nein, nein. Ganz und gar nicht. War Ihr Vater Akademiker wie Sie?«
George Washington Woodburn Stein lachte laut, als sei er erleichtert, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »O nein, ganz und gar nicht! Er war Juwelier. Die Familie in Berlin hatte mit antikem Schmuck gehandelt. Deshalb hatte er schon als kleines Kind Englisch gelernt. Und Französisch. Sie sind viel gereist. Sie waren Kosmopoliten. Sie gehörten zu jenen Juden in Deutschland, die solche Dimensionen des Bösen nicht für möglich gehalten hatten. Sie konnten ihren Familienstammbaum mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Mein Großvater muss sich für einen eingefleischteren Deutschen gehalten haben als die Leute, die ihn schließlich in den Tod schickten.«
»Juwelier?«
»Ja. Ein Mann von unglaublicher Präzision, wenn er an Steinen arbeitete. Mein Vater hatte ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl, eine echte Gabe. Er beherrschte die Kunst der Akkuratesse, Mr.Winter. Er liebte Juwelen, weil sie, wie er sagte, unvergänglich sind. Wie ein Stück von Shakespeare – das ist mein Metier – oder ein Gemälde von Rembrandt oder ein Klavierkonzert von Mozart. Unsterblich, befand er. Die Steine entstammen der Erde, aber sie überdauern. Für ihn besaßen sie ein eigenes Leben. So etwas wie Persönlichkeit und Charakter. Er sprach mit den Fassungen, während er daran arbeitete. Er hatte die Hände eines Chirurgen. Das ist übrigens meine Schwester geworden. Und Augen wie ein Scharfschütze. Sogar am Ende seines Lebens war seine Sehkraft noch phänomenal …«
Die letzten Worte brachte der Professor nur mühsam heraus, dann verstummte er.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Simon Winter.
»Ähm, ja und nein.«
»Ihnen geht etwas durch den Kopf?«
»Ja. Mr.Winter, ich weiß nicht, ob …«
Er hielt inne.
Winter hakte taktvoll nach: »Was ist, Professor?«
Die Stimme in der Leitung wirkte unsicher. »Ich kenne Sie nicht, Mr.Winter. Ich kann Ihr Gesicht nicht sehen. Es fällt mir schwer, mich mit einem Unbekannten über Zweifel auszutauschen.« Der Professor griff jetzt zu einer seltsam gestelzten, zunehmend förmlichen Sprache.
»Ich bin auch ein alter Mann«, erwiderte Winter geradeheraus. »Wie Ihr Vater. Ich bin ein alter Mann, der einmal Detective war, und einige alte Menschen haben mich darum gebeten, herauszufinden, ob dieser Mann, dieser Schattenmann, tatsächlich hier in Miami Beach ist. Sie haben Angst, und ich habe bis jetzt noch keine Antwort auf ihre Befürchtungen, Professor. Sie wussten nicht, ob sie Ihrem Vater glauben sollten, als er ihnen versicherte, er hätte den Schattenmann gesehen. Sie wollen nicht glauben, dass er hier ist. Aber dann hat eine zweite Person behauptet, ihn gesehen zu haben. Und auch diese Person ist jetzt tot. Und aus diesem Grund rufe ich Sie an.«
»Noch jemand?«
»Ja. In diesem Fall war es Mord.«
»Jemand wurde ermordet? Aber wie?«
»Es gab einen Einbruch. Dem Anschein nach ein Drogenabhängiger.«
»Demnach nicht jemand wie der Schattenmann?«
»Davon geht man derzeit aus.«
»Und wo liegt die Verbindung zum Tod meines Vaters?«
»Es gibt nur eine: Sowohl Ihr Vater als auch diese andere Person glaubten, kurz vor ihrem Tod den Schattenmann gesehen zu haben.«
Der Professor ließ die Auskunft auf sich wirken. »Das ist bemerkenswert«, meinte er schließlich verblüfft. Er verstummte, dann fuhr er fort: »Wissen Sie, so etwas hätte meinem Vater gefallen, Mr.Winter.«
»Gefallen?«
»Ja. Er bewunderte Krimiautoren. Ich habe keine Ahnung, wie er zu diesem Faible gekommen ist, aber er verschlang Sir Arthur Conan Doyle und Agatha Christie und P. D. James. Besonders hat er die Reihe von Harry Kemelman über den Rabbi, der Verbrechen aufklärt, geliebt. Kennen Sie die?«
»Nein, leider nicht.«
»Die sind wirklich faszinierend. Einmal hat er mich gezwungen, ein paar davon zu lesen, etwa um die Zeit, als ich meinen Doktor machte. Er begründete den Vorschlag damit, ich liefe große Gefahr, langweilig zu werden. Allzu viele gelehrte, akademische Texte. Zu viel Paukerei. Ich weiß noch, wie er mir einen Stapel Taschenbücher hinschob und erklärte, sie wimmelten von faszinierenden Rätseln, MacGuffins und falschen Fährten. Ich muss zugeben, ich fand sie wirklich clever.«
Der Professor schwieg erneut. Nach einer Weile sagte er: »Stellen Sie Ihre Fragen, Mr.Winter. Dann will ich Ihnen erklären, was mir zu schaffen macht.«
Simon Winter holte tief Luft. »Die Waffe. Er hat sich mit einer Handfeuerwaffe Kaliber achtunddreißig umgebracht …«
»Mein Vater hat Waffen gehasst, Mr.Winter. Ich war erstaunt, dass er eine hatte. Er war ein sanftmütiger Mensch. Andererseits lebte er in Miami, und da herrscht eine Menge Gewalt, ich ging also davon aus, dass er einfach niemandem davon erzählt hatte.«
»Die Körperhaltung, in der er sich umgebracht hat …«
»Ja. Ein Schuss direkt über die Augen. Das hat mich irritiert, Mr.Winter. Mein Vater liebte seine Augen. Sie waren das wichtigste Werkzeug für seine Kunst. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er sie zerstören würde.«
»Verstehe …«
»Und noch etwas. Die Polizei von Miami Beach hat beschrieben, wie er die Pistole gehalten hat …«
»Ja?«
»Na ja, das wäre für ihn schwierig gewesen. Wegen seiner Hände. All die Jahre, in denen er mit feinem Schmuck hantiert hat. All diese präzisen Schliffe. All diese akkuraten Griffe. Er hatte Arthritis in den Händen. Einen Abzug zu betätigen, und dann auch noch mit dem Daumen, wäre für ihn äußerst schmerzhaft gewesen.«
»Haben Sie das der Polizei gesagt?«
»Natürlich. Aber die haben mir erklärt, er habe unter Depressionen und Einsamkeit gelitten, und Menschen, die zum Selbstmord neigen, würden solche physischen Beschränkungen überwinden. Ich vermute, da ist was dran.«
Beide Männer warteten darauf, dass der andere die Stille in der Leitung füllte.
»Was noch?«, fragte Winter schließlich.
»Wahrscheinlich ist es nicht von Belang, aber es hat mich wirklich seltsam berührt.«
»Was denn?«
»Die Polizei hat dem keinerlei Bedeutung beigemessen, aber Sie wissen sicher, dass Familienmitglieder solche Dinge mit etwas anderen Augen sehen …«
»Was denn, Professor?«
»Den Abschiedsbrief.«
»Was ist damit?«
»Na ja, er entsprach schon dem Stil meines Vaters. Direkt. Zur Sache. Wie gesagt, präzise. Es waren genau die Worte, die er geschrieben hätte, wenn er sich umbringen wollte. Er hatte schon vor langer Zeit mit uns drei Kindern seinen Frieden gemacht. Wir wussten, dass er uns liebte. Er wusste, dass er von uns geliebt wurde. Es gab dem nichts hinzuzufügen. Nein, er liebte eine klare Sprache. Ohne Schnörkel, kurz und bündig.«
»Verstehe.«
»Nein«, entgegnete der Professor ein wenig schroff, »Sie verstehen nicht. Diese Notiz. Diese verdammten Abschiedszeilen …« Sein Ton wurde bitter. Dennoch blieb er bei seiner pedantischen Ausdrucksweise. »Was versteht man unter einem Abschiedsbrief, Mr.Winter? Eine Botschaft. Eine abschließende Erklärung. Ein letztes Wort. Es mögen wenige Worte sein. Aber sie sind bedeutend, meinen Sie nicht?«
»Selbstverständlich.«
»Dann stimmen Sie mir darin zu, dass er etwas mitteilen wollte. Dass dies seine letzte Botschaft an mich, an meinen Bruder, an meine Schwester und an seine Enkelkinder war, die er liebte. Seine Traurigkeit und Einsamkeit, die er nicht überwinden konnte, obwohl wir uns alle Mühe gaben, ihn einzubeziehen, hat ihn zu dieser letzten Erklärung auf Erden veranlasst.«
»Ja.«
»Dann sagen Sie mir doch bitte«, fuhr der Professor fort, und diesmal schwang eine Woge von Trauer und Verwirrung darin, »sagen Sie mir bitte, wieso er nach einer langen Ehe beim Namen meiner Mutter das h am Ende vergisst?«
»Ich verstehe nicht.«
»Hannah, mit h am Ende, Mr.Winter. Nicht Hanna. Meine geliebte Hanna … aber falsch geschrieben. Und das von einem Mann mit seinem Sinn für Präzision. Also, erklären Sie mir das, Mr.Winter. Welche Botschaft vermittelt uns dieser Fehler? Was fangen Sie damit an?«
Eine Menge, dachte Simon Winter. Doch dem Professor blieb er die Antwort auf seine quälenden Fragen schuldig.