Nachwort zur deutschen Erstausgabe

Im Brennpunkt jedes Thrillers oder Spannungsromans tummelt sich der bad guy. Er liefert gewissermaßen den Brennstoff, der das Buch vorantreibt. Er – oder sie, je nachdem – erzeugt die Atmosphäre, an der sich die Leidenschaften der übrigen Figuren entzünden. Die Dynamik der Handlung, die Entwicklung der Charaktere, die Kraft der Sprache – alle zehren sie von dieser einen Energie.

Doch aus welchem Bereich der Vorstellungskraft des Autors speist sich der bad guy?

Das Beste und das Schlimmste, wenn man so will, liegen dicht beieinander.

Ich habe früher einmal mehrere Jahre in Miami Beach gelebt, das damals auf eine Phase des Übergangs zusteuerte. Noch immer war es ein verschlafener, von der Sonne verwöhnter Ort, in dem alles etwas langsamer vonstatten ging und dessen ausgedehnte Sandstrände vor allem von Touristen aus Europa mit deutlich geröteter Haut bevölkert waren, die nach einer preisgünstigen Alternative zu den Ferienorten an der Mittelmeerküste suchten. Es war eine Stadt mit einem gemächlichen Rhythmus, bevölkert einerseits von betagten Juden, die im Ruhestand aus dem Nordosten der USA hergezogen waren, andererseits von Ex-Mafia-Typen, denen es bemerkenswerterweise gelungen war, sich aus ihren Geschäften zurückzuziehen, ohne zuvor auf einer Abschussliste gelandet zu sein. Aber wie alles in Südflorida Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre stand auch Miami Beach am Beginn großer Veränderungen. Der Übergang vom Alten zum Neuen vollzog sich in hohem Tempo, beflügelt vom boomenden Drogenhandel und dem unvermeidlichen Tribut, den die Zeit forderte und der unerbittlich die Reihen der Älteren lichtete. An ihre Stelle traten die jungen, hippen Unternehmer des Kokaingeschäfts, die Leinenanzüge von Armani trugen und Ferrari fuhren.

Das Image der Stadt, dem in Büchern, im Kino und im Fernsehen gehuldigt wurde, war absolut keine Erfindung. Die Akzente in Miami Beach verschoben sich in diesen Jahren von den langsam verblassenden Einflüssen Osteuropas hin zum schnelllebigen, lauten Rhythmus der Latinos.

Eine Zeitlang war es nichts Ungewöhnliches, wenn man an einem Strandkiosk eine ältere Frau mit einer undeutlichen Tätowierung auf dem Unterarm sah – Zahlen, so unauslöschlich wie ihre Erinnerung –, direkt neben einem Model im Bikini und auf Inlinern, während beide für einen kühlen Drink anstanden.

Aber, wie immer bei einem Übergang, wich das Alter langsam der Jugend. Ein solcher Anblick ist heute eher selten geworden. Im Gegensatz zu lauter Salsa-Musik und enthemmter Lebenslust.

Doch als ich in Miami Beach wohnte, standen der Stadt diese Veränderungen noch bevor. Ich machte häufig Spaziergänge den Ocean Drive entlang, zwischen den azurblauen Wellen und den Reihen strahlend weißer Apartment-Hotels. Sie trugen altmodische Namen wie The Ambassador oder The Carlisle und stellten nach vorne weitläufige Veranden zur Schau, die tagtäglich von weißhaarigen Rentnern bevölkert waren, die Karten spielten, Limonade und Eistee schlürften oder den Tag, versunken in einem billigen Schaukelstuhl aus Stahlrohr, einfach verstreichen ließen. Nicht wenige von ihnen waren Holocaust-Überlebende, die ihre Erinnerungen in den meisten Fällen jedoch ad acta gelegt zu haben schienen. Dennoch war es schwierig, an einem sonnigen Nachmittag an diesen Terrassen und Veranden vorüberzugehen, ohne daran zu denken, wie viele Geschichten dort in der Nachmittagshitze schlummerten.

Aber erst als mir ein Freund, der mittlerweile verstorbene Howard Simons, während der Watergate-Affäre Chefredakteur der Washington Post, das Buch Versteckt. Wie Juden in Berlin die Nazi-Zeit überlebten von Leonard Gross lieh, nahm Der Täter allmählich Gestalt an. In dem Buch fand sich ein Abschnitt über Juden, die darauf angesetzt wurden, andere Juden aufzuspüren, der mich faszinierte.

Gejagt zu werden ist schrecklich. Aber von seinesgleichen gejagt zu werden ist noch viel schrecklicher.

Ich fragte mich: Wenn man damals Jagd auf dich gemacht hat und dein Leben jede Sekunde auf dem Spiel stand, kannst du dann jemals wieder auch nur einen Schatten vorüberstreichen lassen, ohne dich beobachtet zu fühlen?

Und wenn deine Phantasie dir keinen Streich spielt?

So entstand die Idee für Der Täter, über die sich zweifellos streiten lässt.

Viele waren angesichts des Themas gleichermaßen bestürzt wie fasziniert. Vor allem aber betroffen über die Abgründe in uns.

Was die Menschen am meisten fürchten, so scheint mir, sind nämlich nicht jene Serienkiller, Monster oder nihilistischen Terroristen, die so häufig die Buchseiten füllen, über die Leinwand huschen oder Gegenstand politischer Debatten sind. Zweifellos sind sie die zweckmäßigsten Schurken, und ich muss zugeben, dass ich von Zeit zu Zeit durchaus auf diese bad guys zurückgegriffen habe.

Doch in Wahrheit verstören uns am meisten Menschen wie du und ich.

Vor zwei Jahren bin ich mit der Buslinie 100 durch Berlin gefahren. Kurz nach dem Bahnhof Zoo bemerkte ich zufällig das als Mahnmal gestaltete Wartehäuschen vor dem Gebäude in der Kurfürstenstraße 115/116. Es steht vor dem Haus, in dem sich ab 1941 die Büros von Adolf Eichmanns »Judenreferat IV B4« befanden, von denen aus sämtliche Deportationen in Gettos, Konzentrations- und Vernichtungslager gelenkt wurden. Von hier aus wurde auch jener »Schattenmann« gesteuert, den ich 1995 in meinem Roman mit dem Originaltitel The Shadow Man erdacht habe.

Es war ein erschreckender Moment. Als Schriftsteller versucht man immer, der Historie gerecht zu werden, aber nur selten spürt man tatsächlich die Kräfte der Vergangenheit, wenn man so will, den Atem der Geschichte.

Ich bin noch mehrere Male zu dem Wartehäuschen zurückgekehrt.

Nicht so sehr, was dort ausgestellt und zu sehen war, zog mich in seinen Bann. Vielmehr war es die Erkenntnis, dass die Vergangenheit, auch wenn sie mehr und mehr entschwindet, der Gegenwart dennoch ihren Stempel aufprägt und auch die Zukunft überschattet. Niemandes Geschichte ist ohne Makel. Niemandes Geschichte ist gefeit gegen Taten, die uns erschaudern lassen.

Wahrlich deformiert von den Untaten anderer Generationen sind jedoch nur diejenigen, so mein Eindruck, die sich der Wahrheit verschließen und nicht den Versuch unternehmen, das Geschehene zu begreifen.

Als ich durch Berlin streifte, die Museen besuchte, an den Überresten der Mauer haltmachte und meinen Kindern das unvermeidliche Check-Point-Charlie-T-Shirt kaufte, war ich überwältigt von all den bildhaften Eindrücken aus so vielen geschichtlichen Augenblicken, die nun auch in meinem eigenen Gedächtnis ihren Platz gefunden hatten. Und mir wurde klar, dass die Geschichte Deutschlands, im Guten wie im Bösen, unser aller Erbe ist.

Die Berliner Buslinie 100 befördert jeden Fahrgast durch viel mehr als nur vertraute Straßen.

Amherst, Mass., im Oktober 2009

John Katzenbach