Der Schattenmann stand still am dunklen Rand einer Gasse, außerhalb des Lichtkegels, den das Neonlicht einer geschlossenen Apotheke auf den Bürgersteig warf. Er blickte zum sechsten Stock des Gebäudes hinauf, in dem der Rabbi seine Wohnung hatte.
Die Stimme, die ihn gewöhnlich zur Vorsicht mahnte, sagte ihm, dass es nicht klug sei, dort auch nur einen Moment lang zu stehen, selbst wenn er unentdeckt blieb. Manchmal kam es ihm vor, als hockte ihm diese Stimme wie ein allzu sehr auf seine Sicherheit bedachter Engel auf der Schulter. Diesmal war die Stimme eindringlich und schrill und verlangte, dass er wegging, und zwar auf der Stelle.
Pack deine Tasche zusammen, geh in ein Hotel beim Flughafen, nimm den ersten Flieger morgen früh.
Er schüttelte den Kopf.
Ich hab hier noch was zu erledigen, hielt er dagegen. Und zwar da oben in diesem Gebäude.
Was denn zu erledigen? Denk an deine Sicherheit. Du hast dieses Leben ausgekostet wie andere davor. Diese Jahre in Miami Beach waren ertragreich und angenehm, aber jetzt sind sie vorbei. Du hast gewusst, dass dieser Zeitpunkt einmal kommen würde, und jetzt ist er da. Zu viele Leute kreisen dich ein, sehen auf der Suche nach dir unter jeden Stein, hinter jede Tür. Du hast Leute vom Schattenmann reden gehört, als würden sie dich kennen. Es ist an der Zeit, zu verschwinden und jemand anderer zu werden.
Er lehnte sich noch tiefer in die Dunkelheit der schmalen Gasse und schmiegte den Rücken an eine schmutzig graue Wand.
Los Angeles wäre schön, sagte er sich. Dort warteten eine Wohnung, Bankkonten und eine andere Identität auf ihn. Auch Chicago wäre akzeptabel. Dort waren die Grundlagen für ein ähnliches Arrangement geschaffen. In Los Angeles muss ich mir ein Auto besorgen, überlegte er, da fährt jeder. In Chicago ist das nicht nötig. In Los Angeles würde er zum pensionierten Geschäftsmann; in Chicago kannte man ihn bereits als einen Investor im Ruhestand. Er wog die beiden Optionen ab, konnte sich aber nicht entscheiden. Es machte eigentlich keinen Unterschied, überlegte er. In dem Moment, in dem er eine der beiden Identitäten annahm, würde er in einer neuen Stadt bereits die Rahmenbedingungen für die nächste schaffen, so dass ihm immer mehr als eine Option offenstand. Vielleicht Phoenix oder Tucson, dachte er. An einem warmen Ort. Der Winter in Chicago behagte ihm nicht. Ihm wurde bewusst, dass er ein wenig recherchieren musste. Er wusste nicht, ob eine der beiden Städte eine entsprechend betagte, jüdische Gemeinde hatte, in die er sich einschleusen konnte. Waren dort Überlebende?, fragte er sich.
Irgendwo da draußen in der Nacht schrillte eine Autoalarmanlage durch die abgestandene Hitze. Einen Moment lang horchte er darauf, dann verschwand das Geräusch plötzlich.
Unter einer Aufwallung von Wut spuckte er auf den Boden.
Ich habe es hier genossen, flüsterte er. All die Jahre habe ich es gut gehabt. – Er mochte die dichte, samtene Tropennacht, die all seine Wut einzuhüllen schien.
Er ging die Phalanx seiner Feinde durch. Den Polizisten und die Staatsanwältin strich er sofort von der Liste und machte dazu eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand. Die Polizei hatte er noch nie gefürchtet. Er hielt sie für zu schwerfällig und einfallslos, um ihn zu fassen. Sie suchten nach Beweisen und Indizien und begriffen grundsätzlich nie, dass er eher so etwas wie eine Idee war. Auch wenn sie ihm diesmal dichter auf den Fersen waren als je zuvor – als irgendjemand seit 1944 –, so lagen sie immer noch ziemlich weit zurück. Andererseits erinnerte ihn seine Stimme der Vorsicht daran, dass die Polizei noch nie zuvor auch nur von seiner Existenz gewusst hatte. Dies gab ihm zu denken, bis seine arrogantere Seite ihm in Erinnerung rief, dass er genau aus diesem Grund über all die Jahre dafür gesorgt hatte, jeweils auf mindestens zwei Identitäten zurückgreifen zu können. Dass es kaum einmal einen hastigen Aufbruch gegeben hatte, zeugte von seiner umsichtigen Planung. Und das hier, dachte er trotzig, ist im Grunde nicht viel anders.
Doch dann kam ihm der alte Detective, der Nachbar, in den Sinn und verunsicherte ihn. Dieser Mann machte ihm vor allem deswegen mehr zu schaffen, weil er nicht wusste, wie er ins Bild passte, gehörte er doch weder zur Seite der Behörden noch zu der seiner Opfer. Der Schattenmann beschwor das Bild von Simon Winter herauf und nahm eine kurze Einschätzung vor: Er wirkt beharrlich und intelligent. Er verfügt über hervorragende Instinkte. Doch er ist heute Abend nicht hier und wird am Morgen ins Leere laufen. Also, dachte der Schattenmann, er ist vielleicht gefährlich, doch er wird zu langsam sein und nicht Schritt halten können. Und was für Mittel hat er schon, auf die er zurückgreifen könnte? Er ist clever und erfahren. Aber genug, um mich zu finden? Nein.
Dennoch schüttelte er den Kopf und sagte sich: Du hättest ihn in jener Nacht in seiner Wohnung töten sollen. Er hat Glück gehabt.
Aber nicht noch einmal.
Der Schattenmann holte tief Luft und stellte sich das alte Paar oben in der Wohnung vor.
Die sind die wahre Gefahr, rief er sich ins Gedächtnis. Das waren sie immer. Werden sie immer sein.
Es war, als explodierte in seiner Brust eine Leuchtkugel des Zorns, die alte Erinnerungen zündete.
Die waren immer schuld gewesen, von Anfang an.
Sie sind die Einzigen, die sich erinnern.
Sie sind die Einzigen, die mich erkennen können.
Einen Augenblick lang scharrte er ungeduldig mit den Füßen, dann brachte er seine Rage unter Kontrolle, auch wenn ihm der Zorn noch in den Adern pochte. Wie viele waren übrig?, überlegte er plötzlich. Diese beiden? Andere? Wie viele mag es noch geben, die sich an den Schattenmann erinnern?
Vielleicht keine mehr.
Er gestattete sich ein zartes Lächeln.
Vielleicht waren diese beiden die letzten lebenden Personen, die den Schattenmann einst gesehen hatten. Immerhin hatte er viel Zeit in Archiven und Gedenkstätten zugebracht, in Dokumenten geblättert und Videos gesehen, Bücher gelesen und Gesichter studiert. Jahrelange Arbeit. Killerarbeit. Es war unvermeidlich, sagte er sich. Unausweichlich, dass er eines Tages alles erledigt hatte. Die letzten Juden aus Berlin. Und vielleicht waren sie dort oben zum Greifen nahe und warteten im sechsten Stock auf ihr Schicksal.
Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einem vertrauten, willkommenen Verlangen.
Und so mahnte ihn zwar sein Schutzengel schon den ganzen Abend lang – seit er in seinem eigenen Wohnkomplex in den Fahrstuhl gestiegen war und zum ersten Mal das Wort »Schattenmann« gehört hatte, seit er die Leute belauscht und von dieser Bekanntmachung in einigen Synagogen erfahren hatte – zur Vorsicht, doch seine Wut hielt dagegen und machte ihm deutlich, dass er sich nicht in eines dieser anderen Leben absetzen konnte, solange er wusste, dass er diese beiden alten Leute zurückließ, die ihn irgendwann in der Zukunft aufs Neue quälen konnten.
Er grinste innerlich.
Es wird mir ein Vergnügen sein, sie zu erledigen, dachte er. Und ein neuer Anfang.
Der Schattenmann sammelte sich. Er handelte mit seiner vorsichtigen Stimme einen Kompromiss aus: Bis morgen Mittag bin ich weg. Ich bringe das hier noch zu Ende, dann setze ich mich auf dem schnellsten Wege ab.
Er hielt sich vor Augen, dass es eigentlich nicht allzu viel Grund zur Sorge gab:
Ich habe alles sorgfältig vorbereitet. Ich habe mir Zeit gelassen. Ich war an drei verschiedenen Tagen im Gebäude des Rabbi und habe es mir vom Keller bis zum Dach vertraut gemacht. Ich habe die Elektrik und den Hauptsicherungskasten überprüft, und ich habe vor der Wohnung des Rabbi gestanden. Ich habe sogar die alten Mikrofilme mit den Architektenplänen beim Bauamt eingesehen und mir den Grundriss der Wohnung eingeprägt. Ich habe einen Plan, und er wird funktionieren.
Es hat immer funktioniert.
Er erinnerte sich an eine Zeit, die viele Jahre zurücklag. Wie ein Traum, der kurz nach dem Erwachen verblasst, stellte sich die Vergangenheit nur schemenhaft ein. Er hatte eine Familie vor Augen und dann die Dachbodenwohnung, in der sie sich, wie er wusste, versteckte. Zwei kleine Kinder, die weinten, als die Bomber darüberflogen; eine Mutter, ein Vater, Großeltern, eine Cousine; alle in zwei kleinen Räumen zusammengepfercht.
Er versuchte, sich an ihre Namen zu erinnern, doch sie fielen ihm nicht mehr ein. Er wusste nur noch, dass sie inständig flehten, sie am Leben zu lassen, und dafür reichlich bezahlten. Und dann waren sie wie all die anderen gestorben. Sie waren wie Ratten, dachte er, die in irgendwelchen tiefen Spalten hausten. Doch er hatte immer gewusst, wie er sie ausräuchern konnte.
Er blickte den Wohnblock hinauf.
Als ob ich das nicht schon oft gemacht hätte, dachte er.
Er bückte sich und hob einen kleinen Beutel zu seinen Füßen hoch, in dem er mehrere wichtige Gegenstände mitgebracht hatte. Dann warf er zum letzten Mal von seinem Beobachtungsposten aus einen Blick auf das Gebäude.
»Judenfrei«, dachte er. Das hatte der Reichsführer einmal der ganzen Welt versprochen. Und genau dieses Versprechen habe ich mir selbst gegenüber wiederholt. Vielleicht bin ich heute Nacht endlich judenfrei.
Er stellte sich die alte Frau und den alten Rabbi vor.
Er merkte, wie sich seine Gesichtsmuskeln verspannten und zur Maske erstarrten, als ihn Pflichtgefühl und Entschlossenheit zum Handeln trieben. Er machte einen Schritt nach vorn. Vom Rande der schmalen Gasse aus suchte er sorgfältig die leere Straße ab. Wenige Häuserblocks entfernt gab es ein wenig Verkehr, jedoch nichts, was ihn allzu sehr beunruhigen musste. Und so schlich er sich von Dunkelheit zu Dunkelheit zielstrebig an seine Opfer an.
Sie wissen es noch nicht, rief er sich ins Gedächtnis. Keiner von ihnen hat es je vorher gewusst. Aber sie sind bereits seit Tagen tot.
Simon Winter sah wortlos zu, wie Walter Robinson sich bemühte, die Verwirrung, die er mit der Verhaftung von David Isaacson ausgelöst hatte, in den Griff zu bekommen. Der ältere Mann und seine Frau saßen auf einer Bank in einer Ecke des Morddezernats, von wo aus sie abwechselnd finster in die Runde blickten und drohten, ihren Anwalt anzurufen – obwohl sie offensichtlich keinen hatten, geschweige denn einen, der mitten in der Nacht aufstehen würde, um ihnen zu helfen –, und sich die eine oder andere Information aus der Nase ziehen ließen. Erst nachdem Walter Robinson ihnen versichert hatte, die Behörden kämen für die Reparatur ihrer Haustür sowie für jeden anderen Schaden auf, den ihre Festnahme verursacht hatte, gaben sie etwas bereitwilliger Auskunft. Dieses Hin und Her zwischen dem Detective und dem wütenden Ehepaar schien sich ewig hinzuziehen und frustrierte Simon Winter gewaltig.
Erst in den frühen Morgenstunden löste sich Robinson von den Isaacsons und gesellte sich zu dem pensionierten Detective, während ein überaus dienstbeflissener, Süßholz raspelnder Beamter in Uniform den Geschädigten auf die Beine half, um sie aus dem Büro zu einem Streifenwagen zu geleiten und nach Hause zu kutschieren.
»Und nun?«, fragte Winter.
»Und nun Mist«, erwiderte Robinson, während er sich auf einen Stuhl neben dem alten Mann fallen ließ. »Sind Sie nicht müde, Simon? Sehnen Sie sich nicht danach, ins Bett zu gehen und, wenn Sie morgen aufstehen, zu hören, dass dieser ganze Spuk einfach vorbei ist?«
»Klingt eher unwahrscheinlich«, antwortete Winter, auch wenn er müde lächelte.
»Nein, im Ernst«, sagte Robinson. Er lachte selbstironisch. »Mann, hab ich hier einen Haufen Mist gebaut. Wird mich runde vier Wochen kosten, die ganze Sache auszubügeln …«
»Vier Wochen in dreifacher Ausfertigung«, frotzelte Winter. Der junge Detective prustete los.
»Da haben Sie schon wieder recht, Mann. Simon, Sie ahnen ja nicht, wie viele Formulare ich in den nächsten Tagen auszufüllen habe. Und dann darf ich vor jedem Kotzbrocken von Vorgesetzten zu Kreuze kriechen, der nur auf mich gewartet hat, seinen Frust an mir auszulassen. Danach sind die Anwälte des Dezernats an der Reihe. Die wollen auch noch ihren Senf dazugeben …«
»Das gehört zu seinem Plan, wissen Sie«, erklärte Winter leise. »Er wusste, dass jemand die Spur so weit zurückverfolgen könnte, also hat er sich nicht einfach einen Namen und eine Anschrift aus den Fingern gesogen, sondern eine reale Person benutzt. Er hatte die Wahl, eine Figur zu erfinden, die wir vielleicht in ihm wiedererkennen könnten, oder uns an der Nase herumzuführen und ein Chaos anzuzetteln, und ich denke, er hat klug gewählt. Er hat sogar jemanden ausgesucht, der ihm ein bisschen ähnlich sieht. Was meinen Sie? Hat er Isaacson bei irgendeiner Versammlung gesehen? Auf einem Video? Beim Strandspaziergang? In einer Synagoge? Im Lebensmittelladen? Im Restaurant? Ihn sich inmitten einer Menschenmenge herausgepickt, ohne dass der Kerl auch nur die geringste Ahnung hatte, wozu er einen Beitrag leistete?«
»Irgendwo hat er ihn gesehen, da gebe ich Ihnen recht. Vielleicht kommt Isaacson drauf, wenn er sich erst mal beruhigt hat. Aber ich wage es zu bezweifeln. Bestimmt nicht heute Nacht.«
Walter Robinson stieß einen langen Seufzer aus. »Der Schattenmann scheint ziemlich gut zu wissen, wie bürokratische Apparate funktionieren. Meinen Sie, er war selbst mal Cop?«
»Vergessen Sie nicht, wer ihn ausgebildet hat. Hat es je eine aufgeblasenere Bürokratie gegeben als in Nazi-Deutschland?«
»Vielleicht hier in Miami Beach«, murrte Robinson verbittert und schob wahllos ein paar Formulare auf seinem Tisch zur Seite. »Ach was, ist natürlich Quatsch. Aber ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Der Wichser ist gerissen, nicht?«
»Ja. Und wissen Sie was? All diese Vorbereitungen sagen mir noch etwas anderes.«
Ohne abzuwarten, dass Winter fortfuhr, nickte Robinson und führte den Gedanken zu Ende: »Dass der Schattenmann ein weit geöffnetes Hintertürchen hat, und wenn er da erst mal durchgeschlüpft ist …«
»… sehen wir ihn nie wieder.«
»Hab ich auch schon dran gedacht.« Robinson lehnte sich zurück. »Ich hab einen Anruf getätigt«, erklärte er langsam, »wollte nur was überprüfen. Während die Isaacsons da drüben kochten. Ich hab in Los Angeles angerufen und den Direktor des dortigen Holocaust Center erreicht. Sie erinnern sich an den Brief, den Esther Weiss von ihm hatte? Von einem stellvertretenden Direktor unterzeichnet?«
»Den Mann gibt’s überhaupt nicht, stimmt’s?«
»Stimmt. Nur der Briefkopf war echt.«
»Das ist nun wirklich keine Kunst. Man braucht die nur anzuschreiben und sie in einer x-beliebigen Recherche um Hilfe zu bitten, eine Antwort auf dem offiziellen Briefpapier bekommen und damit zum nächsten Copy-Shop zu marschieren. Zack, schon haben Sie’s. Dazu genügt schon ein Spendenaufruf.«
»Der Gedanke ist mir auch gekommen.«
»Und?«, fragte Simon Winter langsam. »Wo stehen wir jetzt?«
Robinson ließ sich Zeit. »Vielleicht«, sagte er schließlich, »verfügen die alten Leute über brauchbare Informationen. Oder der Schattenmann macht den nächsten Zug, keine Ahnung. Beim Rabbi hat am Abend das Telefon nicht stillgestanden. Vielleicht bringt ja diese Ankündigung brauchbare Ergebnisse, statt nur allen Angst einzujagen. Sonst stehen wir, na ja, vielleicht nicht gerade wieder am Anfang, aber – keine Ahnung, wo wir dann wieder stehen, verdammt.«
Winter nickte. Er streckte den Arm aus und griff mit der Hand ins Leere. »Er scheint ganz nah zu sein, und dann war’s das wieder«, sagte er. »Wir müssen ihn schneller zu fassen bekommen.«
»Erst mal müssen wir jemanden finden, bevor wir ihn fassen«, warf Robinson ein.
Er lehnte sich gegen die Rückenlehne seines Drehstuhls und wippte hinter seinem Schreibtisch vor und zurück.
»Na schön, Simon. Morgen fangen wir beide, Sie und ich, mit dem Phantombild wieder von vorne an.« Er grinste. »Statt angeln zu gehen. Das ist immer noch unsere beste Chance. Was meinen Sie?«
»Lauferei hat noch keinem Fall geschadet«, antwortete der alte Detective, auch wenn er bezweifelte, dass ihnen dafür genügend Zeit blieb.
»Wir sollten allmählich nach Hause«, schlug Robinson vor. »Ich setz Sie zu Hause ab. Und lassen Sie morgen bitte diese Waffe daheim, okay? Ich geh mal davon aus, dass Sie dafür einen gültigen Waffenschein haben. Aber dass Sie nicht zum Tragen einer verdeckten Waffe befugt sind, das weiß ich nun hundertprozentig.«
Simon Winter brachte ein schiefes Grinsen zuwege. Er stand auf. Der Gedanke an Schlaf hatte durchaus etwas Verlockendes, und im Neonlicht des Polizeipräsidiums verdrängte die schleichende Erschöpfung das Gefühl, dass jede Minute zählte.
In einem Willensakt, der mit dem Sprung von einem Zwölfmeterturm vergleichbar war, hievte sich Robinson aus dem Sessel. »Gehen wir, bevor es hell wird«, meinte er.
Schweigend schwebten die beiden Männer mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Als sie aus dem Kokon des Polizeigebäudes traten, schlug ihnen die feuchte Luft entgegen, als sei in der Nähe ein Unwetter niedergegangen und hätte nur diese Stelle ausgelassen. Auf dem beleuchteten Parkplatz liefen sie zum Dienstwagen des Detective und stiegen am Rande der Erschöpfung ein. Robinson startete langsam und jagte den Motor zweimal hoch, als könnte ihm das helfen, selbst in Schwung zu kommen. Aus dem Lautsprecher tönte blechern eine Stimme von der Einsatzzentrale, und Robinson beugte sich vor, um das lästige Geräusch abzuschalten, als Winter ihn am Unterarm packte.
Er sah den alten Mann an, der plötzlich die Augen aufgerissen hatte, und im selben Moment jagte auch Robinson ein Stromschlag durch den ganzen Körper; Frustration und Erschöpfung waren wie weggeblasen, und er war hellwach.
Winters Stimme klang gepresst, beinahe atemlos: »Das war die Wohnung des Rabbi, verdammt! Das war seine Adresse, die durchgegeben wurde. Ich hab’s genau gehört. Man hat einen Löschzug zum Gebäude des Rabbi geschickt!«
Robinson legte den Gang ein und trat mit aller Wucht aufs Gaspedal.
»Wer ist da drinnen? Gottverdammt! Wer ist alles da drinnen?«, brüllte Winter, als könnte er sich im Moment nicht erinnern.
Walter Robinson antwortete nicht. Er wusste es. Zwei alte Leute, ein junger, vermutlich unerfahrener Polizist und Espy Martinez.
Und eine weitere Person.
Kaum hatten sich Mrs.Kroner und der Rabbi in ihre Schlafzimmer zurückgezogen, war Espy Martinez auf der Wohnzimmercouch eingeschlafen. Der zu ihrer Bewachung eingeteilte Beamte war in die Küche gegangen, wo er an seinem Kaffee genippt und einen Roman zu lesen versucht hatte, den der Rabbi ihm empfohlen hatte. Im Halbschlaf wartete er sehnlichst auf seine Ablösung. Bereits fünf Minuten nach Antritt seiner Schicht war er zu dem Schluss gekommen, dass man ihn zu einer gehobenen Form des Babysittings eingeteilt hatte, die an Langeweile nicht zu überbieten war.
Als plötzlich in der Wohnung der Feueralarm ertönte, war er kurz davor, vollends einzuschlafen. Ungläubig fluchend sprang er auf.
Auch Espy Martinez rappelte sich hoch. Sie hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und tappte desorientiert durch das Halbdunkel der fremden Wohnung.
Im Gästezimmer schreckte Frieda Kroner aus einem beängstigenden Traum, der an einen Alptraum grenzte und in dem sie sich in einem unbekannten Raum wiederfand, der immer mehr zusammenschrumpfte. Jedes Mal, wenn sie versuchte, die Tür nach draußen zu finden, wechselte der Ausgang die Position, und ihre Hand griff, statt den Knauf zu erwischen, ins Leere. Mitten in diesen verschwitzten Schlaf hinein schrillte die Alarmglocke, und als sie erwachte, schrie sie auf Deutsch: »Fliegeralarm! Fliegeralarm! Alle in den Bunker!« Erst nach ein paar Sekunden wusste sie wieder, wo sie war und welches Jahr sie hatten.
Auch der Rabbi wurde unsanft geweckt. Er zitterte wie vor Kälte, und der Alarm ging wie ein Hagel Fausthiebe auf ihn nieder. Er griff nach seinem Morgenmantel und stürmte aus dem Schlafzimmer.
Der junge Polizist ergriff zuerst das Wort. Er sprach schnell und nervös. »Hören Sie, bitte bewahren Sie Ruhe, Ruhe bitte.« Sein Ton allerdings verriet das Gegenteil. »Okay, bleiben Sie zusammen, und wir verlassen die Wohnung, jetzt …«
Espy Martinez machte einen Schritt Richtung Tür, wurde jedoch von Frieda Kroner unsanft am Arm gepackt.
»Nein!«, brüllte die alte Frau. »Nein! Das ist er! Er ist da!«
Die anderen drehten sich zu ihr um.
»Es ist der gottverdammte Feueralarm«, beteuerte der junge Polizist. »Bleiben wir zusammen und sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.«
Frieda Kroner stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist er! Jetzt hat er es auf uns abgesehen!«
Der Polizist sah sie an, als sei sie übergeschnappt. »Es brennt, verdammt! Uns bleibt vielleicht nicht viel Zeit!«
Erst jetzt meldete sich der Rabbi. Obwohl seine Stimme zitterte, sprach er bedächtig.
»Frieda hat recht. Das ist er. Irgendwo im Haus.« Er wandte sich an Espy Martinez. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Miss Martinez.«
Der junge Polizist starrte die alten Menschen an. Vergeblich bemühte er sich, seiner Stimme Ruhe und Autorität zu verleihen. »Hören Sie, Rabbi, verdammt, wenn in diesem Gebäude ein Feuer ausgebrochen ist, dann sitzen wir in der Falle! Diese Häuser brennen wie Zunder! Hab ich mit eigenen Augen gesehen! Ich habe gesehen, wie Leute eingeschlossen waren. Wir müssen hier raus, und zwar jetzt! Auf welchem Stockwerk sind wir eigentlich?«
Der Rabbi musterte ihn mit einem seltsamen Blick. »Dem fünften.«
»Verflucht noch mal! Wissen Sie denn nicht, dass es in Miami Beach keine Leiter für so eine Höhe gibt? Wir müssen runter, augenblicklich.«
Die Alarmglocke schrillte beharrlich weiter. Durch die Wände und die Wohnungstür drangen Stimmen, und im Flur war gedämpftes Trappeln zu hören. Als plötzlich mehrere panikartige Schreie ertönten, horchten sie auf.
»Da haben Sie’s! Verdammt!«, brüllte der junge Polizist. »Alle anderen sehen zu, dass sie so schnell wie möglich hier rauskommen. Machen Sie schon. Wenn es in so einem alten Gemäuer erst mal brennt, dann war’s das. Es bleibt einfach nicht viel Zeit! Wir müssen sofort zur Treppe!«
Frieda Kroner ließ sich aufs Sofa fallen. »Eine Falle ist es allerdings, aber er hat sie gelegt.« Sie verschränkte die Arme. Ihr versagte fast die Stimme, doch sie brachte die Worte heraus: »Jetzt kommt er wegen uns.«
Der Rabbi setzte sich neben sie. »Frieda hat recht«, bekräftigte er. »Wenn wir die Tür da aufmachen, sind wir alle tot.«
»Und wenn wir hier bleiben, werden wir alle gebraten!«, hielt der junge Polizist dagegen. Dabei starrte er die beiden alten Menschen an wie Insassen einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt.
»Nein«, wiederholte Frieda Kroner, »ich gehe nicht.«
»Ich auch nicht«, erklärte der Rabbi. »Mit solchen Tricks hat er seinerzeit so viele von uns gefangen. Diesmal nicht.«
»Sie haben sie doch nicht mehr alle!«, rutschte es dem Polizisten heraus. »Hören Sie«, flehte er. »Ich bleibe ja bei Ihnen. Selbst wenn der alte Wichser da draußen ist, wird er nichts unternehmen, solange Sie in meiner Begleitung sind. Kommen Sie schon!«
»Nein«, beharrte Frieda Kroner.
Der junge Ordnungshüter hob die Augen zur Decke, als flehte er den Himmel an, diese sturen Schutzbefohlenen zur Vernunft zu bringen.
»Wir werden sterben!«, brüllte er. »Miss Martinez, helfen Sie mir!«
Doch Espy Martinez starrte nur die beiden Alten an.
»Na schön«, meinte der Polizist unsicher, nachdem das Schweigen der anderen für sich gesprochen hatte. »Dann machen wir Folgendes: Ich geh da raus und sehe nach, was los ist. Sobald die Luft rein ist, komme ich zurück. Wenn möglich, bringe ich einen Feuerwehrmann mit. Okay? Sie warten hier, und ich kehre mit Verstärkung zurück. Miss Martinez, Sie kommen mit, dann sind wenigstens Sie in Sicherheit, einverstanden? Also los!«
Er eilte an die Tür, und Espy Martinez machte einen einzigen Schritt, dann blieb sie stehen.
»Nein, Sie gehen. Ich bleibe hier beim Rabbi und bei Frieda.«
Der Polizist drehte sich zu ihr um. »Das ist heller Wahnsinn!«
»Gehen Sie schon!«, drängte sie. »Ich bleibe.«
Der junge Beamte zögerte, dann warf er die Tür auf und verschwand auf den inzwischen leeren Flur zur nächsten Treppe.
Zuerst sprachen die beiden Männer kein Wort, während sie mit Signallicht und heulenden Sirenen durch das diffuse Lichtermeer der Innenstadt rasten. Simon Winter hielt sich mit aller Macht am Türgriff fest. Die Stadt schien wie im Zeitraffer an ihnen vorbeizurauschen.
Walter Robinson fuhr wie ein Todeswütiger.
Unter dem Aufheulen des Motors, dem Quietschen der Reifen und der Fliehkraft, die ihn an die Rückenlehne drückte, war ihm klar, dass es um alles ging. Alles, was ihm irgendetwas bedeutete, schien plötzlich vom Schattenmann bedroht: seine Liebe, seine Karriere, seine Zukunft. Dieses Wissen trieb ihn in den Zorn der Verzweiflung. So schnell wie noch nie in seinem Leben flog er über die Straßen. Er hatte das Gefühl, dass ihm das Tempo die Brust eindrückte, und schnappte nach Luft.
Als der Wagen für eine Sekunde schlingerte, dann aber augenblicklich wieder in die Spur kam, rief Winter nur: »Schnell, beeilen Sie sich.«
»Tu ich doch«, antwortete Robinson mit zusammengebissenen Zähnen. Als ein signalroter Sportwagen vor ihm aus einer Parklücke fahren wollte, brüllte er ein Schimpfwort. Unter wildem Gehupe sausten sie vorbei.
»Noch zwei Blocks, schnell!«, drängte Winter.
Walter Robinson sah das Gebäude vor ihnen aufragen, umgeben vom Pulsieren der Warnlichter der Polizei- und Feuerwehrautos. Er stellte sich auf die Bremse und kam schlitternd am Bordstein zum Stehen.
Die beiden Männer stürzten aus dem Auto. Robinson stand einen Moment still und warf einen Blick auf die bunte Menschenmenge in Nachthemden, Morgenmänteln und Pyjamas, die sich vor dem Gebäude versammelt hatte, und duckte sich weg, als die Feuerwehrleute Schläuche an den nächsten Hydranten anschlossen, während andere mit Sauerstoffbehältern hantierten und sich Äxte schnappten.
»Espy!«, brüllte er. »Espy!« Er drehte sich zu Winter um. »Sie ist nicht da«, schrie er. »Ich lauf zu ihnen rauf.«
»Los!«, erwiderte Winter und drängte ihn mit einer wedelnden Handbewegung, sich zu beeilen.
Doch in der Sekunde, in der Robinson ihm den Rücken kehrte, kam Winter ein anderer Gedanke, bei dem Zuneigung oder Selbstverleugnung keine Rolle spielten. Er folgte Robinson nicht, als der Polizist in rasantem Tempo über die Straße lief und unter dem plötzlichen Protestgeschrei der Feuerwehrleute ins Gebäude stürmte. Stattdessen trat Winter langsam an den Straßenrand und suchte neben einem Haus – nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der vor kurzem der Schattenmann gestanden hatte, auch wenn er dies nicht wusste – seinen eigenen Schatten. Er brauchte einen Aussichtsposten, von dem aus er die ganze Szene überschauen konnte. Das Panorama aus Löschzügen und Feuerwehrleuten, Polizisten und Männern vom Rettungsdienst wurde ihm von hier aus wie auf dem Tablett serviert. Doch sein Augenmerk galt den Leuten, die aus dem Gebäude gekommen waren, von den Rettungskräften und ihrer Ausrüstung an die Seite des Gebäudes abgedrängt wurden und nervös von einem Bein aufs andere traten.
Das Schrillen in den Fluren dauerte an. Espy Martinez drehte sich zu den beiden alten Leuten um, doch Frieda Kroner stand auf.
»Wir müssen vorbereitet sein«, erklärte sie.
Doch bevor sie einen Schritt machen konnte, gingen plötzlich die Lichter in der Wohnung aus, so dass der Raum in völligem Dunkel lag.
Espy Martinez schnappte nach Luft, und die beiden alten Menschen schrien auf.
»Bleiben Sie ruhig!«, brüllte der Rabbi. »Wo sind Sie, Frieda?«
»Hier«, meldete sie sich. »Hier, Rabbi, bei Ihnen.«
»Miss Martinez?«
»Hier, Rabbi, oh, mein Gott, das ist entsetzlich. Wieso brennt kein Licht?«
»Also gut«, sagte der alte Mann mit fester Stimme. »Das sieht ihm ähnlich. Er ist ein Mann der Dunkelheit. Das ist uns nicht neu. Er wird jeden Augenblick hier sein. Frieda?«
»Ich bin bereit, Rabbi.«
Alle drei standen in der Mitte des Zimmers und lauschten, ob außer dem Alarm noch etwas anderes zu hören war. Kurz darauf heulten von ferne Sirenen auf und kamen näher. Im selben Moment drang ein stechender Geruch ins Zimmer, der nichts Gutes verhieß.
»Rauch!«, brachte Espy Martinez keuchend hervor.
»Verhalten Sie sich ruhig!«, befahl der Rabbi.
»Ich bin ruhig«, entgegnete Frieda Kroner. »Aber wir müssen gewappnet sein.«
Ihre Stimme schien durchs Zimmer zu wandern, und Espy Martinez hörte, wie sie in die Küche verschwand. Es war das Öffnen und Schließen von Schubladen zu hören, dann Schritte, als sie wiederkam. Fast zur selben Zeit schien der Rabbi durchs Zimmer zu tappen, und Espy hörte, wie eine Schreibtischschublade aufgezogen und zugestoßen wurde.
»Also gut«, meinte der Rabbi. »Warten wir auf die Rückkehr des Polizisten.«
Der Rauchgeruch war zwar nicht stark, zog aber immer noch durch den Raum.
»Geduld«, mahnte der Rabbi.
»Kraft«, erwiderte Frieda Kroner.
Espy Martinez hatte das Gefühl, als hüllte sie die Dunkelheit wie ein Friedhofsnebel ein. Sie versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen, doch langsam, aber sicher merkte sie, wie Panik in ihr aufstieg und sie immer stärker erfasste. Ihr Atem kam in kurzen, heftigen Stößen, als bekäme sie nicht genug Luft und wollte sich wie eine Ertrinkende an die Oberfläche strampeln. In diesem Moment wusste sie nicht, was sie am meisten fürchtete: die Nacht oder das Feuer, das irgendwo im Gebäude ausgebrochen war, oder den Mann, der, wie die alten Leute sagten, unaufhaltsam näher kam. Das alles vermischte sich in Espy Martinez’ Phantasie mit den alten, verdrängten Ängsten, und so stand sie stockstill in dem schwarzen Raum und hatte das Gefühl, in einer schrecklichen Zentrifuge herumgeschleudert zu werden.
Sie hustete und würgte.
Dann hörte sie ein anderes Geräusch, gedämpft, aus der Nähe, aber noch nicht direkt bei ihnen, ein energisches Klopfen.
»Was ist das?«, krächzte sie.
»Keine Ahnung«, antwortete der Rabbi. »Still!«
Das Klopfen schien von den Wänden des Zimmers widerzuhallen. Dann hörten sie eine laute, fordernde Stimme: »Feuerwehr Miami Beach! Noch jemand da drinnen?«
Das Klopfen ging weiter und kam zusammen mit der Stimme näher. Espy Martinez begriff sofort, dass es ein Feuerwehrmann war, der den ganzen Flur entlang an jede Wohnungstür schlug, um herauszufinden, ob noch jemand zurückgeblieben war.
»Es ist ein Feuerwehrmann«, sagte sie laut. »Der holt uns raus! Der sucht nach uns!«
Und bevor einer der beiden anderen reagieren konnte, sprang sie so schnell durchs Zimmer, dass sie im Dunkeln über ein im Wege stehendes Möbelstück stolperte. Sie packte die Klinke und riss die Tür auf, während hinter ihr der Rabbi und Frieda Kroner »Nein! Nicht!« schrien.
Sie hörte die beiden nicht, sondern rief an der sperrangelweit geöffneten Tür: »Hier! Hier! Wir brauchen Hilfe!«
In der Dunkelheit vernahm sie ganz in ihrer Nähe die Stimme eines Mannes, und nur schemenhaft erkannte sie eine Gestalt, die auf sie zukam.
»Wer ist da noch alles?«
»Ich«, erwiderte sie, »und der Rabbi und …«
Der Schlag traf sie auf der Schulter und am Kinn, und zwar mit solcher Wucht, dass sie beinahe das Bewusstsein verloren hätte und herumgeschleudert wurde. Halb schreiend, halb stöhnend stürzte sie rücklings in die Wohnung. Sie wurde zwar nicht ohnmächtig, merkte jedoch, dass sie nicht mehr klar zu denken vermochte. Erst nach mehreren Sekunden nahm sie wahr, dass sie am Boden lag und dass eine Gestalt über ihr stand. Ein Lichtstrahl blitzte durchs Zimmer, und in ihrer Benommenheit sah sie, dass der Rabbi eine Taschenlampe auf sie richtete. Sie erkannte auch, dass der Mann, der sich über sie beugte, ein Messer in der Hand hielt und in dem Moment, als der Rabbi ihn mit dem Lichtstrahl im Gesicht traf, dabei war, damit auf sie niederzustoßen. Für den Augenblick geblendet, änderte er die Richtung, und sie spürte, wie die Klinge dicht über ihr durch die Luft schnitt.
Der Schattenmann richtete sich auf und hob zum Schutz gegen das Licht den Arm, so dass er Frieda Kroner nicht sehen konnte, die zu der Stelle gesprungen war, an der Espy Martinez am Boden lag, und die mit einem lauten Ächzen einen schweren, seltsam geformten schwarzen Gegenstand schwang. Mit einem dumpfen metallenen Scheppern ging der Gegenstand auf dem Arm des Schattenmannes nieder, und er schrie vor Schmerz auf.
Die alte Frau brüllte in ihrer Muttersprache: »Nein! Nein! Diesmal nicht!« Mit diesen Worten schwang sie ihre Waffe erneut und traf zum zweiten Mal auf Fleisch.
Der Lichtstrahl in der Hand des Rabbi wackelte und flackerte durch den Raum, als er aus der entgegengesetzten Richtung ebenfalls auf den Schattenmann zusprang. So wurde der Angreifer über der gestürzten jungen Frau in die Zange genommen. In der freien Hand hielt der Rabbi eine große Menora aus Messing, die mit einem leisen Pfeifen auf den Gegner niedersauste. Sein erster Schlag traf den Schattenmann an der Schulter, und der Rabbi stieß vor Anstrengung einen inbrünstigen, unartikulierten Schlachtruf aus.
Die Taschenlampe fiel zu Boden, und für eine Sekunde sah Espy Martinez, wie der Rabbi in der Haltung eines Baseball-Schlagmanns dastand und zum zweiten Mal ausholte.
Benommen drehte sie sich um und versuchte, auf die Füße zu kommen, doch im selben Moment traf sie ein heftiger Tritt des Schattenmannes gegen die Brust. Zuerst glaubte sie, er hätte sie erstochen.
Für eine Sekunde dachte sie, sie sei tot. Dann unternahm sie einen zweiten Versuch, aufzustehen, und horchte auf Geräusche jenseits der kehligen Schreie von Frieda Kroner. Endlich meldete sich der Rabbi ruhig, aber wie der Gewinner eines schwierigen Rennens mit keuchendem Atem: »Er ist weg!«
Und sie erkannte, dass es stimmte.
Sie hatte das Gefühl, als sei es plötzlich vollkommen still, obwohl in Wahrheit immer noch Sirenen heulten und der Feueralarm schrillte.
Im Dunkeln drehte sie sich zu Frieda Kroner um, die auf Deutsch mit ihr sprach: »Können Sie mich hören? Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«
Seltsamerweise glaubte sie, jedes Wort zu verstehen, und antwortete: »Nein, nein, alles in Ordnung, Mrs.Kroner. Womit haben Sie ihn eigentlich geschlagen?«
Die alte Frau musste auf einmal lachen. »Mit dem eisernen Teekessel des Rabbi.«
Der Rabbi hob seine Taschenlampe auf und leuchtete ihr damit ins Gesicht. Espy Martinez vermutete, dass sie alle blass aussahen, als hätte der Tod, nachdem er ihnen so nahe gekommen war, ein wenig von seiner Farbe zurückgelassen, doch zumindest Frieda Kroner stand der wilde Triumph einer Walküre ins Gesicht geschrieben.
»Er ist weggerannt! Der Feigling!« Dann stockte sie und stellte in viel ruhigerem Ton fest: »Wahrscheinlich hat sich noch nie jemand gewehrt …«
Der Rabbi dagegen kam gleich zur Sache: »Wir müssen ihn schnappen! Jetzt! Das ist unsere Chance!«
Espy Martinez riss sich zusammen und nickte. Sie nahm die Taschenlampe und sagte: »Sie haben recht, Rabbi. Folgen Sie mir.«
Sie packte beide am Arm und führte sie in den Flur, wo sie – wie ein Pilot im Nebel – in der Dunkelheit nach der Treppe suchte.
Walter Robinson kämpfte gegen eine ungewohnte Panik an, als er in völliger Dunkelheit tastend die Fluchttreppe hinaufzurennen begann. Trotz der fernen Sirenen und des unaufhörlich schrillenden Alarms hörte er seinen keuchenden Atem.
Er bemerkte die Leiche erst, als er darüber stolperte.
Wie beim Football ein Block auf der blinden Seite warf ihn der Aufprall nach vorn, so dass er das Gleichgewicht verlor und im Fallen mit den Händen voran auf die Betonstufen stürzte. Vor Schreck schrie er auf und versuchte, sich rechtzeitig zu fangen. Er riss sich zusammen und tastete nach dem Toten, obwohl ihn ein Gefühl ergriff, das nicht mehr mit Angst zu beschreiben war: dass nämlich seine Finger entweder die faltige Haut des Rabbi oder von Frieda Kroner berühren würden oder, schlimmer noch, die weiche Haut von Espy Martinez.
Als er merkte, dass es sich um eine große, kräftige Gestalt handelte, war er zunächst verwirrt. Doch dann ertastete seine Hand die Dienstmarke eines Polizisten. Er zuckte zurück, als er merkte, dass sie voller Blut war.
Aus Leibeskräften brüllte er: »Espy! Ich komme!« Inständig hoffte er, den Mann abzulenken, der mit Sicherheit irgendwo weiter oben lauerte. Alles, um dessen tödliches Vorhaben zu durchkreuzen.
Robinson konnte immer noch nichts sehen, und hätte es etwas zu hören gegeben, wäre es womöglich in der Kakophonie der Panik untergegangen, die in seinem Innern tobte. Er packte das Geländer und hastete weiter zum fünften Stock.
Wieder rief er: »Espy!«
Endlich sah er einen feinen Lichtstrahl und hörte die Antwort: »Walter!«
Er schrie zum dritten Mal: »Espy!«
Dann endlich sah er die drei Gestalten, die ihre Taschenlampe auf ihn richteten.
»Seid ihr verletzt?«, rief er.
»Nein, nein«, schrie sie zurück. »Aber er ist hier!«
Walter Robinson streckte die Hände aus und packte Espy Martinez, die ihm in die Arme fiel und flüsterte: »Mein Gott, Walter, er war da! Er war da und hat versucht, mich umzubringen. Der Rabbi und Mrs.Kroner haben mich gerettet, und er ist weggerannt. Als sie ihn mit einem Kessel geschlagen hat, ist er weggerannt. Aber er muss hier noch irgendwo sein.«
Robinson löste sich aus ihrer Umarmung und sah die beiden alten Menschen an. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, wollte er wissen.
»Wir müssen ihn finden«, antwortete der Rabbi.
Der Detective zog seine Waffe.
»Er ist hier irgendwo in der Dunkelheit«, erklärte der Rabbi, »irgendwo im Gebäude.«
Doch Frieda Kroner schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, er ist geflüchtet, vielleicht über die Treppe am anderen Ende des Gebäudes. Schnell, schnell, wir müssen hinterher!«
So begannen sie zu viert ihren Abstieg. Walter Robinson hatte eine Hand von Espy Martinez ergriffen und versuchte, das Tempo zu beschleunigen, während der Rabbi und Frieda Kroner mit der Vorsicht des Alters, doch der gebotenen Eile, folgten. Robinson übernahm die Taschenlampe und ging voraus. Nur auf dem zweiten Stock blieb er für einen Moment stehen, um die Leiche des Polizisten anzuleuchten. Als der Lichtstrahl auf den roten Blutfleck an der Kehle des Mannes fiel, schnappte die alte Frau hörbar nach Luft. Doch sie sagte nur: »Schneller, schneller, wir dürfen ihn nicht entwischen lassen!«
Simon Winter blieb auf seinem Beobachtungsposten im Dunkeln und behielt die Szene vor dem Wohnblock im Auge. Wenn man in seichtem Wasser fischt, kommt der Moment, in dem man zarte Wellenkräusel entdeckt, weil eine unsichtbare Gestalt unter der Oberfläche sich in die entgegengesetzte Richtung zum Wind, zu den Strömungen und Gezeiten bewegt. In diesem Moment bemerkt man die Nähe der Beute. Genau nach diesem kleinen Richtungswechsel suchte Winter das hektische Getümmel vor dem Wohnhaus des Rabbi ab. Dort drüben, dachte er, ist irgendwo eine Person, die nichts mit dem Feuer und dem Alarm zu tun hat und auch nicht in den frühen Morgenstunden aus dem Bett gezerrt wurde, sondern sich einzig und allein zum Töten eingefunden hat.
Also hielt er nach dieser kleinen Bewegung Ausschau.
Als er sie entdeckte, richtete er sich mit einem Ruck auf und spürte, wie ihn eine finstere Erregung durchrieselte.
Er sah einen gedrungenen Mann in einfacher, dunkler Kleidung. Der Verdächtige kam, ein wenig vorgebeugt, aus dem Gebäude und ließ sich von einem Feuerwehrmann, der Wichtigeres zu tun hatte, zu dem Knäuel der vertriebenen Bewohner am Straßenrand dirigieren.
Simon Winter lief ein paar Schritte parallel zu dieser Person.
Er sah, wie der Verdächtige in die Menge eintauchte und sich von vorn nach hinten durcharbeitete. Die anderen starrten alle zu ihren Wohnungen hinauf, suchten nach Rauch und Flammen und warteten, als sie nichts dergleichen entdecken konnten, auf ein Zeichen oder eine Information von den Feuerwehrleuten, die immer wieder ins Gebäude rannten oder es verließen.
Diesem einen Mann jedoch schien das alles egal zu sein.
Mit gesenktem Kopf, so dass man sein Gesicht nicht sehen konnte, wühlte er sich langsam durch die Menschenmenge, um in die Dunkelheit der Straße dahinter zu entkommen.
Simon Winter beschleunigte seine Schritte.
Er konnte weder die Augen noch das Gesicht des Mannes sehen, doch er wusste Bescheid. Für einen Moment drehte er sich nach hinten, um Walter Robinson oder irgendeinen anderen Polizisten auszumachen, der ihm möglicherweise helfen konnte, doch er entdeckte keinen. Ihm wurde bewusst, dass er selbst aus dem Schatten auf den Bürgersteig getreten war und für einen Moment im Licht der Leuchtschrift einer Ladenfront lief. Winter trat genau in der Sekunde auf die Straße, als der Mann den Kopf hob und ihn sah, wie er unter der Reklame dastand und zu ihm hinüberschaute.
Im Moment des gegenseitigen Wiedererkennens erstarrten beide Männer.
Plötzlich hörte Simon Winter trotz der Sirenen und des Lärms, den die Löschzüge machten, hinter sich eine Stimme. Sie war laut, aber kein schriller Schrei, eher der mächtige Warnruf eines Wächters.
Der Ruf hallte auf Deutsch durch die Nacht: »Der Schattenmann! Der Schattenmann! Er ist hier! Er ist hier!«
Nur für eine Sekunde sah Winter, wie Frieda Kroner mitten auf die Straße lief. Der Rabbi war neben ihr und brüllte ebenfalls: »Der Schattenmann ist unter uns. Finden Sie ihn!«
Dabei winkte er heftig mit den Armen.
Simon Winter sah Espy Martinez und Walter Robinson einander an der Hand haltend wenige Schritte hinter dem alten Paar ins Freie hasten. Der Detective hatte die Waffe gezogen, während er mit grimmig entschlossenem Gesicht den Blick in alle Richtungen schweifen ließ. Winter sah, wie er dem Feuerwehrpersonal und den erstaunten Polizisten in Uniform, die in seiner Nähe standen, Befehle zubrüllte. Dann drehte er sich blitzschnell wieder zu der Menschentraube um und sah, dass der Schattenmann den anderen den Rücken gekehrt hatte und rannte. Er erhaschte gerade noch einen Blick auf die einsame Gestalt, die in eine dunkle Nebenstraße Richtung Strand abtauchte. Mit einem Schlag schwirrten die Menschen wie aufgeschreckte Bienen umher, steckten die Köpfe zusammen und versuchten, sich gegenseitig zu übertönen. Er dachte daran, Walter Robinson ein Zeichen zu geben, merkte jedoch, dass ihm dafür keine Zeit blieb.
Also nahm er allein die Verfolgung auf, während ihm die Worte: »Er ist hier! Er ist hier!« in den Ohren dröhnten.