9

Die hilfreiche Hand

Walter Robinson gab Gas und folgte dem G-75 über den Julia Tuttle Causeway, der von Miami Beach zum Zentrum von Miami fuhr. Es war Mittag. Er beobachtete, wie der Bus die dreispurige Autobahn hinauf ächzte, während die sengende Hitze gleich einem Schwamm eine Wolke Auspuffgase aufsaugte.

Miami ist eine langgestreckte Stadt. Endlos dehnt sie sich von Süden nach Norden die Küste entlang und schmiegt sich in ihrem ungebremsten Ausdehnungsdrang an die Umrisse der Biscayne Bay. Nicht nur das Bild, das die Metropole der Welt bietet, scheint vom glitzernden azurblauen Wasser inspiriert; vielmehr hat es den Anschein, als hinge ihr inneres Gleichgewicht vom Rhythmus des Ozeans ab. Seit einigen Jahren dringt die Stadt zudem Richtung Westen in die endlosen Sumpfgebiete der Everglades vor: Bauprojekte und Einkaufszentren wachsen wie ein Geschwür nach dem anderen aus der Ebene. Doch diese Entwicklung gehört zu den oft turbulenten Verwerfungen im Leben einer Metropole. Bei alledem bleibt Miami in seinem Wesenskern eine Küstenstadt, deren Herz im Takt der Wogen schlägt.

Walter Robinson allerdings hasste das Wasser.

Zwar genoss er das Panorama und kam – besonders wenn er über einem Fall brütete – immer wieder her. Er hatte schon lange herausgefunden, dass der Rhythmus der See, das monotone Geräusch der Wellen am Strand, auf subtile Weise dabei half, das Wesentliche vom Beiwerk zu scheiden und seine Überlegungen zu ordnen. So hatte er die Weite des Ozeans und der Küste als Katalysator zu schätzen gelernt. Sein Hass hingegen war eher politischer Natur.

In seinen Augen hatte das Wasser immer den Reichen gehört. Miami kann sich Dutzender Docks, Yachthäfen und Slip-Anlagen rühmen, während man in Strandnähe vergeblich Viertel sucht, in denen eine nennenswerte Anzahl Schwarzer lebt. Dies war ihm bereits in jungen Jahren bewusst geworden, wann immer er von der Armut des sogenannten Black Grove durch Viertel mit zunehmendem Wohlstand bis ans Wasser lief, wo er von ferne zusah, wie betuchte, einflussreiche Weiße mit ihren Segelyachten, Motorbooten oder großen Kabinenkreuzern ablegten, um auf dem Weg aufs offene Meer den Küstenstreifen entlangzugleiten. Als einsamer Beobachter war er sich schon immer bewusst gewesen, dass er sich durch seine Hautfarbe von praktisch allen unterschied, die dem Wasser zustrebten. Einmal hatte er sich bei seiner Mutter, die als Grundschullehrerin arbeitete, darüber beschwert und zur Antwort bekommen, wenn es ihn weiter regelmäßig nach Dade County zöge, müsse er schwimmen lernen. Erst als Erwachsener war ihm klargeworden, dass viele seiner Schulkameraden die Mühe nicht für wert befunden hatten, so eingefleischt war das Vorurteil, das Wasser gehöre anderen und nicht ihnen.

Folglich hatte sich Walter Robinson gezwungen, ein ausgezeichneter Schwimmer zu werden – schnell, kräftig und außerdem unerschrocken, wenn die Meeresströmungen gefährlich wurden und bedenklich an ihm zerrten.

Während er mit hohem Tempo die Dammstraße entlangfuhr, um den Bus nicht aus den Augen zu verlieren, spähte er immer wieder über die Bucht, die zu beiden Seiten der Straße schimmerte. Die Fahrt zwischen Miami Beach und Liberty City hatte stets etwas Irritierendes für ihn. Die Bucht schien der Verwahrlosung, die nur eine halbe Meile landeinwärts wartete, zu spotten. Nur sechs, vielleicht auch neun Häuserblocks weiter, und die Erinnerung an das kühle, blaue Wasser verdunstete in der erbarmungslosen, staubigen Hitze. Als der G-75-Bus in einer weiteren schmutzig grauen Auspuffwolke das Tempo drosselte, bevor er in eine Ausfahrt abbog und ins Zentrum der City eintauchte, folgte er ihm dichtauf.

Auch wenn es niemand laut aussprach, diente der G-75 nur einem einzigen Zweck: Er drehte seine Runde zwischen einem halben Dutzend Haltestellen in Liberty City und ähnlich vielen Stationen in Miami Beach, um die Putzfrauen und Tellerwäscher, die Gartengehilfen sowie die eine oder andere private Krankenpflegerin in aller Herrgottsfrühe aus der City durch Hitze und Staub zu ihren anspruchsvollen, schlecht bezahlten Jobs zu fahren und sie am Abend schwankend und geräuschvoll über den Damm wieder nach Hause zu karren.

Auf dem Beifahrersitz hatte er eine Straßenkarte ausgebreitet, und während der Bus sich die Twenty-second Avenue entlangwand, markierte er die Position jedes Pfandleihers und jedes Ladens, der Schecks einlöste. Beide Branchen waren in dieser Gegend deprimierend zahlreich vertreten – mindestens mit einem Geschäft pro Häuserblock.

Besonders interessierte er sich für die Pfandleiher.

Wenn er nur wüsste, welcher … Wer von ihnen hatte mitten in der Nacht geöffnet? Zu wem schlich man sich unauffällig und schüttelte die letzten Anzeichen der Panik ab? Mit wem wurde man sich schnell handelseinig und blieb von lästigen Fragen verschont?

Er konnte nur aufgrund seiner polizeilichen Erfahrung spekulieren. Ein gewiefter Einbrecher, so viel wusste er, griff regelmäßig auf einen erprobten Hehler zurück. Irgendeine zwielichtige Geschäftsperson, der er vertraute. Ein Hehler wäre außerdem in der Lage, auch teurere Schmuckstücke an den Mann zu bringen und einen höheren Preis dafür zu bezahlen.

Andererseits wäre ein professioneller Hehler nicht so dumm, sich mit einem überdrehten, labilen Crack-Süchtigen einzulassen. Folglich, nahm er an, verfügte seine Zielperson über keine feste Anlaufstelle, zu der er sein Diebesgut bringen konnte, um einigermaßen regelmäßige Einkünfte zu erzielen. Robinson fuhr weiter und führte Selbstgespräche:

»Nein, mein Freund. Deine Nerven haben geflattert, nicht wahr? Und du hattest nichts Eiligeres im Sinn, als so viel wie möglich von deiner Beute so schnell wie möglich loszuwerden, also war ein Pfandleihhaus genau das Richtige. Eins, von dem du wusstest, dass es zwei Sorten von Büchern führte. Eines, das dir ohne irgendwelche Fragen ein paar Zehner und Zwanziger auszahlte. Nicht genug, um dich reich zu machen, aber genug, um dich high zu machen. Hab ich recht, mein Freund?

An der Route G-75 lagen sieben solcher Geschäfte.

Mit einem Grinsen auf den Lippen parkte Walter Robinson den Wagen.

»Du hattest auch bestimmt keine Lust, allzu weit zu laufen, oder? Du wolltest das Zeug nur möglichst schnell über die Ladentheke schieben, Bares kassieren und möglichst schnell vergessen, welche Grenze du überschritten hattest. Du weißt schon, welche Grenze ich meine. Die zwischen einem einfachen Gauner, einem Dieb und einem Schwerverbrecher. Und damit die Schwelle zum Todestrakt im Raiford Prison, wo du dich dann an den Kopf fasst und fragst, was am Leben eigentlich so toll ist, weil du es bald verlieren wirst.«

Robinson stieg aus und war im selben Augenblick von einer Hitzewolke eingehüllt, die aus dem Asphalt dampfte. Er schloss sein Fahrzeug ab und summte die Melodie eines Songs.

Er holte tief Luft und dachte: Nein, mein Freund, du hast keine Ahnung, wie dicht ich dir auf den Fersen bin, aber das bin ich. Ganz dicht an dir dran. Und ich komme dir immer näher, und bald habe ich dich an den Eiern, ohne dass du es vorher merkst. Er blieb einen Moment stehen und musterte ein niedriges Wohngebäude direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Auf einem dreckigen braunen Stück Erde zwischen den asphaltierten Bürgersteigen spielten drei kleine Kinder mit einem grellrosafarbenen Plastikdreirad. Dahinter schlossen sich zweistöckige, rechteckige Wohnblocks an. Der verblassende weiße Anstrich an den Wänden war von Graffiti übersät. Die meisten Türen und Fenster standen offen, so dass die drückende Schwüle ungehindert eindringen konnte; falls es Klimaanlagen gab, waren sie entweder defekt oder schluckten zu teuren Strom. Gelegentlich erhob sich eine laute wütende Stimme und schickte ein paar Kraftausdrücke in die heiße Luft über den Kindern, die unbeeindruckt weiterspielten. Robinson wusste, dass sich im Laufe des Abends in die lauten Stimmen das unvermeidliche Klirren von Schnapsflaschen und gelegentlich auch Schüsse mischen würden.

Während er unschlüssig dastand, hielten zwei der Kinder beim Spielen inne und sahen zu ihm hinüber. Sie zeigten mit dem Finger auf ihn, und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie er in seinem beigefarbenen Anzug, mit Hemd und Krawatte sowie glänzend geputzten Schuhen aus dem Rahmen fiel. Für eine Weile starrten die Kinder ihn an, dann steckten sie kurz die Köpfe zusammen und spielten schließlich weiter.

Er schüttelte den Kopf und dachte: Ganze sieben Jahre alt und schon wittern sie den Cop. Wird in zehn Jahren ein Polizist herkommen und mit gezogener Pistole nach ihnen suchen? Er ersparte sich die Antwort.

Er sah sich nach jemandem um, der die Kinder beaufsichtigte, konnte aber niemanden entdecken. Als ich in dem Alter war, hat wenigstens meine Mutter auf mich aufgepasst, dachte er. Bei der Erinnerung fühlte er sich einsam und deprimiert, und so besann er sich schnell auf den Zweck seines Ausflugs.

Ein kurzer Windstoß wirbelte nur den Staub zu seinen Füßen auf. Er setzte sich in Bewegung und steuerte den ersten Pfandleiher im Block an. Vor der Tür blieb er einen Moment stehen. Als er gerade nach der Klinke griff, hörte er, wie hinter ihm ein Wagen am Rinnstein hielt, und er drehte sich blitzschnell um.

Es war ein weißer Streifenwagen der städtischen Polizei von Miami. Die Kühlerhaube reflektierte das Sonnenlicht und blendete ihn. Eine Scheibe wurde heruntergekurbelt, und er hörte eine vertraute Stimme:

»Sollte uns tatsächlich der berühmte Detective von Miami Beach die Ehre geben und in unserem Revier herumschnüffeln?«

Walter Robinson legte schützend die Hand über die Augen und konterte prompt: »Das kommt davon, wenn ihr Schlafmützen und Nichtsnutze eure schlimmen Finger zu uns entwischen lasst, so dass sie in meiner Stadt Ärger machen.«

Vom Beifahrersitz ertönte Gelächter, und als er an den Streifenwagen herantrat, frotzelte eine andere Stimme:

»Na ja, besser bei euch als bei uns, so viel ist sicher.«

Die Tür ging auf, und ein Hüne von einem schwarzen Mann in der marineblauen Uniform der Stadtpolizei mit den Streifen eines Sergeant auf der Schulter wand sich heraus.

»Hey, Walter, Mann, was geht ab?«

»Kann nicht klagen, Lionel, kann nicht klagen.«

Zu dem Sergeant gesellte sich ein deutlich kleinerer, dünnerer Latino, der ihm ebenfalls die Hand schüttelte. »Hey, Walt, Amigo, como está?«

»Was redest du für ein Kauderwelsch, John?«, fragte Robinson grinsend und betonte den Vornamen des Mannes.

»Juan, wenn’s recht ist, und nicht John. Ich hoffe, das geht endlich mal in deinen Schädel, du großer alter schwarzer Gringo. Du bist kein bisschen besser als mein Partner hier. Eines Tages, du wirst schon sehen, ist es die Nationalsprache, Mann, und wir werden euch zwingen, sie zu sprechen.«

Die drei Männer lachten miteinander.

»Und, Mann, arbeitest du an einem Fall?«, fragte ihn der Sergeant. Er hieß Lionel Anderson, und Walter Robinson wusste, dass er sich auf der Straße den Titel Lion-Man erworben hatte, was er neben seiner imposanten Statur seiner kompromisslosen Haltung zu verdanken hatte. Er hatte gemeinsam mit Robinson die Akademie besucht, und dasselbe galt für Juan Rodriguez, seinen Partner.

»Kannst du mir irgendeinen vernünftigen Grund nennen, sich die Gegend hier anzutun?«, entgegnete Robinson.

»Vielleicht vermisst du ja das Flair, den Gemeinschaftsgeist und die Gesinnung?«

»Ich denk, es ist die Küche, Partner. Der Detective bekommt da draußen in Miami Beach kein anständiges Soul Food. Er kann die Hühnersuppe und die Matzenknödel nicht mehr riechen. Er braucht ’ne ordentliche Schweinshaxe mit Kohl.«

»Mag ja sein«, antwortete Lionel Anderson. »Schmeckt jedenfalls zehnmal besser als diese gebratenen Bananen-Dinger, die du ständig runterschlingst und mir auch noch aufs Auge drücken willst. Widerliches Zeug.«

»Kochbananen sind gut für dich. Helfen dir, ’ne Fremdsprache zu lernen und ’ne ganze Kultur zu verstehen.«

Robinson schüttelte den Kopf und wandte ein: »Was redest du da, Juan. Der Lion-Man versteht doch nicht mal seine eigene, und du verlangst von ihm, dass er noch eine lernt? Eine neue?«

»Na ja, Walt, Amigo. Das ist ein Argument …«

Die drei Männer mussten wieder lachen.

»Also«, meinte Anderson einen zweiten Anlauf. »Was treibt dich hier ins idyllische Liberty City?«

»Habt ihr was von diesem Mord mitbekommen, den wir vorgestern Nacht hatten?«

»Die kleine alte Frau?«

»Genau.«

»Haben einen Handzettel bekommen. Gestohlener Schmuck. Kam aus deinem Büro.«

»Das ist der Fall. Ich vermute, dass der Täter mit dem G-75 hin- und wieder zurückgefahren ist.«

»Du meinst, er hat den Bus genommen, um jemanden umzubringen?«

»Bin nicht sicher, ob er mit der Absicht kam, jemanden umzubringen. In den letzten Wochen ist er mit einfachen Brüchen davongekommen.«

»Das vorgestern Nacht war ein bisschen mehr als ein gewöhnlicher Einbruch, was?«

»Kannst du laut sagen. Aber ich nehme mal an, er musste hinterher trotzdem zurück, nur dass die heiße Ware, die er normalerweise mit sich rumträgt, diesmal um einiges heißer ist. Könnte ihm fast ein Loch in die Hosentasche gebrannt haben …«

»… und deshalb«, führte Rodriguez den Gedanken zu Ende, »meinst du, ist er aus dem Bus gesprungen, um das Zeug so schnell wie möglich loszuwerden, egal, wie viel er dafür kriegt?«

»Du hast es erfasst, Juan.«

»Klingt logisch. Ich meine, nicht für jemanden, der bei klarem Verstand ist. Aber in dieser Welt, sicher, warum nicht.«

»Deswegen«, fuhr Robinson fort, »suche ich nach einem Laden, der es mit den Öffnungszeiten großzügig hält, versteht ihr? Der vielleicht noch mitten in der Nacht aufhat …«

Lionel Anderson and Juan Rodriguez tauschten einen kurzen Blick, dann sagten sie fast wie aus einem Munde: »The Helping Hand.«

»Wie?«

»Das Pfandleihhaus The Helping Hand. Drei Häuserblocks von hier …«

»Toller Name, was?«, bemerkte Rodriguez.

Anderson schüttelte den Kopf. »Kollegen in meiner Schicht haben sich vielleicht drei-, viermal über diesen Typen beschwert, der den Laden führt. Sie sagen, er hat zu den seltsamsten Zeiten geöffnet, praktisch rund um die Uhr, und die sind ja nicht blöd, die wissen, was Sache ist. Na, jedenfalls heißt der Eigentümer Reginald Johnson. Hat ein Mädel, das für ihn arbeitet, Yolanda, behauptet, sie sei seine Nichte aus Georgia, aber das kauf ich ihm nicht ab, und auch sonst keiner hier in der Gegend. Kein Mensch hat eine Nichte, die wie Yolanda aussieht. Sie ist dieser Typ Kindfrau, lässt keine Wünsche offen. Titten, die nach Norden zeigen, Hintern nach Süden. Lange Beine und zwischen denen was ganz Besonderes, möchte ich wetten. Na, jedenfalls wird gemunkelt, er versucht, sein Warenangebot ein bisschen auszuweiten. Ist ein paarmal wegen Hehlerei aufgeflogen, man hat ihn aber nie festnageln können, verstehst du? Marschiert rein, zahlt irgendeinem Anwalt eine gewisse Summe und schafft es jedes Mal, das Verfahren bis ins nächste Jahrhundert zu verschleppen. Verlegt sie von einem Gericht zum anderen und redet sich am Ende jedes Mal auf Verwahrung von Diebesgut raus. Dann zahlt er sein Bußgeld, ist wieder im Geschäft und hält sich für bedeutend schlauer als die Cops, den Staatsanwalt und den Rest der Welt. Hab mir sagen lassen, er ist in ein neues Haus mit ’ner Menge Möbel gezogen, weil Yolanda sich ein richtiges Zuhause wünscht. Außerdem soll er für die Kleine ein Auge auf einen neuen Buick geworfen haben. So’n roten Schlitten, echter Knaller. Also, Walter, ich wünschte, ich hätte eine Nichte, die dasselbe tut, wie die Kleine …«

Der Polizist lachte, und sein Partner fiel grinsend ein, während er nickte und sich auf die Schenkel klopfte.

»Also, sonnenklar, dass er versuchen wird, sie bei Laune zu halten, und genauso klar, dass die kleine Yolanda, na ja, sie mag keine große Leuchte sein, aber sicher kann sie zwei und zwei zusammenzählen, und sie ist nicht blind. Bestimmt bekommt sie ziemlich schnell Geschmack an den schöneren Dingen.«

»Ach, kann das Leben angenehm sein«, fügte Juan Rodriguez hinzu.

»Und natürlich kosten diese Dinge Geld …« Lionel Anderson verdrehte die Augen zum Himmel und reckte die Hände in die Höhe, als betete er um einen warmen Regen.

»Ich denke, ich bin im Bilde.«

Rodriguez grinste.

»Würde mich freuen, wenn du ihm diesen netten kleinen Nebenverdienst vermasseln könntest. Und falls dein Täter hierhergekommen ist, dann hat ihn mit Sicherheit sein Weg als Erstes zur Helping Hand geführt. Da wär allerdings ein Problem …«

»Nämlich?«

»Ich glaube, der alte Reginald hat kapiert, dass er diesen gestohlenen Scheiß nicht allzu lange in seinem Laden rumliegen lassen darf, weil selbst wir Vollidioten von der Polizei bei ihm danach herumschnüffeln werden. Ich habe keinen Schimmer, was für Kontakte er hat, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er den Kram schnellstens wieder loswerden will.«

Lionel Anderson nickte. »Kann sein, dass du zu spät kommst, um das Zeug im Laden zu finden. Und für ein Bauchgefühl gibt’s keinen Durchsuchungsbefehl.«

Der große Mann lächelte seinem Partner zu.

»Kann trotzdem nicht schaden, diesem Bruder hier ein bisschen unter die Arme zu greifen und dem alten Reginald Dampf unterm Hintern zu machen. Vielleicht versteht der sogar den Unterschied zwischen Verwahrung von Diebesgut und Beihilfe zum Mord. Vielleicht können wir bei ihm ein bisschen Aufklärungsarbeit leisten.«

Walter Robinson ließ sich von den amüsanten Spielchen seiner beiden Kollegen in Uniform zu einem Lächeln hinreißen, auch wenn er sich innerlich plötzlich hart und unerbittlich fühlte und hoffte, auf der richtigen Spur zu sein.

»Geht vor«, sagte er ruhig.

 

The Helping Hand besaß nur eine schmale Ladenfront, deren Fenster sich hinter dicken, schwarzen Gitterstäben versteckten. Die Eingangstür war stahlverstärkt und mit mehreren Riegelschlössern gesichert, so dass der Zugang zu dem Pfandleihhaus die einladende Atmosphäre einer besonders düsteren mittelalterlichen Festung verströmte. Walter Robinson registrierte eine Reihe Spiegel, die verhinderten, dass ein Neuankömmling sich in irgendeinem dunklen Winkel des Ladens verstecken konnte. Kaum ging die Tür auf, schaltete sich eine Videokamera ein, die neben dem Eingang plaziert war, worauf Juan Rodriguez augenblicklich hinwies.

»Hey, Reginald, mein Freund«, rief der drahtige Polizist in übertrieben freundlichem Ton. »Echt raffiniertes Teil da oben. Hightech vom Feinsten. Gefällt mir, echt. Muy bueno.«

»Ich muss mein Zeug beschützen«, bemerkte eine mürrische Stimme hinter der Theke.

Reginald Johnson war ein kleiner, untersetzter Mann, der ihnen aus seinen engstehenden Augen finster entgegenblickte und dessen Bodybuilderarme fast den Stoff seines Sporthemds sprengten. An der rechten Hüfte trug er eine Neun-Millimeter-Pistole in einem Holster, um potenziellen Kunden sofort jedwede Flausen auszutreiben, und Robinson vermutete, dass außerdem in seiner Reichweite in einem Fach unter der Theke noch eine Schrotflinte bereit lag.

»Was wollt ihr hier?«, fragte Johnson. »Wenn ihr den Laden durchsuchen wollt, braucht ihr einen Wisch vom Richter.«

»Aber nicht doch, Reggie. Wir gucken uns nur deine Ware an. Wir sehen einfach gerne, was man in der Gegend so kaufen kann. Unsere Art, für eine gute Beziehung zwischen Polizei und Bevölkerung zu sorgen«, erklärte Juan Rodriguez mit beißendem Spott. »Zum Beispiel diese Vitrine da mit all den Knarren, Reggie. Du kannst zweifellos zu jeder davon die entsprechenden Papiere vorzeigen, nicht wahr, alter Junge?«

Rodriguez trommelte mit den Fingern auf einer Glasfläche der Theke.

»Scheeeeeiiiiße«, brummte der Ladenbesitzer.

»Reggie, soll ich für dich die Unterlagen aus dem Safe holen?« Die Frage wurde aus dem abgedunkelten Hinterzimmer des Pfandleihhauses geflötet.

»Diese liebliche Stimme kann nur Yolanda gehören«, flüsterte Lionel Anderson Robinson zu. »Hey, Süße. Komm doch mal raus und sag meinem Partner und mir guten Tag!«

»Yolanda!«, warnte Reginald Johnson hastig, aber nicht schnell genug.

»Ist das Sergeant Lion-Man?«, wollte sie wissen und trat im selben Moment ins Neonlicht des Ladens. Walter Robinson sah auf den ersten Blick, dass sein alter Freund bei Yolandas offensichtlichen Vorzügen nicht übertrieben hatte. Ihre nachtschwarze Mähne fiel ihr in Kaskaden über die kakaofarbenen Schultern. Sie trug ein enges, weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, das den Blick magisch auf ihr Dekolleté lenkte, und sie lächelte Lionel Anderson entgegen, der wie gebannt auf ihre üppigen Rundungen starrte. »Sergeant, wie kommt es, dass wir Sie kaum noch mal zu sehen bekommen?«, fragte sie. »Ich habe Sie vermisst.«

Anderson blickte zur Decke, als erhoffte er sich von dort die Antwort. »Na ja, Herzblatt, wenn ich wüsste, dass du dich nach der Gesellschaft dieses alten Polizisten sehnst, dann bekämst du den besten Polizeischutz, den diese Stadt zu bieten hat, ist dir das klar? Ich meine, rund um die Uhr. Vierundzwanzig Stunden Polizeischutz …«

Yolanda lachte und schüttelte den Kopf. Walter Robinson fragte sich, ob sie vierzehn oder vierundzwanzig war. Beides lag im Bereich des Möglichen.

»Yolanda! Geh und hol diese Papiere aus dem Safe!«, herrschte Reginald Johnson sie beinahe an.

Die junge Frau drehte sich missmutig zu ihm um. »Ich hab dich doch schon gefragt, ob ich sie holen soll«, konterte sie.

»Bring sie her, damit die Cops verschwinden.«

»Geh ja schon.«

»Los, beweg deinen Arsch, Mädchen.«

»Ich sag doch, bin schon unterwegs.« Yolanda wandte sich an Lionel Anderson. »Sekündchen, Sergeant Lion-Man.« Dann warf sie einen Blick auf Walter Robinson. »Wusste gar nicht, dass Sie und Ihr kleiner Partner einen gutaussehenden Freund zu Besuch mitbringen würden«, fügte sie hinzu.

»Ich bin Walter Robinson. Kripo Miami Beach.«

»Miami Beach«, wiederholte Yolanda nachdenklich, als ging es um einen exotischen Ort in weiter Ferne. »Reggie ist noch nie mit mir dahin gefahren, um die Wellen zu sehen. Ist bestimmt wunderschön, oder, Mr.Detective?«

»Es hat seine Reize«, erwiderte Robinson.

»Siehste, Reggie, sag ich«, meinte Yolanda und warf einen vorwurfsvollen Blick auf den Ladenbesitzer.

»Yolanda!«, schnauzte Johnson, doch wiederum vergeblich.

»Kleiner Partner! Kleiner Partner! Yolanda, du brichst mir das Herz!«, unterbrach sie Rodriguez grinsend. »Auch wenn ich vielleicht kein solches Muskelpaket wie der da bin, weißt du einfach nicht, was du an mir hättest. Schon mal was von Latin-Lovers gehört? Das sind die besten. Muy perfecto!«

»Das ist mir neu.« Die junge Frau lächelte Rodriguez an. »Und ich möchte wetten, du würdest es mir gern beweisen.«

Rodriguez schlug sich ergriffen mit beiden Händen ans Herz, und Yolanda lachte.

»Yolanda, geh und hol diese Papiere!«, zischte Reginald Johnson durch die Zähne.

Er stapfte quer durch den Laden, packte sie am Arm und drehte sie in Richtung eines Hinterzimmers, das mit Maschendraht und einem dreifachen Schloss gesichert war.

»Ich habe nichts Unrechtes getan«, beharrte der Pfandleiher stur. »Und hören Sie auf, Yolanda anzumachen.«

»Ihre Nichte«, rief ihm Anderson ins Gedächtnis.

Johnson sah ihn wieder finster an.

Walter Robinson fing an, langsam den kleinen Laden abzuschreiten und sich die Waren in den Vitrinen anzusehen – eine schwindelerregende Ansammlung von Waffen, Kameras, Tischgrills, Kassettenrekordern, Besteck, einem Waffeleisen, mehreren Gitarren und Saxophonen sowie gelegentlichen Töpfen und Pfannen. Das Beiwerk des Lebens, dachte der Detective. Als er eine Vitrine mit Schmuck entdeckte, ging er schnell hinüber und machte sich daran, jeden Ohrring, jede Halskette und jedes Armband zu überprüfen. Er zog den Handzettel heraus, den er vorbereitet hatte, und glich die Beschreibung der aus Sophie Millsteins Wohnung gestohlenen Gegenstände mit dem Inhalt der Vitrine ab.

Reginald Johnson gesellte sich zu Robinson, lehnte sich über die Theke und sagte leise, doch in stahlhartem Ton: »Ich hab auch zu all diesem Scheiß hier Unterlagen, Detective. Sie werden das, wonach Sie suchen, hier nicht finden.«

»Ach, tatsächlich?«, erwiderte Robinson ebenso leise und kalt.

»Tatsächlich.«

»Wie man hört, haben Sie seltsame Öffnungszeiten.«

»In dieser Gegend hier haben die Leute manchmal nur nachts die Möglichkeit zu einer Transaktion. Ich hab eine Menge Konkurrenz, falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten. Versuche nur, kundenfreundlich zu sein, Detective.«

»Bestimmt. Und wie freundlich waren Sie Dienstagnacht?«

»Was ist mit Dienstagnacht?«

»Hatten Sie da noch geöffnet?«

»Kann schon sein. Wahrscheinlich.«

»Ist irgendjemand noch spät reingekommen, so um Mitternacht?«

»Weiß nicht, ob ich mich an irgendjemanden erinnern kann.«

»Strengen Sie sich an.«

»Tu ich schon, aber ich kann mich einfach an niemanden erinnern.«

»Lügen Sie mich an?«

Johnsons Gesicht verdüsterte sich. »Sind Sie allmählich fertig damit, mich zu schikanieren, oder muss ich meinen Anwalt rufen?«

Die beiden Männer starrten sich weiter an, bis Walter Robinson sagte: »Fünfzehn Jahre bis lebenslänglich, Reggie. Für den Anfang.«

»Was faseln Sie da von fünfzehn Jahren?«

»Ich rede von Beihilfe zum Mord, Reggie. Vielleicht denken Sie ein bisschen nach, bevor Sie sich an letzten Dienstag erinnern und wer vielleicht noch spätnachts in Ihrem Laden war.«

»Versuchen Sie nicht, mir Angst einzujagen. Hab nicht die geringste Ahnung von einem Mord. Vielleicht ruf ich jetzt doch meinen Anwalt an. Vielleicht überlegt der sich, ob er Sie wegen Belästigung anzeigt.«

Reginald Johnson schien unbändig stolz auf das Wort Belästigung zu sein. Walter Robinson zuliebe wiederholte er es noch zwei, drei Mal.

Der Detective warf einen letzten Blick in die Auslagen und wünschte sich, er hätte Fotos von den entwendeten Gegenständen statt einfacher Beschreibungen. In seinen Augen sah alles mehr oder weniger gleich aus, und ihm wurde bewusst, dass dies wohl daran lag, dass er Junggeselle war und im Unterschied zu Frauen keinen Blick für solch schöne Dinge hatte. Er setzte alles daran, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Ich denke, Sie sollten lieber mit einem Durchsuchungsbefehl wiederkommen, falls Sie sich noch weiter hier umsehen wollen«, erklärte Johnson dreist.

In dem Moment erschien aus dem Hinterzimmer Yolanda, die per Knopfdruck den verschlossenen Gitterrost öffnete und einen Stoß Papiere vor sich hertrug.

»Ich hab den ganzen Kram zu den Waffen, den Sie sehen wollten.«

Sie zeigte den Stapel Reginald Johnson. Die beiden Sergeants in Uniform kamen zu ihm herüber.

Yolanda breitete die Papiere auf der Theke aus. »Hier haben wir alles«, meinte sie. »Sind keine illegalen Waffen da drin, Sergeant.«

In ihrem Ton schienen sich Freude und Enttäuschung die Waage zu halten.

»Zum Beispiel diese große alte Achtunddreißiger da drüben«, sagte sie und lehnte sich über die Platte. »Hier haben wir den Waffenschein und die Registrierung.« Doch keiner der Polizisten wandte sich der Waffe zu, auf die sich Yolandas Bemerkung bezog. Stattdessen waren aller Augen mit einer ausgiebigen Inspektion ihrer Brüste beschäftigt, die sich über die Vitrine wölbten.

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Schätzchen«, erwiderte Lionel Anderson ruhig und voller Bewunderung.

»Yolanda!«, schnauzte Johnson sie wütend an.

Die junge Frau richtete sich auf und straffte kokett die Schultern. Sie schenkte zuerst dem Sergeant, dann Walter Robinson ein Lächeln.

Robinson hatte sich jedoch bereits vom offenherzigen Ausschnitt der jungen Frau abgewandt; sein Blick konzentrierte sich stattdessen auf die hellbraune Haut ihres Halses. Die einsträngige Goldkette, die sie trug, funkelte im Neonlicht des Ladens.

Robinson wandte sich an Reginald Johnson. Er beugte sich vor, kniff die Augen zusammen, und legte die ganze, kaum beherrschbare Wut, die in ihm aufstieg, in seine Stimme, so dass jedes einzelne Wort bedrohlich klang.

»Ihre Nichte hat wirklich einen hübschen Namen«, stellte er fest.

Johnson antwortete nicht.

Yolanda schien über den Ton des Detective erschrocken und sah sich ängstlich um.

»Nun ja, danke«, sagte sie verunsichert.

»Einen sehr hübschen Namen«, wiederholte Robinson.

Es wurde still im Raum. Lionel Anderson und Juan Rodriguez stellten sich links und rechts neben ihn, und Robinson hörte, wie beide Männer die Lederlaschen über ihren Dienstwaffen im Holster lösten. Im selben Moment schoss Robinson mit seinem Oberkörper über die Theke, packte Johnson an den Armen und zog sie so abrupt nach vorn, dass der stämmige Ladenbesitzer das Gleichgewicht verlor. Es gab ein dumpfes Geräusch, als er mit der Brust auf die Platte schlug.

»Hey!«, schrie er fassungslos.

Robinson packte Johnson mit einer Hand am Hals und drückte dem Mann den Kopf herunter, während er ihm den Arm verdrehte. Er merkte, dass Rodriguez die freie Hand packte und auf der Theke festhielt.

»Ich will meinen Anwalt!«, rief der Mann. »Was machen Sie da! Ich habe nichts getan! Lassen Sie mich los!«

»Nein, Sie haben nichts getan«, flüsterte Walter Robinson.

Er keuchte und hielt Johnson das Gesicht ganz nah ans Ohr.

»Yolanda ist so ein hübscher Name«, fuhr er leise, doch unerbittlich fort. »Dann erklär mir doch bitte mal, du Wichser, du verkommenes Subjekt, wieso sie eine Goldkette mit dem Namen Sophie trägt?«

Robinson hob den Kopf und durchbohrte mit seinen Blicken die junge Frau, der offenbar dämmerte, was los war, so dass sie nach Luft schnappte und sich mit der Hand an die Kehle fuhr. Sie warf Lionel Anderson einen hilfesuchenden Blick zu und protestierte: »Aber es war wirklich hübsch …«

Reginald Johnson stöhnte, während Robinson hörte, wie Juan Rodriguez nach seinen Handschellen griff. Mit Freude lauschte Robinson ihrem wohlklingenden Rasseln.