Simon Winter und Walter Robinson standen ein wenig abseits und sahen zu, wie der Rabbi und Frieda Kroner das Phantombild des Schattenmannes betrachteten. Die alten Menschen waren wie zwei Gelehrte, die über verblassten, uralten Hieroglyphen brüteten, still und selbstvergessen bei der Sache, bis sich jeder von ihnen abrupt zurücklehnte. Frieda Kroner hatte einen etwas wilden, verwegenen Ausdruck im Gesicht, als sie erklärte:
»Das ist er. Abgesehen vom Kinn. Das müsste deutlich kräftiger sein …«
»Die Augenbrauen sind nicht ganz richtig getroffen. Sie müssten stärker zusammengekniffen sein, als wäre er die ganze Zeit wütend«, meinte Rabbi Rubinstein steif. »Dann wären seine Augen mehr wie, ich weiß nicht, Frieda, erinnern Sie sich an seine Augen?«
»Ja«, nickte sie. »Schmal, wie bei einem bösartigen Hund.«
»Und der Rest?«, fragte Robinson.
»Der Rest ist der Mann, den wir vor fünfzig Jahren gesehen haben.« Frieda Kroner sagte das in festem, grimmigem Ton. Sie drehte sich zum Rabbi um. »Älter. Nicht mehr jung. Wie wir. Nicht wahr?«
»Ja, das ist der Schattenmann«, pflichtete der Rabbi bei. Er legte ihr die Hand auf den Arm, dann wandte er sich an den Detective: »Ich würde ihn augenblicklich wiedererkennen.«
»Ich auch«, beteuerte Frieda Kroner. Sie holte tief Luft. »Und ich denke, das galt auch für die arme Sophie und den guten Irving. Wenn wir jeweils klein oder groß, dick oder dünn, dunkelhaarig oder blond in Erinnerung haben, dann liegt das einfach daran, dass dort ein solches Chaos herrschte und sich uns nur bruchstückhafte Szenen eingebrannt haben. Aber jetzt, da ich ihn vor mir sehe, kann ich bestätigen, dass er es ist.«
Obwohl sie zitterte, klang sie resolut.
»Sie glauben also, Detective, und Sie auch, Mr.Winter, Sie glauben, dass er heute Abend da draußen ist« – sie deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf das Fenster und die Nacht dahinter – »und diesmal nach uns Ausschau hält?«
Simon Winter nickte.
Frieda Kroner lachte leise, als fände sie den Gedanken amüsant. »Dann werden wir vielleicht nicht allzu gut schlafen. Ich weiß noch, wie das ist …«
Walter Robinson hatte sich beim Anblick des alten Paares nur mühsam beherrschen können. »Ich hab’s mir anders überlegt«, erklärte er. »Ich glaube, das Risiko ist zu hoch. Dieser Mann ist praktisch ein Profikiller, mehr als das. Ein mörderischer Psychopath. Ich denke, es wäre das Beste, wenn Sie bei Verwandten unterkommen und es mir überlassen, ihn anhand der Informationen, die ich schon habe, zu finden. Dann sind Sie sicher, und ich muss mir keine Sorgen darum machen, wie ich Sie beschützen soll. Wir können Sie aus der Stadt schleusen und ihn trotzdem schnappen, wenn er sich dieser Wohnung nähert oder Ihrer, Mrs.Kroner. Das Entscheidende ist doch, dass es nicht noch mehr Tote gibt.«
Als der Rabbi das hörte, zog er erstaunt die Augenbrauen hoch. Simon Winter wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück. Frieda Kroner schnaubte.
»Nein«, fuhr Robinson fort und hielt die Hand hoch, um sie gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. »Ich denke, Ihrer beider Sicherheit hat erste Priorität.«
Der Rabbi musterte den jungen Detective und erwiderte: »Mr.Robinson, ich habe schon wieder das Gefühl, dass Sie uns etwas verschweigen. Weggehen? Sofort? Woher kommt Ihr plötzlicher Sinneswandel?«
»Ich will nur, dass Ihnen nichts passiert.«
Der Rabbi schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht«, sagte er geradeheraus.
Frieda Kroner hatte Robinson genau beobachtet, während er sprach. Plötzlich lächelte sie.
»Ich weiß es«, verkündete sie wie ein Kind, das erraten hat, in welcher Hand sich die Süßigkeit befindet. »Ich weiß, weshalb der Detective das will.«
Robinson wandte sich ihr zu. »Mrs.Kroner, ich möchte einfach nur sicherstellen …«
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ihr Lächeln loswerden und durch eine eiserne Miene ersetzen.
»Sie haben etwas gesehen, stimmt’s? Sie haben etwas in Verbindung mit dem Schattenmann gesehen, und Sie wollen es uns nicht sagen, um uns keine Angst einzujagen. Als ob die Schrecken, die wir schon erfahren haben, noch zu überbieten wären! Ich habe mehr Sterbende zu Gesicht bekommen, als Sie es in Ihrer ganzen Laufbahn werden, und wenn Sie hundert Jahre alt würden. Sie verstehen uns immer noch nicht, Detective, stimmt’s?«
Walter Robinson war um eine Antwort verlegen.
In ruhigem Ton meldete sich der Rabbi. »Ich glaube«, sagte er langsam, »das macht mir zuweilen mehr Angst als irgendetwas sonst.«
Frieda Kroner nickte. »Sie schauen uns an, und Sie sehen eine alte Dame und einen alten Herrn, weil Sie jung sind und somit voller Vorurteile, wie sie junge Menschen nun mal gegenüber alten hegen …« Als Robinson protestieren wollte, hob sie die Hand. »Unterbrechen Sie mich nicht, Detective.«
Er schwieg.
»Gut«, meinte sie streng. »Raus damit. Was haben Sie gesehen?«
Robinson zuckte mit den Achseln, bevor er antwortete. Ihm wurde bewusst, dass es vielleicht genauso verhängnisvoll war, diese beiden Leute zu unterschätzen wie den Schattenmann.
»Ich kann es letztlich nicht beweisen …«, fing er an.
»Und jetzt kommt ein Aber, stimmt’s?«, unterbrach ihn der Rabbi mit einem leicht sarkastischen Lächeln. »Es scheint immer ein Aber zu geben.«
»Ja. Sie erinnern sich an den Einbrecher, der den Schattenmann in Sophies Wohnung gesehen hat?«
»Der Drogenabhängige? Mr.Jefferson?«, fragte Frieda Kroner.
»Er wurde heute früh in seiner Wohnung in Liberty City ermordet aufgefunden.«
»Ermordet? Wie?«
»An seinen Rollstuhl gefesselt und mit einem Messer gefoltert.«
Frieda Kroner und der Rabbi ließen die Nachricht schweigend auf sich wirken.
»Die städtische Polizei geht davon aus, dass er wahrscheinlich Drogendealern aus der Gegend zum Opfer gefallen ist. In dem Teil der Stadt sind Racheakte an der Tagesordnung, und es kann übel zugehen; vieles spricht dafür, dass er bei einigen Leuten, die des Mordes fähig wären, auf der schwarzen Liste stand …«
»Aber Sie glauben das nicht?«, fragte der Rabbi.
»Nein. Ich glaube, wir alle hier wissen, wessen Handschrift das war.«
»Mr.Jefferson, er war …«, begann Frieda Kroner, doch wieder wurde sie von dem jungen Polizisten unterbrochen.
»Jefferson hatte einen schweren Tod, Mrs.Kroner. Er ist einen so qualvollen, langsamen Tod gestorben, wie man ihn seinem schlimmsten Feind nicht wünschen kann. Er wurde gefoltert, weil jemand aus ihm herausbekommen wollte, was er wusste. Und danach wurde er verstümmelt. Ich will Sie und den Rabbi nicht der gleichen Gefahr aussetzen. Sehen Sie’s mal mit meinen Augen: Meine berufliche Laufbahn steht auf dem Spiel, wenn etwas schiefgeht und dieser Mann einem von Ihnen etwas antut. Und ich würde mir das nie verzeihen. Kurz gesagt, ich will Sie beide in Sicherheit wissen.«
Simon Winter war über die Nachricht von Jeffersons Tod schockiert, verbarg jedoch seine Gefühle hinter einem Pokerface. Robinsons Erschütterung über Jeffersons Ermordung stand dem Detective deutlich ins Gesicht geschrieben. Deshalb wandte sich Winter behutsam an ihn: »Sie sagen, der Mann wurde verstümmelt? Wie?«
»Die Einzelheiten würde ich uns allen lieber ersparen, Mr.Winter.«
»Nun, er wurde nicht ohne Grund gefoltert und dann nicht ohne Grund verstümmelt, denn ich denke, dieser Psychopath tut nichts ohne Grund, deshalb glaube ich, dass uns alles, was er tut, etwas über ihn sagt und uns vielleicht dabei hilft, vorauszuahnen, was er als Nächstes plant. Daher noch einmal die Frage: Wie wurde er verstümmelt?«
Robinson hörte die sachliche Kälte im Ton des Älteren. »Ihm wurde die Zunge herausgeschnitten.«
Frieda Kroner schnappte nach Luft und hielt sich die Hand vor den Mund. Der Rabbi schüttelte den Kopf.
»Das ist entsetzlich«, sagte der Geistliche.
Doch Simon Winter kniff die Augen zusammen, während er kombinierte. Er sprach leise und zuversichtlich.
»Da hol mich der Teufel«, fluchte er.
Die anderen sahen ihn an.
»Das hätten Sie von einem verdorbenen Kerl wie Jefferson nicht erwartet, oder? Im Leben nicht.«
»Was?«
»Dass Jefferson dem Schattenmann nicht mitteilt, was er von ihm hören wollte.«
»Nämlich?«
»Was die Polizei weiß. Wie intensiv Sie nach ihm suchen. Wie dicht Sie ihm schon auf den Fersen sind. Welche Beweise es dafür gibt, dass er existiert. Mir fallen ein Dutzend Fragen ein, die den Schattenmann dazu gebracht haben können, Ihrem Zeugen mitten in der Nacht einen Besuch abzustatten.«
Winter überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Außerdem sagt es mir, dass Leroy Jefferson dem Schattenmann nichts von dem Phantombild verraten hat. Das können wir uns also immer noch zunutze machen.«
Walter Robinson dachte einen Moment nach, dann nickte er. »Ich nehme an, Sie haben recht«, gestand er ein. »Armer alter Leroy.« Er schwieg, dann fügte er hinzu: »Natürlich könnte die Verstümmelung auch bedeuten, dass der Schattenmann wütend auf Jefferson war, gerade weil er redete, und so hat er es zum Ausdruck gebracht.«
»Die Auftragskiller des organisierten Verbrechens hinterlassen ihre Signaturen«, erwiderte Winter ruhig. »Sie tun Dinge, die sie als Botschaft verstanden wissen wollen. Ich glaube nicht, dass der Schattenmann dasselbe tut. Bei seinen Morden bemüht er sich, keine Routine erkennen zu lassen. Ich glaube, diesmal war er frustriert. Das – und vielleicht spielte auch Rassismus hinein. Leroy Jefferson war für ihn nichts weiter als ein lästiges Hindernis. Ich glaube, wir sollten versuchen, schnell zu handeln. Er legt ein rasantes Tempo vor. Das sollten wir auch.«
Walter Robinson sann angestrengt über Winters Worte nach und nickte. »Simon, ich denke, Sie haben recht. Umso mehr Grund, Mrs.Kroner und den Rabbi noch heute aus Miami Beach fortzubringen. Jetzt, auf der Stelle.«
Als Winter ihn ausdruckslos anstarrte, fügte Robinson in gereiztem Ton hinzu: »Verdammt! Die beiden sind unser Dreh- und Angelpunkt, richtig? Was haben wir ohne sie? Herman Stein wird wieder zum Selbstmordfall, für immer. Sophie Millstein kommt als ungelöster Fall ins Archiv, Täter unbekannt. Reine Statistik. Und Irving Silver bleibt, wo immer er sich befindet. Vermisst. Punkt. Nicht mal von ›verschwunden‹ hochgestuft – vielleicht ertrunken. Wie viele mag es da draußen in dieser Kategorie noch geben? Das Einzige, was auf ein und denselben Mörder verweist, sind diese alten Leute! Ohne sie bekommen wir ihn niemals vor Gericht.«
Winter ließ sich mit der Antwort Zeit. »Das ist mir klar.« Er wollte der Bemerkung etwas hinzufügen, als Frieda Kroner ihn unterbrach.
Sie war ein wenig blass geworden und schüttelte heftig den Kopf. »Ich gehe nicht«, erklärte sie.
Robinson wandte sich ihr zu. »Bitte, Mrs.Kroner, ich weiß, Ihre Absichten sind bewundernswert, aber dies ist nicht der rechte Zeitpunkt. Ich fürchte, Sie sind in großer Gefahr, und ich denke, Sie sind unverzichtbar, wenn es darum geht, diesem Mörder den Prozess zu machen. Bitte lassen Sie mich Ihnen helfen …«
»Mir können Sie nur auf eine einzige Weise helfen, Detective. Finden Sie den Schattenmann.«
»Mrs.Kroner …«
»Nein!«, erwiderte sie wütend. »Nein! Nein! Nein! Die Frage, ob wir von hier verschwinden sollen, haben wir schon ausgiebig erörtert, und wir haben uns dagegen entschieden.« Bei diesen Worten sprang sie auf. »Ich werde mich nicht verstecken! Ich werde nicht fliehen! Falls er zu mir kommt, und ich bin allein, dann werde ich eben allein mit ihm kämpfen. Er mag mich töten, aber ich werde mich mit aller Macht wehren, so dass er es niemals vergisst! Ich habe ein Mal versucht, mich vor diesem Mann zu verstecken, und es hat mich meine ganze Familie gekostet! Nicht noch einmal! Verstehen Sie das, Detective?«
Sie holte tief Luft.
»Ich habe Angst, ja, das ist wohl wahr. Und ich bin alt und vielleicht auch nicht mehr so kräftig wie früher. Aber ich bin keine hinfällige Greisin, die keine eigenen Entscheidungen mehr treffen kann, und ich habe für mich entschieden, zu bleiben, koste es, was es wolle!«
Sie wandte sich an Rubinstein. »Rabbi, so denke ich, Sie wissen, was für eine sture, alte Frau ich bin. Sie müssen für sich selbst entscheiden …«
Er fiel ihr ins Wort. »Und meine Entscheidung lautet genauso.« Er griff nach ihrer Hand. »Meine liebe, alte Freundin. Wir stellen uns gemeinsam der Gefahr, wie groß sie auch sein mag. Packen Sie ein, zwei Taschen und ziehen Sie für ein, zwei Wochen oder wie lange es dauern mag, ins Gästezimmer. Dann stehen wir, wenn er kommt, gemeinsam unseren Mann.«
Er wandte sich an Walter Robinson. »Wir haben viel an diesen Mann verloren. Die Familien und jetzt Freunde, und es sind nur noch zwei von uns übrig. Ich weiß nicht, ob wir zusammen stärker sind als er, aber zumindest müssen wir es versuchen. Wir sind Ihnen wirklich für Ihre Sorge um uns dankbar, Detective. Aber wir bleiben hier.«
Robinson wollte etwas einwenden, doch Winter schnitt ihm das Wort ab. »Hören Sie auf die beiden, Walter«, flüsterte er.
Robinson drehte sich zu dem alten Detective um. Zuerst war er wütend, doch dann ließ er den Ärger einfach versiegen und dachte stattdessen an den Vorteil, die beiden alten Leute zusammen zu haben. »Also gut«, gab er nach. »Aber Sie werden beschützt. Durch mich. Ich werde rund um die Uhr einen Polizisten hier abstellen.«
Er nahm das Phantombild in die Hand.
»Wird Zeit, dass uns das hier etwas einbringt.«
Der Plan war einfach. An diesem Abend sollte in zwei Dutzend verschiedenen Tempeln und Synagogen eine kurze, wirksame Botschaft verlesen werden:
Es besteht der Verdacht, dass eine Person, die nur unter dem Decknamen Schattenmann bekannt ist und während der großen Finsternis in Berlin Verbrechen gegen unser Volk begangen haben soll, hierher nach Miami Beach gekommen ist und abermals unter uns lebt. Wer Hinweise auf diese Person liefern kann, wird dringend gebeten, sich bei Rabbi Chaim Rubinstein oder Detective Walter Robinson von der Kripo Miami Beach zu melden.
Die Morde sollten mit keinem Wort Erwähnung finden. Für Simon Winters Geschmack war die Bekanntmachung schon zu eindeutig, und er befürchtete, sie könnte den Schattenmann in die Flucht schlagen, doch Walter Robinson hatte auf einem klaren Wortlaut bestanden, und zwar zum Teil genau in der Hoffnung, dass die beiden Lockvögel in Sicherheit wären und er selbst sich dem Schattenmann an die Fersen heften konnte, ohne Dritte zu gefährden. Auch glaubte er nicht, dass der Mann die Botschaft persönlich hören würde, denn er konnte sich nicht denken, dass der Schattenmann an religiösen Zusammenkünften teilnahm. Folglich, dachte er, wird der Schattenmann aus zweiter Hand von der Bekanntmachung erfahren. Ein Gespräch in einer Clubhalle oder in einem Fahrstuhl, vielleicht in einem Restaurant oder am Zeitungskiosk. Und allein das Getuschel über die Bekanntmachung würde ihn aus der Reserve locken und zu unüberlegten Schritten verleiten. Das war alles, was er wollte: dass der Mann ein Mal handelte, ohne nachzudenken, ohne sich darauf vorzubereiten. Diesmal, da war sich Robinson sicher, wäre er da.
Weitaus wichtiger war in den Augen beider Detectives, dass der Schattenmann nach wie vor nicht wissen würde, wie prekär seine Anonymität geworden war. Jetzt brauchten sie nur noch den Namen zum Bild.
Winter hatte eine zusätzliche Vorkehrung angeregt, die Robinson begrüßte. Sie beide würden das Phantombild des Schattenmannes den Leitern der Wohneigentümer-Versammlungen an die Hand geben, darunter auch in dem Gebäude, in dem Herman Stein gelebt hatte. Damit verbanden sie die Hoffnung, dass die Zeichnung kommentarlos herumgereicht und irgendjemandem vor Augen gelangen würde, der etwas wusste.
Als Walter Robinson noch einmal kurz in sein Büro vorbeiblickte, hörte er, dass Espy Martinez angerufen hatte, um ihre Ankunftszeit durchzugeben. Außerdem hatte sie die kryptische Nachricht hinzugefügt: »Ein gewisser Erfolg.«
Er gestattete sich nicht, darüber zu spekulieren, worin dieser Erfolg konkret bestand, sondern gab die Neuigkeit unkommentiert an Simon Winter weiter, als sie in nördlicher Richtung den Strand entlangfuhren, um in die Welt der Wolkenkratzer einzutauchen.
»Der Name«, beantwortete Winter die Frage für den Detective. »Sie hat den Namen.«
»Den wird er aber nicht mehr benutzen«, hielt Robinson dagegen.
»Vielleicht nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber sehen Sie, falls er plötzlich verschwinden sollte, haben Sie etwas, wonach Sie in den Archiven suchen können. In den Steuerlisten. In den Unterlagen der Versorgungsämter aus der Zeit nach dem Krieg. Sie werden zum Historiker. Ich schätze mal, er ist mit dem Namen in die Staaten eingereist und hat ihn dann erst geändert. Vielleicht haben die bei der Sozialversicherung was, man kann nie wissen.«
»Klingt nach ’ner Menge Arbeit.«
»Und die Leute denken immer, beim Morddezernat zu arbeiten, hätte nur mit Glanz und Gloria zu tun!«
Robinson lachte trocken. Er hatte die beiden alten Menschen in der Wohnung des Rabbi zurückgelassen, dem Beamten von der städtischen Polizei, der zu ihrer Bewachung abgestellt war, Tee gekocht und ihm einen klaren Auftrag erteilt: Niemand durfte ohne seine persönliche Genehmigung ins Haus, es sei denn, er konnte eine Dienstmarke vorweisen. Eine Kopie des Phantombilds hatte er neben dem Guckloch an die Eingangstür geklebt. Er hatte nie etwas an Miethochhäusern finden können, doch ein Vorzug lag auf der Hand: Wenn man die Tür geschlossen hielt, waren die Wohnungen so sicher wie eine Höhle – nur ein Weg hinein und einer heraus. Dies gab ihm das Gefühl, die Situation zumindest ein wenig unter Kontrolle zu haben.
»Aber«, fuhr Simon Winter fort, »ich glaube nicht, dass Sie den Kerl mit konventionellen Methoden finden werden. Nie im Leben. Er findet Sie. Wir müssen ihm an der richtigen Stelle zuvorkommen.«
»Ganz wie beim Basketball, stimmt’s?«
»Richtig. Wenn Sie einen guten Spieler decken wollen, versuchen Sie, vorherzusehen, welche Position auf dem Spielfeld er einnehmen wird, und dann sind Sie einfach als Erster da.« Winter schwieg, dann fügte er hinzu: »Diese Komplikation ist ihm vollkommen neu.«
»Zumindest, soweit wir wissen«, antwortete Robinson.
Sie tauchten in die Betonschluchten von Miami Beach ein, wo riesige, hässliche Hochhäuser mit den Wolken darum wetteiferten, keine Sonne durchzulassen. Wie in jeder Großstadt bilden diese Häuser ein monotones Einerlei. Stapelweise mehr oder weniger dieselben Wohnungen, Menschen, die in vertikalen Bienenstöcken leben und ihre Individualität gegen eine Welt aus gleichförmigen Formen, Winkeln und Größen verteidigen müssen.
Zuerst besuchten sie Herman Steins Block. Der Vertreter des Eigentümerverbands, ein robuster, kahlköpfiger Mann, betrachtete das Bild, das sie ihm zeigten, schüttelte jedoch den Kopf.
Er wies sie darauf hin, dass der Verband Hunderte von Wohnungen vertrete über tausend Mitglieder habe; seines Wissens ähnelte dieses Bild keinem davon. Das überraschte Simon Winter ebenso wenig wie die fast gleichlautende Auskunft der nächsten beiden Vorstände.
»Stein hat berichtet, er habe den Schattenmann bei einer Versammlung entdeckt«, meinte Robinson nach mehreren Stunden vergeblicher Mühe müde. »Wissen Sie, was wir machen könnten? Wir könnten uns von sämtlichen Gebäuden Listen besorgen und feststellen, in welchen Wohnungen Alleinstehende leben, dann von Tür zu Tür gehen, bis wir dem Bastard gegenüberstehen.«
»Ja«, erwiderte Winter. »Mir war auch schon der Gedanke gekommen, dass wir ihn vielleicht auf einer Liste entdecken. Hab noch nicht die richtige finden können. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«
Der Ton, in dem er das sagte, ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass er dies für reine Zeitverschwendung hielt.
Robinson sah auf die Uhr. Er wollte nicht zu spät zum Flughafen kommen, um Espy Martinez abzuholen. Es wurde schon Abend, und im Westen erschienen rote Streifen am Himmel. Schon streckte die Nacht ihre Fühler im Schatten der Hochhäuser aus.
»Ich fahr zum Flughafen«, erklärte Robinson. »Soll ich Sie irgendwo absetzen?«
Simon Winter hatte plötzlich eine Idee. Er nickte und gab dem jungen Detective eine Adresse. Dann faltete er eine Kopie des Phantombilds zusammen und steckte sie in die Tasche.
Walter Robinson hielt an. »Es wird sehr bald etwas passieren«, meinte er. »Heute verlesen sie die Bekanntmachung.« Er sah wieder auf die Uhr. »Genauer gesagt, jeden Moment. Müsste in den nächsten paar Tagen etwas lostreten. Und ich bin gespannt, was Espy rausbekommen hat.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie was erfahren. Ich schaue nur kurz hier vorbei, danach bin ich zu Hause.«
»Was haben Sie vor?«
»Ach, nur eine wilde Vermutung«, wich der alte Detective aus und trat vom Dienstwagen zurück. »Außerdem sind sie wahrscheinlich alle längst nach Hause gegangen.«
Walter Robinson musterte den älteren Mann. Über ihnen setzte ein Düsenflugzeug in einer Schleife zum Landeanflug auf den Internationalen Flughafen Miami an, und seine Bahn führte es mitten über Miami Beach. Es war noch so hoch, dass sie kein Motorengeräusch hören konnten und der Flieger schwerelos über den Abendhimmel zu schweben schien.
»Wie wild?«, hakte Robinson nach.
Winter hatte sich schon umgedreht, doch als er die Frage hörte, wandte er noch einmal den Kopf und machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte er sagen, es sei die Zeit und Mühe des Detective nicht wert. Robinson sah die Geste und verstand genau, was sie bei ihm bezwecken sollte. Er widerstand dem Drang, sich in den Verkehr einzufädeln und zum Flughafen zu fahren, wohin es ihn mit aller Macht zog. Stattdessen nahm er den Gang heraus und sprang aus dem Wagen. Simon Winter, der ein paar Schritte vor ihm auf dem Bürgersteig lief, blieb stehen und grinste.
»Was, trauen Sie mir nicht?«
»Darum geht es nicht«, erwiderte Robinson, als er den älteren Detective eingeholt hatte. Statt seinen Einwand näher zu erläutern, fragte er: »Was ist das hier?«
»Das Holocaust Center«, antwortete Winter. »Vor allem aber der einzige Ort, an dem ich seit diesem ganzen Schlamassel gewesen bin, wo die Vergangenheit die Gegenwart einholt. Das heißt, abgesehen von mehreren Toten, für die das Gleiche gilt.«
Robinson im Schlepptau betrat er das Gebäude.
Als sie zur Tür hereinkamen, war die Frau an der Rezeption gerade dabei, ihre Sachen einzusammeln, schien jedoch gebührend beeindruckt, als Robinson seine Dienstmarke zückte. Binnen weniger Sekunden wurden sie in Esther Weiss’ Büro geführt, wo die junge Frau neben ihrem Schreibtisch stand. Sie begrüßte Simon Winter ebenso herzlich wie kurz angebunden. Auch sie war im Aufbruch begriffen.
»Mr.Winter, schon Fortschritte zu verzeichnen? Gehen Sie immer noch davon aus, dass dieser Mann hier in der Gegend ist?«
Winter machte sie mit Walter Robinson bekannt, und Esther Weiss fragte: »Glaubt die Polizei jetzt auch daran, dass der Schattenmann hier sein Unwesen treibt?«
Robinson antwortete ihr mit einem knappen Ja.
Die Leiterin des Zentrums schauderte ein wenig, legte ihre Aktentasche auf den Schreibtisch und nahm auf ihrem Sessel Platz. »Das ist entsetzlich. Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten. Sie müssen ihn finden, er muss zur Rechenschaft gezogen werden. Es gibt Gerichte in Israel. Und in Deutschland …«
»Ich bin mehr an einem Gericht am anderen Ende dieser Stadt interessiert«, entgegnete Robinson.
Esther Weiss nickte. »Natürlich, er muss verurteilt werden.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch Simon Winter unterbrach sie.
Dieser Punkt war zwischen ihm und der jungen Frau schon zur Sprache gekommen, und seiner Meinung nach gehörte es zu den Privilegien des Alters, dass man darauf bestehen durfte, dieselben Wege nicht zweimal zu beschreiten. Daher folgte er seinem Instinkt, griff in seine Jackentasche und faltete das Blatt mit dem Phantombild auf. Ohne ein einziges Wort schob er es Esther Weiss über den Schreibtisch entgegen. So wie alle anderen starrte sie angestrengt auf die Zeichnung, doch als sie aufsah, zitterte ihr rechtes Augenlid, und ihre Stimme klang belegt.
»Ich kenne diesen Mann«, erklärte sie bedächtig und sichtbar verwirrt. Sie zuckte von dem Bild zurück, als sei es elektrisch geladen. »Jedenfalls habe ich ihn schon ein-, zweimal oder auch häufiger gesehen …«
Espy Martinez war erstaunt, dass Walter Robinson sie nicht am Terminal des Internationalen Flughafens empfing. Sie befand sich in diesem Schwebezustand, den Flüge über große Zeitzonen mit sich bringen, und konnte nicht sagen, ob sie erschöpft oder energiegeladen war. Sie ging schnurstracks zum nächsten Telefon und rief in seinem Büro an, nur um zu erfahren, dass er sich seit seinem Besuch in der Wohnung des Rabbi noch nicht wieder gemeldet hatte.
Sie kämpfte mit sich, ob sie auf dem schnellsten Wege nach Hause fahren sollte – der Gedanke an eine Dusche und frische Kleider, vielleicht sogar ein Nickerchen war zu verführerisch. Andererseits hatte sie das unerklärliche Gefühl, dass die Dinge in Gang kamen und jede Minute zählte; auf einem Blatt Papier in ihrer Aktentasche hatte sie einen Namen und eine Nummer und damit möglicherweise alles, was sie brauchten, um den Mann, hinter dem sie her waren, endlich zu finden.
Sie warf einen letzten prüfenden Blick durch die Ankunftshalle, doch von Walter Robinson keine Spur. Sie sagte sich, das sei kein Grund, enttäuscht zu sein, schließlich gebe es derzeit andere Prioritäten, als sie vom Flughafen abzuholen, und sie konnte nicht einmal sicher sein, ob er ihre telefonische Nachricht erhalten oder ob jemand ihre Ankunftszeit richtig wiedergegeben hatte. So fand sie allerlei triftige Erklärungen für seine Abwesenheit, vergaß für einen Moment die Erschöpfung und strebte dem Ausgang zu.
Sie stand in der üblen Mischung aus Abgasen und der zähflüssigen Abendhitze, die den überdachten Taxistand füllte, und winkte einen Wagen heran. Sie stieg hinten ein, gab dem Fahrer ihre Adresse an, lehnte sich zurück und ließ sich die tropische Luft um die Nase wehen. Doch bevor das Taxi das Flughafengelände hinter sich gelassen hatte, überlegte sie es sich anders, beugte sich zum Fahrer vor und dirigierte ihn im Schnellfeuerspanisch zur Wohnung des Rabbi in Miami Beach.
Simon Winter hatte Esther Weiss am Arm gepackt. Mit der freien Hand pochte er energisch auf das Phantombild.
»Wer?«, fragte er. »Wer ist das?«
Walter Robinson war aufgesprungen und wiederholte in angespannt hoffnungsvollem, doch kühl beherrschtem Ton – »Wo haben Sie diesen Mann gesehen?« – dieselben erregten Fragen des älteren Detective.
Esther Weiss starrte die beiden Männer mit angstverzerrtem Gesicht an. »Das ist er?«, fragte sie schrill.
»Ja«, erwiderte Robinson. »Wo haben Sie diesen Mann gesehen?«, bohrte er.
Esther Weiss öffnete ungläubig den Mund, und Simon Winter sah die Panik in ihren Augen. Er ließ ihren Arm los, und sie sank auf ihren Stuhl zurück, während sie die beiden Männer immer noch fassungslos ansah.
»Hier natürlich«, antwortete sie langsam. »Hier im Center …«
Winter wollte gerade etwas sagen, doch Robinson kam ihm zuvor. Er wählte seine Worte mit Bedacht und sprach in beherrschtem, hoffnungsvollem Ton. »Wann und wie, sagen Sie uns bitte jetzt, auf der Stelle, was Sie wissen«, forderte er die junge Frau auf. »Lassen Sie nichts aus, jede Kleinigkeit kann hilfreich sein.«
»Das ist der Schattenmann?«, erkundigte sich die Frau noch einmal.
»Ja«, bestätigte Simon Winter.
»Aber der Mann ist Historiker«, antwortete sie. »Mit untadeligem wissenschaftlichem Renommee …«
»Na, das wohl eher nicht«, meinte Winter ruhig. »Oder er ist beides. Jedenfalls ist das der Mann, nach dem wir suchen …«
»Erzählen Sie der Reihe nach«, bat Robinson. »Ein Name. Eine Anschrift. Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
»Er studiert die Videos«, berichtete sie. »Wir gestatten Forschern, sich die Bänder anzusehen. Historikern und Sozialwissenschaftlern …«
»Ich weiß«, sagte Simon Winter ungeduldig. »Aber dieser Mann – wer ist das?«
»Ich hab seinen Namen in den Akten.« Esther Weiss hüstelte beim Sprechen. »Ich hab’s schriftlich. Auch seine Adresse. Ich habe das alles, ich glaube, auch einen Lebenslauf. Erinnern Sie sich, Mr.Winter? Ich habe Ihnen neulich ein paar Namen gegeben …«
»Ja, ich weiß. Stand er auf der Liste?«
»Ich entsinne mich nicht«, erwiderte die junge Frau. »Die haben Sie, ich weiß es nicht mehr.«
Walter Robinson schaltete sich behutsam ein. »Aber Sie können die Kartei jetzt einsehen, richtig? Sie können die Liste der Akademiker durchsehen und diesen Mann raussuchen, ja? Haben Sie ihn in Ihrem Rolodex? In einem Adressbuch? Miss Weiss, wenn ich bitten dürfte.«
»Ich kann nicht glauben …«
»Miss Weiss, bitte!«
Sie zögerte, dann lenkte sie ein. »Ja, selbstverständlich. Sofort.«
Die Leiterin des Zentrums ging unsicher zu einem schwarzen Aktenschrank in einer Ecke ihres kleinen Büros. Sie zog die oberste Schublade auf und suchte in den darin befindlichen Papieren. Es dauerte nicht lange, und sie murmelte: »Über einhundert Personen haben die Genehmigung, sich die Bänder anzusehen.«
Während sie weitersuchte, fragte Simon Winter: »Gibt es ein bestimmtes Verfahren, um diese Genehmigung zu bekommen? Ich meine, überprüft jemand die Angaben dieser Leute?«
»Ja und nein«, antwortete die junge Frau. »Wenn die Qualifikationen in Ordnung scheinen, dann ist die Genehmigung eher eine Routinesache. Der Forscher muss dann eine Erklärung abgeben, weshalb er die Videos braucht, und angeben, in welcher Weise er sie verwenden wird. Außerdem muss er eine Verzichtserklärung und eine Diskretionsklausel unterschreiben. Es ist streng verboten, diese Erinnerungszeugnisse kommerziell zu verwerten. Vor allem aber wollen wir die Revisionisten draußen halten.«
»Die was?«, hakte Robinson nach.
»Die Leute, die den Holocaust leugnen.«
»Sind die nicht ganz dicht?«, platzte Robinson heraus. »Ich meine, wie kann jemand …«
Esther Weiss hatte einen kleinen Ordner aus Pappe in der Hand. Sie sah zu ihnen auf. »Es gibt viele, die versuchen, die Existenz des größten Verbrechens in der Menschheitsgeschichte zu leugnen, Detective. Leute, in deren Augen die Gaskammern Entlausungsschleusen waren oder die Öfen zum Brotbacken und nicht für Menschen gedacht waren. Für manche Leute war Hitler ein Heiliger und all die Erinnerungen an seine Schreckensherrschaft nichts weiter als eine einzige große Verschwörung.« Sie holte tief Luft. »Für jeden vernünftigen Menschen ist das verrückt, aber so einfach liegen die Dinge nicht, das verstehen Sie doch sicher, Detective?«
Tat er nicht, doch er verkniff sich eine Antwort.
Esther Weiss legte sich kurz die Hand an die Stirn, als wollte sie die Augen vor einem unangenehmen Anblick abschirmen. Dann reichte sie die Mappe Simon Winter.
»Das ist der Mann, der Ihrer Zeichnung ähnelt«, sagte sie.
Der alte Detective öffnete die Akte und zog mehrere Blätter heraus. Beim ersten handelte es sich um ein Antragsformular zur Einsicht der Videobänder. Daran waren ein Brief, ein Lebenslauf sowie unterschriebene Verzichtserklärungen angeheftet.
Über dem Lebenslauf stand ein Name: David Isaacson.
Darunter befand sich eine Adresse in Miami Beach.
»Was fällt Ihnen zu dem Mann ein?«, fragte Robinson.
»Er war, ich weiß nicht mehr, wie oft genau, aber auf jeden Fall war er mehrmals hier. Er war sehr still und zugeknöpft. Ich habe nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen, bei seinem ersten Besuch. Er erklärte mir, er sei ebenfalls Überlebender, und ich habe ihn ermuntert, seine eigenen Erinnerungen auf Band beizusteuern. Er erklärte sich einverstanden, allerdings wollte er zuerst seine Memoiren fertig schreiben. Seine Memoiren! Er sagte, er würde sie privat veröffentlichen. Nach seinem Tod. Er erwähnte, sie seien für seine Familie bestimmt, als privates Erinnerungszeugnis.«
Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Ich fand das bewundernswert.«
»Gibt es so etwas wie ein Besucherbuch, dem wir entnehmen können, wie oft er hier war?«
»Wenn wir unsere Mitarbeiter befragen, können wir das wohl rekonstruieren. Aber wenn jemand erst mal Zugang hat, lassen wir ihn mit dem Material allein.«
»Wie ist er an die Bewilligung gekommen?«
»Sehen Sie diesen Brief?«
Winter und Robinson betrachteten beide den an die Akte gehefteten Brief. Er stammte von der Organisation Holocaust Memorial in Los Angeles und war vom stellvertretenden Direktor unterschrieben. Er bat darin, Mr.Isaacson, der in Los Angeles ähnliche Forschungsarbeit betrieben habe, alle akademischen Privilegien zu gewähren.
»Haben Sie dort angerufen und das nachgeprüft?«
»Nein«, gab Esther Weiss zögerlich zu. »Der Brief war vom stellvertretenden Direktor unterschrieben.«
Walter Robinson nickte. »Keine Sorge«, meinte er bedächtig, »das ändert nichts an der Situation.«
Simon Winter sah auf. »Diese Angaben in seinem Lebenslauf. Die akademischen Grade von der New York University und der University of Chicago. Die Publikationen und all das. Sie haben sich das nicht angeschaut …«
»Wieso?«, erwiderte sie. »Wozu? Es war klar, dass er kein Revisionist war! Er hat mir sogar die Tätowierung am Arm gezeigt!«
Winter hob die Hand. Er sah das gequälte Gesicht der jungen Frau. Sie war leichenblass und kurz davor, in Panik auszubrechen.
»Ich wusste doch nichts«, beteuerte sie. »Wie sollte ich das denn ahnen?«
Winter beantwortete diese Frage nicht. Er konnte an nichts anderes als den Schattenmann denken: höflich. Still. Darauf bedacht, nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hatte er sich ein Video nach dem anderen angesehen, um festzustellen, ob irgendjemand dabei war, der ihn von früher kannte.
Auf der Jagd, dachte der alte Mann.
Etwa dieselben Gedanken gingen Walter Robinson durch den Kopf, doch er nahm sich die Zeit, Esther Weiss’ Frage zu beantworten. »Sie sollten es auch nie erfahren«, erklärte er. Nach kurzem Schweigen fügte er in entschlossenem Ton hinzu: »Aber keine Angst. Damit ist jetzt Schluss.«
Er warf einen Blick auf die Adresse. Dann griff er über den Tisch und nahm den Hörer vom Telefon. Er wählte die Nummer des Polizeipräsidiums Miami Beach, nannte kurz seinen Namen und Dienstgrad und verlangte, augenblicklich zum Leiter des Sondereinsatzkommandos durchgestellt zu werden.