Als er vom Ende des Häuserblocks aus das Blinklicht der Streifenwagen sah, blieb Simon Winter wie angewurzelt stehen, während ihm vor Staunen die Kinnlade herunterfiel.
Indem er einen einzigen Schritt auf die blitzenden Lichter zu machte, bestürmten ihn eine Reihe von Schreckensvisionen. Er sagte sich: Es hat irgendwo gebrannt. Es gab einen Einbruch. Einen Herzinfarkt. Einen Unfall. Mit jeder Möglichkeit beschleunigte er seine Schritte, so dass er, als er das gelbe Absperrband der Polizei erreichte, im Laufschritt den Takt seiner bösen Vorahnung auf das Pflaster schlug. Die Worte, die er am meisten fürchtete, wagte er nicht zu denken: Es hat einen Mord gegeben.
Keuchend hielt er am Eingang zum Sunshine Arms. Auf der schmalen Straße standen mindestens ein halbes Dutzend Streifenwagen, die in einem weiten Umkreis alles in grelles Rot und Blau färbten. Er entdeckte zwei Übertragungswagen von Fernsehsendern und sah, wie sich Kamerateams plappernd auf dem Bürgersteig zusammenscharten. Ein Kombi nicht weit von ihnen trug die Kennung des County-Gerichtsmediziners, und der leere Brunnen im Hof war von uniformierten Polizisten umringt. Simon Winter merkte augenblicklich, dass niemand in Eile schien, und er schnappte nach Luft. Solange noch ein Puls schlägt, dachte er, arbeiten die Leute schnell. Wenn nicht, gehen sie’s langsam an.
Er hatte plötzlich eine trockene Kehle und duckte sich unter dem gelben Band hindurch. Das zog die Aufmerksamkeit eines Polizisten an, der die Hand hochhielt.
»Hey, Senior! Betreten verboten!«
»Ich wohne hier«, erwiderte Winter. »Was ist passiert?«
»Wie heißen Sie?«, fragte der Beamte und kam auf ihn zu. Er war noch jung und wirkte durch die eigenartige Wölbung der kugelsicheren Weste kräftiger, als er war.
»Winter. Ich wohne in Nummer einhundertdrei, gleich da vorne. Was ist passiert?«
»Leben Sie allein, Mr.Winter?«
»Ja. Was ist passiert?«
»Es gab einen Einbruch. Eine alte Frau wurde ermordet.«
Simon Winter blieb der Name fast im Halse stecken. »Sophie Millstein?«
»Richtig. Sie kennen die Tote?«
»J-ja«, stammelte er. »Noch heute Abend. Ich habe sie noch heute Abend gesehen. Habe ihr dabei geholfen, sich einzuschließen …«
»Sie haben sie heute Abend gesehen?«
Winter nickte. Er spürte, wie sich sein Magen krampfartig zusammenzog. »Ich würde gerne mit dem Detective sprechen, der die Ermittlungen leitet«, bat er.
»Wissen Sie denn etwas, Mr.Winter? Oder sind Sie nur neugierig?«
»Ich möchte mit dem leitenden Detective sprechen.« Er sah den Streifenpolizisten durchdringend an, um den Tumult in seinem Kopf zu verbergen.
Der Beamte zögerte, dann erklärte er: »Ich bring Sie zu ihm.«
Er wollte Simon Winter gerade über den Hof geleiten, als der alte Mann sah, wie die anderen Bewohner des Gebäudekomplexes dichtgedrängt in Schlafanzügen nahe beim Brunnen standen. Mrs.Kadosh winkte ihm augenblicklich zu.
»Mr.Winter! Mr.Winter! Mein Gott, ist das schrecklich!«, platzte sie heraus. Simon Winter lief schnell zu ihr hinüber. Mr.Kadosh schüttelte immer wieder den Kopf.
»Kann man wohl sagen«, pflichtete er seiner Frau bei.
»Aber was ist passiert?«, fragte Winter. »Ich bin essen gegangen und danach noch etwas spazieren. Ich komme eben zurück und …«
Mrs.Kadosh fiel ihm ins Wort – eine gedrungene Frau, die ihren mattierten Blondschopf unter einem so ausladenden Haarnetz gefangen hielt, dass es für die meisten Fischarten ausgereicht hätte, und einen leuchtend roten Bademantel mit einer riesigen Blume auf der Brust trug, ein Kleidungsstück, in dem man in einer so schwülen Nacht vor Hitze umkommen musste.
»Ist schon fast Mitternacht, und Henry liest noch ein bisschen im Bett, nachdem er ein paar Minuten Jay Leno gesehen hat, nur die witzigen Pointen, nicht das ganze Gequatsche, und ich sitze im Bett und warte, als ich plötzlich höre ein Schrei, eher ein Angstschrei, urplötzlich, kann nicht sagen, woher, aber als ich mir recht überlege, ich denke, es ist die arme Mrs.Millstein, und ich denke, sie hat vielleicht Alptraum, sie schläft nicht mehr so gut, und manchmal höre ich, wie sie ruft: Leo, möge er in Frieden ruhen. Also denke ich mir nicht allzu viel dabei, aber mein Henry, der kommt rein und sagt: ›Hast du das gehört?‹, und ich sage natürlich: ›Ja.‹ Und er sagt sofort: ›Sollten vielleicht besser mal nach Mrs.Millstein sehen.‹«
»Stimmt«, murmelte Mr.Kadosh. »Sollten mal nach Mrs.Millstein sehen.«
Simon Winter hätte sie gerne gedrängt, ein bisschen zügiger zu erzählen, doch er wusste, dass die Kadoshs aus Ungarn stammten – Henry hatte einmal Henrik geheißen –, und die Mischung aus ihrem betagten Alter und ihrem unbeholfenen Englisch duldete keine Drängelei. Darum nickte er nur.
»Also, mein Henry geht und findet seine Hausschuhe, und dann findet sein Morgenmantel und geht in Küche und findet die Taschenlampe. Dann geht er nach nebenan und klopft fest, damit der alte Finkel mitkommt …«
Mr.Finkel nickte zur Bekräftigung. »Das stimmt«, verkündete er.
Mrs.Kadosh warf ihm einen kurzen Blick zu, als wollte sie sagen, schlimm genug, dass ihr Mann sie ständig unterbreche, doch ihr Nachbar möge gefälligst warten, bis er an der Reihe sei. Dann fuhr sie fort: »Also, Finkel hat natürlich sein Hörgerät raus, also hört nix, versteht nix, aber er zieht sich auch was über, und sie gehen runter und klopfen bei Mrs.Millstein an die Tür. Keine Antwort. ›Mrs.Millstein, Mrs.Millstein, alles in Ordnung bei Ihnen?‹ Aber nichts. Also schlurfen Henry und Mr.Finkel wieder die Treppe hoch, und er sagt zu mir: ›Was sollen wir machen? Sie meldet sich nicht.‹ Ich sag ihnen, sie sollen ums Haus zur Hintertür und da reinschauen, also sie gehen zurück und machen. Und wissen Sie was?«
»Die Terrassentür ist aufgebrochen. Einfach rausgezogen«, warf Henry Kadosh ein.
»Also«, nahm Mrs.Kadosh ihren Faden wieder auf, »Henry und Finkel kommen zur Wohnungstür zurückgerannt, wo ich warte, und rufen: ›Maria, Maria, Polizei holen, Notruf, sofort!‹ Und währenddessen wir hören noch ein Geräusch, von weiter hinten. Das kommt von Terrasse. Wir alle rennen ums Haus herum, und Henry, er sieht noch gerade …«
»Ist nicht Katze oder Hund im Müll, sondern Nigger, der aus Mrs.Millsteins Wohnung rennt!«
Mrs.Kadosh schüttelte den Kopf. »Henry, er jagt den Mann bis auf die Gasse, und der alte Finkel und ich, wir stecken Kopf zur Tür herein. Und drinnen ist arme Mrs.Millstein. Tot gemordet.«
Winter drehte sich alles im Kopf, und er merkte, wie es ihm heiß die Kehle hochstieg. Der junge Streifenpolizist tippte ihn auf die Schulter, und Winter drehte sich zu ihm um.
»Kommen Sie, Senior. Jetzt wissen Sie ja, was passiert ist. Wollen Sie immer noch mit einem Detective sprechen?«
»Ja«, antwortete Winter. »Das Opfer …« Er kam ins Stottern: das Opfer und wie weiter?
Eine vollkommen haarsträubende Gleichung wirbelte ihm durch den Kopf: Eine alte Frau steht bei dir vor der Tür, weil sie Angst hat, ermordet zu werden. Und dann wird sie ermordet, aber von jemand ganz und gar Unerwartetem?
Er glaubte, dass er Zeit zum Nachdenken brauchte, wurde sich dann aber bewusst, wie er hinter dem jungen Polizisten hertappte, der ihn zu Sophie Millsteins Wohnung führte. Sie kamen an dem Posaunenengel vorbei. Die Figur wurde alle paar Sekunden von einem roten Lichtstrahl erfasst, so dass sie in Blut zu baden schien. Er blieb an der Schwelle stehen und starrte auf das geschäftige Treiben, das die Wohnung mit Energie aufzuladen schien. Er sah, wie ein Mann mit einem Forensikkoffer die Küche bearbeitete. Ein anderer nahm Proben vom Teppich. Der junge Uniformierte ging auf einen drahtigen schwarzen Mann zu, der angesichts der stickigen Hitze im Raum die Krawatte löste und Simon Winter ein Zeichen machte. Der alte Detective blieb stehen und wartete, bis der jüngere zu ihm kam. Unterdessen sah er sich die Aktivitäten in der Wohnung genauer an. Dabei zähmte er den Aufruhr seiner Emotionen, indem er sich auf seine Erinnerungen konzentrierte. Du bist schon des Öfteren hier gewesen, redete er sich gut zu. Sieh dir den Ort des Geschehens genau an. Er wird dir alles Nötige verraten, wenn du dir nur die Zeit nimmst und für das empfänglich bist, was er dir mitzuteilen hat – auf seine eigene Weise, mit seiner eigenen Stimme, in seiner uralten Sprache von Mord und Totschlag.
Einen Moment lang beobachtete Walter Robinson Simon Winter und sah, wie er mit den Augen systematisch den Raum absuchte. Er legte diese Wachsamkeit als Nervosität aus und wandte sich an den uniformierten Kollegen, der den Mann in die Wohnung geleitet hatte.
»Und? Was hat der alte Herr zu erzählen?«, fragte er.
»Heißt Winter, wohnt auf der anderen Seite des Hofs. Sagt, er hat die Verstorbene noch heute Abend gesehen. Wahrscheinlich der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Und er hat gehört, wie sie sich in ihrer Wohnung einschloss. Dachte, Sie wollen vielleicht eine Aussage von ihm.«
»Hmhm«, antwortete Robinson. »Sicher. Befragen Sie ihn.«
Der Beamte nickte. »Vielleicht kann er sie identifizieren?«
Robinson überlegte und dachte: Warum nicht?
»Gute Idee.« In wenigen Schritten waren er und der Beamte bei Simon Winter. Walter Robinson stellte sich knapp als leitender Ermittler vor.
»Wir würden gerne diesen Polizisten bitten, Ihre Aussagen zu Protokoll zu nehmen«, sagte er zu dem alten Mann. »Und falls Sie dazu bereit wären, könnten Sie für uns vielleicht eine vorläufige Identifizierung der Toten vornehmen. Vorausgesetzt, Sie fühlen sich dem gewachsen. Nur für den Bericht. Außerdem möchten wir absolut sicher sein, bevor wir die Angehörigen verständigen. Aber wie gesagt, falls Sie dazu bereit sind. Es ist kein schöner Anblick.«
Simon ließ den Blick weiter über die Szene huschen, bis er sich nach einer Weile dem Detective zuwandte.
»Ich kenne so was hier nur zu gut«, erklärte er ruhig.
»Was?«
»Ich habe das alles schon oft gesehen. Zweiundzwanzig Jahre bei der Kripo Miami. Die letzten fünfzehn davon im Morddezernat.«
»Sie sind Cop?«
»Ja. Im Ruhestand. Ist schon ’ne Weile her, seit ich das letzte Mal an einem Tatort war. Mindestens zwölf Jahre.«
»Da entgeht Ihnen nicht viel«, meinte Robinson.
»Stimmt«, erwiderte Winter gelassen. »Da entgeht mir nicht viel.«
Robinson überhörte die Doppeldeutigkeit und streckte Winter die Hand entgegen. Für den Jüngeren war dies ein Akt der Höflichkeit. »Zu Ihrer Zeit war vermutlich alles ein bisschen anders«, sagte er.
»Nein«, erwiderte Winter. »Die Menschen sterben immer noch mehr oder weniger auf die gleiche Weise. Nur die technischen und wissenschaftlichen Untersuchungsmöglichkeiten haben sich geändert. Wir hatten noch nicht viel von dem, womit ihr heute arbeitet. Profiling. DNA-Tests. Computer. Wir hatten keine Computer. Sind Sie gut am Computer, Detective?«
»Ja.«
»Und glauben Sie, dass Sie dieses Verbrechen aufklären können?«
Robinson zuckte mit den Achseln. »Schauen wir mal.« Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: »Höchstwahrscheinlich schon.«
Einen Moment lang beobachtete er Winter, der erneut den Blick über den Tatort schweifen ließ und alles in sich aufzunehmen schien, was er vor sich sah. Zwei Gedanken blitzten dem jungen Ermittler durch den Kopf: zum einen, dass er Simon Winter nicht unbedingt mochte, und zum Zweiten, dass er auf keinen Fall so wie er als alter Miesepeter enden wollte, der seinen Ruhestand in Miami Beach verbrachte und von den Erinnerungen an seine Dienstjahre zehrte – die guten alten Zeiten mit Dutzenden von Morden, Vergewaltigungen und Überfällen. Plötzlich schweiften seine Gedanken zu einem Problem des Deliktrechts ab, das vor zwei Tagen in einem juristischen Seminar erörtert worden war. Er hatte dazu in parodistischer Übertreibung einen anwaltlichen Schriftsatz fürs Gericht verfasst, den der Professor mit besonderem Lob bedachte.
Walter Robinson war entschlossen, seine Dienstmarke und seinen Revolver nicht einfach gegen einen Aktenkoffer und einen etwas teureren Anzug zu tauschen, nur um auf die andere Straßenseite zu wechseln und sich weiter mit Kapitalverbrechen herumzuschlagen, so wie er es bei vielen Kollegen beobachtet hatte, die nebenher Jura studiert hatten und Strafverteidiger oder Staatsanwalt geworden waren. Nein, er würde in einem großen Unternehmen landen, den leitenden Angestellten und Geschäftspartnern die Hände schütteln; die Erinnerungen an Tatorte wie diesen und die Hilflosigkeit der ermordeten Opfer würden dann schon bald verblassen.
»Gut«, meinte er und verbannte die verlockenden Zukunftsaussichten aus seinem Bewusstsein, »wenn Sie jetzt bitte die Tote identifizieren wollen, dann können Sie anschließend Ihre Geschichte dem Kollegen hier erzählen.«
Während Simon Winter dem jungen Kriminalbeamten durch die Wohnung folgte, musste er daran denken, dass er erst vor wenigen Stunden denselben Weg gegangen war, nur dass es hier inzwischen von Kriminaltechnikern und Polizisten wimmelte, dass in dem kleinen Raum jede Lampe brannte, und die Blinklichter der draußen geparkten Streifenwagen Muster an die Wände warfen. Dies alles verfremdete den Ort in einem Maße, dass es ihm fast so erschien, als handle es sich bei der Wohnung, die er am selben Tag betreten hatte, während Sophie Millstein an der Tür auf ihn wartete, um einen vollkommen anderen Ort, eine Erinnerung aus der Kindheit. Die Entfernungen, die Farben, die Gerüche, dies alles schien ihm unbekannt. Er sah sich nach dem Kater um, doch der schien verschwunden zu sein. Er folgte dem Detective ins Schlafzimmer.
Sophie Millstein lag auf dem Rücken in ihrem Bett.
Vom Kampf war ihr Nachthemd zerrissen, so dass die schlaffe Rundung ihrer Brust entblößt war. Ihr Haar war nicht aufgesteckt, sondern breitete sich rings um ihren Kopf auf der Matratze aus, als schwebte sie unter Wasser. Ihre Nase war verletzt, und auf der Oberlippe klebte getrocknetes braunes Blut. In beinah schamhafter Manier hatte sie ein Knie über das andere geschlagen, und an der Hüfte klaffte ein Riss in ihrem Nachthemd. Die Laken lagen zerknüllt in einem Haufen zu ihren Füßen. Er spürte das Bedürfnis, das eierschalenfarbene Kleidungsstück über Sophie Millsteins Alabasterhaut zu ziehen.
Simon Winter warf einen kurzen Blick in die Runde. Ein Fotograf lichtete ihre Handtasche ab, die offen auf dem Boden lag. Ein anderer bestäubte die Kommode mit Puder, um Fingerabdrücke zu nehmen. Die Schubladen waren aufgerissen und die Kleider im Zimmer verstreut. Winter erinnerte sich an das Schmuckkästchen neben dem Bild von Leo. Das Foto lag jetzt mit zersplittertem Glas in der Ecke, das Kästchen war verschwunden.
Er drehte sich zu Walter Robinson um.
»Sie hatte ein Kästchen, wissen Sie, so ein kleines Ding aus Metall. Es war ein rötliches Messing, mit einem kleinen eingravierten Muster an der Oberseite. Darin bewahrte sie ihre Ringe, Ohrstecker und anderen Schmuck auf. Stand genau hier.«
Er zeigte auf die Stelle, und der Detective machte sich eine Notiz.
»Es ist weg«, stellte Robinson überflüssigerweise fest. »Sie würden es wiedererkennen?«
»Denke schon«, erwiderte Winter.
Er wandte sich wieder Sophie Millstein zu.
Ein zweiter Mann von der Spurensicherung arbeitete an ihrem Hals, indem er ihre Haut sorgfältig mit Puder bepinselte.
»Körperabdruck?«, fragte Winter.
»Ja«, bestätigte Robinson. »Auf gut Glück, offen gesagt. Wir erhalten vielleicht in einem von hundert Fällen einen brauchbaren Abdruck. Trotzdem der Mühe wert.«
»Haben wir damals auch versucht, hat aber nie funktioniert.«
»Wir haben heute neues Papier. Und die Abnahmefolie ist auch wesentlich besser. Manchmal wenden wir auch eine Technik mit Ultraviolettlicht an. Und, wissen Sie, derzeit entwickelt man einen Laser, der die Abdruckränder erfasst. Trotzdem …«
Er zuckte mit den Achseln.
Der Techniker beugte sich über Sophie Millstein und verstellte Winter den Blick. Er drückte der alten Frau ein Stück Folie auf die Haut und zog es dann behutsam wieder ab. Anschließend presste er die Folie auf ein Stück weißes Spezialpapier, um darauf den Abdruck zu fixieren. »Vielleicht«, murmelte der Techniker. »Sieht manierlich aus.«
Der Mann trat beiseite.
»Wollen Sie jetzt die Identifizierung vornehmen?«, fragte Walter Robinson.
Winter trat vor und betrachtete Sophie Millstein.
Stranguliert, dachte er augenblicklich. Er prägte sich die blauschwarzen Blutergüsse am Hals der alten Frau genau ein. Neben der Luftröhre war von der Kraft, mit der sich die Hände um ihre Kehle gelegt hatten, die Haut gequetscht. Er schätzte den Abstand zwischen den beiden Malen ab.
Große Hände, dachte er. Starke Hände.
»Ist das Mrs.Sophie Millstein?«, fragte Robinson?
Simon Winter starrte weiter auf den Leichnam. Die Augen waren noch geöffnet und blind zur Decke gerichtet. Winter sah die Angst im Gesicht seiner Nachbarin. Sie muss, wenn auch nur für einen Moment, gewusst haben, dass sie hier und jetzt sterben würde. Er fragte sich, ob er, als er sich am späten Nachmittag den eigenen Revolver an den Gaumen gedrückt hatte, denselben Gesichtsausdruck gehabt hatte. Er hätte gern gewusst, ob sie in den letzten Sekunden der Panik noch an Leo gedacht hatte.
Er sah sich noch einmal ihre Augen an. Nein, dachte er. Da war nichts als blankes Entsetzen.
Winter registrierte eine Schramme, einen wirklich langen Riss an ihrem Hals, an dem die Haut verletzt war, ohne dass Blut herausgedrungen war. Er entsann sich der goldenen Halskette, die sie immer getragen hatte. Sie war verschwunden. Nach ihrem Tod abgerissen, dachte er. Deshalb hat es nicht mehr geblutet.
»Mr.Winter?«, hörte er die fragende Stimme von Walter Robinson.
Simon Winter warf noch einen raschen Blick auf die Finger seiner Nachbarin. Hat sie sich gewehrt? Hat sie gekratzt und um sich geschlagen und alles darangesetzt, ihre letzten Lebensjahre dem Mann abzutrotzen, der sie ihr stehlen wollte? Sie müsste Haut- und Fleischpartikel ihres Mörders unter den Nägeln haben. Doch er sah, dass Sophie Millstein ihre Nägel kurz geschnitten trug.
Sein Blick wanderte zu ihrem rechten Unterarm. Nur vage konnte er die verblasste blaue Tätowierung ausmachen.
Er spürte, wie etwas ihn am Ärmel berührte, drehte sich um und sah den jungen Detective eindringlich an.
»Natürlich«, sagte er langsam. »Es ist Sophie Millstein. Ihre Halskette fehlt. Ein Strang, Goldkettchen, mit einem Amulett in der Mitte, in das ihr Name ziseliert war. So ähnlich, wie sie junge Mädchen tragen, aber ihres war etwas Besonderes. Es hatte an den beiden Enden des großen S je einen Diamanten, wenn auch keine großen. Das hat ihr Mann ihr vor ungefähr achtzehn Monaten geschenkt, und sie hat es nie abgelegt.«
Während Walter Robinson sich das Detail notierte, holte Simon Walter tief Luft. »Sie würden die Kette wiedererkennen?«, fragte der jüngere Mann.
»Ja. Sie könnten versuchen, Proben unter ihren Fingernägeln zu nehmen …«
»Das geschieht im Leichenschauhaus«, antwortete Robinson. »Routineverfahren. Kennen Sie einen nächsten Angehörigen?«
»Ja. Sie hat einen Sohn namens Murray Millstein, er ist Anwalt auf Long Island. In einer Schublade im Wohnzimmer ist ein Adressbuch. In dem kleinen Beistelltisch mit dem Telefon. Ein kleines in Leder gebundenes Adressbuch. Jedenfalls hat sie gesagt, dass sie es immer dort aufbewahrt.«
»Im Wohnzimmer?«
»Ja. Ich zeig’s Ihnen.«
»Danke für Ihre Hilfe, Mr.Winter. Wir sind Ihnen wirklich verbunden …«
»Sie hatte Angst«, sagte Simon Winter dem Detective unvermittelt. »Deshalb ist sie zu mir gekommen.«
»Angst?«
»Ja. Jemand hatte sie furchtbar erschreckt. Heute. Sie hatte jemanden gesehen. Sie war in Panik und fühlte sich bedroht …«
»Glauben Sie, derjenige, vor dem sie sich fürchtete, hat etwas mit diesem Verbrechen zu tun?«
»Ich weiß nicht. Es war ungewöhnlich. Sie war aufgelöst.«
»War es ungewöhnlich für sie, sich zu ängstigen?«
»Nein«, erwiderte Winter ein wenig genervt. »Sie war alt und allein. Sie hatte immer Angst.«
»Das leuchtet mir ein. Also, geben Sie Ihre Aussage einfach bei dem Streifenpolizisten zu Protokoll. Sagen Sie ihm, was passiert ist.«
»Es handelte sich dabei um einen Mann …«
»Er nimmt Ihre Aussage auf. Ich muss diesen Tatort sichern und die Familie verständigen.«
»Aber der Mann …«
»Mr.Winter, Sie waren Kriminalbeamter. Was ist Ihrer Meinung nach hier passiert?«
Simon Winter sah sich nicht um. Stattdessen betrachtete er Walter Robinson. »Ich würde sagen, jemand ist eingebrochen, hat sie getötet und beraubt und ist weggelaufen, als er die Nachbarn hörte. Das ist die offensichtliche Erklärung, nicht wahr?«
»Richtig. Und wir haben sogar mehrere Zeugen, die den Täter auf der Flucht gesehen haben. Mr. und Mrs. Kadosh sowie Mr. Finkel. Ihre Nachbarn. Das Offensichtliche entspricht demnach auch der Wahrheit. Und jetzt lassen Sie bitte den Polizisten Ihre Aussage aufnehmen. Erzählen Sie ihm, wovor sie Angst hatte.«
Den übrigen Satz behielt er für sich: Vor wem auch immer, es war verflucht noch mal der Falsche.
Die beiden Männer blieben mitten im Wohnzimmer stehen. Simon Winter wollte wütend werden, merkte jedoch, dass er stattdessen nur versuchte, sich zusammenzureißen. Er verfluchte innerlich sein Alter und seine Unentschlossenheit.
»Also, wo ist jetzt dieses Adressbuch?«
»In der Schublade.«
Winter zeigte darauf, Walter Robinson ging hin und zog sie auf.
»Es ist nicht da.«
»Ich hab’s heute noch gesehen. Da hat sie es immer aufbewahrt.«
»Ist jedenfalls nicht da! Wie sah es denn aus?«
»Rotes Leder. Nichts Teures. Ungefähr DIN A7. ›Adressen‹ in Goldprägung vorne drauf. So eins, wie man es in jedem Kaufhaus bekommt.«
»Wir werden danach Ausschau halten. Nicht gerade etwas, das ein Junkie auf der Suche nach Bargeld mitgehen lassen würde. Es taucht schon wieder auf.«
Winter nickte. »Sie hatte es heute Abend, als ich wegging, hervorgeholt.«
»Ja, dann machen Sie am besten jetzt Ihre Aussage bei dem Polizisten, Mr.Winter. Und zögern Sie nicht, mich anzurufen, falls Ihnen noch was einfällt.«
Robinson reichte Simon Winter seine Karte. Der alte Detective steckte sie in die Tasche. Dann wandte sich der junge Ermittler um und überließ Simon Winter seinem uniformierten Kollegen, der ihn mit nach draußen nahm. Winter wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders und behielt den Ansturm der Gedanken für sich. Widerstrebend löste er sich von Sophie Millsteins Wohnung und folgte dem Uniformierten. Noch einmal sah er über die Schulter zurück, warf einen Blick durch die Schlafzimmertür und sah, wie ihre letzten Momente von der Kamera eines Polizeifotografen festgehalten wurden. Der Fotograf bewegte sich wie ein Tänzer rund um ihr Bett, indem er in die Hocke ging und nach links und rechts schwenkte, so dass seine Kamera mit jedem Blitz auf und nieder hüpfte. Das Team von der Gerichtsmedizin wartete geduldig und leise ins Gespräch vertieft in einer Ecke, während der Fotograf noch einen Film verschoss. Ein Mann spielte gelangweilt mit dem großen Messingreißverschluss des glänzenden, gummierten schwarzen Leichensacks und verursachte ein leises, ratschendes Geräusch.
Walter Robinson suchte auf dem Boden des Schlafzimmers nach dem Adressbuch, konnte jedoch keines finden. Auch das notierte er sich. Dann kehrte er zu dem Telefon im Wohnzimmer zurück und wählte die Auskunft auf Long Island. Die Nummer von Sophie Millsteins Sohn war für Great Neck eingetragen, doch bevor er den Sohn des Opfers anrief, meldete er sich bei der Telefonbereitschaft der Staatsanwaltschaft von Dade County und ließ sich die Nummer der diensthabenden Staatsanwältin geben, die für Tötungsdelikte zuständig war.
Er wartete ein halbes Dutzend Klingelzeichen ab, bevor sich eine verschlafene Stimme meldete.
»Ja?«
»Spreche ich mit der stellvertretenden Staatsanwältin Esperanza Martinez?«, fragte er.
»Ja.«
»Ich bin Detective Robinson. Morddezernat Beach. Wir kennen uns noch nicht …«
»Aber das wird sich gleich ändern, richtig?«, fragte die schläfrige Stimme zurück.
»Ja, Miss Martinez. Ich habe ein älteres Opfer, die Frau wurde in ihrer Wohnung von einem unbekannten Angreifer ermordet. 1290 Thirteenth Court. Das Verbrechen könnte zu einer Serie passen, die wir gerade hier draußen hatten, nur dass der Täter diesmal die alte Frau erwürgt hat. Wir haben einen Zeugen, der den Tatverdächtigen gesehen hat. Vorläufige Beschreibung: schwarz, etwa achtzehn bis Anfang zwanzig, schmaler Körperbau, ungefähr eins achtzig groß, etwa achtzig Kilo schwer, schneller Läufer.«
»Und Sie meinen, Sie brauchen mich vor Ort?«, erkundigte sich die Staatsanwältin. »Gibt es rechtliche Fragen, zu denen Sie meinen Rat benötigen?«
Die Stimme der jungen Frau klang jetzt eine Spur gereizt, was Robinson ignorierte.
»Nein, das nicht, soweit ich sehe. Das Verbrechen selbst ist eine ziemlich eindeutige Sache. Andererseits haben wir es mit einem älteren weißen, jüdischen Opfer zu tun und einem jungen schwarzen Täter, und ich kann nur vermuten, dass die Sache ziemlich schnell ziemlich viel Staub aufwirbeln wird, ganz zu schweigen davon, dass Ihr Boss dieses Jahr wiedergewählt werden will und hier draußen mindestens ein halbes Dutzend Reporter und Kameraleute wartet, das sich mit Sicherheit nicht die ganze Nacht die Beine in den Bauch steht, ohne etwas draus zu machen, das es auf die erste Seite oder in die beste Sendezeit schafft … Sie verstehen, was ich meine?«
»Sie meinen …«
»Ich meine, Sie haben es hier mit der Rassenfrage und mit Mord zu tun, und das ist eine Mischung, die in diesem County nicht allzu gut ankommt, Miss Martinez.«
Im Dade County gehörte das zur Standardvorgehensweise wie das Klappern zum Geschäft: Beschwöre die Rassenunruhen der Achtziger herauf, und schon sind die Leute ganz Ohr. Einen Moment herrschte in der Leitung Schweigen, dann antwortete die Frau, inzwischen ganz bei der Sache: »Verstanden, Detective. Ich bin gleich da, und wir können gemeinsam Flagge zeigen.«
»Ich kann’s kaum erwarten.«
Grinsend legte er auf. Junge Überflieger unter den Staatsanwälten nachts aus dem Bett zu holen, gehörte zu den kleinen Entschädigungen, die er sich als leitender Detective beim Morddezernat gönnte. Er schätzte, dass sie etwas über eine halbe Stunde brauchen würde, bis sie eintraf und er sie der Presse zum Fraß vorwerfen konnte. Er fand, das war das Warten wert, und beschloss, die Fortschritte der Spurensicherung auf dem schmalen Weg hinter dem Sunshine Arms zu begutachten. Vielleicht haben sie ja was entdeckt, dachte er. Dieses Schmuckkästchen, das musste sich doch irgendwo in der Nähe finden. Sicher hatte es der Täter in die erstbeste Mülltonne geworfen, nachdem er es mit einer Menge Fingerabdrücken und dem unverwechselbaren Geruch nach Angstschweiß eingedeckt hatte.
Esperanza Martinez hatte sich bei ihren rar gesäten Freunden den Spitznamen Espy erworben. Im Halbdunkel ihres Schlafzimmers zog sie sich rasch an, schlüpfte zuerst in die Jeans, verwarf sie jedoch zugunsten eines modischeren, lose sitzenden Kleides, als ihr bewusst wurde, dass sie sich vielleicht den Kameras stellen musste. Auch wenn sie in ihrer Wohnung allein war, achtete sie darauf, keinen Lärm zu machen. Sie wohnte in einer Doppelhaushälfte, ihre Eltern lebten nebenan. Ihre Mutter war gegenüber den Geräuschen, die von ihrer Tochter herüberdrangen, geradezu telepathisch sensitiv; bestimmt lag sie gerade wach im Bett und horchte durch das Ständerwerk, die Schalldämmung und die Spanplatten hindurch auf die Lebenszeichen ihrer Tochter.
Sie betrachtete ihre Erscheinung noch einmal in einem kleinen Spiegel, der zusammen mit einem Kruzifix neben der Eingangstür hing. Dann vergewisserte sie sich, dass ihre Kennmarke von der Staatsanwaltschaft sowie eine kleine Automatik Kaliber fünfundzwanzig in der Handtasche waren, und trat in die stickige Nacht. Als sie den Motor des unauffälligen Kleinwagens anließ, warf sie einen letzten Blick nach oben und sah, wie in der Haushälfte ihrer Eltern das Licht anging. Sie legte den Gang ein und fuhr zügig auf die Straße.
Im Spätsommer kommt es einem in Miami so vor, als glimme die Glut des Tages auf kleiner Flamme weiter. In den riesigen Bürotürmen und Wolkenkratzern, die das Bild der City beherrschen, blieben über Nacht die Lichter an, so dass die weitere Umgebung wie in einem feinen schwarzen Sprühregen erschien. Doch trotz der weichen tropischen Konturen und gleitenden Übergänge, folgte der Rhythmus der Stadt einem unruhigen Pulsschlag, und beim Verlassen der hell erleuchteten Highways, die kreuz und quer das County durchzogen, beschlich einen das Gefühl, man stiege in einen Keller hinab. Oder auch in eine Krypta.
Espy Martinez fürchtete die Nacht.
Sie fuhr schnell, so dass sie die ruhigen Vorstadtstraßen bald hinter sich gelassen hatte, auf die Bird Road einbog, von wo aus es auf dem Dixie Highway nach Miami Beach nicht mehr weit war. Es herrschte wenig Verkehr, doch als sie sich gerade auf die vierspurige Route 95 einfädelte, schoss ein roter Porsche, dessen Scheiben sehr dunkel getönt waren, mit weit über hundert Meilen an ihr vorbei. Die Fliehkraft des Sportwagens schien sie förmlich anzusaugen.
»Verdammt noch mal!«, fluchte sie laut, während sie für wenige Sekunden Angst durchzuckte, doch gleich wieder verschwand, als sie den Wagen dabei beobachtete, wie er kurz im gelblichen Licht der Straßenbeleuchtung glitzerte und im nächsten Moment von der Nacht verschluckt zu werden schien. Ein Blick in den Rückspiegel warnte sie beizeiten, dass hinter ihr das Auto der State Trooper ebenso schnell aufschloss. Es fuhr ohne Blinklicht und Sirene, um das Zielfahrzeug zu erreichen, bevor der Raser merkte, dass es hinter ihm her war. Sie begriff, dass dies gegen die Vorschriften verstieß, und schätzte, dass der Polizist bei einer Gerichtsverhandlung lügen würde, falls man ihn danach fragte. Doch nur auf diese Weise konnte er hoffen, den Porsche zu schnappen, der schneller und wendiger war, und so sah sie den Ordnungshütern ihren kleinen Trick nach.
»Viel Glück«, wünschte sie. »Werdet ihr brauchen.« Sie hoffte, dass sich der Fahrer als ein Arzt, Anwalt oder Bauunternehmer in mittleren Jahren erwies, der versuchte, bei seiner halb so alten Freundin Eindruck zu schinden, und nicht als einundzwanzigjähriger, mit Koks und Testosteron zugedröhnter Drogenschmuggler – die Maschinenpistole geladen auf dem Beifahrersitz.
Die Nacht, dachte sie, ist gefährlich. Nach Einbruch der Dunkelheit konnte die Wut im Verborgenen lauern, um sich in der warmen, regensatten Luft zu entladen. Espy Martinez strich sich nervös das Haar aus der Stirn und fuhr weiter.
Einen Häuserblock weiter entdeckte sie die Blinklichter sowie die kreuz und quer geparkten Übertragungswagen der Fernsehsender. Zügig stellte sie den Wagen auf einem Parkplatz ab, eilte den Bürgersteig entlang und duckte sich unter dem gelben Absperrband hindurch, bevor sie von dem Dutzend Reportern und Kameraleuten gesichtet wurde, die in der Hoffnung umherschwärmten, dass endlich jemand kam und sie über den Stand der Dinge unterrichtete.
Ein Streifenpolizist wollte sie gerade zurechtweisen, doch Espy Martinez hielt ihm bereits ihren Dienstausweis entgegen.
»Ich suche Detective Robinson«, erklärte sie.
Der Polizist warf einen Blick auf den Ausweis. »Tut mir leid, Miss Martinez, aber ich habe Sie für eine dieser Fernsehreporterinnen gehalten. Robinson ist drinnen.«
Er zeigte in die entsprechende Richtung, und sie durchquerte den Hof, ohne den Posaunenengel zu bemerken. Sie blieb so abrupt stehen, als bliebe ihr die Luft weg.
Das hier war erst der dritte Tatort in einem Mordfall, den sie besuchen musste. Bei den anderen beiden hatte es sich um anonyme Hinrichtungen im Drogenmilieu gehandelt; die Opfer waren jeweils junge Latinos ohne Papiere gewesen, höchst wahrscheinlich illegale Einwanderer aus Kolumbien oder Nicaragua. Jede Leiche hatte eine einzige Schusswunde im Hinterkopf gehabt, die aus einer kleinen Handfeuerwaffe stammte. Mord in seiner eindeutigsten, saubersten Form. Beinahe rücksichtsvoll. Ihre Leichen hatte man allerdings pietätlos auf leeren Grundstücken entsorgt – ohne ihnen den Goldschmuck, die prall gefüllten Brieftaschen oder exklusiven Kleider abzunehmen. In vielen Gerichtsbezirken hätte sich die Presse auf die Übereinstimmungen gestürzt und hartnäckig nachgefragt, ob es sich möglicherweise um die Taten eines Serienkillers handelte.
Nicht so in Miami. Im Büro der Staatsanwaltschaft nannte man solche Morde scherzhaft Kapitalverbrecherentsorgung. Es gab unter den Staatsanwälten und Polizisten eine makabre Theorie, die sich etwa so zusammenfassen ließ: Je näher am Stadtzentrum ein Toter gefunden wurde, desto unbedeutender war er. Die richtig großen Narcotistas, die es erwischte, verwesten im Morast der Everglades oder versanken an einen Betonblock gekettet tausend Faden tief in den Gewässern des Golfstroms. Demzufolge waren die beiden Männer, die Espy Martinez flüchtig zu Gesicht bekommen hatte, Fliegengewichte, die ihren Tod wahrscheinlich durch einen einzigen ehrgeizigen Höhenflug provoziert hatten, durch die Missachtung einer unsichtbaren, aber nicht weniger fatalen Grenze. Ihren Killern waren sie jedenfalls nicht einmal die lästige Drecksarbeit wert gewesen, ihre Leichen unauffindbar zu entsorgen. Es waren keine Festnahmen zu erwarten. Keine Prozesse. Nur ein paar Zahlen in der Statistik.
In keinem der beiden Fälle hatte sich Espy auch nur in die Nähe der Leichen begeben müssen. Sie war aus einem einzigen Grund dazu gerufen worden: Die Kriminalbeamten vom Morddezernat wollten der Staatsanwaltschaft vor Ort beweisen, dass praktisch keine Aussicht bestand, diese Fälle zu lösen.
Das hier war etwas ganz anderes.
Hier ging es um einen Menschen aus Fleisch und Blut, mit einem Namen, einer unverwechselbaren Geschichte, mit Angehörigen, Freunden, Bekannten, statt einer anonymen Person, die einfach nur ins Leben trat und wieder verschwand.
Sie verharrte auf der Schwelle und versuchte, ihre Angst im Zaum zu halten. Ein Forensiker drängte an ihr vorbei, um einen Arm voll abgeschabter Proben hinauszutragen. »Darf ich?«, murmelte er, und um ihm nicht im Weg zu stehen, trat Espy Martinez in die Wohnung. Ein anderer Polizist warf ihr einen Blick zu, und sie nutzte den Moment, um ihre Dienstmarke an ihrer Handtasche zu befestigen. Als sie aufsah, winkte sie der Beamte ins Schlafzimmer durch. Sie holte einmal tief Luft, dann durchquerte sie den Raum, indem sie gleichzeitig alles und nichts registrierte.
Eine Sekunde lang verharrte sie am Rande der Geschehnisse im Schlafzimmer des Opfers.
Mehrere Männer standen am Fuß des Betts, so dass sie die Tote nicht sehen konnte. Einer bewegte sich ein Stück zur Seite, und sie erhaschte einen Blick auf Sophie Millsteins Fuß. Die Zehennägel waren in einem frechen Rot lackiert. Sie biss sich auf die Lippe. Espy Martinez holte noch einmal tief Luft und machte sich bemerkbar, obwohl sie fürchtete, nur krächzende Laute herauszubringen.
»Detective Robinson?«
Der sportliche junge Schwarze drehte sich um und nickte. »Sie müssen Miss Martinez sein?«
»Stimmt. Können Sie mich auf den Stand der Dinge bringen?«
Sie hatte das Gefühl, dass ihre Stimme schwankte, und so straffte sie die Schultern und sah dem Detective in die Augen.
»Sicher«, erwiderte er und zeigte auf die Leiche. »Das ist Sophie Millstein, weiblich, weiß, achtundsechzig Jahre alt. Witwe. Alleinstehend. Offenbar stranguliert. Hier, sehen Sie sich diese Male …«
Detective Robinson wies auf den Hals der Toten, und Espy Martinez trat vor. In dem Versuch, die aufsteigende Panik einzudämmen, indem sie nur Teile des Opfers – die Kehle, die Hände, die Beine – und nicht die ganze Leiche auf einmal in den Blick nahm, kniff sie die Augen zusammen.
»Ich würde sagen, er hat sie niedergehalten, ihr vielleicht ein Knie auf die Brust gesetzt, und ihr einfach die Kehle zugedrückt. Ein paar Blutergüsse auf der Stirn, hier und da, als hätte er sie ein paarmal geschlagen. Aber er muss die Finger ziemlich schnell um ihre Luftröhre gelegt haben, hier hatte er wahrscheinlich den Daumen, da ist der Hals völlig eingedrückt, und die Nachbarn haben nur einen einzigen kurzen Schrei gehört.«
Walter Robinson sah, wie aus Espy Martinez’ Gesicht alle Farbe entwich. Augenblicklich trat er ihr ins Blickfeld. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo der Täter gewaltsam eingedrungen ist …«
Er fasste die junge Staatsanwältin am Arm und steuerte sie aus dem Schlafzimmer.
»Wollen Sie ein Glas Wasser?«, fragte er.
»Ja«, antwortete sie. »Und ein bisschen frische Luft.«
Er wies auf die Terrassentür, die aus ihrer Verankerung gerissen war. »Warten Sie da draußen, ich hol Ihnen was zu trinken.«
Als Walter Robinson mit einem frisch gespülten Glas Leitungswasser auf die Terrasse trat, atmete Espy Martinez gierig ein, als wollte sie die Nachtluft trinken. Sie nahm das Wasser und kippte es in wenigen Zügen hinunter. Dann stieß sie einen langen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Detective. Entspricht genau dem Klischee, nicht wahr? Die junge Frau, die den Anblick eines gewaltsamen Todes nicht verkraftet. Geben Sie mir einen Moment Zeit, dann gehen wir wieder rein, und Sie können weitermachen.«
»Schon in Ordnung, es ist wirklich nicht nötig. Ich kann Ihnen auch hier alles sagen.«
»Nein«, beharrte Espy Martinez. »Noch einen Blick auf das Opfer – das ist meine Pflicht.«
»Ist wirklich nicht nötig …«
»O doch.«
Ohne auf den Detective zu warten, kehrte sie durchs Wohnzimmer in den Raum mit der Toten zurück. Sie versuchte, alle Gedanken auszuschalten, doch das war unmöglich. Fragen, Ängste und Wut stürzten sie in einen Aufruhr der Gefühle. Sie sagte sich: Aus diesem Grund bist du Staatsanwältin geworden – wegen dieser Frau, die da vor dir liegt. Die beiden Mitarbeiter der Gerichtsmedizin schickten sich an, Sophie Millstein von ihrem Bett zu heben.
»Einen Augenblick«, bat Espy Martinez. Sie trat an die Leiche heran und sah Sophie Millstein in die Augen. Was für eine schreckliche Art, jemandem zu begegnen, dachte sie. Wer warst du? Sie starrte weiter auf die Ermordete; wie vor ihr Simon Winter erkannte auch sie das Entsetzen im leeren Blick, und das machte sie wütend. Feigling, sagte sie stumm zu dem Mörder. Dreckskerl von einem Feigling. Stiehlst einer alten Frau das Leben wie eine Handtasche, die du ihr von der Schulter reißt. Ich werde dafür sorgen, dass du zur Hölle fährst. Eine Weile hielt sie dem Blick der Toten stand, dann nickte sie stumm.
Die beiden Männer von der Gerichtsmedizin warfen sich Blicke zu. Was für Espy Martinez etwas Besonderes darstellte, war für sie grauer Alltag. Dennoch hoben sie Sophie Millstein langsam und respektvoll hoch.
»Gott!«, brüllte einer der beiden. Beinahe hätte er den Leichnam wieder aufs Bett fallen lassen.
»Ach du Scheiße!«, sagte sein Kollege trocken.
Espy Martinez schnappte nach Luft und besaß die Geistesgegenwart, sich die Hand vor den Mund zu halten, um nicht aufzuschreien.
»Verdammt, sieh sich einer das an!«, wisperte der andere Mann vom Leichenschauhaus. »Hey, Detective, sicher wollen Sie auch davon einen Schnappschuss!«
Walter Robinson war mit einem Satz neben dem Bett und betrachtete, was zutage getreten war. Er sah eine Weile hin, dann winkte er den Fotografen heran, der noch einmal zur Kamera griff. Dann wandte er sich an Espy Martinez, die einen Schritt zurückgetreten war, aber die Stellung hielt.
Ihre Blicke trafen sich. Er zuckte mit den Achseln.
»Tut mir leid. Hab ich nicht gewusst«, sagte er.
Sie nickte und verspüre vorerst keinen Drang, ihre Stimme zu benutzen.
Walter Robinson wandte sich wieder dem Bett zu. Er starrte auf die kleinen weißen, vor Angst gebleckten Zähne.
»Ich hab noch nie eine strangulierte Katze gesehen«, erklärte er ruhig.
»Ich auch nicht«, erwiderte Espy Martinez grimmig.
Simon Winter stand draußen bei dem jungen Streifenpolizisten, doch durch die Tür entdeckte er Detective Robinson und Espy Martinez, die in Sophie Millsteins Wohnzimmer die Köpfe zusammensteckten.
»Wer ist das?«, erkundigte er sich.
»Das ist die diensthabende Staatsanwältin. Martinez, glaube ich.«
»Was will sie hier?«
»Vorschrift, wissen Sie. Jedem gemeldeten Tötungsdelikt wird ein Staatsanwalt zugewiesen, in der Praxis werden sie allerdings nur in ungefähr zehn Prozent der Fälle dazugeholt, meist dann, wenn die Detectives glauben, dass sie in die Abendnachrichten oder die erste Seite im Lokalteil des Herald kommen.«
»Sophie Millstein?«
»Ja, höchst wahrscheinlich. Meldung des Tages oder so, bis etwas Neues passiert.«
»Wahrscheinlich, Sie haben wohl recht.«
»Also«, meinte der Mann von der Streife. »Ich wette, Sie würden liebend gern nach Hause und schlafen gehen. Stimmt’s, Senior? Also, ich schieb noch vier Stunden Dienst. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«
»Was meinen Sie?«
»Sie haben das Opfer heute Nacht gesehen, richtig?«
»Sie wollen meine Aussage?«
Der Polizist hatte einen kleinen Notizblock und einen Bleistift gezückt. Er sah ungeduldig aus. »Ja, genau.«
Winter ordnete seine Gedanken und sprach schnell. »Am frühen Abend, vielleicht um sieben, klopfte Mrs. Millstein an meine Wohnungstür. Nummer einhundertdrei, direkt da drüben. Sie kam vom Einkauf zurück und war über etwas sehr erschrocken, und sie wollte, dass ich sie durch ihre Wohnung begleite, um mich zu vergewissern, dass sie sicher war.«
»Und das haben Sie gemacht?«
»Ja. Die Wohnung war leer, und ich habe die Türen und Fenster überprüft, die alle ordentlich verschlossen waren. Aber was ihr Angst machte …«
»Dann haben Sie niemanden irgendwo herumlungern gesehen, jemanden, auf den die Täterbeschreibung passt?«
»Nein.«
»Zum Beispiel draußen hinterm Haus?«
»Wie gesagt, nein. Ich habe niemanden gesehen. Solange ich mich in der Wohnung aufhielt, war niemand da. Aber sie hat diesen Mann beschrieben, den sie vorher gesehen hatte.«
»Okay, erzählen Sie.«
»Sie sagte, es wäre jemand, den sie aus der Kriegszeit kannte …«
»Was für einem Krieg?«
»Dem Zweiten Weltkrieg. In Berlin. 1943.«
»Berlin?«
»Deutschland.«
»Ach so, okay. Und dieser Jemand, den sie gesehen hat, das war kein junger Schwarzer, oder?«
Simon Winter starrte den Streifenpolizisten an, als hätte der Mann gerade die dümmste Frage gestellt, die ihm je zu Ohren gekommen war, was zweifellos der Wahrheit entsprach.
»Nein«, erwiderte Winter beherrscht. »Das war kein junger Schwarzer. Es war ein älterer Mann, doch sie beschrieb ihn als einen im höchsten Maße beängstigenden Menschen. Sie nannte ihn ›der Schattenmann‹ …«
»Wie? Der Schatten, Mann – was soll das heißen?«
»Nein. Der Schattenmann als Beiname. Eine Art Titel, könnte man sagen.«
»Ein Titel? Wie was? Hauptmann? Amtmann?«
»Wohl kaum.«
Er sah, wie der Stift des jungen Streifenpolizisten über dem Notizblock schwebte, bevor er etwas niederkritzelte.
»Dann kannte sie seinen richtigen Namen nicht?«
»Nein. Es war jemand, der mit ihrer Verhaftung und anschließenden Deportation zu tun hatte. Nach Auschwitz. Es war jemand …«
»Ach so, hier in Miami Beach gibt’s ’ne Menge alte Leute, die’s damals erwischt hat und die in den Knast gewandert sind.«
»Auschwitz war kein Knast. Es war ein Vernichtungslager.«
»Richtig, richtig, ich weiß. Also, dieser Kerl, den sie wiedererkannt hat …«
»Sie war sich nicht sicher.«
»Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn wiedererkannt hat?«
»Richtig«, sagte Simon Winter. »Es lagen fünfzig Jahre dazwischen.«
»Okay, sie hatte also vor diesem Schattenmann-Typen Angst, falls er es überhaupt war. Da sind Sie sich nicht sicher, und die alte Dame war es auch nicht. Okay. Glauben Sie, es hatte irgendetwas mit ihrer Ermordung heute Nacht zu tun?«
»Nein. Ich weiß es nicht. Es ist einfach nur ungewöhnlich. Vielleicht reiner Zufall.«
»Hatte Mrs.Millstein sonst schon mal Angst? Ich meine normalerweise?«
»Sicher. Sie war alt und lebte allein. Sie war oft nervös. Sie richtete ihren Tagesablauf danach ein, abends nicht mehr vor die Tür zu müssen.«
»Okay. Jedenfalls haben Sie heute Abend nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches gesehen. Und ihr Benehmen war wiederum nicht so viel anders als sonst, richtig?«
Winter starrte den Mann mit eisigem Blick an. »Ja, das ist richtig.«
Der Jüngere klappte sein Notizbuch zu. »Okay, ich denke, ich hab dann alles. Falls Ihnen noch was einfällt, rufen Sie Detective Robinson an, okay?«
Winter verkniff sich mehrere sarkastische Erwiderungen und nickte. Der Streifenpolizist grinste.
»Okay, Sie können jetzt nach Hause, Mr.Winter. Das Team ist mit der Spurensicherung bald durch. Möglich, dass hier noch ein paar Tage was los ist, vielleicht werden die Typen von den Nachrichten etwas lästig, aber Sie können denen einfach sagen, sie sollen sich zum Teufel scheren. Meistens funktioniert das. Ich werde dafür sorgen, dass der Detective alles, was Sie gesagt haben, schriftlich bekommt.«
Damit drehte sich der junge Beamte zur Straße um und ließ Simon Winter im blinkenden Rot-Blau der Streifenwagen stehen.
In der Küche sah Espy Martinez zu, wie Walter Robinson zum Telefon griff und, indem er jede Ziffer einzeln überprüfte, eine Nummer wählte. Dann legte er die Hand über die Sprechmuschel und flüsterte: »Das Telefon klingelt mitten in der Nacht. ›Ihre Mutter wurde ermordet.‹ Was für ein Alptraum.« Er zuckte mit den Achseln, als wollte er sich dafür wappnen, jemandem einen großen Schmerz zuzufügen.
Espy Martinez fühlte sich in ihrer Zeugenrolle unbehaglich und schämte sich für diese eigentümliche Faszination, die sie empfand, diesen seltsamen Reiz des Schauderns, der Menschen zum Ort eines Autounfalls treibt, um die tausend glitzernden Splitter und frischen Blutflecken zu begaffen.
Robinson formte mit den Lippen das Wort »klingelt« und richtete sich ein wenig auf, als er hörte, dass jemand abnahm.
»Ja?«
»Ich würde gerne mit Mr.Murray Millstein sprechen.«
»Am Apparat. Was …«
»Mr.Millstein, hier spricht Detective Walter Robinson von der Kripo Miami Beach in Florida. Es tut mir leid, aber ich habe eine schlimme Nachricht für Sie.«
»Was? Was?«
»Mr. Millstein, Ihre Mutter, Mrs. Sophie Millstein, ist heute Nacht verstorben. Sie wurde Opfer eines Verbrechers, der kurz vor Mitternacht gewaltsam in ihre Wohnung eingedrungen und sie offenbar getötet hat, bevor er ihre Wertsachen raubte.«
»Oh, mein Gott! Was? Meine Mutter?«
»Es tut mir sehr leid, Mr. Millstein.«
»Was sagen Sie da? Was ist mit meiner Mutter? Ich verstehe nicht …«
»Es tut mir leid, Mr. Millstein. Ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihre Mutter heute Nacht ermordet wurde.«
Robinson wartete, bis sich der Mann in der Leitung gefasst hatte.
Im Hintergrund hörte er eine andere Stimme, die schrill und in Panik durch die Nacht drang. Die Ehefrau des Anwalts, nahm Robinson an: Sie sitzt senkrecht im Bett, hat auf dem Nachttisch neben dem Wecker und einem Bild ihrer Kinder das Licht angemacht, und jetzt packt sie ihren Mann fest am Arm und will wissen, wieso er die Beine aus dem Bett geschwungen hat und mit blassem, verzerrtem Gesicht auf der Kante sitzt.
»Detective, ähm …«
»Robinson. Haben Sie Stift und Papier, Mr. Millstein? Ich würde Ihnen gerne eine Telefonnummer durchgeben.«
»Ja, ja, aber …«
»Das hier ist die Nummer, unter der Sie mich in meinem Büro im Präsidium erreichen.«
»Aber was ist passiert? Meine Mutter …«
»Wir haben noch keinen Tatverdächtigen festgenommen, Mr. Millstein. Aber wir haben eine Täterbeschreibung und eine beträchtliche Menge Beweismaterial in der Wohnung Ihrer Mutter gesammelt. Unsere Ermittlungen laufen gerade erst an, aber wir genießen die volle Unterstützung der Staatsanwaltschaft und anderer Behörden in Dade County, und ich bin zuversichtlich, dass es bald zu einer Verhaftung kommt.«
»Aber meine Mutter, wie … sie hat doch immer alles verriegelt …«
»Offenbar hat der Täter die Gartentür gewaltsam geöffnet.«
»Aber ich verstehe trotzdem nicht …«
»Zum derzeitigen Ermittlungsstand gehen wir davon aus, dass sie stranguliert wurde. Doch endgültig stellt der Gerichtsmediziner die Todesursache fest.«
»Sie wurde …«
»Ja. Ihre sterblichen Überreste werden ins Leichenschauhaus des County überstellt. Nach Abschluss der Untersuchungen werden Sie sich mit einem hiesigen Bestattungsinstitut in Verbindung setzen müssen. Wenn Sie morgen Nachmittag im Leichenschauhaus anrufen, kann Ihnen eine Sekretärin einige Telefonnummern geben.«
»Oh, mein Gott.«
»Mr. Millstein, es tut mir sehr leid, Ihnen diese Nachricht zu übermitteln. Ich muss Sie außerdem vorwarnen, dass Sie möglicherweise von der hiesigen Presse und lokalen Sendern hören könnten. Zweifellos wollen Sie nähere Einzelheiten wissen, und ich werde Sie so gut ich kann auf dem Laufenden halten, aber im Moment wartet Arbeit auf mich. Sie können mich jederzeit unter der Nummer anrufen, die ich Ihnen gegeben habe. Ich werde dort schätzungsweise ab acht Uhr morgens erreichbar sein.«
Der Anwalt gab einen Laut von sich, in den sich Schluchzen und Stöhnen mischten, und Robinson legte auf.
Espy Martinez beobachtete ihn aufmerksam. Sie fühlte sich fast wie ein Voyeur, der – halb gebannt, halb abgestoßen – die Geschehnisse wie in Zeitlupe verfolgte. Für einen kurzen Moment erkannte sie in den Augen des Detective einen Ausdruck von Mutlosigkeit, der jedoch unter ihrem forschenden Blick gleich wieder verflog. Sie musste plötzlich denken: Wir sind beide sehr jung.
Doch sie sagte nur: »Das muss schwer sein.«
Robinson zuckte mit den Achseln und schüttelte mit einer trockenen Miene den Kopf.
»Man gewöhnt sich dran«, erwiderte er in einem Ton, der ihr verriet, dass er nicht einmal ansatzweise die Wahrheit sprach. Und dass er sich dessen bewusst war.
Der Detective und die Staatsanwältin begaben sich nach draußen. Espy Martinez hatte das Gefühl, als hätte sich die Dunkelheit ein wenig gelichtet, und ein Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte, dass es bald Morgen war. Sie sah eine Gruppe älterer Menschen auf einer Seite des Hofs zusammenstehen, und Walter Robinson kam ihrer Frage zuvor.
»Das sind die Leute, die hier wohnen. Der alte Mann, der den Täter auf dem Weg hinterm Haus weglaufen sah, heißt Kadosh. Seine Frau hat den Notruf verständigt. Der große Mann ist Winter. Er hat Mrs.Millstein am Abend nach Hause begleitet und ihre Schlösser überprüft. Der Wohnungseigentümer heißt Gonzales, ist noch nicht da, aber schon unterwegs. Und wissen Sie, was das Tragischste ist? Eine der Nachbarinnen hat mir erzählt, dass er in der Hälfte aller Wohnungen bereits neue Schlösser angebracht hatte und an diesem Wochenende wiederkommen wollte, um sich die von Mrs.Millstein vorzunehmen. Ich glaube zwar nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte, aber man weiß nie. Das wird morgen in sämtlichen Zeitungen stehen.«
Walter Robinson deutete auf die Gruppe Reporter und Kameraleute. Zum Zeichen, dass er auf dem Weg zu ihnen war, winkte er ihnen knapp zu.
In verhaltenem Ton teilte er Espy Martinez mit: »Also, was wir vorerst für uns behalten, ist die Sache mit der Goldkette, auf der ihr Name eingraviert ist, und wir sagen auch nichts von dem Abdruck, den der Kriminaltechniker von ihrem Hals genommen hat, zumindest, bis wir überprüft haben, ob es beim Abgleich einen Treffer gibt.«
Als Robinson den Kopf hob, sah er zwei Kollegen und mehrere Streifenpolizisten um die Ecke des Sunshine Arms kommen.
Einer der Kriminalbeamten winkte ihnen beiden zu. Aus mehreren Metern Entfernung rief er: »Hey, Walter, du hast ins Schwarze getroffen.«
Robinson machte den Kollegen mit Espy Martinez bekannt und fragte dann: »In der Gasse hinterm Zaun?«
»Genau. In einem Müllcontainer. Wir haben Fotos gemacht, der Typ vom Labor hat’s eingetütet. Gut möglich, dass wir einen Trumpf in der Hand haben; ich meine, ich hätte an einer Ecke ein bisschen Blut gesehen.«
»Was ist es denn?«, wollte Espy Martinez wissen.
»Ein Schmuckkästchen aus Messing«, antwortete Robinson. »Auch davon vorerst nichts an die Presse, einverstanden?«
»Kein Problem. Mir wär’s ohnehin lieber, Sie würden das übernehmen.«
Robinson nickte. »In Ordnung. Gehen wir.« Er grinste wieder und riss einen Witz: »Hey, wird schon nicht schlimmer sein als beim Zahnarzt.«
Nur für eine Sekunde berührte er ihren Ellbogen, dann traten sie zusammen in das grelle Licht der Fernsehkameras.