Simon Winter saß, einen Finger zögernd über den Tasten seines Telefons, in seiner Wohnung. Obwohl die Mittagssonne durchs Fenster schien, hatte er das Gefühl, als träte er in ein dunkles Zimmer, ohne zu wissen, wo der Lichtschalter ist. In den wenigen Stunden unruhigen Schlafs, die ihm vergönnt gewesen waren, hatten ihn Alpträume gequält. Die Erschöpfung steckte ihm wie Blei in den Gliedern. Er sah noch einmal aus dem Fenster über den Hof, wo das gelbe Absperrband in einer leichten Brise flatterte. Neben dem Schild an Sophie Millsteins Tür, auf dem in roten Lettern TATORT: ZUTRITT VERBOTEN stand, war es das Einzige, was noch an die Geschehnisse der letzten Nacht erinnerte.
Er wusste nicht, ob es darum ging, etwas anzustoßen oder zu Ende zu bringen, jedenfalls fühlte er sich dazu verpflichtet, diesen Anruf zu machen. Ihm war schwindelig, fast übel, doch als es am anderen Ende in der Leitung klingelte, rief er sich zur Ordnung.
Er hörte ein fernes »Hallo?«
»Spreche ich mit Rabbi Chaim Rubinstein?«, fragte Winter.
»Ja, früher mal Rabbi, jetzt im Ruhestand. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Mein Name ist Simon Winter, ich bin …« Er überlegte, was genau er war, und fuhr schließlich fort: »… ein Freund von Sophie Millstein.«
»Sophie ist tot.« Die Stimme des Rabbi klang hart. »Sie wurde ermordet. Gestern Abend. Von einem Einbrecher. Ein Mann, der Geld für Drogen suchte. Steht in der Zeitung.«
»Ich weiß. Ich bin ihr Nachbar.«
»Dann wissen Sie mehr als ich. Sie wissen mehr, als in der Zeitung steht. Weshalb rufen Sie an?«
»Sie kam gestern zu mir. Nur wenige Stunden vor ihrem Tod. Sie hatte Angst, und sie wollte Ihnen etwas mitteilen. Ihnen und zwei Freunden. Einem Mr. Silver und einer Mrs. Kroner. Hat sie Sie gestern Abend nicht mehr angerufen?«
»Nein. Nein, ich habe nicht mit ihr gesprochen. Uns etwas mitteilen? Uns was mitteilen?« Plötzlich hatte der Rabbi die Stimme ein wenig erhoben.
»Sie hatte …« Er stockte, dann korrigierte er sich: »Sie glaubte, sie hätte einen Mann gesehen, sie nannte ihn den …«
Der Rabbi fiel ihm ins Wort: »Den Schattenmann.«
»Ja.«
In der Leitung herrschte Stille.
»Rabbi?,« fragte Winter.
Wieder trat eine Pause ein, dann sagte der Rabbi in eisigem Ton: »Er wird uns alle töten.«
Rabbi Chaim Rubinstein wohnte in einem bescheidenen älteren Gebäude auf der falschen Seite des Ocean Drive, wo die Aussicht aufs Meer größtenteils von zwei größeren, imposanteren Wohngebäuden verstellt war. Von den besten Wohnungen aus bekam man vermutlich höchstens einen schmalen blassblauen Streifen zu sehen. Ansonsten unterschied sich der Wohnkomplex in nichts von den Dutzenden ähnlicher Bauten in ganz Miami Beach, bis hin nach Fort Lauderdale, Delray und schließlich Palm Beach. Lediglich der Name – The Royal Palm – fiel aus dem Rahmen. Natürlich war nichts Königliches an dem Gebäude, und ebenso wenig konnte es, abgesehen von einer einzigen, unansehnlichen Topfpflanze mit hängenden Wedeln in der Lobby, mit irgendwelchen Palmen aufwarten. Winter fuhr mit dem Lift in den sechsten Stock und trat in den Flur. Aus blechernen Lautsprechern in der Decke spielte eine nervende Musikkonserve. Der Flur selbst war von deprimierender Eintönigkeit: ein beigefarbener Teppichboden, Tapeten mit Blumenmuster, eine scheinbar endlose Reihe weißer Türen, an denen bestenfalls die goldenen Nummern auffielen.
Vor Nummer sechshundertzwei blieb er stehen und klopfte an. Er hörte, wie Schlösser aufschnappten, dann öffnete sich die Tür so weit, wie es die vorgelegte Kette erlaubte.
»Mr.Winter?«
»Rabbi?«
»Könnten Sie mir irgendeinen Ausweis zeigen? Mit Foto?«
Simon Winter nickte, griff in seine Brieftasche und holte seinen Führerschein hervor, den hielt er an den Türspalt, damit der Rabbi ihn sich ansehen konnte.
»Danke«, sagte der Mann nach einer Weile. Er schloss die Tür, um die Kette zu entriegeln, und öffnete ganz. »Bitte treten Sie ein. Und danke fürs Kommen.«
Die beiden Männer schüttelten einander die Hand. Rabbi Rubinstein war ein kleiner, dünner, wenn auch nicht asketisch hagerer Mann. Er trug eine etwas zerzauste, graue Lockenmähne, die ihm über die Ohren und die tiefsitzende, schwarzgerandete Brille fiel. Durch dicke Gläser musterte er Simon Winter einen Moment, dann winkte er ihn ins Wohnzimmer.
Winter sah das ältere Paar, das hinter einem gläsernen Couchtisch auf einem weißen Sofa saß und auf ihn wartete. Als er eintrat, erhoben sich die beiden.
»Darf ich bekannt machen: Mr.Irving Silver und Mrs.Frieda Kroner«, stellte der Rabbi vor. Winter ging auf sie zu und schüttelte ihnen die Hände. Mrs. Kroner, eine untersetzte Frau, die zu einer weißen Hose einen lose fallenden Pullover trug, in dem sie doppelt so breit wirkte wie der Rabbi, setzte sich augenblicklich wieder hin und goss Simon Winter eine Tasse Kaffee ein. Mr.Silver war ein kleiner, runder, fast kahlköpfiger Mann, der, kaum, dass er wieder Platz genommen hatte, nervös mit den Fingern auf den Knien trommelte. Winter sah sich einen Moment um. Er bemerkte ein Bücherregal und überflog die Titel. Es gab einiges an Judaica, eine große Anzahl Bücher über den Holocaust, dazwischen hier und da ein paar zeitgenössische Thriller und Schauerromane. Der Rabbi folgte seinem Blick und erklärte:
»Die meiste Zeit verbringe ich mit dem Studium, Mr.Winter. Ich versuche, die Ereignisse zu verstehen, an denen auch ich einen, wenngleich unbedeutenden Anteil hatte. Meine Pensionszeit habe ich dieser Arbeit gewidmet. Aber manchmal lese auch ich gerne etwas von Stephen King. Ich finde das gar nicht so schrecklich. All diese übernatürlichen Monster und bösen Dinge, über die er schreibt, die können ja nicht wirklich existieren, nicht wahr? Sie sind nicht real, aber er schafft den Eindruck, als ob sie es wären, und das ist wirklich faszinierend. Wer ließe sich denn nicht gerne ab und zu ein paar Schauer einjagen? Das ist unterhaltsam.«
»Ja, ich denke schon«, pflichtete Winter bei.
»An manchen Abenden ist es viel leichter, Mr.Winter, von entsetzlichen Ereignissen zu lesen, die der Phantasie eines Mannes entsprungen sind, als das Grauen zu studieren, das tatsächlich passiert ist.« Er wies auf eine Reihe Bücher, die sich mit der Schoah beschäftigten.
Der Detective nickte.
»… oder immer noch passiert«, fügte der Rabbi hinzu.
Mit einer stummen Geste lud er ihn ein, in einem Sessel Platz zu nehmen. Mrs.Kroner reichte ihm die Tasse schwarzen Kaffee. Sie fragte nicht, ob er ihn mit Zucker oder Sahne wollte. Er bemerkte, wie Irving Silver hin und her rutschte und sich nach vorne beugte. Seine Hände zitterten ein wenig, und so klirrte es leise, als er seine Tasse abstellte. Winter sah, wie der Mann den Rabbi mit einem eindringlichen, auffordernden Blick anstarrte und dabei im blassen Gesicht alle Muskeln anspannte. Der Rabbi nickte und bat: »Also, dann erzählen Sie es doch, Mr.Winter. Erzählen Sie uns, was Sophie Ihnen gesagt hat.«
Der Rabbi hatte eine seltsame Intonation: Er begann seine Sätze in einem rauhen, tiefen Ton und erhob die Stimme mit jedem weiteren Wort, bis seine Frage am Ende schrill und fordernd klang.
»Ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen am Telefon gesagt habe, Rabbi. Sie kam in Panik zu mir. Sie glaubte, diesen Mann gesehen zu haben, an den sie sich aus der Zeit in Deutschland vor fünfzig Jahren erinnern konnte. Sie hatte das Gefühl, es sei ihre Pflicht, Sie alle drei zu warnen. Und dann wurde sie später in derselben Nacht ermordet …«
»Ja, ja. Der Junkie«, unterbrach ihn Mr.Silver. Seine Stimme klang gepresst. »Nennen sie nicht einige Süchtige immer noch so? Wir lesen darüber in der Zeitung. Es kam auch in den Neun-Uhr-Nachrichten. Er ist eingebrochen, dann hat er sie getötet und ein paar Sachen gestohlen! Jetzt sucht die Polizei nach ihm! Der Schattenmann wurde mit keiner Silbe erwähnt!«
Rabbi Rubinstein funkelte Irving Silver missbilligend an und fragte Winter: »Wie sicher war Ihrer Meinung nach Sophie, möge sie in Frieden ruhen, in Bezug auf den Mann, den sie gesehen hat?«
Als er in die drei äußerst gespannten Gesichter sah, zögerte Winter mit seiner Antwort. Er hatte das Gefühl, in einen Streit hineingeraten zu sein, der vielleicht schon seit Wochen andauerte.
»Als sie bei mir anklopfte, schien sie so verstört, dass sie sich ihrer Sache wohl ziemlich sicher war. Sowie sie sich etwas beruhigte, kamen ihr aber offenbar gewisse Zweifel.«
An dieser Stelle schwieg er.
»Seht ihr?«, verkündete Irving in schneidendem Ton. »Sie hatte gewisse Zweifel! Keiner von uns weiß es mit Bestimmtheit!«
Der Rabbi schüttelte langsam den Kopf. »Irving, bitte. Lassen Sie Mr. Winter ausreden. Üben Sie Nachsicht mit uns, Mr. Winter. Wir wollen einfach nicht glauben, dass dieser Mann unter uns ist. Hier und heute.«
»Er müsste tot sein!«, warf Mr.Silver hastig ein. »Das ist doch ganz klar. Und wieso gerade hier? Nein, er muss tot sein! Er kann unmöglich durchgekommen sein!«
Frieda Kroner wandte sich zu Mr.Silver um und runzelte die Stirn. Dann meldete sie sich das erste Mal zu Wort. Sie hatte einen ganz leichten deutschen Akzent.
»Er ist hier, du alter Dummkopf! Wo denn auch sonst?«
»Aber wir sind diejenigen, die er damals …«
»Das ist richtig«, fiel sie kalt ins Wort. »Er hat damals viele von uns umgebracht. Und jetzt tut er es wieder. Das ist nicht weiter verwunderlich. Wieso bist du so überrascht? Hört ein Mann, der so sehr hasst, jemals damit auf? Arme Sophie. Sobald sie sich begegnet waren, hatte sie keine Chance mehr. Keiner hatte je eine Chance.«
Eine große Träne rollte ihr über die Wange. Mit einem Ruck lehnte sie sich zurück, verschränkte die Arme über der großen Brust und machte sich nicht die Mühe, die Träne abzuwischen.
Simon Winter erhob die Hand. »Mrs.Kroner … es gibt keine Indizien dafür, dass jemand anders als der von der Polizei gesuchte Tatverdächtige etwas mit Sophies Tod zu tun hat …«
»Wenn er sie gesehen hat, dann gab es für ihn kein Zögern. Nur schnelles Handeln, und sie musste sterben. Genau das ist passiert.«
Der bittere Ton der Frau ließ keinen Raum für Zweifel, so dass Winter sich gezwungen sah, innezuhalten und in eine behutsamere Gangart zu wechseln, während ihn tausend Fragen bestürmten.
»Es gab einen Brief. Sophie hat mir von einem Herman Stein erzählt, der sich das Leben genommen hat. Angeblich hat er diesen Mann ebenfalls gesehen?«
Wieder herrschte kurzes Schweigen im Raum.
Rabbi Rubinstein nickte kaum merklich. »Wir haben darüber gesprochen, sind allerdings zu keinem übereinstimmenden Schluss gekommen. Es ist schwer zu glauben.«
»Haben Sie den Brief?«
»Ja.« Der Rabbi beugte sich vor und zog Raul Hilbergs Buch Die Vernichtung der europäischen Juden, das neben dem Kaffeeservice lag, zu sich heran. Der Brief befand sich im Buch. Der Rabbi reichte ihn Simon Winter, der ihn zügig las:
Rabbi,
Rabbi Samuelson vom Tempel Beth-El hat mich an Sie verwiesen und erklärt, Sie seien einmal, so wie ich, vor vielen, vielen Jahren Berliner gewesen.
Vielleicht erinnern Sie sich an einen Mann, den wir in jenen traurigen Zeiten nur als den Schattenmann kannten, der Mann, der 1942 in Berlin unsere Familie in ihrem Versteck aufspürte und für unsere Deportation nach Auschwitz sorgte.
Ich hatte gehofft, dieser Mann sei wie all die anderen tot. Aber dem ist nicht so! Vor zwei Tagen habe ich an einer großen Wohnungseigentümer-Versammlung in Surfside teilgenommen und ihn zufällig im Publikum entdeckt, nur zwei Reihen hinter mir! Er ist hier, da bin ich mir sicher.
Rabbi, wen soll ich anrufen?
Was soll ich machen?
Es darf nicht wahr sein, dass dieser Mann noch frei herumläuft, und ich habe das Gefühl, ich muss etwas unternehmen. Mir schwirrt der Kopf vor Fragen, und vor Angst kann ich nicht mehr klar denken. Helfen Sie mir?
Der Brief war mit Herman Stein gezeichnet und enthielt auch seine Adresse und Telefonnummer.
Simon Winter sah von dem handgeschriebenen Blatt auf.
»Wann haben Sie diesen Brief bekommen?«
»Drei Tage nach Mr. Steins Tod. Aus Surfside, ist ja schließlich nicht Alaska oder der Südpol, und trotzdem liefert die Post den Brief erst drei Tage, nachdem er geschrieben wurde, aus. Schon merkwürdig, finden Sie nicht?«
Dem Rabbi zitterten ein wenig die Lippen.
»Ich hatte keine Chance mehr, diesem armen Mr.Stein zu helfen.«
»Und?«
»Ich habe die Sache der Polizei gemeldet. Selbstverständlich habe ich auch Mr.Silver, Mrs.Kroner und Ihre Nachbarin angerufen.«
»Was hat die Polizei gesagt?«
»Ich habe mit einem Detective gesprochen, der sich eine Kopie von dem Brief gemacht hat. Aber er sagte, dieser Mr.Stein, der mir persönlich unbekannt war, hätte seit vielen Jahren allein gelebt und seinen Nachbarn in letzter Zeit Sorgen gemacht, weil er so traurig wirkte, mit düsterer Mine herumschlich, Selbstgespräche führte …«
»Und sich absonderlich aufführte, als ob der Tod neben ihm stünde«, warf Frieda Kroner ein.
Der Rabbi nickte. »Von diesem Detective erfuhr ich auch, Mr. Stein habe einen Abschiedsbrief geschrieben, bevor er sich erschoss, und das sei’s dann ja wohl, er könne mir nicht weiterhelfen. Das war ein netter Mann, dieser Detective, aber ich glaube, er hatte so viel um die Ohren, dass er sich für meine Probleme nicht allzu sehr interessierte. Er hat mir Mr.Steins letzte Zeilen gezeigt.«
»Erinnern Sie sich …«
»Selbstverständlich, wie könnte man so etwas vergessen? Ich sehe die Worte noch vor mir. Es war ein einziger Satz: ›Ich bin des Lebens müde und vermisse meine geliebte Hanna, und so mache ich mich jetzt zu ihr auf den Weg.‹ Das war alles. Er hat sich erschossen. Sagt der Detective. Nur ein Schuss, direkt in die Stirn.«
»Die Stirn?«
»Sagt der Polizist.« Der Rabbi tippte sich, während er sprach, an die Stelle über den Augenbrauen.
»Sind Sie sicher? Haben Sie die Tatortaufzeichnungen des Kriminalbeamten gelesen? Haben die Ihnen irgendwelche Fotos vom Leichenfundort gezeigt? Haben Sie den Autopsiebericht gesehen?«
Angesichts des Feuerwerks an Fragen zog der Rabbi eine Augenbraue hoch.
»Nein, er hat mir nur so viel mitgeteilt. Gezeigt hat er mir gar nichts. Einen Bericht?«
Simon Winter wollte gerade die nächste Frage hinterherschieben, hielt sich aber im Zaum. Die Stirn, dachte er. Nicht in die Schläfe. Nicht in den Mund, so wie ich es wollte – vor Jahren, wie ihm jetzt schien. Er versuchte sich vorzustellen, wie man eine Pistole in dieser Position hielt. Unbequem, aber immerhin möglich. Nicht einmal unwahrscheinlich. Aber unbequem. Wieso sollte sich jemand seinen Selbstmord unnötig erschweren? Die spontane Erklärung dafür, die ihm in den Sinn kam, war ein Missverständnis seitens des Detective.
Der Rabbi sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. »Sie verstehen etwas von diesen Dingen, Mr.Winter?«
»Ja. Ich habe zwanzig Jahre lang als Polizist für die Stadt Miami gearbeitet und mich vor einigen Jahren nach Miami Beach zurückgezogen. Also ja, auch wenn es lange her ist, verstehe ich immer noch etwas von solchen Dingen, Rabbi.«
»Sie waren bei der Polizei?«, ging Mr.Silver hastig dazwischen. »Und jetzt?«
»Und jetzt bin ich einer von vielen alten Menschen in Miami Beach, Mr.Silver.«
Rabbi Rubinstein schnaubte leise. »Deshalb ist Sophie zu Ihnen gekommen.«
»Ja, vermutlich. Sie hatte Angst, und sie wusste, dass ich eine Waffe besitze.« Winter holte tief Luft. »Sie dachte, ich kann ihr helfen.«
»Ich werde mir auch eine Waffe zulegen«, erklärte Mr.Silver trotzig. »Und ich glaube, das sollten wir alle tun, damit wir uns verteidigen können!«
»Ich versteh nichts von Waffen«, warf Frieda Kroner ein. »Und was weißt du schon, du alter Narr? Höchst wahrscheinlich geht das Ding irgendwie los, und du erschießt dich selbst oder deinen Nachbarn oder den jungen Kerl, der dir deine Medizin von der Apotheke bringt.«
»Ja, aber vielleicht erschieße ich zuerst ihn, wenn er es auf mich abgesehen hat.«
Nach dieser Bemerkung herrschte mit einem Schlag Schweigen in der Runde.
Simon Winter betrachtete die drei Gesichter ihm gegenüber. Der Rabbi schien vor Furcht und Niedergeschlagenheit ermattet; aus Mrs.Kroners Blick sprach Verzweiflung gepaart mit Trotz; Mr.Silver kaschierte seine Panik mit Wut. Der Rabbi ergriff als Erster das Wort.
»Sie müssen Nachsicht mit uns haben, Mr.Winter. Sophie war unsere Freundin, und wir sind in Trauer. Aber wir sind auch aufgebracht, und jetzt haben wir außerdem noch gehörig Angst.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Rabbi. Aber woher nehmen Sie die Überzeugung, dass sie von diesem Mann ermordet wurde? Die Polizei hat einen Zeugen, einen anderen Nachbarn, der gesehen hat, wie der Verdächtige vom Tatort floh. Ein junger Schwarzer.«
»Und Sie glauben das?«, fragte Irving Silver gereizt.
»Ein Augenzeuge«, entgegnete Winter betont. »Er ist dem Mann bis zu der Gasse hinter dem Grundstück gefolgt.«
Der Rabbi schüttelte den Kopf. »Ich bin durcheinander, Mr.Winter, und das macht mir offenbar nur noch mehr Angst. Mr.Stein meint, er sieht den Schattenmann, und wenig später ist er tot. Ein Selbstmord. Sophie meint, sie sieht den Schattenmann, und wenig später ist sie tot, von einem unbekannten Schwarzen ermordet. Das ist für mich ein Rätsel, Mr.Winter. Sie sind der Detective. Sagen Sie’s uns: Kann ein solch merkwürdiges Zusammenspiel Zufall sein?«
Simon Winter ließ sich mit der Antwort Zeit. »Rabbi, ich war viele Jahre Ermittler beim Morddezernat …«
»Ja, ja, aber beantworten Sie die Frage!«, fuhr ihm Irving Silver dazwischen. Er machte schon den Mund auf, um noch etwas zu sagen, doch Frieda Kroner stieß ihm den Ellbogen in die Rippen.
»Fall dem Mann doch nicht ins Wort!«, flüsterte sie barsch.
Winter ließ erst einmal Stille einkehren, um sich seine Antwort gut zu überlegen.
»Ich will es einmal so sagen. Zufälle dieser Art kommen vor. Aberwitzige, unglaubliche Zufälle sogar. Alle Ermittler können von Fällen erzählen, die niemand auch nur ansatzweise hätte ahnen können. Bei der Arbeit im Morddezernat sind solche Dinge vielleicht nicht gerade an der Tagesordnung, aber doch durchaus vertraut. Andererseits gibt es für die überwältigende Mehrzahl der Tötungsdelikte vollkommen normale, eindeutige Erklärungen. Daher ist es wichtig, zunächst einmal nach den einfachen Antworten zu suchen, die sich im Allgemeinen als richtig erweisen.«
»Damit wollen Sie also sagen …«, schaltete sich Irving Silver ein.
»Lass ihn ausreden!«, wiederholte Frieda Kroner gereizt und knuffte ihn erneut in die Seite. »Du unhöflicher alter Stiesel!«, wies sie ihn zurecht.
»Danke, Mrs.Kroner, aber eigentlich war ich fertig.«
Der Rabbi nickte. »Sie meinen also, ja, es könnte genau so gewesen sein, wie es aussieht. Ein Selbstmord. Ein Mord durch einen Junkie.«
»Richtig.«
Wieder herrschte beredtes Schweigen.
»Haben Sie sich persönlich eine Meinung gebildet, Mr.Winter?«, fragte Frieda Kroner.
»Ich habe Fragen, Mrs.Kroner«, erwiderte Simon Winter. »Und ich glaube, es ist sinnvoll, die Zweifel ernst zu nehmen, wenn es so viele gibt. Egal, wie Sophie und Mr.Stein gestorben sind, es wird für Sie drei wohl schwierig sein, ein normales Leben zu führen, wenn Sie die ganze Zeit fürchten müssen, dass Ihnen dieser Kerl auf Schritt und Tritt folgt. Falls er tatsächlich noch lebt.«
Sie nickte, ebenso der Rabbi.
»Ich bin immer noch entschlossen, mir eine Waffe zu besorgen«, murmelte Irving Silver.
Sie schwiegen. Winter beobachtete, wie sich in Irving Silvers Augenwinkeln Tränen bildeten, während der Mann langsam, fast unmerklich den Kopf schüttelte, als wollte er all die bösen Gedanken, die sich hartnäckig bei ihm festgesetzt hatten, vertreiben.
Der Rabbi beugte sich vor und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch seinen zerzausten, dichten Haarschopf. Er blies die Backen auf und ließ die Luft langsam durch die geschürzten Lippen entweichen. Dann sah er zu Simon Winter auf. »Sie werden uns helfen, Mr.Winter?«
Winter spürte plötzlich eine unbeugsame Härte. Er blickte in die drei Gesichter der älteren Menschen und erinnerte sich an die zitternde Hand seiner Nachbarin auf seinem Arm, als er seinen eigenen Tod unterbrochen hatte, um sie hereinzulassen. Ein verstohlener Blick offenbarte eine ähnliche Tätowierung am Unterarm des Rabbi, und es stand zu vermuten, dass sich unter Mrs.Kroners üppigem weißen Pullover wie unter Mr. Silvers losem karierten Hemd ein ebensolches Mal verbarg. Ich habe ihr meine Hilfe versprochen, musste er denken, aber ich kam zu spät. Ihm wurde bewusst, dass dieses Versprechen für ihn immer noch galt, und so antwortete er: »Ich will es versuchen, Rabbi. Ich kann nicht sagen, was ich wirklich tun kann …«
»Sie wissen Dinge, von denen wir keine Ahnung haben. Eine Menge Dinge.«
»Es ist lange her.«
»Vergisst man solche Dinge jemals? Diese Techniken?«
»Nein.«
»Dann können Sie uns auch helfen.«
»Ich hoffe.«
Die drei Freunde tauschten kurze Blicke.
»Ich glaube, wir sind auf Hilfe angewiesen«, sagte Mrs.Kroner. »Vielleicht mehr, als wir offen zugeben mögen, Mr.Winter.«
»Ich will trotzdem eine Waffe«, beharrte Irving Silver. »Hätten wir damals Waffen gehabt …«
»Dann hätten uns die Nazis auf der Stelle erschossen!«
»Vielleicht wäre das am besten gewesen.«
»Wie kannst du so was sagen, du alter Dummkopf! Wir haben überlebt! Und aus diesem Grund kann es nicht in Vergessenheit geraten!«
»Mag ja sein, dass die Welt es nicht vergessen hat, aber was hat sie daraus gelernt?«
Irving Silver und Frieda Kroner funkelten einander an. Der Rabbi seufzte.
»So sind sie oft«, erklärte er Winter. »So waren wir alle mal, in jungen Jahren, als wir in diese monströsen Ereignisse hineingerieten, und jetzt streiten wir uns. Sogar die Historiker. Aber wir waren da, und wir haben etwas am eigenen Leib erfahren, das vielleicht den Rahmen der Geschichte sprengt.«
»Er auch …«, warf Irving Silver ein.
Der Rabbi sah die anderen schweigend an.
»Stimmt. Er gehörte ebenso dazu wie alle anderen, die entweder starben oder überlebten.«
»Und er hat es auch nicht vergessen«, fügte Irving Silver hinzu.
»Richtig, das glaube ich auch.«
Frieda Kroner betupfte sich mit einer Serviette die Augenwinkel. »Falls er hier ist …«
»Und uns findet …«, stimmte Silver ein.
»Dann wird er uns wohl töten.«
Simon Winter erhob die Hand. »Aber wieso? Und wieso sollte er Sophie oder diesen Mr. Stein getötet haben? Das haben Sie mir noch nicht erklärt.«
Kaum war ihm die Frage herausgerutscht, merkte Winter, dass er an etwas rührte, das tief in der Vergangenheit wurzelte – ein düsterer Winkel im Gedächtnis der Betroffenen, mit dunklen Rändern um einen pechschwarzen Abgrund.
»Weil wir«, sagte der Rabbi nach einer Weile, »weil wir die Einzigen sind, die ihn erkennen und enttarnen können.«
»Ihn zur Rechenschaft ziehen können«, flüsterte Frieda Kroner.
»Falls er denn hier ist! Ich glaube das einfach nicht! Ich glaube nichts von alledem!« Irving Silver schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie. Die anderen sahen ihn streng an, doch Winter meldete sich zu Wort.
»Aber falls er doch hier wäre, dann würden Sie ihn erkennen?«
Irving Silver brauchte einige Sekunden für seine Antwort. Der alte Detective sah, wie sich seine Brust heftig hob und senkte und er um Atem rang, während er mit der Frage kämpfte.
»Ja«, brachte Silver schließlich heraus. »Auch ich habe sein Gesicht gesehen. Nur für wenige Sekunden. Er hat meinem Bruder und mir Geld abgenommen …«
»Bei mir war es mein Vater«, erklärte der Rabbi ruhig. »Er hat meinen Vater erkannt, als wir in der Straßenbahn saßen. Mein Vater hat mein Gesicht abgewendet, aber ich habe ihn trotzdem gesehen. Ich war noch so klein.«
Frieda Kroner schüttelte den Kopf. »Das war ich auch. So wie der Rabbi und Sophie, fast noch ein Kind. Er hat uns im Park gestellt. Es war Frühling, die Stadt lag schon in Trümmern, überall Tote, aber trotzdem war es Frühling, und ich entsinne mich, dass so viele Menschen hinausströmten und den strahlend schönen Tag genossen, also sind meine Mutter und ich ebenfalls rausgegangen, weil es auch wichtig war, sich so zu benehmen wie alle anderen. Vor dem Krieg nannten sie es Führerwetter, als ob Hitler über den Himmel herrschte!«
Wieder legte sich beklemmendes Schweigen über den Raum.
»Es fällt nicht leicht, über diese Dinge zu reden«, meinte der Rabbi.
Simon Winter nickte bedächtig. »Ja, aber wenn ich Ihnen helfen soll, muss ich wohl noch mehr erfahren.«
»Das leuchtet ein.«
»Und es gibt da etwas, das ich nicht verstehe.«
»Was denn, Mr.Winter?«
»Welchen Grund hätte er, Sie umzubringen? Wieso versteckt er sich nicht einfach? Das wäre doch nicht schwer. Er ginge kein Risiko ein. Wieso verschwindet er nicht einfach?«
»Das kann ich beantworten«, erwiderte Frieda Kroner prompt.
Winter wandte sich ihr zu.
»Weil er den Tod liebt, Mr.Winter.«
Die anderen beiden nickten.
»Wissen Sie, er unterschied sich von den anderen und machte uns solche Angst, weil er das, was er tat, nicht etwa machte, weil er den Nazis ihre Lüge abkaufte, sie würden ihn verschonen! Er hat es auch nicht getan, um seine Familie zu schützen – das war noch so eine Entschuldigung, die uns zu Ohren kam. Er hat es getan, weil er es genoss.«
Sie zitterte plötzlich heftig.
»Und weil er besser darin war als irgendjemand sonst.«
»Die Iranische Straße«, fügte Rabbi Rubinstein hinzu. Diesmal erhob er nicht die Stimme, sondern sprach leise und in hartem Ton. »Der jüdische Fahndungsdienst. Von da aus hat die Gestapo die Greifer überwacht, die ihrerseits nach uns Ausschau hielten.«
»Sie haben ihre Sterne abgemacht«, berichtete Irving Silver. »Und dann haben sie uns zur Strecke gebracht.«
»Wissen Sie, in Berlin, da hat Himmler höchst persönlich im Radio versprochen, die Stadt würde judenfrei!«, sagte der Rabbi und wurde nun doch etwas lauter. »Aber das war sie nicht! Zu keinem Zeitpunkt! Als die Russen kamen, lebten immer noch tausendfünfhundert von uns irgendwo in den Trümmern versteckt. Tausendfünfhundert von ursprünglich einmal hundertfünfzigtausend! Aber wir waren immer noch da, als die Panzer hereindonnerten und die Nazis mitsamt ihrer verbrannten Erde untergingen. Niemals war Berlin judenfrei! Niemals. Und wenn auch nur ein Einziger von uns übrig geblieben wäre, so wäre es nicht judenfrei gewesen!«
Simon Winter nickte. »Aber dieser Mann …«
»Der Schattenmann«, nahm Frieda Kroner hastig den Faden auf, »verwischte seine Spuren besser als jeder andere Greifer. Das Gerücht machte die Runde, wer sein Gesicht zu sehen bekäme, sei so gut wie tot. Wer seine Stimme zu hören bekäme, sei praktisch tot. Wen er berührte, sei tot …«
Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Im Keller der Haftanstalt Plötzensee – ein schrecklicher Ort, Mr.Winter. Ein Ort, an dem qualvolle Todesarten die Regel waren und die Nazis sogar noch schlimmere erfanden. Folterbänke und Fleischerhaken und Guillotinen und Garotten, Mr.Winter.«
»Es hieß, seine Augen seien die letzten, die man lebend zu sehen bekäme«, erklärte Irving Silver in ausdruckslosem Ton. »Sein Atem an der Wange wäre die letzte Erinnerung, die man mit hinübernähme.«
»Woher wussten Sie das?«
»Ein Wort hier, eine aufgeschnappte Unterhaltung dort«, sagte Frieda Kroner. »Es machte die Runde. Die Leute redeten. Ein Ladenbesitzer mit einem Kunden. Ein Polizist mit einem Vermieter. Ein Gesprächsfetzen, den man im Park oder in der Straßenbahn aufschnappte. Und dann haben es die Mütter ihren Töchtern erzählt, so wie meine mir. Väter ihren Söhnen. Auf diese Weise erfuhren wir alle vom Schattenmann.« Sie atmete langsam aus, als bereitete ihr jedes Wort zu diesem Thema Qualen.
»Aber Sie drei. Und Mr. Stein. Und Sophie. Sie haben alle überlebt …«
»Wir hatten Glück«, meinte der Rabbi. »Zufall? Unterlaufene Fehler? Die Nazis waren so effizient, Mr.Winter, dass sie uns aus heutiger Sicht manchmal wie ›Übermenschen‹ erscheinen. Dabei waren so viele von ihnen kleine, erbärmliche Bürohengste! Und so kamen eben manche von uns aus diesem Keller heraus, um im Güterzug in den Tod zu fahren.«
Bei diesem Stichwort schluchzte Irving Silver auf.
Sie drehten sich alle zu ihm um und sahen, dass seine Augen gerötet waren und er die Hand auf den Mund gepresst hielt, damit es nicht wie eine Sturzflut aus ihm hervorbrach. Er atmete wieder schwer und rang nach Luft.
»Mein Bruder«, würgte er hinter der geballten Faust hervor, »kam in den Keller.«
Die anderen schwiegen.
»Ach, der arme Martin«, stöhnte Irving Silver. »Mein armer Bruder Martin.«
Nach einer Weile wanderte sein Blick zu den Übrigen.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Die Erinnerung tut so weh, aber wir müssen uns erinnern.«
Irving Silver atmete tief durch.
»Wir erinnern uns und der Schattenmann auch. Er muss geglaubt haben, er hätte uns längst getötet, und nun wird er es erneut versuchen. Wir waren alle noch halbe Kinder, Mr.Winter, und das war wohl auch der Grund, weshalb wir ihm entkamen. Mein älterer Bruder war für ihn eine Bedrohung, also …«
»So wie mein Vater …«, murmelte der Rabbi.
»Und meine Mutter«, fügte Frieda Kroner hinzu.
»Das kann Sie alles eigentlich nicht überraschen, Mr.Winter«, meinte der Rabbi. »Wie Frieda schon sagte. Wenn wir keinen Frieden kennen, weil in uns die Erinnerung weiterlebt, wieso sollte es bei ihm anders sein?«
Irving Silver ergriff Frieda Kroners Hand und drückte sie fest. Sie nickte.
Simon Winter hatte das Gefühl, als erfasste ihn eine gewaltige Strömung und zöge ihn ins tiefe Meer, immer weiter von der Küste fort. Alle Ermittler, dachte er, greifen bei ihrer Arbeit auf ihr Gedächtnis zurück. Ein Verbrechen ähnelt dem anderen. Ein drittes nimmt das vierte vorweg. Selbst bei den außergewöhnlichsten Fällen gibt es Verbindungslinien: ein Motiv wie etwa Gier; eine Waffe, sei es ein Messer oder eine Pistole; Indizien: Fingerabdrücke, Blutspuren, Haar- oder Faserproben, was auch immer. Und alle diese Fäden bilden ein Grundmuster des Verbrechens. Aber das hier, die Dinge, von denen die drei alten Menschen sprachen, gehörten einer Kategorie von Verbrechen an, die jeder Beschreibung spottete.
Er hatte nicht gleich eine Antwort zur Hand. Das Schweigen zog sich hin.
»Ich denke, ich sollte noch mehr über diesen Mann erfahren. Wer war er? Irgendjemand muss doch gewusst haben, wie er hieß; woher er kam. Jemand muss seine Familie gekannt haben …«
Frieda Kroner überlegte nur kurz. »Niemand konnte sich für irgendetwas, das er über ihn wusste, verbürgen. Er war anders als die anderen.«
»Er war anders, in der Tat«, bestätigte der Rabbi leise. »Er war wie ein Messer im Dunkeln. Die anderen, sehen Sie, die kannte man. Wenn der Greifer einen kannte, dann kannte man umgekehrt wahrscheinlich auch den Greifer. Vielleicht aus der Synagoge, dem Wohnhaus oder dem Wartezimmer beim Arzt, vom Schulhof, egal woher, aus der Zeit, bevor die Rassengesetze eingeführt wurden. Wenn man also die Augen offen hielt, dann war man ihnen vielleicht immer, nun ja, eine Nasenlänge voraus. Man musste sich aufs Untertauchen verstehen. Oder ein guter Läufer sein. Oder sie bestechen. Sie waren Verräter, aber einige von ihnen waren selbst gegen Ende nicht ganz und gar verroht …«
Der Rabbi atmete langsam aus.
»Aber keiner wusste, wer er war. Es kam einem so vor, als hätten die Nazis diesen Golem einfach erfunden. Ein Gespenst.«
»Und können Sie ihn beschreiben?«
»Er war groß, so wie Sie …«, fing Frieda Kroner an, doch Irving Silver schüttelte den Kopf und winkte ab.
»Nein, Frieda, nein. Er war klein, wie ein Frettchen. Und älter. Erwachsener …«
»Nein«, unterbrach ihn der Rabbi gereizt. »Er muss jung gewesen sein, sonst hätte er nicht überlebt. Jung und kräftig, ehrgeizig und gerissen.«
Sie sahen einander an und verfielen in Schweigen.
»Jung, wie wir damals waren«, sagte der Rabbi, »kann uns die Erinnerung heute Streiche spielen …«
»Ich war klein, wie Sophie«, erzählte Frieda Kroner. »In meinen Augen sahen alle Männer groß aus.«
»Mein armer Bruder Martin war trotz allem groß und stark, und so war für mich jeder, der nicht an ihn herankam, klein …«
»Wissen Sie, Mr.Winter«, erklärte der Rabbi, »der Schattenmann war besser als irgendjemand bei der Gestapo. Er war wie ein Gespenst. Wo er in Erscheinung trat, herrschte Dunkel, selbst am Tage. Wie ein … wie nennt man das noch gleich, Irving?«
»Ein Irrlicht.«
»Und wir alle wussten«, fuhr der Rabbi kalt fort, »dass man sich nicht mehr verstecken konnte, wenn er einen erst mal aufgespürt hatte.«
»Aber konnte man ihn denn nicht bestechen?«
»Ja und nein«, erwiderte Irving Silver. »Vielleicht hörte man plötzlich in einer dunklen Gasse eine Stimme, und man versprach ihm Geld und händigte ihm alles aus. Doch dann kam die Gestapo trotzdem; derjenige, den der Schattenmann berührt hatte, kam in den Keller und seine ganze Familie auf den nächsten Zug ins KZ. Er verwischte seine Spuren. Fand er einen, dann war es, als würde man vom Erdboden verschluckt.«
Frieda Kroner schnappte nach Luft. Unter einer plötzlichen Erinnerung zitterte sie heftig, doch als die anderen sie ansahen, hob sie die Hand und brachte kein Wort heraus.
»Aber Sophie. Sie drei. Mr.Stein. Einerseits sagen Sie …«
»Fehler, Irrtümer«, nahm ihm der Rabbi das Wort aus dem Mund. »Niemand sollte überleben, aber manche sind eben doch davongekommen. Das war ein Fehler. Und jetzt, fünfzig Jahre danach – werden diese Fehler nicht gerade ausgemerzt?«
Irving Silver bebte, und Frieda Kroner tupfte sich die Augen.
Simon Winter nickte. Es fiel ihm schwer, die Angst dieser Menschen nachzuvollziehen, doch sie war mit Händen zu greifen. Einen Moment lang sah er sich all die einfachen, gewöhnlichen Dinge an, die sich über das Zimmer breiteten. Eine große Menora aus Messing. Fotos von Freunden und Familienmitgliedern. Ein fein gesticktes Tischtuch. Doch all dies schien in eine Dunstglocke der Erinnerungen gehüllt.
Rabbi Rubinstein sackte schwer in seinen Sessel zurück. »Es ist nicht einfach, sich all das als alter Mensch ins Gedächtnis zu rufen«, gestand er ein. »Es reißt die alten Wunden wieder auf.« Er seufzte. »Ich hatte vergessen, wie es ist, gejagt zu werden.«
Die anderen nickten.
Simon Winter hatte den Impuls, dem Mann die Hand auf den Arm zu legen, doch stattdessen sagte er wohlüberlegt: »Eines verstehe ich immer noch nicht: Wieso sollte dieser Mann ausgerechnet hier sein? In Miami Beach, wo es überdurchschnittlich viele Überlebende gibt? Muss er hier nicht mehr als irgendwo sonst damit rechnen, erkannt zu werden? Wieso ist er nicht in Argentinien oder Rumänien oder an irgendeinem anderen sichereren Ort?«
Irving Silver schüttelte den Kopf. »Hier ist er am sichersten.«
»Wie das?«
»Sie verstehen das nicht, Detective Winter«, erklärte Rabbi Rubinstein, der langsam begann und mit jedem Satz schneller wurde: »Der Schattenmann war kein Nazi! Er gehörte nicht der Gestapo an! Auch nicht der SS! Er war Jude wie wir! Für ihn gab es keine Organisation wie Odessa, keine Gruppe wie das Eiserne Kreuz, die ihn nach dem Krieg in Sicherheit und in die Freiheit brachte! Er war ganz auf sich gestellt!«
»Aber es muss Organisationen gegeben haben. Das Rote Kreuz. Gruppen, die Vertriebenen halfen …«
»Selbstverständlich! So bin ich hergekommen.«
»Ich auch«, sagte Frieda Kroner.
»Ich nicht. Bei mir waren es entfernte Verwandte«, erzählte Irving Silver. »Aber wer hätte schon dem Schattenmann geholfen? Nicht die Russen. Die hätten ihn erschossen. Peng! Ohne Prozess. Wer also dann?«
»Sagen Sie es mir«, konterte Simon Winter.
»Sein eigenes Volk. Dieselben Leute, die er ans Messer geliefert hatte«, antwortete Silver.
»Allerdings natürlich nicht, wenn sie wussten, wer er war, richtig?«
»Richtig.«
»Wurden nicht die Kapos in den KZs an die Behörden ausgeliefert?«, fragte Silver.
Rabbi Rubinstein nickte. »Aber er muss um die Gefahr gewusst haben«, fügte er hinzu.
»Also: Was hat er wohl gemacht?«
Die drei alten Menschen sahen sich an. Einen Moment lang horchte Winter auf den Atem der drei. Es kam ihm so vor, als sprächen sie, stritten sie sich über die Frage, doch nicht mit Worten und Gesten, sondern indem sie ihre Vorstellungskraft vereinten und am Ende zu einer gemeinsamen Antwort fänden.
Der Rabbi wischte sich langsam mit der Hand übers Gesicht. »Er musste zu einem von uns werden. Einem Überlebenden.«
Frieda Kroner nickte. »Natürlich – wie sonst?«
»Aber wie konnte er so tun als ob?«
Irving Silver runzelte die Stirn. »Er war der Schattenmann! Er konnte tun und lassen, was er wollte!«
»Aber …« Winter zögerte. »… Es muss noch andere wie ihn gegeben haben. Und die wurden gefasst.«
»Meinen Sie? Keinen wie ihn. Ich glaube nicht.«
»Aber wieso hier?«
»Weil wir sein Volk sind!«
»Niemand kannte uns besser als er! Das war sein Erfolgsgeheimnis. Wieso also sollte er Angst vor uns haben?«
Rabbi Rubinstein erhob sich und nahm dabei den Band Die Vernichtung der europäischen Juden vom Tisch. Steins Brief flatterte zu Boden, doch niemand bückte sich danach. Der Wälzer lag schwankend auf seinen Händen. Er schlug ihn nicht auf, und Winter wurde klar, dass der alte Rabbi den Inhalt auswendig kannte.
»Vergegenwärtigen Sie sich die Zeit«, begann er, »eine Zeit der Auflösungserscheinungen und Verkommenheit. Die Schoah, Detective, war wie eine gewaltige Maschinerie mit dem alleinigen Zweck, die Juden zu vernichten. Aber um diese Aufgabe, wie sie es nannten – in sämtlichen Reden, ihrer Propaganda, ihren Schriften sprachen sie immer wieder von der ›monumentalen Aufgabe‹, vor die sie gestellt seien –, um diese Aufgabe zu bewältigen, benötigten sie Hilfe. Alle mögliche Hilfe, von allen Seiten …«
»Vom Papst, der sie nicht verurteilte …«, sagte Irving Silver.
»Von den Alliierten, die ihre KZs oder die Eisenbahnschienen nach Dachau und Auschwitz nicht bombardierten …«, fügte Frieda Kroner hinzu.
»Von den nicht-jüdischen Völkern, den Polen und Tschechen, Rumänen und Italienern, Franzosen und den Deutschen, die zusahen und sie gewähren ließen. Streng genommen, Detective, bekamen sie auf die eine oder andere Weise Hilfe aus aller Welt. Sogar von einigen aus eben dem Volk, das sie vernichten wollten.«
Simon Winter saß ruhig da und hörte zu.
»Jetzt vergegenwärtigen Sie sich Auschwitz, Detective. Wenn die Nazis ihre Selektion vorgenommen hatten, musste jemand die Türen zu den Gaskammern schließen, und hinterher musste jemand die Leichen entfernen. Jemand musste das Feuer in den Öfen schüren, und jemand musste dafür sorgen, dass das ganze Räderwerk reibungslos lief. Oft genug waren diese Jemands wir selbst.«
Der Rabbi sank wieder in seinen Sessel und hielt das Buch auf dem Schoß.
»Wir haben ihnen geholfen, sehen Sie? Indem wir einfach nur lebten, indem wir alles taten, um am Leben zu bleiben, halfen wir ihnen perverserweise, die Maschinerie in Gang zu halten …«
Er sah Mrs.Kroner und Mr.Silver an.
»Hätte es etwas Rechtschaffeneres, Moralischeres geben können, im Angesicht des abgrundtief Bösen einfach zu sterben, Detective? Das sind Fragen, die den Philosophen keine Ruhe lassen. Ich bin nur ein alter Rabbi.«
Er legte eine Pause ein, in der nur sein schwerer Atem zu hören war, dann sprach er weiter.
»Es ist der schiere Wahnsinn – alles daran, Detective. Und sehen Sie sich die Welt an, in der wir heute leben. An manchen Tagen erscheint es einem so fern und liegt so weit zurück, dass man sich fragt, ob es tatsächlich passiert ist, aber dann wieder, nun ja, dann wissen Sie auf einmal, dass es greifbar nahe ist, immer noch lebendig, genauso abgründig böse und entsetzlich, und es wartet nur darauf, wieder aufzuerstehen.«
»Der Schattenmann war der Schlimmste von uns allen«, fuhr der Rabbi nach einem kurzen Moment fort. »Er war schlimmer als die Nazis. Sogar schlimmer als diese seltsam bösen Dinge, über die Mr.King so gerne schreibt.«
»Und jetzt ist er hier mitten unter uns«, fügte Irving Silver hinzu. »Wie eine ansteckende Krankheit.«
»Haben wir nicht immer jemanden wie den Schattenmann unter uns?«, überlegte der Rabbiner laut. Der Satz verhallte unbeantwortet im Raum.
»Können Sie ihn finden, Detective?«, fragte Frieda Kroner leise.
»Ich weiß es nicht.«
»Werden Sie es versuchen?«
»Falls er hier ist. Falls das, was Sie sagen, stimmt …«
»Werden Sie nach ihm suchen, Mr.Winter?«
Simon Winter fühlte plötzlich, wie sich als Echo auf die Frage in seiner Brust eine tiefe Traurigkeit ausbreitete. Die Antwort stieg aus dieser Dunkelheit herauf.
»Ja. Ich werde ihn suchen.«
»Gut«, meinte Frieda Kroner. »Dann werde ich Ihnen helfen, Mr.Winter.«
»Ich auch«, stimmte Irving Silver ein.
»Selbstverständlich bin ich auch dabei«, schloss sich Rabbi Rubinstein an. »Wir werden tun, was wir können.«
Frieda Kroner nickte, dann beugte sie sich vor und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein. Simon Winter sah zu, wie sie einen großen Schluck von der schwarzen Flüssigkeit nahm und die bittere Brühe ihren Körper durchfließen ließ. Sie lächelte, doch auf eine kalte Weise. »Gut. Und wenn Sie ihn mit unserer Hilfe finden, Detective, dann werden Sie ihn töten.«
»Frieda!«, rief Rabbi Rubinstein. »Überlegen Sie, was Sie da sagen! Unsere Religion spricht von Vergebung und Verständnis. Das waren von jeher unsere Prinzipien.«
»Das mag ja so sein, Rabbi. Aber mein Herz spricht für all jene, die er verraten hat und die gestorben sind. Denken Sie zuerst an die, Rabbi, und dann predigen Sie mir Vergebung.«
Sie wandte sich an Simon Winter.
»Ich würde lieber von Gerechtigkeit sprechen«, erklärte sie. »Finden Sie ihn und töten Sie ihn.«
Irving Silver beugte sich vor. »Ich werde helfen. Ich werde alles tun, was ich kann. Aber Frieda hat recht. Finden und töten Sie ihn, Mr.Winter.« Er holte tief Luft und fügte hinzu: »Für meinen geliebten Bruder Martin. Und meine Eltern und alle meine Vettern und Cousinen …«
Frieda Kroner stimmte leise ein: »Und meine Schwester und ihren Mann und meine zwei kleinen Nichten und meine Großeltern und meine Mutter, die sich solche Mühe gegeben hat, mich und all die anderen zu retten …«
Simon Winter blieb stumm. Er spähte zum Rabbi, der die anderen beiden ansah. Er bemerkte, wie sich die Hand des Rabbi um das Buch auf seinem Schoß krallte.
Irving Silver nahm kein Blatt vor den Mund. »Töten Sie ihn, Detective. Dann gibt es einen Alptraum weniger in der Welt. Töten Sie ihn.«
Und da nickte auch der Rabbi.