17

Wie von einem anderen Stern

Nachdem die beiden alten Leute ihm eine Stunde lang eine Geschichte erzählt hatten, die selbst für den hartgesottenen Ermittler der Mordkommission in ihm kaum zu fassen war, gebot Walter Robinson ihrem Bericht mit einer stummen Geste Einhalt. Er merkte, dass er eine Atempause brauchte, einen Moment, um das Gehörte zu verdauen, und so schlug er vor, ihnen allen Kaffee oder etwas Kaltes zu trinken zu bringen.

Frieda Kroner sah finster in die Runde. »Wir trinken Kaffee, während er plant!«, sagte sie ärgerlich.

»Ich denke, wir sollten weitermachen«, meinte auch Rabbi Rubinstein.

Robinson warf Simon Winter, der seit ihrer Rückkehr ins Morddezernat Miami Beach kaum etwas zu der Unterredung beigesteuert hatte, einen Blick zu. Der alte Detective winkte dankend ab, doch als Robinson ihn weiter vielsagend ansah, fiel der Groschen, und er begriff, dass der Jüngere ihn um Hilfe bat. Also überlegte er es sich und bat: »Vielleicht eine Limonade.«

Als er sich zu Wort meldete, fuhren Frieda Kroner und der Rabbi in ihren Sesseln herum. Frieda Kroner runzelte die Stirn und wollte etwas sagen, doch der Rabbi brachte sie diplomatisch zum Schweigen, bevor ihr die Worte über die Lippen kamen. »Vielleicht einen Kaffee, mit Milch und Zucker«, schlug er vor, und die alte Frau neben ihm nickte widerstrebend. »Zwei Stück Zucker«, murmelte sie, »um mir das Leben wieder zu versüßen.«

»Alles klar«, meinte Walter Robinson. »Fünf Minuten. Bin gleich wieder da.«

Er ließ sie alle in einem der Verhörzimmer sitzen und trat zielstrebig in den Flur. Ihn erfasste eine Woge der Erschöpfung, und er lehnte sich an eine Wand und schloss die Augen. Er wollte seine Vorstellungskraft ausschalten, merkte aber, dass ihm das nicht gelang. Eine schwindelerregende Sekunde lang fragte er sich, wie es gewesen sein musste, in einen Viehwaggon gepfercht zu werden und vom Gewicht der Nachbarn kaum noch Luft zu bekommen. Arbeit macht frei, musste er plötzlich denken. Er öffnete die Augen und keuchte wie ein Mann am Ende eines langen Dauerlaufs.

Vom anderen Ende des Flurs drang das Weinen einer jungen Frau herüber. Er war für die Ablenkung dankbar. Es war der langgedehnte Laut eines Menschen, der langsam, aber unaufhaltsam in den Abgrund der Verzweiflung gleitet, keine Agonie, sondern dumpfe Trauer. Er kannte den Fall; eine einundzwanzigjährige Mutter hatte ihre drei kleinen Kinder, das älteste fünf, unbeaufsichtigt in ihrer kleinen Wohnung zurückgelassen, während sie im Laden um die Ecke Windeln und Lebensmittel einkaufte. Sie stammte aus Nicaragua und war erst seit wenigen Monaten im Land – das heißt, gerade lang genug für ihren Mann, sich davonzustehlen, und nicht lange genug, um Freunde zu finden, die ihr mit Babysitten aushelfen konnten. Das Rattenloch, in dem sie wohnte, tauchte gewiss auf keinem der idyllischen Fotos der Touristeninformation auf, die lieber mit dem unbeschwerten, sonnengebräunten Miami Beach kokettierte. An den Fenstern zur Wohnung der jungen Frau fehlten die Fliegengitter, und die Klimaanlage funktionierte nicht, so dass sie, wenn sie geöffnet waren, die Hitze des Tages hereinließen. Während sie einkaufen ging, war der Dreijährige aus dem Kinderbettchen geklettert, in das sie ihn gesteckt hatte, und auf die Fensterbank gekraxelt, um ein wenig frische Luft zu bekommen oder nur mit der Neugier eines Kindes zu sehen, woher der Straßenlärm kam. In schwindelnder Höhe hatte er das Gleichgewicht verloren und war kopfüber aus dem zweiten Stock des Wohngebäudes gestürzt. Genau in dem Moment, als seine Mutter zurückkehrte, war er auf dem Zement des Bürgersteigs aufgeschlagen, so dass sie mitansehen musste, wie ihr Kind dem Pflaster entgegenraste und mit einem grässlichen knirschenden Geräusch fast genau vor ihren Füßen landete.

In dem Moment hatte sie geschrien, jedoch seit ihrer Ankunft im Präsidium außer einem gelegentlichen Hilferuf an Santa Maria, Madre del Dios, kein Wort mehr gesprochen, sondern sich an ihren Rosenkranz geklammert.

Walter Robinson stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. Die junge Frau begreift das alles nicht, dachte er. Sie versteht kaum diesen Tod, sie versteht dieses Land nicht, und sie würde vermutlich ohnehin nicht viel verstehen, weil sie arm, ungebildet und allein ist, und ganz gewiss versteht sie nicht, weshalb die policía ihr die anderen beiden Kinder weggenommen hat und dabei ist, sie wegen Fahrlässigkeit anzuzeigen. Schließlich war sie auf dem Weg zum Lebensmittelladen, um ihnen von ihren letzten Dollars Milch zu kaufen, weil sie die Kinder liebte.

Er löste sich von der Wand und verdrängte das Schluchzen der Frau in das allgemeine Hintergrundgeräusch, das alle Polizeireviere kennzeichnet, auch die modernen, mit Teppichboden und in die Decke eingelassenen Leuchten. Es war traurig, aber die Norm, und er wusste, dass niemand, der eine Uniform oder eine Dienstmarke trug, diese Traurigkeiten allzu nah an sich heranlassen durfte, auch wenn jede vermutlich irgendwo in der Psyche einen Kratzer hinterließ. Er setzte sich energisch in Bewegung und bremste seine Schritte nur einmal, als sich die Tür zu einem anderen Verhörzimmer öffnete und in einem Gerangel zwei Detectives mit einem Jugendlichen in Handschellen herausstürzten.

»Komm schon, tougher Bursche«, befahl einer der Beamten, doch der Teenager mit dem von Akne vernarbten Gesicht und den langen Schnittlauchlocken sowie einem Tattoo auf dem beachtlichen Bizeps, das einer Heavy-Metal-Band huldigte, dachte nicht daran, der Anweisung zu folgen, sondern rammte sich erneut in die beiden Polizisten. Alle drei taumelten in einem einzigen Knäuel zu Boden.

Als Robinson rasch hinübereilte, gab es einen kurzen Ringkampf der drei Akteure.

Der Jugendliche versuchte, nach den Detectives zu treten. Die Männer ihrerseits rollten sich mit eingeübten Griffen auf den Tatverdächtigen und hatten ihn augenblicklich unter Kontrolle. Die Szene erinnerte Robinson an einen Streit zwischen Brüdern, bei dem die älteren sich auf den jüngeren setzen, bis er sich nicht mehr wehrt.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Robinson fast beiläufig.

»Äh, nein, nicht nötig, Walt«, erwiderte einer der Kollegen, während er sich in aller Seelenruhe bückte, ein Büschel langer, schwarzer Haare packte und dem Jungen das Gesicht fest auf den Boden schlug.

»Scheiß Bullenarschloch!«, brüllte der Junge.

Der Polizist wiederholte die Aktion.

»Wichser!«

Der zweite Beamte manövrierte sich herum, stieß dem Teenager ein Knie in den Rücken und verdrehte ihm brutal die Arme.

»Das hast du ja wenigstens nicht vermasselt«, brachte er eher irritiert als wütend mit zusammengepressten Zähnen heraus.

»Sicher, dass ihr keine Unterstützung braucht?«, erkundigte sich Robinson erneut.

»Für diesen kümmerlichen Schwanzlutscher bestimmt nicht«, erwiderte der Detective.

»Leck mich!«, schrie der Junge. Doch als er immer wieder mit dem Gesicht auf den Boden krachte, dämpfte das schnell seine Kampflust. »Leckt mich beide!«, brachte er zwischen den Schlägen heraus.

»Worum geht’s?«, fragte Robinson.

»Der Kleine hat sich bei ’nem Drogendeal übers Ohr hauen lassen. Gott, und was für ein großartiger Deal! Crack im Wert von fünfzig Mäusen. Geht nach Hause, schnappt sich aus Daddys Nachtschrank ’ne Neun-Millimeter und macht sich auf die Suche nach dem Typen, der ihn über den Tisch gezogen hat. Er schießt den Jungen auf offener Straße in den Kopf, direkt vor der Miami Beach High, bei Schulschluss. Eine Freizeitbeschäftigung der besonderen Art, wie? Hat ’ne richtige Show abgezogen, so was wie Miami Vice aus den Achtzigern, minus schicke Klamotten und angesagte Frisuren, minus Rennboote und schnelle Schlitten. Dafür hat er echtes Blut verspritzt. Wegen fünfzig Mäusen, du Vollidiot.« Bei jedem Wort des letzten Satzes hatte der Detective den Kopf des Jungen im Takt zu seinen Gefühlen auf den Boden gestoßen.

»Und du siehst nicht wie Don Johnson aus«, stellte Walter Robinson fest.

Der Detective, ein junger Mann, zuckte grinsend mit den Achseln: »Jeder wie er kann.«

Der Teenager sackte zusammen. Die beiden Polizisten zerrten ihn hoch, und der Junge knurrte: »Fickt euch, Scheißbullen.« Als er den Kopf an die Wand lehnte, quoll ihm ein leuchtend roter Blutstrahl aus der Nase und lief über Lippe und Kinn. »Ihr habt mir die scheiß Nase gebrochen!«, heulte er. »Drecksäcke!«

»Nein, haben wir nicht«, antwortete der Detective ruhig. »Das war der Boden.«

»Fickt euch«, wiederholte der Junge, als der ältere Beamte über die hinterhältige Bemerkung des jüngeren lachte.

»Kannst du dir nicht mal was Neues einfallen lassen, Arschloch?«, beklagte sich der ältere Detective sarkastisch. »Ich meine, Dumpfbacke, kapierst du nicht, dass uns schon genug Leute gesagt haben, wir sollen uns ficken, praktisch im Minutentakt oder zumindest einmal die Stunde, und das tagein, tagaus, so dass wir es uns nicht mehr fürchterlich zu Herzen nehmen? Ich meine, als Beleidigung zieht das einfach nicht. Also, wie wär’s mal mit was Cleverem? Zeig mal, was du auf dem Kasten hast, sei originell, Dumpfbacke. Sag was, das uns so richtig trifft. Gönn uns den Spaß.«

»Fickt euch«, antwortete der erstaunte Teenager.

Der ältere Detective wandte sich an Walter Robinson. »Da kommt man über die junge Generation echt ins Grübeln, Walt, was?« Er grinste. »Zu viel Fernsehen. Schlägt aufs Hirn. Zu viel laute Musik. Stumpft die Sinne ab. Stimmt’s, Dumpfbacke?«

»Fick dich«, wiederholte der Junge sein Mantra.

»Siehst du, was ich meine?«, sagte der Detective. Er ruckte noch einmal an den verdrehten Armen des Verdächtigen.

»Aauu!«, brüllte der Junge. »Fick dich! Ich krieg trotzdem nur Jugendstrafe, Arschloch.«

»Für vorsätzlichen Mord? Träum weiter, Kleiner«, erwiderte der Detective. Dann setzte er sich mit dem Kollegen in Bewegung, indem sie den Delinquenten Richtung Fahrstuhl halb schoben und halb zogen, um ihn in eine Verwahrzelle zu bringen, in der er ein paar Stunden schmoren würde, während die Beamten den unvermeidlichen Papierkram erledigten.

Der zweite Detective blieb einen Moment neben Robinson stehen, um sich die Kampfspuren vom Anzug zu wischen. Während er sich mit den Händen über den Stoff strich, flüsterte er: »Der kleine Mistkerl hat vermutlich auch noch recht. Der Junge, auf den er geschossen hat, liegt im Koma, kommt aber wahrscheinlich durch, auch wenn er von jetzt an nicht gerade ein allzu tolles Leben vor sich hat, und wir müssen die Anklage auf versuchten Mord und schwere Körperverletzung mit einer tödlichen Waffe runterstufen. In was für einer Welt leben wir eigentlich, Walt, he? Baller gleich los, wenn dir einer fünfzig Mäuse schuldet, macht ja nix, denn irgendein Richter sagt dir dann: ›Du unartiger Lümmel, tu das bitte ja nicht wieder …‹ Na ja, wir werden den Richter wenigstens zu überreden versuchen, ihn nicht nach Jugendstrafrecht zu verknacken. Nur dass er gerade mal sechzehn ist. Shit. Sechzehn, aber sonst in jeder Hinsicht sechsundzwanzig.« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er seinem Partner und dem Tatverdächtigen hinterher.

Walter Robinson sah dem Trio nach, bis es verschwand, und dachte: Das hier begreife ich. Ein alleingelassenes Baby, das von der Fensterbank fällt, ein Teenager, der jemanden zu erschießen versucht und damit rechnet, billig davonzukommen – das waren Alltagsbegebenheiten. An diesen Verbrechen oder tragischen Ereignissen war nichts Schockierendes, Einmaliges oder auch nur ansatzweise Außergewöhnliches. So was passiert eben. Morgen würden erneut ganz ähnliche Dinge passieren. Der Detective starrte auf die Tür zu dem Verhörzimmer, in dem die beiden alten Überlebenden und ein betagter Polizist auf seine Rückkehr mit Erfrischungsgetränken und Kaffee warteten, damit sie ihm weiter eine Geschichte erzählen konnten, die von so viel Hass und abgründig Bösem zeugte, dass es seine Vorstellungskraft überstieg. Ihm war bewusst, dass ihm sein eigener Erfahrungshorizont kein bisschen dabei helfen konnte, auch nur ein einziges Wort davon zu ermessen. Er wusste nur, dass er in ein mörderisches System gestürzt worden war, das selbst ihn tief verunsicherte, und einen Moment lang fragte er sich, ob vielleicht irgendwo am Rande jeder Lebensgeschichte ein Schattenmann lauerte.

Er stellte sich die schonungslose Frage: Wie findet man einen Kriminellen, der kein Krimineller im üblichen Sinne ist?

Gute Frage, dachte er, ohne zu wissen, dass sie sich auch Simon Winter wenige Tage davor gestellt hatte.

Wie findest du diesen Mann?

Stelle fest, wo er einen Fehler begangen hat. Irgendwo muss er einen gemacht haben.

Wie stößt man auf diesen Fehler?

Versetze dich in diesen Mann, versuche, den Schattenmann zu begreifen, und du bekommst heraus, wo ihm ein Irrtum unterlaufen ist.

Hineinversetzen? Was ist das für ein Mensch, der auf diese Weise hasst?

Bei dieser Frage stieß Walter Robinson mit einem leisen Pfeifen die Luft aus. Er hatte keine Ahnung, hoffte allerdings, dass die alten Menschen, die im Verhörzimmer auf ihn warteten, ihm dabei helfen würden.

Er schüttelte den Kopf. Du denkst zu viel, sagte er sich. Er versuchte, alles abzuschütteln, und eilte zu seinem Schreibtisch.

Er wusste nur, dass er unbedingt einen bestimmten Anruf machen wollte.

 

Espy Martinez griff nach dem Hörer, bevor das erste Klingelzeichen verklungen war. »Ja?«

»Espy …«

»Walter, mein Gott, ich hab die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen …«

»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich war an einem Tatort, und jetzt habe ich diese Leute in einem Verhörzimmer sitzen.«

Er verstummte, und beide schwiegen eine Weile.

»Ich wollte mit dir reden«, gestand er ein. »Einfach nur reden.«

Sie lachte, und es schwang Erleichterung mit. »Das wäre schön. Einfach nur über dich und mich zu reden. Über uns. Oder auch das Wetter …«

»Es ist verdammt heiß …«

»Oder was hältst du von Sport? Geht der Wimpel diese Saison an die Dolphins?«

Er grinste. »Gute Idee, aber die falsche Sportart.«

»Na schön, wie wär’s mit der Zukunft?«

»Unsere Zukunft? Oder Leroy Jeffersons?«

»Gute Frage. Leroy Fucking Jefferson.«

Walter Robinson schmunzelte. »Du klingst ja schon wie ein Cop. Vielleicht sollten wir ihn Leroy F. Jefferson nennen. Oder auch F. Leroy Jefferson, hat mehr Klasse.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ist wohl unvermeidlich. Erst die Arbeit … Ich habe mich mit Alter und seinem entzückenden Klienten getroffen. Was für ein reizender Kerl, dieser Mr. Jefferson. Kontaktfreudig, angenehme Umgangsformen. Da bekommt man so richtig Zutrauen in die Welt, in der wir leben.«

»So schlimm?«

»Tja, weißt du was? Weißt du, was er ist? Leroy F. Jefferson, der Augenzeuge

»Er hat den Mord gesehen? Er war da?«

»Ja. Und als der brave Bürger, der er gerne sein will, hat er anschließend ganz schnell die arme Sophie Millstein beraubt. Bevor die Leiche kalt war.«

»Du lieber Himmel, was für …«

»Im Ernst. Problem ist nur, der Mörder war …«

»Ein alter weißer Mann«, platzte Robinson heraus.

»Woher weißt du …«

»Ich glaube«, meinte Robinson gedehnt, »du kommst besser rüber und hörst dir an, was die Leute zu sagen haben, die bei mir im Verhörzimmer sitzen.«

»Woher – ich glaube, ich komme nicht ganz mit. Aber ich bin gleich da.«

»Am Tatort habe ich in der Mordnacht einen älteren Mann getroffen. Einen Nachbarn. Er hat mir erzählt, sie hätte Angst gehabt. Vor jemandem, den sie vor fünfzig Jahren gekannt hatte – ein halbes Jahrhundert her und in einer anderen Welt. Ich hab ihn zunächst einfach ignoriert, statt auf ihn zu hören. Also bin ich, nachdem der Lügendetektorbericht auf dem Tisch war, wieder ins Büro und hab meine alten Notizen durchgesehen. Da hatte ich seinen Namen vermerkt und, na ja, es mag vielleicht ziemlich abwegig klingen, aber kann sein, dass ihre Angst nicht unbegründet war, verdammt!«

»Was?«

»Das ist zwar nicht die erste Regel für einen Mordermittler, sollte es aber sein.«

»Was denn?«

»Jedem zuzuhören und nichts gleich beiseitezuwischen, nur weil es zunächst nicht ins Bild passt, denn vielleicht tut es das am Ende doch.«

Martinez war aufgeregt. »Heißt das, du hast eine Spur? Etwas, das uns weiterführt? Ich würde Alter und Jefferson liebend gerne sagen, sie sollen sich zum Teufel scheren.«

»Mach dir keine allzu großen Hoffnungen, Espy. Wir haben hier ein paar ziemlich verängstigte ältere Menschen und einen unerhörten Typ von Mörder. Unerhört und beispiellos.«

An dieser Stelle verstummte er, weil ihm der Kopf zu sehr schwirrte. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Aber wenn Leroy F. Jefferson ihn gesehen hat, verflucht, das wär immerhin was. Ein Anfang.«

Espy Martinez stand von ihrem Schreibtisch auf. »Gut, bin schon unterwegs.«

»Großartig, beeil dich, diese alten Leute könnten müde werden.«

»Und hinterher …«

Walter Robinson schmunzelte und sagte in veränderter Tonlage: »Na ja, danach können wir den Fall diskutieren, oder vielleicht hast du eine bessere Idee. Wenn ich mich recht entsinne, geriet unsere letzte Diskussion des Falls ziemlich, nun ja, gesellig. Aber wenn du lieber übers Wetter reden möchtest, also, ich bin dabei, wer weiß, wohin uns das führen mag.«

Martinez wurde rot und grinste. Sie legte auf, stopfte eilig ein paar Unterlagen in ihre Aktentasche und eilte aus dem Büro. Es war schon spät und kaum noch ein Kollege oder eine Sekretärin im Gebäude. Sie sprang die hohen Stufen der bereits stillstehenden Rolltreppen hinunter, lief an leeren, dunklen Sitzungssälen vorbei, winkte dem Wachmann an der Eingangstür zu, der nur mit einem Auge von den Hochglanzseiten des Penthouse aufsah; so selbstvergessen starrte er auf die dort dargebotenen Brüste und Genitalien, dass er für jeden Besucher als Student durchgegangen wäre, der fürs Examen büffelt. Draußen erwartete sie die aufgestaute Hitze und das künstliche Licht der abendlichen Stadt. Ihr Eifer siegte über die gewohnte diffuse Angst, und so eilte sie entschlossen und in dem Hochgefühl zu ihrem Wagen, um wenn auch noch keine Lösungen, so doch die ersten bruchstückhaften Antworten auf ein weites Feld von Fragen zu bekommen.

 

Simon Winter sah schweigend zu, wie der Rabbi und Frieda Kroner der jungen Frau von der Staatsanwaltschaft zuliebe ihre Geschichte noch einmal geduldig wiederholten. Ihm entging nicht, wie Espy Martinez und Walter Robinson gelegentlich Blicke tauschten, aus denen mehr als rein berufliche Freundschaft sprach, doch das berührte ihn nicht weiter; vielmehr stellte er ganz sachlich fest, dass Espy Martinez an Schönheit der Tochter seines Vermieters in keiner Weise nachstand, und das erfüllte ihn nun doch mit ein wenig Neid. Er für seinen Teil hielt sich jedenfalls fast ganz aus der Unterhaltung heraus.

Als der Tod von Herman Stein zur Sprache kam, drehten sich die beiden alten Überlebenden zu ihm um, und er merkte, dass von ihm ein Kommentar erwartet wurde. Also sagte er: »Stein wurde ermordet.«

Walter Robinson schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ein abgeschlossener Fall von Selbstmord.«

»Er hat den Namen seiner Frau falsch geschrieben.«

»Aber er war zweifellos angespannt, deprimiert und voller Angst …«, fiel Espy Martinez ein.

Winter betrachtete sie eindringlich und suchte in ihrem Gesicht und ihren Augen nach Anzeichen für etwas, das über Jugend und Unerfahrenheit hinausging. »Ja, das war er allerdings.«

»Aber Sie glauben nicht, dass es diesen Fehler erklärt?«

»Auf gar keinen Fall; niemals.«

Martinez warf Robinson einen kurzen Blick zu, doch er hatte sich zurückgelehnt und das Kinn nachdenklich auf die Brust gesenkt, ohne Simon Winter aus den Augen zu lassen.

»Walter?«, fragte sie. »Was meinst du?«

»Ich glaube, Menschen machen ständig Fehler«, erwiderte er langsam. »Aber ich glaube nicht, dass Herman Stein in diesen Abschiedszeilen dieser Fehler unterlaufen ist, es sei denn, mit voller Absicht.«

Frieda Kroner schlug lautstark mit der flachen Hand auf den Holztisch des Verhörzimmers. Es klang wie der Schuss aus einer Pistole. »Siehst du, hab ich doch gleich gesagt! Dann glauben Sie uns also, Mr. Junior-Detective? Ihnen wird klar, womit wir es hier zu tun haben?«

»Ich höre Ihnen aufmerksam zu«, erwiderte Robinson ruhig.

Dabei überschlugen sich in seinem Kopf die Gedanken, und eine beklemmende Ahnung drängte wie eine Sturzflut gegen einen Damm. Er versuchte, sich auf die beiden alten Leute zu konzentrieren und den bösen Verdacht zu unterdrücken, doch die diffuse Furcht schlug zu hohe Wellen, als dass er sie auf Dauer würde bändigen können.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Winter ruhig. »Das ist mir auch gerade in den Sinn gekommen.«

Robinson wandte sich dem älteren Kollegen zu und musterte den Ausdruck in seinem Gesicht. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, dass Winters Vermutung stimmte. Ihn hatte genau im selben Moment derselbe entsetzliche Gedanke wie ein Blitz getroffen. Als Robinson Simon Winter zunickte, war es, als knüpften sie ein unsichtbares Band oder besiegelten eine stumme Abmachung mit einem Handschlag.

»Was meinen Sie?«, fragte Espy Martinez.

»Lass es mich später erklären«, antwortete Robinson. »Bitte.« Er deutete auf den Rabbi und Frieda Kroner. »Bitte erzählen Sie weiter.«

Doch der Rabbi protestierte. »Was haben Sie auf einmal? Da ist doch was im Busch!« Er sah von Robinson zu Winter und wieder zu Robinson. »Da ist gerade was passiert, und ich möchte wissen, was.«

Einen Moment lang schwiegen alle im Raum.

Von irgendwo anders im Polizeipräsidium drangen Schreie durch die schallgedämmten Wände, verhallten jedoch schnell. Der Rabbi verschränkte die Arme vor der Brust und erwartete eine Antwort auf seine Frage. Kaum sah Frieda Kroner die Geste, klatschte sie erneut auf den Tisch.

»Mr.Winter, Detective Robinson, was ist?«, fragte sie in forderndem Ton. »Ich mag ja alt sein, aber angesichts meiner Lebenserfahrung muss man mich nicht wie ein Kind behandeln, das man mit kleinen Lügen beschwichtigt oder dem man bestimmte Dinge vorenthält. Also bitte! Wenn es was mit der armen Sophie oder Mr. Stein und jetzt auch noch meinem lieben Irving zu tun hat, dann will ich es auf der Stelle wissen!«

»Frieda hat vollkommen recht«, stimmte der Rabbi energisch ein. »Sie haben irgendetwas gesehen, vielleicht ein wenig Licht am Ende des Tunnels? Ich hoffe …«

Simon Winter schüttelte den Kopf. »Nein, ich wünschte, das wär es.« Er tauschte erneut einen Blick mit Walter Robinson und dann mit Espy Martinez, die verwirrt schien.

»Walter, was zum Teufel geht hier vor?«, fragte sie. »Habe ich was verpasst?«

Robinson zuckte mit den Achseln und lächelte, allerdings ohne eine Spur von Freude. »Das war nur so was von Ermittler zu Ermittler. Es hat klick gemacht, eine Erkenntnis. Mr.Winter und ich …«

»… haben im selben Moment dasselbe begriffen«, führte Winter den Satz zu Ende.

»Und was, wenn ich fragen darf?«, hakte Rabbi Rubinstein nach.

Simon Winter sah Robinson kurz an. Dann wandte er sich an den Rabbi und an Mrs.Kroner. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich hätte das von Anfang an sehen müssen, aber ich bin nicht mehr so auf Draht wie früher. Tut mir leid.«

Der Rabbi tat die Bemerkung mit einer ungeduldigen Geste ab. »Mr.Winter, raus damit!«

»Herman Stein stirbt in einem geschlossenen Raum. Sophie stirbt, und die Polizei macht sich augenblicklich auf die Suche nach dem Junkie, der sie ermordet zu haben scheint. Irving Silver geht ins Wasser, so sieht es jedenfalls aus. Und wir alle denken, Sie beide sind die Nächsten. Doch Detective Robinson kommt plötzlich ein Gedanke – und deshalb kann er auf seinem Stuhl kaum noch still sitzen und merkt vielleicht, wie ihm der Schweiß im Nacken steht und wie sich sein Magen zusammenkrampft – ihm kommt der Gedanke, dass vielleicht, nur vielleicht, Herman Stein nicht das erste Opfer war. Habe ich recht, Detective?«

Walter Robinson nickte ernst. »Sprechen Sie weiter«, bat er leise.

Espy Martinez legte sich unwillkürlich die Hand auf den Mund, ohne zu merken, dass es die klassische Überraschungsgeste Hunderter von Hollywood-Schauspielerinnen war.

Frieda Kroners Züge sackten in sich zusammen.

Rabbi Rubinstein ruckte auf seinem Stuhl zurück, als ginge es um jeden Zentimeter Distanz zu dem, was Simon Winter gerade gesagt hatte.

»Sehen Sie, dem Detective kam folgende Überlegung: Wieso fängt dieser Mann erst jetzt zu morden an? Die Antwort liegt auf der Hand: Das tut er nicht.«

Winter sah in die Runde, bis sein Blick auf den beiden alten Menschen ruhte. »Was meinen Sie? Könnte es sein, dass Sie zwei die letzten Berliner sind, die vom Schattenmann wissen? Oder könnte es noch andere geben, die Sie nicht kennen? Halten Sie es für möglich, dass es mal zwanzig gab? Oder auch hundertzwanzig? Eintausendzwanzig? Wie viele haben den Keller überlebt? Den Transport in den Viehwaggons? Das KZ? Um es auf verschlungenen Wegen bis hierher zu schaffen? Wie viele Menschen könnten ihn irgendwo in einer schmalen Gasse, im Gestapo-Hauptquartier, in einer Straßenbahn oder bei einem Bombenangriff im Bunker wenn auch noch so kurz gesehen haben? Meinen Sie nicht, dass er seit dem letzten Schuss, der im Krieg gefallen ist, an all die Gesichter gedacht und Angst bekommen hat, dass dieser oder jener Überlebende ihn enttarnen könnte? Und wozu würde ihn das bringen?«

Die anderen verspürten keine Neigung, die Antwort in Worte zu kleiden, und so blieb die Runde stumm.

Simon Winter wandte sich an Walter Robinson. »Fasst das mehr oder weniger Ihre Überlegungen zusammen?«

Er nickte. »Ziemlich genau. Nur dass es noch schlimmer sein könnte.«

»Noch schlimmer?«, fragte Espy Martinez. »Inwiefern?«

»Nehmen wir mal an, dass dieser Schattenmann existiert und dass er, sagen wir, dreimal seine Mordpläne in die Tat umgesetzt hat. Aber war’s das? Wie viele noch? Über wie viele Jahre? An wie vielen Orten? Hat er sich letztes Jahr nach Miami Beach zurückgezogen oder vor fünfundzwanzig Jahren? Wo hat er sich aufgehalten und wie viele Menschen haben ihr Leben gelassen? Wir wissen nichts, abgesehen von dem, was er vor fünfzig Jahren war – in Berlin, mitten im Krieg –, und selbst für jenen Zeitpunkt haben wir keinen Namen, keine sonstige Identifizierung, keine Fingerabdrücke oder besonderen Merkmale. Wir haben nur die Erinnerungen dieser Menschen. Erinnerungen von Kindern oder Jugendlichen an Momente der Angst und des Schreckens, in denen sie für Sekunden jemanden gesehen haben. Wie können wir die Gegenwart mit der Vergangenheit zusammenbringen?«

Espy Martinez holte tief Luft. »Ich weiß, wie«, sagte sie leise.

Alle anderen fuhren zu ihr herum.

»Mr.Leroy Fucking Jefferson«, erklärte sie.

 

Frieda Kroner brauchte eine Weile, bis sie sich gefasst hatte. »Das ist aber ein ungewöhnlicher Name …«

Erst jetzt merkte Espy Martinez, dass sie die Obszönität in den Namen eingefügt hatte, ohne an die empfindlicheren Ohren älterer Menschen zu denken, die anders als praktisch jedes Mitglied des Strafrechtssystems nicht so selbstverständlich mit Kraftausdrücken um sich warfen. Sie entschuldigte sich augenblicklich.

»Tut mir leid, Mrs.Kroner. Bei Leroy Jefferson handelt es sich um den Mann, den Detective Robinson ursprünglich des Mordes an Sophie Millstein verdächtigt hat. Offenbar war er in ihrer Wohnung – oder in deren unmittelbarer Nähe – und hat beobachtet, wie dieser Schattenmann hineingegangen ist und das Verbrechen begangen hat.«

»Demnach«, erwiderte der Rabbi bedächtig, »kann uns dieser Jefferson sagen, wie der Schattenmann heute aussieht. Er kann ihn beschreiben?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Phantombild«, schlug Winter vor. »Ein Phantombildzeichner könnte mit ihm arbeiten und uns ein aktuelles Bild liefern. Das wäre ein Anfang. Hat er noch mehr Informationen zu bieten? Ein besonderes Merkmal vielleicht?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Martinez. »Noch nicht. Der Preis für Mr.Jeffersons Kooperation ist hoch.«

»Wie hoch?«, unterbrach Robinson sie.

»Kein Stuhl, kein Bau.«

»Mist!«, murmelte der Detective.

»Verzeihung«, sagte Frieda Kroner. »Lehnt er einen Rollstuhl ab? Und Treppen?«

»Er möchte, dass sämtliche Klagen gegen ihn fallengelassen werden. Er will das Gericht als freier Mann verlassen.«

»Ach so, verstehe. Und das ist ein Problem?«

Espy Martinez nickte. »Er hat einen Polizisten angeschossen.«

»Wenn er so was tut, muss er ein schlimmer Mensch sein«, vermutete sie.

»Sie sagen es«, bestätigte Martinez.

In Simon Winters Kopf arbeitete es. »Wenn wir ein gutes Bild von ihm hätten, also, etwas, das ihm einigermaßen ähnlich sieht …«

Martinez drehte sich zu ihm um. »Ja? Was ist mit diesem Bild?«

»Nun ja, zunächst einmal würde es dem Rabbi und Mrs.Kroner helfen. Sie wären besser gewappnet. Sie würden nicht dasitzen und einfach darauf hoffen müssen, dass sie einen Mann wiedererkennen, den sie vor fünfzig Jahren nur für Sekunden gesehen haben. Sie würden wissen, wie der Mann, der sie verfolgt, inzwischen aussieht. Das wäre ein Riesenvorteil. Er hätte nicht mehr alle Trümpfe in der Hand.«

»Das stimmt«, pflichtete Mrs.Kroner bei. »Wir wären ihm nicht ganz so hilflos ausgeliefert.«

»Und außerdem kommt mir da noch die eine oder andere Idee«, fügte Simon Winter hinzu.

»Ich glaube, ich weiß, was Sie denken«, meinte Walter Robinson. »Sie denken, es gibt nur eine einzige Sache, vor der dieser Mann Angst hat und die ihn zu einer Kurzschlusshandlung verleiten könnte: seine Anonymität zu verlieren, richtig?«

Simon Winter nickte mit einem Lächeln. »Wir scheinen ähnlich zu denken.«

»Und«, fuhr Robinson fort, »wenn wir diese Anonymität in Gefahr bringen können, dann schaffen wir vielleicht noch etwas anderes.«

»Und das wäre?«, fragte Rabbi Rubinstein eifrig.

Simon Winter antwortete eiskalt für sie beide. »Ihm eine Falle zu stellen.«