19

Die Warnung des Engels

Das Spiel war aus, und Walter Robinson bestand darauf, Simon Winter zum Sunshine Arms zurückzufahren. So rollten sie gemächlich im Dienstwagen des Detective durch das Vergnügungsviertel von Miami Beach. Winter blickte immer wieder auf die kleine Rechnereinheit, die in der Mitte des Armaturenbretts installiert war, und sagte nach einer Weile mit einem schiefen Grinsen:

»Wenn ich dieses verdammte Ding sehe, fühle ich mich wirklich alt.«

Er blickte auf und betrachtete das nächtliche Treiben auf der Straße, das langsam an ihnen vorbeiglitt. Der ältere Detective seufzte.

»Was ist?«

»Schauen Sie sich das an. Sehen Sie, was da gerade passiert?«

Robinson blickte auf das dichte Gedränge weißer Limousinen und glänzender dunkler Luxuskarossen, die etwa in der Mitte eines Blocks in zwei Reihen vor einem Nachtclub parkten. Über dem Eingang des Clubs leuchtete bis zur vollen Höhe zweier Geschosse eine Palme aus lila und roten Neonröhren. Auf dem Bürgersteig drängte sich eine Traube Weißer und Latinos, soziale Aufsteiger Anfang bis Mitte zwanzig. Den MBA oder Juraabschlüsse in der Tasche, suchten sie auf dem Weg zu ihrem ersten richtigen Job ein wenig Zerstreuung und trafen hier auf den älteren, doch ewig jugendlichen Typ. Dazwischen tummelte sich vereinzelt eine Gattung, die es so nur in Miami zu geben schien, die Drogenkultur-Mitläufer, meist junge Männer, die sich wie Narcotrafficista benahmen: das grell bunte Hemd bis zur Taille aufgeknöpft, Goldkettchen um den Hals, dazu ein feiner Leinenanzug, als könnten sie damit die Realität ihres Lebens als Büroangestellte oder Buchhalter kaschieren.

Es war wie eine Maskerade, bei der jeder einen exotischen, reichen, herzlosen kolumbianischen Auftragskiller mimte, was natürlich den wenigen echten Exemplaren dieser Spezies dabei half, sich mit derselben Berufskleidung unerkannt unters Volk zu mischen. Die Frauen schienen im Allgemeinen hohe Stilettos und üppige Mähnen zu bevorzugen, bei der Kleidung Pailletten und Seide – Pfauen, so farbenprächtig wie das blinkende Emblem über der Tür. Als Simon Winter und Walter Robinson vorüber glitten, vibrierte der Wagen unter den schweren Bässen des Rock ’n’ Roll mit lateinamerikanischem Einschlag.

»Was sehen Sie, Senior?«, fragte Robinson, und Winter begriff sofort, dass er das Wort benutzte, um ihn zu foppen.

Also antwortete er in gespielt gereiztem Ton mit dünner Fistelstimme: »Was ich sehe, junger Mann, ist, wie sich alles verändert. Auf der einen Straßenseite die Broadway Delicatessen. Da gab’s mal die beste Hühnersuppe von ganz Miami Beach. Wahrscheinlich immer noch. Daneben einen Lebensmittelladen, wo alte Leute wie ich frisches Obst und Fleisch einkaufen, das nicht einen Monat lang Frostbeulen bekommen hat. Da kennen sie einen mit Namen, und wenn man mal ein bisschen knapp bei Kasse ist, dann schreiben sie an, bis die Rente auf dem Konto ist.«

Simon Winter schwieg und fuhr in normalem Ton fort: »In ein, zwei Jahren gibt es die nicht mehr, was meinen Sie? Der Nachtclub ist angesagt, das bedeutet Konkurrenz, das Ladenlokal gegenüber ist plötzlich was wert, weil, wie Sie zweifellos wissen, Detective, ein neuer Dollar immer mehr wert zu sein scheint als ein alter.«

Robinson nickte. Er ließ den Blick über die Menge vor dem Nachtclub schweifen. Er sah, wie ein Rausschmeißer einen Radaubruder mit bezwingender Überredungskunst zur Raison brachte, einen Mann, dessen weißer Anzug bedeutend mehr gekostet haben dürfte, als ein Detective in der Woche verdiente. Er sah, dass Winter dasselbe Handgemenge verfolgte.

»Zu viel Kokain. Das Problem mit dem Zeug ist, dass es einen dazu bringt, sich unglaublich dumm zu benehmen und sich dabei unglaublich clever vorzukommen.«

Winter lachte. Sie fuhren weiter, bis die belebten Bürgersteige nur noch im Rückspiegel aufschienen. Simon Winter machte Robinson Zeichen, umzudrehen.

»Falsche Richtung«, meinte der jüngere Mann, während er Winter trotzdem den Gefallen tat.

»Ich will nur was sehen«, meinte Winter. Im nächsten Moment wendeten sie erneut und fuhren parallel zum Strand und dem Meer dahinter. »Hab das immer geliebt«, sagte Winter bedächtig. »Je älter ich werde, desto mehr.«

»Was denn?«, fragte Robinson und versuchte, gleichzeitig zu fahren und an dem älteren Mann vorbei auf die Weite des Ozeans zu blicken.

»Egal, wie viele Hotels und Wohnblocks wir hochziehen, das Meer ist immer da. Dagegen kann keiner was machen. Können sie nicht aufschütten und nicht zubetonieren. Das gefällt mir. Mögen Sie das Meer, Detective?«

»Als Junge nicht, da hab ich es gehasst. Aber jetzt ist es anders.«

»Gut.«

Robinson nickte und bog erneut ab. In wenigen Minuten hatten sie das Sunshine Arms erreicht und hielten vor dem Eingang. Winter hatte schon die Hand am Türknauf, als er innehielt.

»Denken Sie an die Männer, die Sie verfolgen, Detective?«

»Manchmal schon. Aber meistens sind sie für mich eher ein Objekt als eine Persönlichkeit. Sie sind die Summe einer Reihe von Faktoren oder auch Beobachtungen. Sie sind eher so was wie Schlussfolgerungen als Menschen.«

»Also, mir sind die Bösen immer unter die Haut gegangen. Irgendwann waren sie kein Aktenzeichen mehr, sondern etwas vollkommen anderes. Und dann gab es immer den einen oder anderen, der was Besonderes wurde.«

»Und Sie nie losgelassen hat?«

»Niemals.«

»Kann nicht sagen, ob ich so einen schon mal hatte.«

»Wie viele ungelöste Fälle haben Sie?«

»Hab den Überblick verloren, Mr.Winter. Scheinen sich immer mehr aufzutürmen. Dabei liegt meine Aufklärungsquote höher als bei sämtlichen Kollegen in der Abteilung.«

Simon Winter schüttelte den Kopf. »Zu meinen Zeiten war jeder Mord bis zu einem gewissen Grad was Besonderes.«

»Das war einmal.«

»Was halten Sie vom Schattenmann?«

»Kann ich noch nicht sagen. Es ist schwer, ein Gespür für ihn zu bekommen. So viel ist allerdings schon mal sicher: Er macht mich um einiges kribbeliger als irgendein Fall, an dem ich je gearbeitet habe. Sie kennen das ja: Normalerweise hat man eine verdammt klare Vorstellung davon, wonach man sucht, selbst wenn man noch keinen Namen und kein Gesicht hat. Man weiß trotzdem, was für ein Typ er ist. Charakterzüge, Psyche – was weiß ich –, das lässt sich einordnen, es bleibt im Rahmen des Normalen. Keine Überraschungen. Der Schattenmann scheint ein bisschen anders zu sein.«

Er hielt inne, korrigierte sich. »Nein, vollkommen anders.«

»Wieso jagen wir ihn dann, Walter?«

Es war das erste Mal, dass Simon Winter den Jüngeren beim Vornamen angesprochen hatte, und Robinson registrierte es.

»Weil wir glauben, dass er ein-, zwei-, vielleicht dreimal oder noch öfter getötet hat.«

»Serienmörder?«

»Also, nicht direkt. Jedenfalls entspricht er ganz gewiss nicht einem von den FBI-Profilen, die ich kenne. Aber mehrfacher Mord – ist das nicht ein triftiger Grund?«

»Es ist ein triftiger Grund, aber der falsche.«

»Würden Sie mir das erklären?«

»Es ist der falsche Grund. Sie sind dabei, weil es Ihr Beruf ist. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Ich bin dabei, weil er meine Nachbarin ermordet hat und ich mich ihr gegenüber in der Pflicht fühle und weil er vielleicht diese anderen beiden Menschen umbringen könnte, die nicht mal meine Freunde sind, denen ich aber ein Versprechen gegeben habe. Gleichwohl, alle diese Gründe sind auch nicht besser als Ihrer. Ich schätze, weder Sie noch ich, noch Ihre hübsche Freundin von der Staatsanwaltschaft werden je den besten Grund begreifen. Der Rabbi, der kennt ihn, und Frieda Kroner auch. Sehen Sie, wir können eine Leiche begreifen oder auch zwei oder von mir aus auch zwanzig und sagen: Da läuft ein Krimineller herum, den wir zur Strecke bringen müssen. Die beiden hingegen, wenn die den Schattenmann sehen, dann sehen sie Hunderte, Tausende, Millionen, die alle in den Tod gegangen sind. Sie sehen ihre Brüder und Mütter und Väter und Onkel, Tanten, Nichten, Neffen, Nachbarn, Freunde, Bekannten, einfach alle. Glauben Sie, dass diese Toten für uns je mehr als Zahlen sein werden? Aber für diese beiden sind sie etwas anderes, nicht wahr?«

Simon Winter öffnete die Tür und stieg aus. Dann drehte er sich noch einmal zu Walter Robinson um.

»Sie sollten alte Männer nicht über diese Dinge sinnieren lassen, macht die Sache nur noch komplizierter, was?«

Robinson nickte bedächtig. »Ich glaube«, erwiderte er, »dass wir beide diesen Mann schnappen sollten; dann können wir darüber nachdenken, was er getan hat.« Wieder schwieg er, bevor er hinzufügte: »Alles, was er getan hat.«

»Ja«, sagte Simon Winter. »Wir sollten ihn fassen.«

Er richtete sich auf und schloss die Tür. Als Robinson losfuhr, hob er die Hand zum Abschied. Simon Winter blieb stehen, bis die Rücklichter am Ende der Straße noch einmal aufblinkten und dann um die Ecke verschwanden. Er stand allein auf dem abendlichen Bürgersteig. Mit der feuchten Luft der Tropennacht stieg ihm ein schwerer Geruch in die Nase, als verdampfte irgendwo ein wenig Melasse oder Ahornsirup. Es hatte etwas Trügerisches. Die Wärme täuschte über die Gefahren der Dunkelheit hinweg. Er merkte, wie er auf einmal mit seiner Zielperson ein Zwiegespräch führte: Hast du deine beste, schlimmste Arbeit nach Sonnenuntergang in Angriff genommen? Ist das die Zeit, in der du immer so richtig gefährlich geworden bist? Bei Nacht sind die Menschen dir mehr als bei Tage ausgeliefert; war das die Zeit, in der du ihnen aufgelauert hast? In Nächten wie dieser?

Er gab sich selbst die Antwort: Ja.

Simon Winter horchte auf den fernen Verkehrslärm von der Straße, in den sich die Alltagsgeräusche aus seinem Wohnblock mischten: Fernseher, Musik, anonyme Stimmen, die sich bei einer Auseinandersetzung erhoben. Nirgends Kindergeschrei, wurde ihm bewusst. Nicht in diesem Teil der Stadt. Hier sind wir alle alt, und wir machen alte Geräusche.

Winter machte einen Schritt auf seine Wohnung zu, dann blieb er stehen und starrte auf den leeren Brunnen und den tanzenden Putto in der Mitte.

»Also«, sagte er laut, »was für eine Melodie hast du heute Abend für mich? Etwas Munteres, nehme ich an? Etwas, um mich aufzuheitern?«

Der Engel spielte ungerührt lautlos weiter.

»Na schön«, sprach Winter weiter. »Was hast du heute Abend gesehen? Irgendwas außer der Reihe? Etwas Ungewöhnliches?«

Er starrte dem Engel in die toten Augen, als rechnete er mit einer Antwort. So verharrte er ein paar Sekunden, dann drehte er sich ruckartig um und ließ den Blick über den ganzen Innenhof schweifen. Die Wohnung der ermordeten Sophie blieb dunkel, in den Fenstern der Kadoshs ein Stockwerk darüber schimmerte nur das bläuliche Licht des Fernsehers. Während er dort stand und hinüberspähte, ging das einzige Licht beim alten Finkel aus. Winter drehte sich weiter herum und fixierte seine eigene Wohnung. Die Dunkelheit, die ihm von drinnen entgegenschlug, schien so flüssig und in Bewegung wie das Meer, für dessen Anblick er gerade einen beachtlichen Weg auf sich genommen hatte. Langsam nahm er Stück für Stück den ganzen Hof in Augenschein und achtete dabei auf jeden Schatten, jede Form, jeden Winkel und Wandvorsprung.

Da ist nichts, sagte er sich.

Siehst du jetzt schon Gespenster?

Du bist allein und müde und solltest schlafen gehen.

Er machte einen Schritt, dann blieb er stehen.

Eine Nacht wie diese, musste er wieder denken.

Unwillkürlich atmete er heftig ein.

Aber er kennt mich doch nicht, beharrte Simon Winter. Er weiß nichts von mir, und schon gar nicht, dass ich nach ihm suche. Er glaubt, seine Feinde seien gebrechliche, alte Holocaust-Überlebende mit einem schwachen Gedächtnis und bruchstückhaften Erinnerungen. Auf die hat er es abgesehen. Nicht auf dich. Er hat keine Ahnung von dir.

Oder doch?

In diesem Moment merkte er, dass er unwillkürlich mit der rechten Hand an die linke Brust gegriffen hatte, als trüge er dort wie so viele Jahre lang noch seinen Dienstrevolver im Schulterholster.

Da ist nichts, und du bist allein, beharrte er, und du benimmst dich ziemlich albern. Dann korrigierte er sich: Man kann nicht vorsichtig genug sein. Schlimmstenfalls ist es dir hinterher peinlich, dass du deinen Instinkten aufgesessen bist, aber das ist es dann auch schon, und die Alternative wäre um einiges schlimmer.

Er ging einige Schritte weiter und hasste dabei das Geräusch, das seine Schuhe auf dem Bürgersteig machten. Wie ein Trommelwirbel, schimpfte er innerlich. Sei leise. Auf Zehenspitzen trat er auf den Grasstreifen neben dem Gehweg, um sich lautlos dem Gebäude zu nähern.

Vor dem Eingang blieb er stehen und ließ die Hand eine Weile über dem Türknauf schweben. Langsam zog er die Finger zurück.

Wenn du diese Tür aufmachst, hört er dich. Er erkennt das Geräusch und steht sprungbereit.

Er wird damit rechnen, dass du wie jeder andere müde alte Mann nach Hause kommst und nichts Eiligeres zu tun hast, als ins Bett zu gehen, um dir ein paar Stunden unruhigen Schlaf zu gönnen. Er wird damit rechnen, dass du mit einem Ruck die Eingangstür öffnest, im Vestibül ungeduldig mit deinem Schlüsselbund herumfuchtelst, deine Wohnung aufschließt und hereinpreschst.

Simon Winter trat von der Tür zurück und huschte in seinen eigenen Schatten. Er lehnte sich an die Seitenwand des Gebäudes und horchte angestrengt auf irgendein ungewöhnliches Geräusch, das ihm die Angst, die sich langsam, aber sicher wie eine Infektion in seinem Körper ausbreitete, bestätigte.

Also gut, dachte er. Wo würde er warten?

Im Hausflur? Nein. Da brennt Licht, und er kennt sich mit den Gewohnheiten der übrigen Bewohner nicht aus. Anders als im Haus von Herman Stein findet er hier kein Versteck.

Also drinnen?

Ja. Drinnen.

Wie wäre er reingekommen?

Das liegt auf der Hand: durch die Gartentür. Genau wie bei Sophie. Dasselbe ausgeleierte Schloss, das schon bei der leisesten Berührung mit einem Schraubenzieher nachgibt.

Und wenn er erst mal drin ist?

Simon Winter ging seine kleine Wohnung durch, führte sich ihren Grundriss vor Augen. Nicht in der Küche; der weiße Linoleumboden reflektiert das Licht von der Straße, es ist zu hell. Auch nicht im Bad, bietet nicht genügend Platz zum Manövrieren. Bleiben Wohn- und Schlafzimmer. Eins von beidem. Er überlegte angestrengt weiter, dann kam er zu dem Schluss: nicht das Schlafzimmer. Er wird damit rechnen, dass ich beim Betreten das Licht einschalte, und abgesehen vom begehbaren Kleiderschrank, der mit Kleidungsstücken, Schachteln und allem möglichen nutzlosen Zeug vollgestopft ist, leuchtete die Lampe jeden Winkel aus. Bleibt also nur das Wohnzimmer. Bietet das größtmögliche Überraschungsmoment.

Winter schlich sich behutsam und geräuschlos um das Gebäude herum nach hinten. Aus einer Wohnung ein Stück weiter weg hörte er das Kläffen eines Hundes. Als er um die Ecke war, ging er schneller voran. Von hier ab kann er mich nicht mehr hören, sagte sich Winter.

Er huschte am rückwärtigen Zaun entlang, indem er das schwache Licht aus dem angrenzenden Wohngebäude mied, und näherte sich geduckt der kleinen gefliesten Terrasse, die zu seinem Apartment gehörte. In der Nähe der Gasse hinter dem Zaun schepperte etwas in einer Mülltonne. Eine Katze, dachte er. Oder eine Ratte.

Während er sich anschlich, führte er in Gedanken mit seinem unsichtbaren Gegner ein Zwiegespräch: Was hast du dabei? Eine Handfeuerwaffe? Gut möglich. Etwas Kleines, Wirkungsvolles. Kaliber zweiundzwanzig oder fünfundzwanzig, typische Attentäterwaffe. Aber das Geräusch, das sie macht, kannst du nicht gebrauchen. Würde schnell auf dich aufmerksam machen, egal, wie leise sie dir erscheint. Das ist in Miami und in Miami Beach das Problem. Die Leute können einen Schuss von anderen Geräuschen unterscheiden. Niemand sagt: ›Was war das denn?‹ Oder: ›Das klang wie die Fehlzündung eines Autos.‹ Sie wissen, jemand hat geschossen. Also hast du die Waffe vielleicht nur zur Schau dabei, um jemandem zu drohen. Aber du möchtest keinen Gebrauch davon machen, nicht wahr? Lieber benutzt du wie bei Sophie deine Hände. Das gefällt dir, oder? Ihnen nahe zu sein, wenn sie sterben, stimmt’s? Du liebst die Geräusche der Sterbenden, den Gestank des Todes. Du liebst das Gefühl, wenn sie unter deinem Griff den letzten Atemzug machen. Als du sie damals Schulter an Schulter, Tränen an Tränen, dichtgedrängt in den Viehwaggons sahst, kann es nicht halb so befriedigend gewesen sein, aber da warst du noch jung und du begannst gerade erst zu ahnen, welche Allianz mit dem Mord du eingegangen warst. Damals hast du noch mit deinen Vorlieben experimentiert, nicht wahr?

Er hielt inne.

Aber ich bin zu groß, dachte er. Wenn du hergekommen bist, um mich zur Strecke zu bringen, dann weißt du zumindest, dass ich im Unterschied zu Sophie nicht klein wie ein Kind bin, und auch nicht so ältlich und nervös und verängstigt wie Herman Stein und Irving Silver. Nein, ich bin jemand, den du nicht richtig einschätzen kannst, und deshalb bist du auf der Hut – sobald du die Gelegenheit hast, agierst du schnell und effizient. Du wirst wissen wollen, aus welchem Grund ich dich jage, du wirst ein Dutzend, nein, hundert Fragen haben, doch wenn du die Wahl hast zwischen Informationen und der Beseitigung einer Bedrohung, entscheidest du dich für die glattere Lösung, nicht wahr?

Ein Messer.

Simon Winter nickte.

Wahrscheinlich bevorzugt er in diesem Fall ein Messer, das ist ihm lautlos genug. Das Blut und den Kampf schätzt er sicher nicht, denn er weiß, dass er in jeder Sekunde, die wir zusammen sind und in der er versucht, mir die Klinge ins Herz zu stoßen, belastendes Beweismaterial hinterlässt. Doch letztlich würde er das in Kauf nehmen, um die Bedrohung auszuräumen.

Winter merkte, wie sich zuerst sein Puls beschleunigte und dann wieder normalisierte, als er innerlich ruhig wurde.

Mit kühlem Kopf fuhr er in seiner Analyse fort.

Es ist also ein Messer. Er wird nicht zögern, es einzusetzen.

Winter schlich sich näher an die Terrasse an.

Aber damit hast du nicht gerechnet, oder? Du rechnest nicht damit, dass ich auf demselben Weg hereinkomme wie du, während du im Wohnzimmer in der Nähe der Tür auf mich wartest. Sie öffnet sich nach rechts, also gibt es, wenn sie aufgeht, links einen großen dunklen Winkel, in den das Licht aus dem Vestibül nicht dringt. Die Stelle hast du gesehen, hab ich recht? Auf den ersten Blick, und da finde ich dich, denn du denkst, dass ich dir ahnungslos direkt vor die Nase laufe und dich erst entdecke, wenn ich die Tür hinter mir schließe und mein Schicksal besiegle, weil ich das Messer erst sehe, wenn du es mir in den Solarplexus stößt und, so wie sie es dir einmal beigebracht haben, anschließend nach oben drehst. Das haben sie doch, nicht wahr? All diese Männer in schwarzen Uniformen vor so vielen Jahren. Stoß einmal zu und so, dass du triffst. Zieh das Opfer mit der Klinge an dich heran, damit es sich mit seinem eigenen Gewicht tiefer hineinbohrt und stirbt.

Nur ungefähr zwei Meter trennten ihn von der Glasschiebetür, und er ging in die Hocke.

Die Waffe liegt in der Schublade des Nachttischs. Ist er reingegangen und hat danach gesucht? Du verdammter alter Trottel, schimpfte er innerlich. Wie konntest du sie genau da lassen, wo jeder miese kleine Ganove oder Gelegenheitsdieb als Erstes nachsehen würde! Oder wartet er jetzt einfach nur auf dich?

Simon Winter kam zu dem Schluss, dass er das Risiko eingehen musste.

Die Terrassentür würde einen Höllenlärm machen, wenn er sie aufzog, doch dann konnte er mit einem einzigen großen Schritt die Küche durchqueren und sich seine Revolver holen. Wenigstens dieses kleine Überraschungsmoment hätte er auf seiner Seite, dachte er. Dann korrigierte er sich: Es sei denn, er hätte dich durchs Fenster beobachtet und gesehen, wie du im Hof gezögert hast.

Was dann?

Er wollte nicht daran denken. Er streckte langsam die Hand aus und berührte die Schiebetür. In einem hinteren Winkel seines Kopfes dachte er: Das ist der helle Wahnsinn – du bist allein. Doch die Tür bewegte sich. Er zog so leise daran, wie er konnte, und sie glitt ein paar Zentimeter zurück; das Schloss rasselte ein wenig, als der Rahmen sich auf der Gleitschiene bewegte. In einer Sekunde erkannte er, dass es aufgebrochen worden war, dann erhob er sich und riss die Tür so fest wie möglich auf. In einer einzigen fließenden Bewegung stürzte er durch die Küche Richtung Schlafzimmer, wo er seinen Revolver zu finden hoffte.

Aus dem Wohnzimmer, das links von ihm im Dunkeln lag, kam ein Knall, ein alarmierendes Krachen, das er auf dem Weg zu seiner Waffe ignorierte. Durch das Dunkel seiner Wohnung griff er nach seinem Nachttisch. Seine Hand ertastete den Knauf und zerrte so heftig an der Schublade, dass der Revolver mit einem dumpfen Laut an den Holzrahmen schlug. Er hatte das Gefühl, als fuchtelte er endlos lange herum, bis sich seine Finger um den vertrauten Gegenstand legten. Stolpernd wirbelte er herum und hockte sich mit dem Gesicht zur Tür und dem Dunkel dahinter auf den Boden. Mit beiden Händen brachte er die Waffe in Anschlag und horchte auf die eiligen Schritte des Angreifers.

Doch es blieb still.

Nur sein Atem, ein angespanntes Keuchen, hallte überlaut durch den Raum.

In seiner Eile hatte er die Leselampe umgeworfen, so dass der Schirm über den Boden gerollt war. Er tastete mit dem Fuß nach der Lampe, zog sie vorsichtig herüber und schaltete sie an.

Das Zimmer war lichtdurchflutet.

So wie ein Kapitän auf hoher See eine Sturmlaterne, reckte er die Lampe in die Höhe, während er langsam auf die Beine kam. Er blickte auf seinen eigenen, langgezogenen Schatten Richtung Wohnzimmer. Er stellte die Lampe ab und tastete sich zu den Wandschaltern vor. Erst jetzt sah er, dass aus dem Wohnzimmer ein dünner Lichtstrahl kam. Mit dem Rücken zur Wand tastete er sich, den Revolver schussbereit, den Abzug gespannt, weiter. Langsam und vorsichtig bewegte er sich – wie in alten Zeiten den Befehl ›Halt! Keine Bewegung!‹ auf der Zunge – um die Ecke. Doch im selben Moment sah er, dass sich seine Vorsicht erübrigte.

Als er auf den schmalen Lichtstreifen starrte, der aus der Eingangsdiele kam, atmete Simon Winter langsam aus. Die Wohnungstür stand ungefähr zwanzig Zentimeter weit offen.

Er machte einen Satz, um dem Mann durch die Nacht zu folgen, erkannte jedoch im nächsten Moment, dass er ihn nicht mehr einholen würde, und blieb stehen.

Er ließ die Luft zwischen den Zähnen entweichen.

Du hast also genau da auf mich gewartet, wo ich dich erwartet hatte.

Er schüttelte den Kopf. Für gar so clever hatte ich dich allerdings nicht gehalten. Oder für so flink.

Du hast das Geräusch hinter dir gehört, und statt erst einmal wie gelähmt dazustehen, hast du sofort gehandelt und dich gerettet.

Das fand der alte Detective beachtlich. Es gab nicht viele Menschen, die so ausgefuchst waren oder deren Selbsterhaltungstrieb so hervorragend funktionierte, dass sie beim ersten unerwarteten Geräusch die Flucht ergriffen. Die wenigsten waren so auf Draht.

Der Schattenmann schon.

Jetzt bist du also auf und davon. Und du bist ziemlich beunruhigt, nicht wahr? Weil du jetzt weißt, dass ich mich von Sophie und den anderen unterscheide. Ich ähnele eher dir ein bisschen, stimmt’s? Das wird dir wohl eine schlaflose Nacht bereiten, aber das nächste Mal bist du umso mehr auf der Hut. Und du wirst dir als Nächstes ein etwas leichteres Opfer suchen, sehe ich das richtig? Aber du wirst auch ein bisschen schwitzen – zum ersten Mal in wie vielen Jahren? So richtig schwitzen, denn jetzt weißt du, dass ich etwas über dich weiß, und das macht dir richtig Angst, nicht wahr? Andererseits wirst du dich damit beruhigen, dass du ja immer noch anonym bist, dass ich weder deinen Namen noch dein Gesicht kenne. Du wirst dir sagen, dass du letztlich vor mir sicher bist, und damit schläfst du ein. Denn du ahnst nicht, dass ich dabei bin, dir auch deine Anonymität zu nehmen.

Simon Winter nickte, als wollte er sich selbst gratulieren. Allmählich lerne ich dich kennen, bemerkte er stumm. Doch die Befriedigung währte nicht lange, denn ihm wurde klar, dass der Schattenmann jetzt genauso viel über ihn in Erfahrung gebracht hatte.

 

Als Walter Robinson an seinen Schreibtisch im Morddezernat zurückkehrte, warteten mehrere Nachrichten auf ihn. Er hörte sie hintereinander ab.

Ein paar hatten mit anderen ungelösten Fällen zu tun, für die er zuständig war. Eine kam von einem gewissen Mark Galin vom Miami Herald, doch er kannte den Reporter nicht, auch wenn er sich vage erinnern konnte, dessen Namenskürzel schon einmal unter einem Artikel gesehen zu haben. Doch es war schon spät, und die Einzige, die er zurückrufen würde, war Espy Martinez.

Sie klang müde, als sie sich meldete.

»Espy? Walter hier. Hast du schon geschlafen?«

»Nein«, log sie. »Na ja, vielleicht ein bisschen gedöst. Wo steckst du?«

»Im Büro. Tut mir leid. Ich hätte dich nicht wecken sollen.«

»Schon okay.« Sie rekelte sich wie eine Katze, die im obersten Fach eines Wandregals in der Nachmittagssonne erwacht. »Ich hab versucht, dich anzurufen. Wo warst du?«

»Rausgefahren, um unseren Mr. Winter ein bisschen besser kennenzulernen. Interessanter Mann.«

»Was auf dem Kasten?«

»Aber hallo! Du müsstest mal seine Personalakte sehen. Wimmelt nur so von Auszeichnungen und Belobigungen. Ich glaube, wir haben so was wie einen Plan. Und du?«

»Jefferson bekommt morgen seinen Deal. Ich mach’s so kurz und schmerzlos, wie ich kann, zackzack, damit ich nicht allzu lange mitansehen muss, wie sich Tommy Alter dafür auf die Schulter klopft, endlich mal jemanden zu vertreten, der lebendig nützlicher ist, als wenn er im Todestrakt vor sich hin vegetiert. Sobald wir die Absprache im Kasten haben, gehört er dir. Treffen wir uns da?«

Robinson überlegte. »Ähm, ja, sicher.«

Sie richtete sich im Bett auf. »Was hast du?«

Er grinste. »Wahrscheinlich steh ich noch zu sehr unter Adrenalin. Man gewöhnt sich an die ständigen Überstunden und vergisst, dass andere Menschen nicht solche Nachteulen sind. Vielleicht sollte ich im nächsten Leben als Vampir zurückkehren. Oder als Werwolf und den Mond anheulen. Irgendetwas, das nach Einbruch der Dunkelheit herumgeistert. Also vergiss es. Wir sehen uns dann morgen früh.«

»Gab’s da nicht diesen Horrorfilm über …«

»Ja. Blacula. Dracula auf Afro. Hat das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß um hundert Jahre zurückgeworfen. Nicht gerade einer von Hollywoods großen Würfen. Hab ihn als Kind gesehen. Sämtliche Kids in meinem Viertel fanden ihn echt witzig. Na ja, geh wieder schlafen. Wir treffen uns bei der Anhörung.«

»Nein«, sagte Espy Martinez leise. »Du wolltest etwas sagen. Was?«

Walter Robinson zögerte wieder, dann zuckte er mit den Achseln. Wenn man sich schon von einer Klippe stürzen wollte, war es leichter, wenn man sprang.

»Na ja«, fing er langsam an. »Ich weiß, es ist spät, aber ich hatte gehofft, ich könnte dich vielleicht fahren. Ich meine, morgen früh.«

Es gab eine Verlegenheitspause, dann fügte er eilig hinzu: »Hör mal, vergiss es. Wir können uns morgen treffen. Oder am Wochenende. Bis dahin hab ich meine Libido im Griff. Es ist spät. Geh wieder schlafen.«

Espy Martinez saß senkrecht im Bett und suchte, das Telefon in einer Hand, mit der anderen nach einer Haarbürste.

»Du kannst nicht hierherkommen«, entgegnete sie. Sie malte sich aus, wie ihre Eltern entweder schliefen oder, wohl eher, das Ohr an der dünnen Trennwand zwischen den Doppelhaushälften hatten. »Frag nicht, wieso, es ist nämlich kompliziert und hat nichts mit dem zu tun, wer wir sind, sondern was wir nach außen hin scheinen.«

»Ich komm nicht ganz mit«, erwiderte Robinson.

»Nein«, fuhr sie fort. »Ich komm zu dir.«

Er schwankte zwischen Wunschdenken und Vernunft. »Vielleicht besser nicht. Du musst morgen früh frisch sein. Sonst hast du einen schweren Stand.«

Sie lachte. »Ich geb mir Mühe, bei der Bemerkung meine schmutzige Phantasie zu zügeln.«

Er grinste. »Du weißt, wie’s gemeint war. Oder zumindest, wie ich dachte, dass es gemeint war.«

»Walter«, sagte sie bedächtig, während sie sich mit der Bürste durchs Haar fuhr, »ich muss dir was sagen.«

»Nur zu.«

»Wir akzeptieren alle möglichen Spielregeln und Vorschriften. Das ist unser Job: den Spielregeln Geltung zu verschaffen. Polizist und Staatsanwalt. Und dann hatte ich es auch noch in meiner Familie ständig mit Erwartungen zu tun, die im Grunde auf Vorschriften hinausliefen. Die pflichtbewusste Tochter, die für den ermordeten Sohn einspringt …« Sie holte einmal tief Luft. »In gewisser, bescheidener Weise ist das zwischen uns, zwischen dir und mir, ein bisschen außerhalb der Norm. Wenn ich also rüberkommen will, um bei dir zu sein, dann denke ich, das ist eine gute Sache, vielleicht gerade, weil es nicht vernünftig ist. Vernünftig wäre es, gut ausgeschlafen zu sein. Vielleicht will ich aber gar nicht das, was vernünftig ist. Jedenfalls nicht immer und ständig. Heute Abend nicht. Vielleicht will ich was ganz anderes.«

Sie unterbrach sich. »Du liebe Zeit.« Sie pfiff langsam durch die Zähne. »Was für eine flammende Rede. Sollte ich mir für den Richter aufsparen. Hat das irgendwie Sinn ergeben?«

Am liebsten hätte er gesagt: Mehr, als ich je zu träumen gewagt hätte. Doch stattdessen antwortete er: »Ich warte auf dich. Bitte beeil dich.«

Und das tat sie.