15

Der verschwundene Mann

Ihnen stand eine Mischung aus Wut und Angst ins Gesicht geschrieben.

Simon Winter winkte kurz, dann eilte er Frieda Kroner und Rabbi Rubinstein entgegen. Sie standen vor der langen Veranda des Columbus, eines alten Hotels für Dauergäste einen Häuserblock vom Meer entfernt. Die flachen weißen Wände des Gebäudes schienen vor dem Samtschwarz der Nacht wie die Aschenglut eines ausgehenden Feuers zu glimmen. Untertags hatten sich die älteren Bewohner auf dieser Veranda gedrängt und die Sonne genossen, doch jetzt war sie abgesehen von den beiden alten Leuten, die ungeduldig auf ihn warteten, und zwei Dutzend verstreut stehenden Liegestühlen leer.

Der Rabbi rieb sich nervös mit der freien Hand die Stirn, als wollte er einen Gedanken ausradieren. Mit der anderen Hand drückte er eine jüdische Bibel mit schwarzem Einband an die Brust. Er bemerkte, dass Winters Blick darauffiel, und so erklärte er anstelle einer Begrüßung: »In Zeiten wie diesen, Detective, spendet das Wort Gottes Trost.«

Winter nickte. »Und was teilt Er uns mit?«

»Er sagt, wir sollen uns seiner Weisheit anvertrauen.«

Das sagt er immer, dachte Simon Winter.

Frieda Kroner deutete auf den Haupteingang zum Hotel.

»Da wird Irving vermisst«, berichtete sie. »Er ist spurlos verschwunden.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Der Schattenmann hat ihn geholt.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«, fragte Winter. Weder sie noch der Rabbi beantwortete die Frage. Stattdessen drehte Frieda Kroner sich um und stürmte mit einer solchen Zielstrebigkeit die Treppe hinauf, dass sie die anderen beiden unwillkürlich mitriss. Als sie zu dritt die Lobby betraten, blieb Winter stehen. Eine Wand zierte ein verblassendes Fresko mit dem Namensvetter des Hotels bei seiner Ankunft in der Neuen Welt. Es war im charakteristisch theatralischen Stil der dreißiger Jahre gemalt, mit heroischer Gestik und stiller Ehrfurcht bei den Spaniern ebenso wie den Ureinwohnern, als seien sie sich im tiefsten Innern des historischen Moments bewusst, den sie erlebten. Keine Spur von Konflikt oder blutigem Kampf oder Angst und Schrecken, die bald folgen sollten. Vor dem Fresko stand ein altes schwarzes Ledersofa. In der Mitte saß darauf ein dünner, grauhaariger Mann und las eine Zeitung auf Jiddisch. Als sie eintraten, sah er zu ihnen auf, dann wandte er sich wieder betont seiner Lektüre zu. Doch Simon Winter fiel auf, dass er seine Lesebrille neben sich auf den Sitz gelegt hatte und somit in Wahrheit sie beobachtete und ihr Gespräch belauschte. Neugier, dachte der Detective, ist wohl nicht selten die Domäne der sehr Jungen und der sehr Alten.

»Hier lang«, verkündete Frieda Kroner. Sie packte ihn am Ellbogen und manövrierte ihn in eine Ecke der Eingangshalle, in der ein Mann an einem kleinen Schreibtisch mit einem antiquierten Telefonschaltbrett saß. Er war jünger als sie und Latino. Als die drei auf ihn zukamen, zuckte er mit den Achseln. »Mrs.Kroner«, erklärte er mit starkem Akzent. »Was soll ich sagen? Ich habe immer noch kein Lebenszeichen von Mr.Silver. Nicht das geringste.«

»Hat die Polizei sich bei Ihnen gemeldet?«

»Ja. , natürlich. Direkt, nachdem Sie dort hatten angerufen. Sie fragen mich, ob für Mr.Silver ist ungewöhnlich, nicht da zu sein, und ich sage ja, und Sie fragen, ob mir irgendetwas Ungewöhnliches oder Komisches ist aufgefallen, also geben sie mir eine Nummer, und ich soll Sie anrufen, falls ich irgendwas weiß, aber das ist alles.«

»Idiotisch«, murmelte sie. »Der Schattenmann bringt uns um, und die Polizei möchte wissen, ob jemandem etwas Ungewöhnliches auffällt. Verdammt!« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich möchte, dass Sie meine Freunde und mich in Mr. Silvers Apartment lassen.«

»Mrs.Kroner, ich …«

»Sofort.«

»Aber das ist …«

»José«, sagte sie mit eiserner Miene und richtete sich kerzengerade auf, »unverzüglich.« Sie deutete mit einer schwungvollen Bewegung auf Rubinstein. »Dieser Mann ist ein Rabbi. Sie können ihn nicht warten lassen!«

Sie äußerte das mit solcher Autorität, dass der Angestellte von seinem Stuhl sprang und dem Geistlichen zunickte. »Aber nur für einen kurzen Moment, Mrs.Kroner, bitte.«

Das winzige Apartment von Irving Silver war mustergültig ordentlich und sauber. Ein paar Bücher, die der Größe nach auf einem Regal angeordnet waren, ein paar Zeitschriften so auf dem Sofatisch ausgelegt, dass man mit einem Blick die Titel lesen konnte. Auf einer Kommode standen die obligatorischen Fotos von entfernten Verwandten. Simon Winter strich mit einer Hand über die Oberfläche. Hinter ihm warteten der Rabbi und Mrs.Kroner gespannt, als rechneten sie mit einer Erklärung. Simon Winter ging zügig durch das Apartment, das sogar noch kleiner als sein eigenes und das von Sophie Millstein war. Das Bett war akkurat mit eingeschlagenen Ecken gemacht. Er kam an einem billigen Küchentisch vorbei und sah, dass er für zwei Personen gedeckt war. Irving Silver hatte Besuch erwartet. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Kampf oder einen Einbruch. Nichts ließ darauf schließen, dass Irving Silver gegen seinen Willen verschleppt worden war. Kurz gesagt, Simon Winter hatte das Domizil eines Mannes vor Augen, der vielleicht einfach nur noch einmal ausgegangen war, um im nächsten Eckladen etwas einzukaufen, und der jeden Moment wieder zur Tür hereinspazieren konnte.

Er drehte sich zu den anderen um.

»Sehen Sie«, meinte Frieda Kroner und zeigte auf die zwei Gedecke. Dann zitterte ihr Finger plötzlich in der Luft, und er bemerkte, wie bei den nächsten Worten, die aus ihr hervorbrachen, das Kinn ebenfalls zu zittern begann. »Irving ist tot.«

Der Rabbi drehte sich um und legte Frieda einen Arm um die Schulter, die unter jedem Schluchzer bebte. Dabei sah er Winter an und nickte.

Hinter ihnen trat der Concierge José ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Bitte, Mrs.Kroner, ist nicht unbedingt möglich wahr«, sagte er, »ich muss jetzt abschließen, bitte.«

Als sie wieder in die Lobby traten, registrierte Winter, dass der Mann, der vor dem Wandgemälde gelesen hatte, verschwunden war. Als der Rabbi mit ihr zum Ausgang strebte, weinte Frieda immer noch. Doch als sie den Bürgersteig erreichten, richtete sie sich plötzlich auf und schüttelte den Arm des Rabbi ab. Mit einem wütenden Blick sah sie die beiden Männer an, dann trat sie zur Seite, wandte sich zur leeren Straße und brüllte auf Deutsch: »Diesmal gewinnst du nicht!«

Die Worte verhallten hohl.

Simon Winter versuchte, sie zu trösten. »Mrs.Kroner, ich kann eigentlich nicht sehen, dass irgendetwas …«

Sie fuhr wütend herum. »Sie wollen Detective sein, und Sie können nicht sehen?«

Der Rabbi schlug frustriert die Hände zusammen. »So war es, und so ist es wieder!«

»Wir hätten es wissen müssen«, stellte Frieda Kroner bitter fest. »Ausgerechnet wir. Wenn man wartet, wenn man nichts unternimmt. Wenn man tatenlos dasitzt … Dann kommen sie und holen dich.« Sie verstummte und schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht sie. Er kommt und holt dich. Diesmal ist es nur er. Aber es läuft auf dasselbe hinaus, Detective. Wenn man nichts tut …«

»Dann stirbt man«, ergänzte Rabbi Rubinstein kalt. »Es hat sich nichts geändert. Er wird uns finden, und wir werden sterben.«

»So wie er die arme Sophie und Mr.Stein und jetzt Irving gefunden hat.«

Der Name des Mannes schien ihr nicht über die Lippen kommen zu wollen.

Sie stand im schwachen Licht des Hoteleingangs und starrte angestrengt in die Dunkelheit, die mit der Stadt verschmolz.

»Irving lebt nicht mehr«, erklärte sie. »Der Schattenmann hat ihn geholt.«

»Hab ich gleich gesagt«, fügte Rabbi Rubinstein leise hinzu. »Hab ich gleich gesagt. Er will uns alle töten.«

Frieda Kroner seufzte tief und nickte. Sie unterdrückte einen Laut, halb Seufzer, halb Schluchzen, und Simon Winter sah, dass ihre Augen gerötet waren. »Sie haben von Irving wahrscheinlich keinen so guten Eindruck erhalten, Mr.Winter, aber das täuscht. Er ist ein sehr freundlicher Mensch und amüsant, besonders für eine alte, einsame Witwe wie mich. Und jetzt lebt er nicht mehr. Ich habe ja nicht geahnt, dass es so kommen würde.«

Einen Moment schien sie vor Kummer zu wanken, dann stieß sie einen wütenden, kehligen Laut aus, der an ein gefährliches, verwundetes Tier erinnerte.

»So ist es immer gegangen«, fügte sie schroff hinzu. »Eben waren sie noch da, an deiner Seite, und eh du es begreifst, sind sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.«

»Das stimmt, Detective«, bekräftigte der Rabbi. »Bald ist keiner mehr von uns übrig, und niemand erinnert sich noch an den Schattenmann.«

»Gehen wir noch mal zurück«, wandte Simon Winter ein. »Fangen wir noch mal von vorne an. Was macht Sie so sicher, dass Mr.Silver verschwunden ist? Und was meinen Sie mit ›ist verschwunden‹?«

Frieda Kroner antwortete in scharfem Ton. »Verschwunden bedeutet tot. So war es schon immer.«

»Wieso?«

Rabbi Rubinstein hob die Hand zu einer kleinen, beschwichtigenden Geste. »Frieda, erklären Sie es Mr. Winter. Dann wird er uns verstehen.«

Eine Sekunde sah sie den Rabbi empört an, dann antwortete sie: »Irving ist ein Gewohnheitsmensch. Montags geht er ins Fischgeschäft, zum Obststand und schließlich in den Supermarkt. Dann bringt er seine Einkäufe nach Hause und räumt sie ein. Danach geht er in die Bibliothek und liest die überregionalen Zeitungen. Anschließend macht er einen kurzen Spaziergang auf der Promenade. Schließlich kommt er nach Hause und ruft mich an, und wir gehen vielleicht ins Kino, weil es montags nicht so voll ist wie am Wochenende. Oder mittwochs: Da besucht Irving nachmittags den Bridge-Club; davor kommt er bei mir vorbei, um mich abzuholen, und manchmal bleibt er länger. Donnerstags geht er zu einer Debattiergruppe in der Bibliothek. Am Freitag sind die abendlichen Gottesdienste. Das sind die Dinge, die jetzt genau wie bei mir und beim Rabbi den Alltag ausmachen. Bei vielen Überlebenden ist es mehr oder weniger das Gleiche, Mr.Winter. Wir führen ein wohlgeordnetes Leben. Es ist, als ob die Nazis in jeden von uns eine Uhr eingepflanzt hätten und wir präzise funktionieren müssten. Wenn ich also am Dienstagabend zu Irving fahre und er ist nicht da, um mit mir wie jeden Dienstagabend in der Stadthalle zum Bingo zu gehen, dann weiß ich, dass Irving in Schwierigkeiten ist. Und für Menschen wie uns gibt es nur dreierlei Arten von Schwierigkeiten, Mr.Winter.«

»Und welche, Mrs.Kroner?«

»Zum einen Krankheit. Krankheit und Alter; das läuft manchmal auf ein und dasselbe hinaus. Vielleicht hatte Irving einen Schlag oder einen Unfall …«

»Aber wir haben in den Krankenhäusern angerufen, und er wird nirgends geführt«, warf Rabbi Rubinstein ein.

»Dann Gewalt. Vielleicht hat ihn irgendeiner von diesen jungen Leuten, die mit ihrem Lärm und ihren schnellen Autos allmählich Miami Beach übernehmen, in einer dunklen Seitenstraße überfallen …«

»Aber der Polizei ist nichts dergleichen gemeldet worden«, schaltete sich erneut der Rabbi ein.

»Und dann gibt es eben noch den Schattenmann.«

»Sie haben mit der Polizei gesprochen?«

»Ja, selbstverständlich, sofort«, bestätigte der Rabbi. »Die haben gesagt, sie können nicht vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden eine Vermisstenmeldung aufnehmen, aber sie waren so nett und haben für uns die Unfälle und Straftaten überprüft. Doch selbst, wenn die Zeit um sei, sagen sie, könnten sie nicht viel für uns tun.«

»So lange sie keine Leiche finden. Oder irgendein anderes Indiz dafür, dass ein Verbrechen vorliegt«, fügte Frieda Kroner bitter hinzu. »Ein alter Mensch, der in Miami Beach nicht zur gewohnten Zeit nach Hause kommt, ist nicht das Jahrhundertverbrechen, Detective. Das behandeln sie nicht gerade wie die Lindbergh-Entführung. Sie sind höflich, aber das ist auch schon alles. Einfach nur höflich.«

Sie zischte leise: »Der Schattenmann lebt mitten unter uns, und sie sind höflich!«

Simon Winter nickte. Er wusste, wovon sie sprach. In Ermangelung eines Hinweises auf eine Entführung, eines blutverschmierten Tatorts oder eines ähnlich unverkennbaren Anzeichens für ein Verbrechen würde die Polizei ihre Nachforschungen auf eine Fernschreibermeldung an die anderen örtlichen Polizeidienststellen und die Aufforderung beschränken, nach dem und dem die Augen offen zu halten – allenfalls würde man noch bei der täglichen Besprechung ein Foto verteilen.

»Sagen Sie, könnte es für sein Verschwinden irgendeine andere Erklärung geben?«

»Als da wäre?«

»Angst. Vielleicht ist er bei Verwandten …«

»Ohne uns Bescheid zu sagen?«

Eher unwahrscheinlich, räumte Winter ein.

»Litt er an Vergesslichkeit? Kurze Gedächtnislücken?«

Der Rabbi schüttelte verärgert den Kopf. »Wir sind nicht senil! Gott sei Dank leidet keiner von uns an Demenz! Wenn Irving verschwunden ist, dann kann es dafür nur eine Erklärung geben!«

Simon Winter dachte angestrengt nach. Alle alten Menschen in Miami Beach waren Gewohnheitstiere, manche, wie offenbar auch Irving Silver, Sophie Millstein oder Herman Stein fast krankhaft. Sie alle hatten ihr Leben auf eine Reihe von Fixpunkten ausgerichtet, als könnten die unverrückbaren Termine, Abläufe, Verabredungen, Mahlzeiten und Medikamenteneinnahmen den plötzlichen Eintritt des Todes verhindern.

Und, dachte er, wer bietet mehr Angriffsfläche als jemand mit starren Gewohnheiten?

Winter schüttelte den Kopf. »Einmal angenommen, das war der Schattenmann … also, Sophie wurde in ihrer Wohnung überfallen. Herman Stein starb in seiner Wohnung. Das scheint ein klares Muster zu sein …«

Diesmal schüttelte der Rabbi gereizt den Kopf. »Sie verstehen immer noch nicht, Mr.Winter! Hat ein Schatten eine festumrissene Gestalt? Hat ein Schatten Substanz? Ist er nicht vielmehr ein Phänomen, das sich mit dem Einfall des Sonnen- oder Mondlichts verändert? Deshalb war er ja so beängstigend, Mr.Winter. Damals in Berlin … Hätten wir gewusst, dass er Straßenbahn fährt, nun, dann wären wir zu Fuß gegangen. Hätten wir gewusst, durch welche Gassen er kommt oder durch welchen Fußgängertunnel … Hätten wir gewusst, in welchem Park er die frische Luft genießt … aber nichts dergleichen war bekannt. Jeder Moment war unvorhersehbar. Wieso sollte sich daran heute etwas geändert haben? Wenn er Sophie und den armen Mr.Stein in ihren Wohnungen getötet hat, dann nimmt der Schattenmann das nächste Mal eine andere Gestalt an und findet einen anderen Ort, und dort liegt jetzt Irving. Ich weiß es einfach!«

Diese spröden, trockenen Worte, die keinen Widerspruch duldeten, knisterten in der feuchten, stehenden Luft auf der Straße. Einen Moment verstummte der Rabbi, dann fügte er finster hinzu: »Er hätte sich gewehrt. Ausdauernd und heftig. Er hätte gebissen und gekratzt und mit allem um sich geschlagen, was er in die Finger bekommen konnte. Irving war zäh. Er war hart im Nehmen. Er ging jeden Tag spazieren. Er hat Gewichte gehoben und ist an warmen Tagen im Meer geschwommen. Er hatte noch Kraft, und er hätte wie ein Tiger gekämpft, denn Irving hat das Leben geliebt.«

»Es gab keinerlei Anzeichen für einen Kampf.«

»Das habe ich gesehen. Das heißt, der Schattenmann hat ihn auf der Straße entführt.«

»Das wäre aber ziemlich schwer gewesen. Meistens ist es hier sehr belebt. Sehen Sie sich die Veranda an. Normalerweise sind da Dutzende von Menschen, die auf die Straße blicken …«

»Für die meisten Kriminellen wäre das in der Tat schwierig gewesen, Detective, da haben Sie recht«, räumte der Rabbi nachsichtig ein. »Aber Sie dürfen nicht vergessen: Genau das hat er in all den Kriegsjahren immer und immer wieder getan. Still und unauffällig setzte er dem Leben von Menschen ein Ende. Mr.Winter, ist es Ihnen noch nie passiert, dass Ihnen beim Rasieren die Hand ausrutscht, während sie die Klinge hält, und wenn Sie in den Spiegel gucken, sehen Sie, dass Ihnen das Blut das Kinn herunterläuft? Aber hat es in dem Moment weh getan, als es passiert ist? Ich glaube nicht. So ein Mann ist er.«

Frieda Kroner nickte, bevor sie leise, doch wütend flüsterte: »Wir müssen ihn finden. Heute oder morgen oder diese Woche oder die nächste, aber wir müssen ihn finden. Sonst findet er uns. Wir müssen uns wehren.«

»Auch gegen einen Schatten«, fügte der Rabbi hinzu.

Simon Winter nickte. Dieser Mann ist anders als die anderen, dachte er. Er merkte, wie er sich daran die Zähne ausbiss, ihm Konturen zu verleihen, indem er systematisch die Fakten durchkaute.

»Was sagten Sie noch beim letzten Mal, Mrs.Kroner? Er ist einer von uns?«

»Ja, richtig. Er muss auch ein Überlebender sein.«

»Dann werde ich da ansetzen. Und ich schlage vor, Sie beide auch. Er wird da draußen sein, in einer Synagoge, an einem Holocaust-Mahnmal, bei einer Wohnungseigentümer-Versammlung so wie im Falle von Mr. Stein. Es muss Namen geben, Namenslisten. Da fangen wir an.«

»Ja, ja, verstehe«, sagte der Rabbi. »Ich kann mich auch mit anderen Rabbinern in Verbindung setzen.«

»Gut. Die unter sechzig können Sie streichen …«

»Er müsste älter sein. Nicht besser fünfundsechzig? Oder achtundsechzig?«

»Ja. Aber wir sind alle alt, und wir wissen, dass man nicht allen Leuten die Jahre, die sie auf dem Buckel haben, gleichermaßen ansieht – manche erscheinen jünger, andere älter. Ich würde vermuten, dass der Schattenmann, der immerhin zwei – vielleicht sogar drei – Morde verübt hat, die Kraft und das Aussehen eines jüngeren Mannes hat. Das sollten wir im Hinterkopf behalten.«

Der Rabbi nickte. »Wie der Mann, dem sie in Israel den Prozess machen. Er war heute wieder in der Zeitung.« Simon Winter hatte das Bild des Mannes, der angeklagt war, Aufseher eines Vernichtungslagers gewesen zu sein, vor Augen. Er war jeden Abend im Fernsehen und in der Presse zu sehen: ein wuchtiger Mann, mit einem üppigen Taillenumfang, breiten Schultern und Holzpfählen von Armen. Er hatte eine fortgeschrittene Glatze und wirkte auf verstörende Weise grobschlächtig. Er wurde immer von zwei Polizisten flankiert und trug den Overall eines Gefängnisinsassen, doch seine Haltung und seine Statur verrieten den Gefangenen nicht.

»Sie haben diesen Mann gesehen, diesen Iwan den Schrecklichen?«, fragte Rabbi Rubinstein, und Winter nickte. »Sie haben zweifellos bemerkt, nicht wahr, Detective, dass dieser Mann nie gebrochen oder niedergeschmettert gewesen ist? Dass er nie geschlagen wurde, nie fast verhungert ist? Bei uns ist das ein bisschen anders, nicht?«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Nicht, dass wir Überlebenden weniger …, wie soll ich mich ausdrücken, Detective? Ein echter Überlebender ist so unverkennbar gezeichnet, wie ich diese Tätowierung trage.«

Er hielt seinen Unterarm hoch und zog den Ärmel des dunklen Hemds, das er trug, zurück.

»Sehen Sie, wie es mit der Zeit verblasst ist? Aber es befindet sich immer noch da, nicht wahr? Innerlich ergeht es uns genauso. Das alles hat sich uns tief eingebrannt. Im Lauf der Jahre wird es schwächer, doch es ist immer noch da und wird nie ganz verschwinden. Man sieht es daran, wie wir die Schultern tragen, vielleicht sogar in unseren Augen. Ich glaube, das trifft für uns alle zu.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dieser Mann, der Schattenmann, er wird eines sagen, aber etwas anderes denken, es ist nichts Echtes an ihm. Und wenn wir genau genug hinschauen, werden wir das erkennen.«

»Das stimmt«, pflichtete Frieda Kroner im Brustton der Überzeugung bei. Es herrschte kurzes Schweigen, dann fuhr sie im Tonfall einer tüchtigen Sekretärin fort: »Ich kenne Irvings sämtliche Mitgliedschaften. Im Bridge-Club, in den Diskussionszirkeln. Ich kann die Namen der Mitglieder besorgen.«

»Ausgezeichnet. Und Adressen. Und Personenbeschreibungen, falls Sie da rankommen können. Achten Sie auf Einzelheiten. Jede Kleinigkeit könnte uns den entscheidenden Hinweis liefern.«

»Was meinen Sie mit Einzelheiten?«, hakte sie nach.

»Er war auch einmal Berliner. Spricht er vielleicht mit einem Akzent, wie Sie, Mrs.Kroner? Das wäre eine Möglichkeit, muss aber nicht sein.«

»Ja, ja, das leuchtet ein. Das kann ich nachvollziehen, aber wie schützen wir uns unterdessen?«

»Ändern Sie Ihre Gewohnheiten. Wenn Sie in den vergangenen zehn Jahren mittwochs um drei Uhr Nachmittag zum Supermarkt gegangen sind, dann gehen Sie von nun an meinetwegen um acht Uhr morgens. Wählen Sie sich eine andere Route als bisher. Wenn Sie zu einem Spaziergang auf die Promenade wollen, gut, aber laufen Sie zuerst zwei Blocks in die entgegengesetzte Richtung und machen Sie dann einen großen Bogen zurück. Wenn Sie einen Besuch vorhaben, rufen Sie zuerst dort an. Geben Sie Bescheid, Sie seien unterwegs. Wenn Sie immer Bus fahren, nehmen Sie sich jetzt ein Taxi. Finden Sie jemanden, der Sie begleitet. Bewegen Sie sich in Gruppen. Zu unvorhersehbaren Zeiten und im Zickzack. Bleiben Sie einen Moment vor verspiegelten Fenstern stehen und beobachten Sie die Leute hinter Ihnen. Drehen Sie sich blitzschnell um und schauen Sie die Straße entlang, auf der Sie gerade gegangen sind. Seien Sie wachsam.«

»Das ist klug«, kommentierte der Rabbi.

»Er könnte sich Ihnen auch als jemand Vertrautes nähern, zum Beispiel als Postbote oder als Lieferant. Trauen Sie keinem. Selbst wenn Sie seit zehn Jahren ins selbe Deli gegangen sind und mittags dasselbe Corned Beef gegessen haben, hören Sie jetzt damit auf! Und vertrauen Sie nicht einmal dem Mann hinter der Theke, auch wenn Sie sein Gesicht schon kennen, seit Sie nach Miami Beach gezogen sind. Denken Sie immer daran: Nichts ist sicher. Hinter allem könnte sich ein Schatten verbergen.«

Frieda Kroner kniff die Augen zusammen, während sie all die Ratschläge erwog.

»Und das rettet uns das Leben?«, fragte sie.

»Möglicherweise. Eine Garantie gibt es nicht. Eine Waffe ist keine Garantie. Ebenso wenig ein Pitbull.«

»Oder die Polizei«, fügte sie bitter hinzu.

»Das ist richtig. Die Polizei klärt Verbrechen auf, die bereits passiert sind. Selten verhindert sie eins.«

»Wir könnten weggehen, einfach die Stadt verlassen«, warf der Rabbi plötzlich ein.

»Für immer?«

»Nein, ich bin jetzt hier zu Hause.«

»Dann halte ich es für besser, dies zu verteidigen.«

»Ja. Hätten wir vor fünfzig, sechzig Jahren so gedacht … nein, lassen wir das lieber. Sorgen wir dafür, dass wir jetzt am Leben bleiben. Heute. In der Nacht. Morgen früh.«

Winter zögerte vor seiner nächsten Bemerkung und beobachtete das Gesicht des Geistlichen, während dieser in Gedanken in die Vergangenheit zurückwanderte und die Erinnerung an das Böse sich in jede Falte um seine Augen, auf der Stirn und um die Mundwinkel eingrub.

»Da wäre noch etwas«, fuhr Winter langsam fort. Er sah, wie der Rabbi den Blick langsam über die Landschaft von Jahrzehnten schweifen ließ, um schließlich wieder in der ungewissen Gegenwart anzukommen.

»Was wäre da noch, Mr.Winter?«

Winter antwortete leise. »Nehmen wir alle mal an, er wüsste, wer Sie sind. Und wo Sie wohnen. Gehen wir für den Moment auch einmal davon aus, dass er sich seiner Sache sicher ist, weil er vermutet, dass niemand nach ihm sucht. Nehmen wir ferner an, er plante in diesem Moment seinen nächsten Übergriff.«

Frieda Kroner schnappte nach Luft. Der Rabbi trat einen Schritt zurück. »Glauben Sie das, Mr.Winter?«, fragte er mit einem Anflug von Panik.

»Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, allerdings sollten Sie, denke ich, den schlimmsten Fall einkalkulieren.«

»Aber wieso?«, fragte Frieda Kroner.

»Vielleicht hat er etwas von Mr.Silver erfahren.«

»Nein, das glaube ich nicht. Selbst unter Schmerzen. Nein.«

Winter nickte. »Vielleicht haben Sie recht. Aber da ist noch etwas, das mir gerade einfällt.«

»Was denn?«

Bei der Erinnerung kam er sich hilflos, ohnmächtig und dilettantisch vor. Er fragte sich, ob Irving Silver jetzt vielleicht noch vor ihm stünde, hätte er nur ein paar Tage früher daran gedacht. Er sah sich wieder in dieser drückenden Hitze, im Stimmengewirr der Kriminaltechniker zusammen mit dem jungen schwarzen Detective in Sophie Millsteins Wohnung stehen: Während er mit dem Detective sprach, zeigte er mit dem Finger auf das Telefontischchen.

»Sophies Adressbuch ist in der Nacht ihrer Ermordung verschwunden.«

»Was?«

»Ihr Telefonbüchlein. Es war nicht mehr am gewohnten Platz. Es war verschwunden.«

»Und Sie meinen, der Schattenmann …«

»Falls er es entdeckt hat, könnte er es mitgenommen haben. Und Sie standen beide drin, denn ich habe selbst gesehen, wie sie es aufgeschlagen hat, um Ihre Telefonnummern nachzusehen.«

»Aber wir wissen nicht …«, begann der Rabbi, verstummte jedoch plötzlich. Er wippte auf seinen Absätzen vor und zurück, dann legte sich ein verhaltenes Lächeln um seinen Mund. »Das ist wie ein Schachspiel, nicht wahr, Detective?«

»In gewisser Weise ja.«

»Er hat einige Züge gemacht. Er hat das Spiel beherrscht. Es kommt mir so vor, als hätten wir irgendwie übersehen, wie seine Figuren von einem Feld zum anderen ziehen. Wir sind zu dritt, und wir haben noch einige Tricks auf Lager, oder?«

»Das sehe ich auch so.«

»Ich habe keine Angst«, sagte der Rabbi plötzlich zu Frieda Kroner. »Egal, was passiert, kann er mir keine Angst machen. Ich glaube, auch Irving hatte keine Angst, als er ihn entführte, und ich glaube, dich kann er auch nicht mehr schrecken. Haben wir nicht das Schlimmste gesehen, was es auf dieser Erde geben kann? Gibt es etwas Schlimmeres als Auschwitz?«

Seltsamerweise lächelte nun auch Frieda Kroner. »Das haben wir alles hinter uns …«

»Wir können auch dieser Gefahr ins Auge sehen.«

Simon Winter beobachtete, wie der alte Mann die Hand der alten Frau ergriff und sie einmal kurz drückte.

Er hatte das Gefühl, als sollte er etwas sagen, doch fehlten ihm die Worte. Frieda Kroner drehte sich zu ihm um. Sie sagte nichts, aber er wusste, dass sie alle für den nächsten Schachzug bereit waren.

 

Esther Weiss lehnte sich in ihrem kleinen Büro im Holocaust Center auf dem Schreibtischstuhl zurück. Sie schien nicht überrascht, ihn wiederzusehen.

»Sie haben noch weitere Fragen, Mr.Winter?«

»Ja«, antwortete er.

»Das stand zu erwarten. Wenn man den Deckel der Büchse der Pandora lüftet, kommen eine Menge Fragen heraus. Was möchten Sie denn wissen?«

»Haben Sie hier ein Register oder eine Liste von Holocaust-Überlebenden, ich meine, eine Art Adressbuch?«

Die junge Frau zog für eine Sekunde eine Augenbraue hoch, dann schüttelte sie den Kopf. »Eine Liste der Überlebenden?«

»Richtig.«

»Wie das Mitgliedsverzeichnis eines Clubs oder einer geselligen Gruppe?«

Er zögerte, dann erwiderte er: »Ja, auch wenn mir bewusst ist, wie seltsam das klingt.«

»Das wäre ein Frevel, Mr.Winter.«

»Tut mir leid … ich verstehe nicht ganz …«

Sie unterbrach ihn mitten im Satz. »Mr.Winter, diese Menschen wurden zu Holocaust-Opfern, gerade weil sie auf Listen standen. In Registern. Adresskarteien. Zuteilungslisten. Harmlose Begriffe, bis man sie mit Razzien und Verschleppungen in Verbindung bringt. Nein, Mr.Winter, es gibt keine Listen mehr, Gott sei Dank.«

»Aber hier im Holocaust Center und in den anderen Gedenkstätten …«

»Wir behandeln die Namen derer, die mit uns gesprochen haben und die weiter mit uns reden, sehr vertraulich. Die Wahrung der Privatsphäre ist für diese Leute von größter Bedeutung, Mr.Winter. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie diese Menschen zugleich solche Ausnahmeerscheinungen und so normal und unauffällig sein können. Viele von ihnen haben bis auf die Jahre, in denen sie in den KZs zusammengepfercht waren, ein einfaches, unspektakuläres Leben geführt. Folglich sind diese Erinnerungen etwas sehr Persönliches, das wir als solches respektieren. Im Center in Washington und dem in Los Angeles halten sie es genauso. Die Universität Yale hält ihre Videosammlung mit Augenzeugenberichten streng unter Verschluss. Sie haben mehr als zweitausend.«

»Wie viele Holocaust-Überlebende gibt es hier in Miami Beach?«

»In Miami Beach? Schwer zu sagen. Vor ein paar Jahren gab es eine Schätzung, die für ganz Süd-Florida auf fünfzehntausend kam. Von Boca Raton und Ford Lauderdale bis runter nach South Beach. Aber sie werden alt. Ihre Zahl schmilzt Monat für Monat dahin. Deshalb ist es so wichtig, ihre Erinnerungen festzuhalten.«

Sie musterte ihn misstrauisch.

»Wir haben keine Listen, Mr.Winter. Diese Leute kommen zu uns.«

Er überlegte einen Moment angestrengt, dann nahm er einen neuen Anlauf. »Nehmen wir mal an, ich wollte jemanden zurückverfolgen. Wenn ich mich an die Einwanderungsbehörde wenden würde, meinen Sie, die hätten noch Dokumente? Ich meine, aus den Vierzigern oder frühen Fünfzigern …?« Als Esther Weiss den Kopf schüttelte, sprach er nicht weiter.

»Das wage ich zu bezweifeln. Natürlich haben die Dokumente über die Leute, die in die Staaten eingewandert sind, und darüber, wie man mit ihnen verfahren ist. Aber eine komplette Zusammenstellung? Für Holocaust-Überlebende? Nein. Außerdem gab es so viele verschiedene Routen, über die sie hergekommen und danach auch innerhalb der Staaten weitergezogen sind. Von der Lower East Side nach Skopie, Illinois, oder Detroit oder Los Angeles und schließlich nach Miami Beach. Das sind keine amtlich registrierten Ortswechsel, die sind nur im Gedächtnis der Betroffenen festgehalten.«

»Aber es muss doch …«

»Was muss? In Israel hat man versucht, einfach nur die Namen der Menschen festzuhalten, die im Holocaust ermordet wurden. Sie haben drei Millionen zusammenbekommen, etwas weniger als die Hälfte. Nein, Mr.Winter, es gibt keine Listen. Nur Chaos und Erinnerungen an den Alptraum.«

Sie schwieg und blickte ihm ins verwirrte Gesicht.

»Sie haben eine Frage, aber Sie stellen sie nicht. Sie wissen etwas, aber Sie sagen es nicht. Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, aber Sie teilen mir nicht mit, wieso.«

Simon Winter wechselte unbehaglich die Stellung. Er war bestürzt. Wie konnte er nur so grenzenlos naiv sein, fragte er sich wütend, den Holocaust mit einer Art Kraftfahrzeugbehörde zu verwechseln, mit Namen und Adressen, Telefonnummern und aktuellen Fotos. Er erwiderte Esther Weiss’ eindringlichen Blick. Es war sonst nicht seine Art, Informationen preiszugeben. Er schwieg eine Weile, während die junge Frau einige Papiere auf ihrem Schreibtisch sortierte.

»Als ich das letzte Mal hier war …«, tastete er sich vor.

»Nach dem Tod von Sophie Millstein«, nahm sie das Stichwort auf.

Er nickte. »Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich mich für einen Mann interessiert habe, den Sophie nur als den Schattenmann kannte.«

»Natürlich. Dieser Greifer. Sie waren mit den anderen Berlinern im Gespräch. Ich entsinne mich.«

»Ich fürchte, dieser Mann, dieser Schattenmann, lebt hier in Miami Beach.«

Esther Weiss machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie holte tief Luft, bevor sie fragte: »Hier?«

Sie sah plötzlich blass aus, und ihre Stimme war schwach.

»Ich glaube ja.«

Die junge Frau zögerte. »Aber das wäre ja …« Sie schüttelte den Kopf. »… unglaublich. Entsetzlich. Ich kann nicht glauben …«

»Ich vermute, er hat getötet, Miss Weiss. Ich glaube, er verfolgt Überlebende. Ich glaube, er hat Sophie verfolgt. Und einen Mann, einen Herman Stein …«

»Ich kannte Mr.Stein.«

»Und möglicherweise noch einen Mann. Irving Silver.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Irving Silver war hier. Erst vor zwei Wochen. Er hat vor der Kamera gesprochen und seine Erinnerungen aufgezeichnet.«

Sie griff nach dem Telefon, als müsste sie irgendetwas in Händen halten.

»Er wird vermisst.«

»Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«

»Ich nicht, andere schon.«

»Was sagen die?«

Er zuckte mit den Achseln. »Solange es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt …«

»Aber der Schattenmann? Hier? Jemand sollte …«

»Was, Miss Weiss? Sie meinen, jemand sollte ermitteln? Das sehe ich genauso. Die Polizei? Die Justizbehörden? Der verfluchte Oberste Gerichtshof?«

»Ja. Ja. Im Justizministerium führen sie spezielle Ermittlungen durch. Sie haben Nazis aufgespürt …«

»Ist dieser Mann ein Kriegsverbrecher, Miss Weiss? In dem Fall wäre die Sache leichter.«

Sie schwieg. »Selbstverständlich ist er das«, erwiderte sie dann schroff.

»Sind Sie sicher?«

»Er war Kollaborateur, er hat ihnen geholfen. Ohne ihn …« Sie sah Simon Winter eindringlich an. »Wenn das kein Kriegsverbrechen ist.«

»Da wäre ich nicht so sicher.«

Esther Weiss atmete langsam aus. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Und wo sind die Beweise?«

»Ich fürchte, die meisten Beweise sind tot.«

Sie nickte. »Verstehe«, sagte sie. Ratlos sackte sie an die Lehne und legte die Hand an die Stirn. Für einen Moment drehte sie sich mit ihrem Schreibtischsessel zum Fenster, dann sah sie ihr Gegenüber mit einem durchdringenden Blick an.

»Was geht hier vor, Mr.Winter? Bitte sagen Sie mir, was hier im Gange ist.«

Doch die Antwort blieb er ihr zu diesem Zeitpunkt schuldig.

 

Simon Winter verließ das Holocaust Center mit ihrem Versprechen, ihm zu helfen, sowie mit einer Namensliste von etwa zwei Dutzend Gelehrten, deren Spezialgebiet die Holocaust-Überlebenden waren. Es handelte sich dabei in erster Linie um Soziologen und andere Wissenschaftler, meist Angehörige von Universitäten. Einige waren für bedeutende jüdische Organisationen tätig. Ein paar andere arbeiteten freiberuflich als Autoren über verschiedene Aspekte des Holocaust.

Das Problem war nur, dachte Simon Winter beim Anblick der Liste neben dem Telefon in seiner Wohnung, das Problem war nur, dass sie ihm viel über die Vergangenheit erzählen konnten, während er versuchte, die Gegenwart zu entschlüsseln und die Zukunft zu erahnen. Er starrte auf die Namen und strich die drei mit einer Adresse in Süd-Florida an.

Eine Sekretärin des Instituts für Europastudien an der University of Miami notierte seinen Namen und seine Telefonnummer, schien jedoch äußerst skeptisch, dass irgendein Professor einen pensionierten Detective zurückrufen würde, der sich in Bezug auf den Grund seines Anruf ziemlich bedeckt hielt. Die zweite Nummer gehörte einem in Plantation ansässigen Autor, der an einem Buch über die Kollaboration der Vichy-Regierung arbeitete, die für die Verschleppung Tausender französischer Juden in die deutschen Vernichtungslager verantwortlich war.

»Ich kann Ihnen mit Südfrankreich dienen«, erklärte der Professor zu seinem Bedauern, »aber Berlin, da muss ich passen.«

Der Mann schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: »Natürlich kann ich Ihnen wie jeder, der über den Holocaust forscht, eine Menge über den Tod erzählen. Den hundertfachen, tausendfachen Mord, der so selbstverständlich war wie der Sonnenaufgang am Morgen und der Einbruch der Dunkelheit am Abend. Mord als Eisenbahnfahrplan, pünktliche Alltagsroutine. Sind Sie daran interessiert, Mr.Winter?«

Als Simon Winter auflegte, war ihm klar, dass er etwas anderes, etwas Einmaliges brauchte, eine Beobachtung oder eine Verbindungslinie, etwas, das ihn aus dem Bereich düsterer, diffuser Erinnerungen herauskatapultierte und ihm handfeste Hinweise auf den Schattenmann lieferte. Es muss doch, dachte er, eine greifbare Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart geben. Etwas Handfestes, das die Lücke schloss.

Er sah aber keine und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Sein Geduldsfaden war kurz davor, zu reißen.

Er holte einmal tief Luft, dann wählte er die dritte Nummer. Als ihn die automatische Ansage wissen ließ, die Nummer habe sich geändert, warf er den Hörer auf die Gabel. Er notierte sich die neue Nummer und unternahm den nächsten Versuch. Beim fünften Klingelzeichen war er kurz davor, die Segel zu streichen, doch beim siebten hörte er ein mürrisches »Hallo?«.

»Spreche ich mit Mr.Rosen? L. Rosen?«

Nach einer kurzen Pause kam die Antwort: »Louis Rosen. Wer spricht da? Falls Sie Abos oder Versicherungen verkaufen oder Spenden haben wollen, vergessen Sie’s«, versetzte der Mann in schneidendem Ton.

»Nein«, erwiderte Winter. Dann nannte er seinen Namen und erklärte: »Ich habe Ihre Nummer vom Holocaust Center.«

»Diese Nummern sollten eigentlich vertraulich behandelt werden.«

»Ich bin überzeugt, das werden sie auch, aber hier geht es um eine besondere Situation.«

»Besondere Situation? Was könnte so besonders sein, dass die ihre Zusage der Vertraulichkeit brechen?« Der Ton des Mannes wurde nicht umgänglicher, sondern verriet allenfalls eine gewisse Neugier.

»Ich habe Grund zu der Annahme, dass ein Mann, der in Berlin Greifer gewesen ist, heute in Süd-Florida lebt.«

Rosen schwieg. Eine ganze Weile blieb es still in der Leitung, dann antwortete er in ungerührtem, kaltem, doch zugleich fesselndem Ton:

»Das ist faszinierend. Ein Greifer? Es haben nur wenige überlebt. Dasselbe wie bei den Kapos in den KZs. Wäre interessant, wenn Sie diesen Mann finden könnten. Es gibt so viele Fragen.«

»Was für Fragen?«

»Solche, die mit einem großen Warum beginnen, Mr.Winter.«

»Und wie würde Ihrer Meinung nach die Antwort darauf lauten, Mr.Rosen?«

»Ich müsste spekulieren. Mein Forschungsgebiet ist Polen. Das Warschauer Getto.«

»Hatten Sie dort Familie?«

»Natürlich. Ich war selbst dort.«

»Verstehe.«

»Aber das ist eine andere Geschichte, nicht wahr, Mr.Winter?«

»Ja. Aber könnten Sie für mich spekulieren, nach was für einer Persönlichkeit ich suche?«

Rosen schien seine Gedanken zu ordnen, bevor er antwortete. »Das ist eine überaus interessante Frage. Was für eine Persönlichkeit? Sind Sie sicher, dass Sie diese Tür aufstoßen wollen, Mr.Winter?«

»Ich muss es wissen. Ich brauche etwas Konkretes, an das ich mich halten kann.«

»Natürlich führt uns das auch zum großen Wie hinter all den Fragen zum Holocaust«, fuhr Rosen mit etwas tieferer Stimme fort. »Das liegt letztlich auch nur ein bisschen dichter an der Oberfläche als das Warum.«

»Ich bin gerade erst dabei, die Zusammenhänge ansatzweise zu begreifen«, warf Winter ein.

»Die wird niemand jemals begreifen«, entgegnete Rosen kalt. »Niemand, der nicht dort war. Die Zahlen waren einfach unfassbar. Die Grausamkeit so alltäglich. Das Böse so allumfassend.«

Simon Winter sagte nichts. Er merkte, dass der Mann am anderen Ende überlegte.

»Sie wollen also etwas über den Greifer erfahren? Kein Fanatiker. Kein Nazi. Geht eher in die Richtung dessen, was die Presse als kriminellen Psychopathen bezeichnet. Unerbittlich, erbarmungslos. Man erwartet natürlich, dass sie ihre Taten damit entschuldigen, sie hätten sich und ihre Familien retten wollten, nicht wahr?«

»Das liegt nahe.«

»Aber es stimmt natürlich nicht. Die meisten von ihnen haben überhaupt niemanden gerettet. Wohl nur die gerissensten unter ihnen, nehme ich an. Und die müssen eine Klasse für sich gewesen sein, meinen Sie nicht? Um zu überleben. Aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz.«

»Ja.«

»Folglich wissen Sie schon einmal von vornherein, dass Sie es mit einem systematischen Lügengebäude zu tun haben, nicht wahr, Mr.Winter? Mit einem Menschen, der sich selbst nichts vormachte, denn nur jemand, der klar sah, was vor sich ging, konnte die nötigen Schritte unternehmen und am Leben bleiben. Andererseits haben Sie es mit jemandem zu tun, dem es nichts ausmacht, die Dinge zu verfälschen. Der Täuschungsmanöver liebt. Aber das ist noch lange nicht alles, oder?«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Es muss noch etwas gegeben haben, das über das bloße Kalkül hinausgeht. Ein grausamer Zug. Ein eiserner Überlebenswille. Der Greifer war zweifellos ein Mensch, dem das Leben eines anderen Menschen nicht einmal ansatzweise so wichtig war wie das eigene. Demnach suchen Sie möglicherweise auch nach einem Mann mit einem beträchtlichen Ego. Einem Mann, der glaubt, er hätte Großes vollbracht. Das ist kein dummer Mensch. Nicht so ein beschränkter, grober Klotz wie ein Lageraufseher. Die Buchhaltermentalität der SS-Bürokraten, die dafür sorgten, dass die Güterzüge fahrplanmäßig fuhren, die suchen Sie bei ihm auch vergeblich. Wollte ein Greifer überleben, musste er schon genial sein. Findig. Sehen Sie das nicht?«

»Ja, aber wie komme ich diesem Menschen auf die Spur? Hier unter all den Überlebenden?«

Rosen legte wieder eine Pause ein, dann lachte er auf.

»Also, das wird unmöglich sein, Mr.Winter. Wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. Unter Tausenden ist einer nicht genau das, was er zu sein vorgibt. Dennoch wäre er ein Experte. Er wüsste alles, was die Überlebenden wissen. Er wüsste um all ihre Qualen, weil er Anteil daran hatte. Er hätte Zugang zu denselben Alpträumen, doch er würde nicht mitten in der Nacht aufwachen und den Namen eines Angehörigen schreien, der damals in die Gaskammer ging. Sehen Sie, Mr.Winter, er hätte keinen Schaden genommen, wäre vollkommen intakt. Und zugleich in seinem innersten Wesen falsch. Außerdem wäre da irgendwo tief drinnen ein unbändiger Hass … Wie gesagt, faszinierend. Wirklich faszinierend.«

»Ich muss ihn finden.«

»Ist es denn ein er? Manche Greifer waren Frauen. Haben Sie einen Namen?«

»Nur einen Decknamen. Der Schattenmann.«

Der Begriff schien Rosen nichts zu sagen.

»Und Sie glauben, er ist hier?«

»Ja.«

Rosen sprach weiter im selben gleichmütigen Ton. »Und Sie wollen ihn unbedingt finden? Wieso?«

»Ich glaube, dass er erneut getötet hat.«

»Oha, also das ist wirklich interessant. Wen denn?«

»Jemanden, der ihn möglicherweise wiedererkannt hat.«

»Das leuchtet ganz und gar ein. Und was haben Sie mit der Sache zu tun?«

»Das Opfer war meine Nachbarin.«

»Ach so, auch das leuchtet ein. Rache?«

»Ich möchte ihn aufhalten.«

Wieder kehrte in der Leitung Stille ein, und Winter dachte eine Sekunde lang, er sollte etwas sagen, doch er tat es nicht. Nach einer ganzen Weile setzte der Mann dem Schweigen ein Ende, denn er sagte ruhig und bestimmt: »Ich glaube nicht, dass Ihnen das gelingt.«

»Und wieso nicht?«, fragte Winter.

»Weil er ein Experte auf dem Gebiet des Todes ist. Aller Arten von Tod.«

»Das bin ich auch.«

»Und die Zeit, Mr.Winter. Sie hat die besseren Karten als Sie.«

 

Simon Winter stand vom Tisch auf und trat ans Fenster. Es war später Nachmittag, und der Hof des Sunshine Arms war von warmem Sonnenlicht überflutet. Der Posaunenengel schien sich darin wohl zu fühlen und die letzten Strahlen zu genießen, bevor sich die drückende Schwüle der Nacht über die City legte. Zum ersten Mal, seit Sophie Millstein bei ihm an die Tür geklopft hatte, beschlich Simon Winter ein Gefühl der Niederlage. Jeder, mit dem er sprach, erzählte ihm das Gleiche: Tod und Vergeblichkeit. Er hob die Hand und strich sich über die Stirn. Vor Frustration rieb er so fest, dass seine Haut sich rötete. Das bringt mich noch um, dachte er. Bei dem Gedanken schmunzelte er schuldbewusst – schließlich hatte er genau das vorgehabt, als Sophie Millstein vor seiner Wohnungstür stand.

Er beschloss, einen Spaziergang zu machen und zu sehen, ob vielleicht die Bewegung ihm eine zündende Idee verschaffte, die seine Ermittlungen beflügelte. Er drehte sich also um, griff nach seiner zerknitterten alten Dolphins-Basketballkappe und hatte die Hand bereits am Türknauf, als hinter ihm das Telefon klingelte. Er zögerte und überlegte, ob er die Nachricht später auf dem Anrufbeantworter abhören sollte, verwarf jedoch den Gedanken und war mit wenigen Sätzen am Apparat. Er nahm den Hörer in dem Moment ab, als sich das Band einschaltete.

»Nein, ich bin da, warten Sie«, übertönte er seine eigene metallische Stimme.

»Mr.Winter?« Es war Frieda Kroner.

»Ja, Mrs.Kroner, was gibt’s?«

»Irving«, sagte sie. Ihre Worte klangen hart wie Eisen. »Die Rettungsschwimmerstation am South Point. Die letzte vor der Mole. Wir warten dort auf Sie.«

 

Er sah drei Polizeiautos auf einem Sandstreifen neben dem Zugang zum Strand. Seitlich davon befand sich ein kleiner Park, durch den sich ein Trimm-dich-Pfad wand. Er verfügte über ein halbes Dutzend Picknickplätze sowie ein paar Schaukeln und Wippen; an den Wochenenden war er beliebt; viele der Immigrantenfamilien, die in engen, niedrigen Wohnblocks unmittelbar am Rande von South Beach lebten, feierten dort ihre Partys. Außerdem war das Gelände ein beliebter Aufenthaltsort der Obdachlosen, weil es nachts nicht sonderlich streng bewacht wurde, und schließlich bot der Park auch noch den Modezeitschriften eine begehrte Kulisse für ihre Hochglanzfotos, da er an den Government Cut grenzte, den breiten Kanal, über den die Kreuzfahrtschiffe ins offene Meer hinausfuhren. Es konnten sich auch kleine Dramen abspielen, wenn ein Mann, dessen Hoffnungen so zerschlissen waren wie seine Kleider, hungrig zusah, wie Hühnchen und Kochbananen gegrillt wurden, wie Kinder spielten und wenige Meter davon entfernt ein Model sündhaft teure Abendroben und Juwelen trug, um damit vor einem Fotografen zu posieren.

Von der langen Mole aus konnte man meilenweit ins offene Meer hinaus sehen oder aber in entgegengesetzter Richtung die klare Skyline der City betrachten. Hinter dem Cut lag Fisher Island, ein Wohnviertel mit eigenem Fährdienst, in dem die Reichen, die sündhaft Reichen, unter sich waren. Auch Angler liebten die Mole, wenngleich der Strand selbst hier unten nicht zu den begehrtesten Stellen zählte. Da er nun mal an der Spitze von Miami Beach lag, gab es hier die höchsten Wellen, und die Brandungsrückströmungen waren gefährlicher als überall sonst. Einige Surfer lockte gerade das. Die Touristen wurden meistens angehalten, sich lieber an den ausgedehnten Sandstränden eine Meile weiter oben zu tummeln. Es gab einen Holzsteg, der zur Mole hinausführte. Von dort aus entdeckte Simon Winter auch sehr schnell die einsame Rettungsschwimmerstation.

Rund um den Strandwart-Hochsitz aus blassgrünem Holz zählte er ein halbes Dutzend Polizisten. Im selben Moment entdeckte er auch Rabbi Rubinstein und Frieda Kroner, die in vielleicht sechs, sieben Metern Entfernung standen und den Polizisten zusahen, die nicht recht zu wissen schienen, was von ihnen erwartet wurde. Ein einziger Mann von der Spurensicherung, der trotz der Hitze Schlips und Jackett trug, beugte sich über den Sand, doch Simon Winter konnte nicht sehen, was er dort überprüfte. Ein zweiter Mann war ähnlich beschäftigt, kehrte Winter jedoch den Rücken zu.

Er eilte hinüber, so dass seine Basketballschuhe auf den Holzbohlen ein Geräusch verursachten, das an den Hufschlag eines Pferdes erinnerte.

Der Rabbi drehte sich zu ihm um, während Frieda Kroner unverwandt auf die Polizisten starrte.

»Mr.Winter«, grüßte der Geistliche langsam. »Danke, dass Sie hergekommen sind.«

»Was ist passiert?«

»Sie haben uns angerufen, das heißt, Frieda.«

»Haben sie Mr.Silver gefunden?«

»Nein«, erwiderte Frieda Kroner, ohne sich von den Polizisten loszureißen. »Sie haben seine Kleider gefunden.«

»Was?«

Der Rabbi schüttelte den Kopf. »Der Polizist hat sie angerufen. Offenbar hat irgendein Jugendlicher versucht, in einem Einkaufszentrum eine Kreditkarte zu benutzen, und die Verkäuferin in der Abteilung für Videospiele befand, dass der Junge, der, wie sich herausstellte, in Wahrheit Ramón oder José oder Eduardo hieß, nicht wie ein Irving aussah, und so rief sie die Polizei. Der Teenager druckst herum, tischt erst eine, dann eine andere Geschichte auf, doch als jemand Klartext mit ihm redet, rückt er bald mit der Wahrheit heraus und sagt, er hätte diese Brieftasche mit der Kreditkarte gefunden. Sie glauben ihm nicht, aber er bleibt dabei, und so fahren die Beamten schließlich mit ihm hier raus, und er zeigt es ihnen.«

»Was?«

»Irvings Kleider. Am Strand, als hätte er sie dort abgelegt.«

»Und die Brieftasche?«

»Die lag obendrauf.«

Simon Winter nickte.

»Hier hat er ihn umgebracht«, erklärte Frieda Kroner leise.

Der alte Detective holte tief Luft und dachte: Nein, das glaube ich nicht.

Er ließ die beiden stehen und lief eilig über den Sand. Mit jedem Schritt wuchs sein Zorn über seine Unfähigkeit und Dummheit. Doch mit jedem wütenden Schritt versuchte eine andere Stimme in seinem Innern, ihn zu beruhigen und zur Wachsamkeit zu ermahnen, denn vielleicht, dachte er, gibt es hier etwas zu erfahren, und er wusste aus seiner Zeit als Detective, dass Frustration mehr als irgendetwas sonst seine Beobachtungsgabe trübte.

Zwei der uniformierten Polizisten lösten sich aus der Traube und traten ihm in den Weg.

»Das hier ist ein abgesperrter Bereich, Senior«, verkündete einer von ihnen mit der Arroganz der Jugend.

»Wer leitet hier die Ermittlungen?«, erkundigte sich Winter in scharfem Ton.

»Der Detective. Und wer will das wissen?«, konterte der Streifenpolizist gereizt.

Winter war kurz davor, die Hand auszustrecken und den jüngeren Mann wegzuschieben, zögerte jedoch, und in dieser Sekunde hörte er eine Stimme, die ihm bekannt vorkam:

»Ich, Mr.Winter.«

Über die Schulter des jungen Beamten hinweg sah er, wie sich Walter Robinson langsam aus dem Sand erhob. Robinson machte dem jungen Uniformierten Zeichen. »Lassen Sie ihn durch.«

Simon Winter stapfte auf ihn zu. Walter Robinson reichte ihm nicht die Hand, sondern sagte stattdessen: »Ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen. Anderenfalls hätte ich Sie aufgesucht.«

»Und wieso?«, wollte Winter wissen.

Der junge Detective antwortete nicht, sondern stellte seinerseits eine Frage. »Sie kannten Mr.Silver?«

»Ja.«

»Und auch Sophie Millstein.«

»Das liegt auf der Hand, Detective.«

Robinson fasste Winter am Ellbogen und führte ihn zu einer Stelle, an der ein Kriminaltechniker Tatortfotos machte.

Der Mann sah zu Robinson auf. »Kommen Sie schon, Walt. Lassen Sie mich den Scheiß hier eintüten und meine richtige Arbeit machen.«

Walter Robinson schüttelte den Kopf.

»Also, Mr.Winter«, sagte er ruhig. »Sie waren mal Detective. Was sehen Sie?«

Der Techniker hörte mit und warf seine eigene Antwort ein: »Walter, also wirklich. Das sieht doch nun echt ein Blinder. Alter Mann will Schluss machen, kommt nachts hierher, wo er ungestört ist, faltet seine Kleider ordentlich zusammen und watet in die Brandung. In ein paar Tagen wird die Leiche, je nach Strömung, weiter oben am Strand an Land gespült. Sollten die Küstenwache anrufen, damit sie ein Auge drauf haben.«

Robinson funkelte den Techniker verärgert an. »Das sehen Sie«, erklärte er kalt. »Mich interessiert, was dieser Herr hier sieht.«

Winter suchte den Strand sorgfältig ab. Er fand Silvers Kleider so zusammengefaltet vor, wie der Techniker sie beschrieben hatte: die Hinterlassenschaft eines Mannes, der ein ordentliches Ende wünscht.

»Die Brieftasche lag obendrauf?«

»Ja«, bestätigte Robinson.

»Sonst irgendwas am Strand?«

»Wir haben nichts finden können.«

»Kein Abschiedsbrief?«

»Nein.«

»Haben Sie die Kleider untersucht?«

»Nur so, wie sie da liegen.«

Winter kniete sich neben die Sachen. »Darf ich?«, fragte er.

Robinson hockte sich neben ihn. Er hielt einen Asservatenbeutel hoch.

»Nur zu«, ermunterte er ihn.

Es war ein flacher Strohhut dabei. Simon Winter nahm ihn und drehte ihn um. Er sah die Initialen I.S. ins dunkel verfleckte Schweißband eingestanzt. Er machte Robinson darauf aufmerksam und warf den Hut dann in den Beutel. Als Nächstes nahm er sich das geblümte Polyesterhemd vor. Die Blumenranken waren zu blaugrünen Girlanden verschlungen. Er ließ den Blick langsam über das komplizierte Muster schweifen und betastete den Stoff mit den Fingern, bis er den Kragen erreichte. Hier hielt er inne. Er merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, und einen Moment lang war ihm schwindelig.

»Da«, sagte er leise, fast im Flüsterton.

Robinson beugte sich vor und tastete an der Stelle, auf die Winter zeigte, über das Gewebe. Er nahm das Hemd selbst in die Hände, hielt es gegen das späte Dämmerlicht und überprüfte es mit zusammengekniffenen Augen.

Der junge Ermittler nickte und ließ den Atem hörbar zwischen den Zähnen entweichen. »Kann sein«, meinte er. »Ich denke, Sie könnten richtigliegen.«

Winter stand auf und blickte übers Meer. Jede Welle, die an den Strand schlug, schien nach der rasch einsetzenden Nacht zu greifen und die Dunkelheit über die Küste zu werfen.

»Es ist Blut«, erklärte Winter. »Irving Silvers Blut.«

»Allerdings nicht viel«, wandte Robinson bedächtig ein. »Könnte nichts weiter als ein Schnitt beim Rasieren gewesen sein.« Dann drehte er sich zu dem Techniker um. »Tüten Sie diese Sachen sorgfältig ein.« Er winkte den uniformierten Polizisten zu. »Ich will, dass diese Stelle weiträumig abgesperrt wird. Es könnte der Tatort eines Mordes sein.«

Simon Winter blickte eine Weile schweigend über den Ozean, während die frische Brise allmählich der nächtlichen Schwüle wich.

»Er ist nicht da draußen«, sagte er leise.

»Wer ist nicht da draußen?«, fragte Walter Robinson nach.

»Irving Silver.« Winter hob die Hand und richtete sie aufs Meer. »So soll es aussehen. Dass er irgendwo dort draußen ertrunken ist. Von den Wellen verschlungen. Aber das stimmt nicht.«

»Wo ist er dann?«, wollte der junge Detective wissen.

»Woanders. Irgendwo weit weg, in der Einöde vielleicht. Zum Beispiel in den Everglades.«

»Die Leiche an einer Stelle, die Kleider hier?«

»Genau.«

Walter Robinson pfiff leise und starrte ebenfalls ins Weite. »Das wäre clever. Das würde uns wirklich ganz schön alt aussehen lassen.« Er überlegte, dann fügte er hinzu: »Vielleicht haben Sie recht.«

Winter drehte sich zu dem jungen Ermittler um. »Sie erwähnten, Sie wollten mich aufsuchen? Wieso?«

»Weil ich mich neuerdings«, erwiderte Walter Robinson bedächtig, »für Geschichte interessiere.«