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Bis sie in ihr Büro kam, war es weit nach Mitternacht. Abgesehen von der Telefonzentrale und ein paar Streifenpolizisten, die Nachtdienst schoben, war das Gebäude verwaist. Die Kollegen, die über das nahe gelegene College und die Vorstadtstraßen wachten, waren draußen auf Streife oder tummelten sich in einem Dunkin’ Donuts, um sich mit Kaffee und einem süßen Snack zu stärken.

Sie eilte zu ihrem Schreibtisch und rief augenblicklich die Polizei-Nebendienststellen an der Busstation in Springfield und dem Bahnhof im Zentrum an. Des Weiteren meldete sie den Fall bei der Kaserne der Staatspolizei an der Mautschranke sowie der Verkehrspolizei von Boston. Die Gespräche waren kurz und bündig – eine allgemeine Beschreibung von Jennifer, eine knappe Bitte, die Augen nach ihr offen zu halten, und das Versprechen, noch ein Foto sowie eine Vermisstenmeldung zu faxen. Auf offizieller Ebene brauchten die Dienststellen jeweils eine eigene Ausfertigung der Dokumente, um in Aktion zu treten; inoffiziell genügte es vielleicht, ein paar Telefonate zu führen und ein paar Funkmeldungen an die Nachtschicht der Busstation und auf den Autobahnen rauszugeben. Mit ein bisschen Glück, hoffte Terri, würde ein Staatspolizist die Kleine irgendwo mutterseelenallein als Anhalterin an einer Auffahrt stehen sehen. Oder ein Cop erwischte sie irgendwo in einer Schlange an einem Schalter am Nordbahnhof, und der Fall wäre mehr oder weniger gelöst: eine Standpauke, eine Fahrt im Streifenwagen, eine tränenselige (die Mutter) und trotzige (die Tochter) Wiedervereinigung, und alles wäre wie gehabt, bis sie das nächste Mal beschloss zu türmen.

Terri arbeitete zügig daran, die Voraussetzungen für ein rosiges Wir haben sie!-Szenario zu schaffen. Sie warf Tasche, Polizeimarke, Revolver und Notizbuch auf ihren Schreibtisch in dem Kaninchenbau mit der offiziellen Bezeichnung Büro der Kriminalpolizei, unter den Cops als Gold Shield City bekannt. Sie wählte eine Nummer nach der anderen, sprach persönlich mit Einsatzzentralen und den Kollegen vom Nachtdienst und legte dabei den bewährten, freundlich forschen Ton an den Tag, der signalisierte, dass sie zügiges Handeln erwartete.

Als Nächstes war der Sicherheitsdienst von Verizon Wireless an der Reihe. Sie stellte sich der Person im Callcenter in Omaha vor und erklärte ihr die Dringlichkeit der Situation. Sie wolle, dass ihr jeder Gebrauch von Jennifers Handy unverzüglich gemeldet wurde, einschließlich dem Handymast, über den der Anruf gesendet wurde. Vielleicht war Jennifer ja nicht bewusst, dass ihr Handy wie eine Signalstation war, die sich zu ihr zurückverfolgen ließ. Sie ist zweifellos schlau, dachte Terri, aber so schlau nun auch wieder nicht.

Anschließend benachrichtigte Terri den nächtlichen Sicherheitsdienst der Bank of America, damit die Leute ihr Bescheid gaben, wenn Jennifer versuchte, ihre Kontokarte zu benutzen. Sie hatte keine Kreditkarte – Mary Riggins und Scott West hatten ihr unmissverständlich klargemacht, dass ein solcher Luxus etwas für die Kinder betuchterer Eltern sein mochte, aber nichts für Jennifer. Terri hatte ihnen die Beteuerung nicht ganz abgekauft.

Sie überlegte, ob es sonst noch irgendetwas gab, das sie gegen Jennifers Unsichtbarkeit unternehmen konnte. Sie war bereits über die formalen Richtlinien ihrer Dienststelle hinausgegangen, denn streng nach Vorschrift konnte man eine Vermisstenanzeige erst nach Ablauf von vierundzwanzig Stunden aufgeben, und es wurde nicht als Verbrechen eingestuft, von zu Hause wegzulaufen. Noch nicht – nicht, bis tatsächlich etwas passierte. Es ging hier aber darum, das Kind zu finden, bevor ein Verbrechen passierte.

Nachdem sie die Anrufe erledigt hatte, trat Terri an einen großen schwarzen Aktenschrank in einer Ecke des Büros. Die Familienakte der Riggins dokumentierte die beiden vorherigen Ausreißversuche. Nach dem letzten Versuch vor über einem Jahr hatte Terri den Ordner in der Abteilung für nicht abgeschlossene Fälle gelassen. Eigentlich hätte er ins Archiv gehört, doch Terri hatte gewusst, dass es früher oder später zu dieser Nacht kommen würde, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, wieso.

Sie nahm den Ordner aus dem Schrank und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Die meisten Informationen hatte sie im Kopf – Jennifer war ein Teenager, den man nicht so leicht vergaß –, doch sie wusste, dass es wichtig war, die Details durchzugehen, da es bei einem ihrer früheren Versuche vielleicht irgendeinen Hinweis darauf gab, wohin es sie heute ziehen mochte. Gute Polizeiarbeit passierte zu einem beträchtlichen Teil auf die Ochsentour und erforderte einen Blick fürs kleinste Detail. Sämtliche Berichte zu dem Fall, die sie die bürokratische Befehlskette hinaufschickte, sollten eindeutig zu erkennen geben, dass sie jeder erfolgversprechenden Spur nachgegangen war, so gering die Aussichten auf »Erfolg« auch schienen.

Sie seufzte. Es würde nicht so leicht werden, Jennifer zu finden. Im Grunde konnte sie nur hoffen, dass dem Teenager das Geld ausging, bevor ein Zuhälter sie zur Prostitution zwang oder drogenabhängig machte oder bevor sie vergewaltigt und ermordet wurde und Terri nur noch bei ihrer Mutter anrufen musste, um ihr das mitzuteilen. Das Problem war, wie ihr immer klarer wurde, dass Jennifer diese Flucht vorbereitet hatte. Sie war ein entschlossenes junges Mädchen, eigensinnig und intelligent. Terri glaubte nicht, dass Jennifer es in den Genen hatte, bei den ersten Schwierigkeiten aufzugeben.

Terri öffnete die Fallakte und legte sie neben den Laptop, den sie aus Jennifers Zimmer mitgenommen hatte. Jennifer hatte auf dessen Deckel zwei leuchtend rote Blumensticker und einen »Rettet die Wale«-Stoßstangenaufkleber angebracht. Normalerweise hätte Terri bis zum Morgen gewartet und dann die Staatsanwaltschaft gebeten, den Computer von einem ihrer Kriminaltechniker untersuchen zu lassen. Bürokratie hoch zwei. Doch Terri hatte als Gasthörerin an der hiesigen Universität einen Graduiertenkurs in Internetkriminalität belegt, und sie wusste schon genug, um auf die Festplatte zu kommen und von dem gespeicherten Inhalt ein Geisterbild zu erstellen und anschließend sämtliche Daten auf einen USB-Stick zu speichern. Sie griff nach dem Laptop und öffnete ihn.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster und stellte fest, dass die erste Morgendämmerung durch die Zweige der stattlichen braunen Eiche am Rand des Parkplatzes fiel. Sie verweilte eine Minute bei dem Anblick. Das Licht sickerte durch die Blattknospen, kroch über die raue Rinde des Baums und machte sich entschlossen daran, die Schatten zu vertreiben. Sie wusste, dass sie nach der durchgearbeiteten Nacht eigentlich erschöpft sein müsste, doch das Adrenalin gab ihr noch einen Rest Energie. Kaffee könnte nicht schaden, dachte sie.

Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie bald zu Hause anrufen musste, um dafür zu sorgen, dass Laurie die Kinder weckte, ihnen ihr Lunchpaket richtete und sie rechtzeitig für den Bus aus der Wohnung scheuchte. Sie hasste es, nicht da zu sein, wenn sie erwachten – auch wenn die Kinder sich wahrscheinlich freuen würden, Laurie zu sehen. Sie fanden es immer aufregend, wenn ihre Mutter zu einem mitternächtlichen Polizeieinsatz gerufen wurde. Einen Moment schloss Terri die Augen und geriet in Panik: Würde Laurie sich vergewissern, dass sie in den Bus einstiegen? Sie würde sie doch wohl nicht einfach auf dem Bürgersteig warten lassen …

Terri schüttelte den Kopf. Dafür war ihre Freundin viel zu verlässlich. Die Angst, gab sie zu, sitzt immer dicht unter der Haut und lauert nur darauf, durchzubrechen.

Sie drückte auf den Einschaltknopf des Computers, und der Apparat ging blinkend an. Bist du da, Jennifer? Was wirst du mir verraten? Sie wusste, dass jede Minute, die verging, wertvoller war als die letzte. Sie wusste auch, dass sie auf das Plazet von oben hätte warten müssen, um den Laptop auszuloten. Aber das war ihr einerlei.

 

Michael war über alle Maßen mit sich zufrieden.

Nachdem er den gestohlenen Lieferwagen verbrannt hatte, war er auf der Autobahn zu einer Raststätte abgebogen. Zwischen einem McDonald’s und einem geschlossenen Joghurteis-Stand beobachtete er dort, eine Tasse Kaffee in der Hand, die Reisenden, die an ihm vorüberströmten, und wartete, bis er sicher sein konnte, dass niemand in der Damentoilette war. Er hatte mit einem Blick erfasst, dass es im Vorraum zu den Toiletten keine Sicherheitskameras gab. Dennoch hatte er die ganze Zeit eine dunkelblaue Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, so dass der Schirm sein Profil vor einer irgendwo versteckten Linse schützte.

Er zerknüllte den Kaffeebecher, warf ihn in den Abfalleimer und lief zur Tür mit der Aufschrift HERREN, um im letzten Moment in die benachbarte Tür auszuscheren. Er blieb nur wenige Sekunden – gerade lange genug, um Jennifer Riggins’ Bibliotheksausweis mit der Vorderseite nach oben neben einem WC zu plazieren, wo er wahrscheinlich von der nächsten Putzkolonne beim Wischen des Bodens aufgelesen würde. Er wusste zwar, dass sie den Ausweis vielleicht einfach in den Abfall werfen würden, doch mit ein bisschen Glück taten sie es nicht.

Wieder in seinem Truck, machte es sich Michael auf dem Fahrersitz bequem und zog einen kleinen Laptop heraus. Zu seiner Zufriedenheit stellte er fest, dass das Raststättengelände eine drahtlose Internetverbindung bot.

So wie der Lieferwagen, den sie verwendet hatten, war auch der Computer gestohlen. Er hatte ihn vor drei Tagen von einem Tisch im Speisesaal an der Universität geklaut. Es war ein Kinderspiel gewesen. Er schnappte sich den Computer einfach, als ein Student aufstand, um sich einen Cheeseburger zu besorgen. Mit Fritten, tippte Michael. Das Entscheidende bei der Aktion war gewesen, ihn sich nicht einfach zu nehmen und damit wegzurennen und unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Stattdessen hatte er ihn in eine schwarze Laptoptasche aus Neopren gesteckt und war damit zu einem Tisch auf der anderen Seite des Saals gegangen, hatte dort gewartet, bis der Student zurückkehrte, den Verlust entdeckte und brüllte. Er hatte das Diebesgut in einem Rucksack versteckt und war zu der kleinen Gruppe zurückgekehrt, die den wütenden Studenten umringte.

»Mann, du musst sofort den Sicherheitsdienst verständigen«, hatte er im Brustton des älteren Semesters geraten. »Ich würde da keinen Moment warten.« Diese Ansicht war allgemein auf zustimmendes Gemurmel gestoßen, und in der kurzen Zeit danach, in der Handys gezückt wurden und Wirrwarr herrschte, hatte sich Michael einfach mitsamt Rucksack und Laptop dezent aus dem Staub gemacht. Danach war er forsch durch die Studentencliquen marschiert, die draußen auf dem Parkplatz standen, wo Linda auf ihn wartete.

Mancher Diebstahl, dachte er, war unglaublich einfach. Mit Hilfe des Laptops hatte Michael binnen Sekunden einen Fahrkartenschalter für die Trailway-Buslinien nach Boston gefunden. Anschließend hatte er die Kreditkartennummer der Visa-Karte eingetippt, die er aus Jennifers Brieftasche hatte. Er nahm an, dass es sich bei »M. Riggins« um ihre Mutter handelte. Er kaufte eine einfache Fahrkarte für einen Bus, der um 2 Uhr morgens nach New York fuhr. Es ging darum, für den Fall, dass jemand nach Jennifer suchte, eine erste Spur zu legen. Eine Spur, die bald im Sande verlief, dachte er.

Danach hatte er den Gang eingelegt und den Rastplatz verlassen. Er kannte einen Müllcontainer hinter einem großen Bürogebäude nicht weit von Boston, der frühmorgens geleert wurde, und wollte den Laptop dort unter jeder Menge Abfall entsorgen. Sollte jemand clever genug sein, die Reservierung zurückzuverfolgen, so würde er eine ziemlich seltsame IP-Adresse finden.

Die nächste Station war der Busbahnhof von Boston. Es handelte sich um ein wuchtiges, quadratisches Gebäude, das sich in Diesel- und Ölschwaden und grelles Neonlicht hüllte. Es herrschte ein unablässiger Gezeitenwechsel aus Passagieren und Bussen, die in die Straßen und die Sehenswürdigkeiten der City strömten, bevor sie auf der Route 93 nach Norden oder Süden beziehungsweise auf der 90 nach Westen weiterfuhren. Es erinnerte ihn daran, wie sich, wenn man ein Thermometer auf einen harten Boden fallen lässt, die winzigen silbernen Quecksilberkügelchen in alle Richtungen ausbreiten.

Die Busstation verfügte über eine elektronische Fahrkartenausgabe, doch er wartete, bis sich mehrere Leute um den Apparat scharten, der einem Bankautomaten glich. Er stellte sich an, zog die gestohlene Visa-Karte durch und bekam den Fahrschein. Es stand »M. Riggins« drauf. Er hielt den Kopf gesenkt. Er wusste, dass sich ein großer Teil des Busbahnhofs im Visier von Überwachungskameras befand, und konnte sich vorstellen, dass ein Cop die Zeitangabe auf dem Fahrschein mit einer Videoaufzeichnung vergleichen und feststellen konnte, dass von Jennifer weit und breit nichts zu sehen war. Achtung, sagte eine warnende Stimme in seinem Kopf.

Sobald er den Fahrschein hatte, ging er zur Herrentoilette. Drinnen vergewisserte er sich, dass er allein war, dann schloss er sich in eine Kabine ein. Er öffnete seinen Rucksack und zog eine Jacke heraus, dazu einen Topfhut mit schlaffer Krempe sowie einen falschen Backen- und Schnurrbart. Er brauchte nur wenige Sekunden, um sein Äußeres zu verwandeln, wieder hinauszugehen und eine dunkle Ecke zu finden, in der er wartete.

An dem Bahnhof herrschte rund um die Uhr Polizeipräsenz, die allerdings einen eher gelangweilten Eindruck machte. Die Hauptaufgabe der Bullen bestand darin, die Augen nach Obdachlosen offen zu halten, die hierher kamen, um die Nacht an einem warmen, sicheren Ort zu verbringen, jedoch die vielen Asyle, welche ihnen zu Gebote standen, mieden. Die andere Aufgabe der Bullen war es wohl, Übergriffe zu verhindern, die unerwünschte Schlagzeilen nach sich ziehen könnten. Der Busbahnhof war ein Ort voller Spannungen; Michael hatte ein Gespür dafür, dass hier normale, unbescholtene Bürger und kriminelle Elemente aufeinandertrafen, zwei unvereinbare Welten allzu eng auf Tuchfühlung gingen. Er selbst gehörte allem Anschein nach zur unbescholtenen Sorte, eine gelungene Tarnung.

Eine ganze Weile wartete er auf einem unbequemen Hartschalensessel aus rotem Plastik und trommelte nervös mit den Zehen, während er sich so lange bedeckt hielt, bis er sah, was er brauchte: drei Mädchen im College-Alter mit einem offenbar nicht sehr aufmerksamen Freund. Sie hatten alle Rucksäcke dabei und schienen sich aus der vorgerückten Stunde nichts zu machen. Andererseits sahen sie nach typischen Gutmenschen aus, die sich bemühen würden, das Richtige zu tun, wenn sie etwas fanden, das ihnen nicht gehörte. Sie würden es jemandem melden. Und genau das entsprach seiner Absicht. Geheimnis über Geheimnis.

Mit hochgeschlagenem Kragen und heruntergezogenem Hut, weil an dieser Stelle mit Sicherheit alles aufgezeichnet wurde, stellte er sich gemächlich hinter ihnen in die Schlange. Dieses verdammte Antiterrorgesetz, witzelte er innerlich angesichts der Überwachungswut. Nur dass man in Internetforen unschwer Beiträge finden konnte, die einem ziemlich präzise verrieten, wo sich die Dinger befanden und wie sie eingestellt waren. Er wartete, bis der Trupp College-Kids sich bis zum Schalter weiterschob, wo sich alle gleichzeitig von dem gestressten Fahrkartenverkäufer abfertigen ließen. Genau in diesem Moment griff er nach vorne und steckte heimlich die Visa-Karte in eine offene Seitentasche an einem der Rucksäcke.

Taschenspielertrick, dachte er, eines Houdini würdig. Darüber musste er grinsen, denn auf seine Art war das, was er und Linda fertiggebracht hatten, Magie: Jennifer hat sich in Luft aufgelöst.

An ihrer Stelle erschien, in Handschellen und Kapuze, ein Standbild von Nummer 4 in der Cyberwelt da draußen.