25

Es mochte Adrian überraschen, dass Mark Wolfe, dreifach überführter Sexualstraftäter und zwanghafter Exhibitionist, so normal klang, keineswegs aber die Kripobeamtin neben ihm.

»Ich hab nichts getan«, wiederholte Wolfe. »Und wer ist das?« Er zeigte weiter mit dem Finger auf Adrian, während er seine Frage an Terri Collins richtete.

Von der anderen Seite des Zimmers meldete sich Wolfes Mutter: »Was soll das eigentlich? Unsere Serie geht gleich los. Marky, sag den Leuten, dass sie gehen sollen. Gibt’s schon Abendessen?«

Mark Wolfe drehte sich ungeduldig zu seiner Mutter um. Er nahm eine Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher aus. Jerry, Eileen und Kramer verschwanden, wie sehr sie sich auch gerade über irgendetwas in den Haaren lagen. »Wir haben schon gegessen«, sagte er. »Die Sendung geht bald los, und sie gehen sowieso gleich wieder.«

Er funkelte Detective Collins wütend an. »Und, was wollen Sie?«

»Ich glaube, ich stricke noch ein bisschen«, sagte seine Mutter. Sie trat den Rückzug zu dem Sessel mit der Handarbeit und dem Korb mit der Wolle und den Stoffproben an.

»Nein«, sagte Mark Wolfe, »das kann warten.«

Adrian schielte zur Mutter hinüber. Sie hatte ein schiefes Grinsen im Gesicht. Obwohl ihr Ton eben noch besorgt war, grinste sie. Frühe Form von Alzheimer, schoss es Adrian durch den Kopf. Die Schnellfeuerdiagnose hatte einen schalen Beigeschmack; Alzheimer betraf denselben Teil des Gehirns und beeinträchtigte viele derselben Denkprozesse wie seine eigene Krankheit. Sie nahm einfach nur einen schleichenderen Verlauf und war schwerer in den Griff zu bekommen. Seine dagegen war unerbittlich und schnell, doch auch die Frau, die offenbar nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte, konnte sich dem, was mit ihr geschah, so wenig entziehen wie ein morgendlicher Strand dem allmählichen Anstieg der Flut. Der Blick auf die Mutter war ein wenig wie ein Blick in einen Zerrspiegel.

Er erkannte sich darin wieder, wenn auch nur verschwommen. Ihm kroch die Angst hoch, und er konnte sich von der Frau mit dem wilden Haar nicht lösen, bis er Detective Collins sagen hörte: »Das ist Professor Thomas. Er hilft mir bei einer laufenden Ermittlung. Wir haben ein paar Fragen an Sie.«

Wieder Mark Wolfes festgefahrene Schallplattenrille: »Ich hab nichts Unrechtes getan.«

Die energische Stimme der Polizistin holte Adrian in die Gegenwart zurück, und er konzentrierte sich auf den Sohn. Er hatte viele Stunden damit zugebracht, bei Versuchstieren und freiwilligen Studenten verschiedene Arten und Grade von Angst zu taxieren. Er sagte sich, dass dies hier auf derselben Linie lag. Er beäugte Wolfe und achtete auf verräterische Anzeichen für innere Panik, Verschleierung und Unaufrichtigkeit. Ein Zucken im Auge. Ein Abwenden des Gesichts. Eine Veränderung im Ton. Ein Zittern der Hand. Schweiß auf der Stirn.

»Ihre Bewährungsauflagen verlangen, dass Sie einer geregelten Beschäftigung nachgehen …«

»Ich habe einen Job. Das wissen Sie. Ich verkaufe Elektronik und Haushaltsgeräte.«

»Und Sie dürfen sich nicht in der Nähe von Spielplätzen oder Schulen aufhalten …«

»Haben Sie gesehen, wie ich gegen irgendeine dieser Auflagen verstoße?«, fragte Wolfe.

Adrian registrierte, dass er nicht geantwortet hatte: Ich war nicht auf einem Spielplatz oder in der Nähe einer Schule. Er hoffte, dass auch Terri Collins den Unterschied wahrgenommen hatte.

»Und Sie müssen sich einmal im Monat bei Ihrem Bewährungshelfer melden …«

»Tu ich auch.«

Selbstverständlich tust du das, dachte Adrian. Der Besuch dort erspart dir den Knast.

»Und Sie müssen sich einer Therapie unterziehen …«

»Sicher. Große Sache.«

Terri legte eine kurze Pause ein. »Wie läuft das denn so?«

»Das geht Sie nichts an«, platzte Wolfe heraus.

Adrian rechnete damit, dass die Ermittlerin ihrerseits in scharfem, forderndem Ton reagieren würde, und war beeindruckt, als Terri Collins eher sachlich, bürokratisch nachhakte: »Sie sind dazu verpflichtet, meine Fragen zu beantworten, ob sie Ihnen gefallen oder nicht – alles andere ist ein Verstoß gegen Ihre Entlassungsauflagen. Ich bin gerne bereit, Ihren Bewährungshelfer anzurufen und mir seine Einschätzung Ihrer Weigerung einzuholen. Ich habe seine Nummer zufällig in meinem Notizbuch.«

Adrian vermutete darin zwar einen Bluff, doch der kompromisslose Ton sagte ihm, dass die bloße Androhung eines solchen Telefonats bereits genügte und der Delinquent das ebenso wusste wie die Ordnungshüterin.

Wolfe zögerte. »Der Doc sagt, meine Therapie sei vertraulich. Ich meine, eine Sache zwischen ihm und mir.«

»In den meisten Fällen stimmt das. In Ihrem nicht.«

Wolfe überlegte. Er warf einen Blick zu seiner Mutter hinüber, die es sich in ihrem Sessel vor dem Fernseher bequem gemacht hatte, als wären Adrian und die Polizistin sowie ihr Sohn gar nicht im Zimmer. Sie griff nach der Fernbedienung. »Mutter!«, sagte er. »Nicht jetzt. Geh in die Küche.«

»Aber es fängt an«, protestierte sie.

»Bald, noch nicht.«

Die Frau stand widerwillig auf und verließ den Raum. Adrian hörte, wie sie sich in der Küche zu schaffen machte. Es folgte das Klirren eines Glases im Spülstein, ein frustrierter Aufschrei, der in eine Sturzflut von Flüchen überging. Der Sohn blickte missmutig in die Richtung, doch als ahnte sie seine Reaktion, rief die Mutter: »Es war ein Missgeschick. Ich mach’s weg.«

»Verdammt«, sagte Wolfe. »Weiter nichts, am laufenden Meter. Missgeschicke.«

Er drehte sich um und sah Terri Collins wütend an. »Sie sehen ja selbst, wie schwer das hier ist, sie ist krank, und ich muss …« Er sprach nicht weiter. Er begriff, dass die Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit einem Menschen in den Fängen einer solchen Krankheit Terri nicht im Mindesten interessierten.

»Ihre Therapie«, sagte sie in schneidendem Ton.

»Ich gehe einmal die Woche«, antwortete Mark Wolfe mürrisch. »Ich mache Fortschritte. Sagt der Doc.«

»Sagen Sie mir, was Sie darunter verstehen«, hakte Terri nach.

Wolfe wirkte unentschlossen. »Fortschritt ist Fortschritt«, sagte er.

»Können wir das ein bisschen genauer haben, Mark?«, fragte Terri. Entwaffnend, dachte Adrian, ihn mit dem Vornamen anzureden.

»Also«, sagte Wolfe, »ich weiß nicht, was …«

Terri starrte ihn an – ein unmissverständlicher Polizistenblick, der ihm sagte: Das kannst du besser, mein Junge.

Adrian sah sich durchaus an seine eigene Miene gegenüber vielversprechenden Studenten erinnert, die seine Erwartungen enttäuschten.

»Er hilft mir, meine Wunschvorstellungen zu zügeln«, sagte Wolfe.

Wunschvorstellungen war, wie Adrian fand, ein schwaches Wort für Begierden.

»Und wie?«

»Wir reden.«

»Wie war noch mal der Name Ihres Arztes?«

»Den hab ich Ihnen nicht genannt.«

»Wieso nicht?«

Wolfe zuckte die Achseln. »Ich fahr zu ihm in die Stadt. Wollen Sie seine Telefonnummer und Anschrift?«

»Nein«, antwortete Terri. »Die hab ich bereits.«

Adrian hörte aufmerksam zu. Kognitive Verhaltenstherapie. Aversionstherapie. Reality-Therapie. ACT-Therapie. Zwölf-Schritte-Programme.

Er war mit der ganzen Bandbreite der Behandlungsansätze ebenso vertraut wie mit der geringen Wahrscheinlichkeit, dass sie bei einer Paraphilie wie Exhibitionismus etwas ausrichten konnten. Er hätte gerne gewusst, wie ein New-Age-Therapeut vom Schlage eines Scott West jemanden mit einem uralten Leiden behandelte.

»Wo genau finden Ihre Gespräche mit Dr. West statt?«

»In seiner Praxis.«

»Auch schon mal woanders?«

Der Triebtäter machte den Fehler, ein wenig zu lange zu zögern. »Nein.«

Terri schwieg. Strenger Blick. »Also, noch einmal … Haben Sie sich je woanders …«

»Einmal hat er mich im Wagen mitgenommen.«

»Wohin?«

»Er hat gesagt, das gehöre zur Therapie. Er hat gesagt, es sei wirklich wichtig für mich, mir selber zu beweisen, dass ich mich unter Kontrolle …«

»Wohin ist er mit Ihnen gefahren?«

Wolfe wich ihrem Blick aus. »Er ist mit mir an ein paar Schulen vorbeigefahren.«

»An welchen Schulen?«

»An der Highschool. Einer Grundschule zwei Straßen weiter. Ich kann mich nicht an den Namen erinnern.«

»Sie erinnern sich nicht?«

Wieder zögerte Wolfe. »An der Kennedy«, sagte er.

»Nicht Wildwood School oder Fort River Elementary?«

»Nein«, sagte Wolfe wütend. »Nicht an denen.«

Terri Collins zögerte wieder. »Aber Sie kennen die Namen, und ich wette, Sie kennen auch die Adressen.«

Wolfe wandte das Gesicht ab. Er sagte nichts, da sich die Antwort von selbst verstand.

Adrian schätzte, dass er auch genau im Kopf hatte, wann die Schüler eintrafen, wann sie gingen, wann sie in der Pause auf den Schulhof strömten.

Die Polizistin machte sich ein paar Notizen, bevor sie die nächste Frage stellte.

»Sie sind also an den Schulen vorbeigefahren. Haben Sie angehalten?«

»Nein.«

Adrian wusste, dass dies gelogen war.

»Sie wurden wegen Freiheitsberaubung verurteilt …«, fing Terri an, doch der Sexualstraftäter unterbrach sie.

»Hören Sie, ich hab dieses Mädchen per Anhalter mitgenommen. Weiter nichts. Ich hab sie nicht angerührt …«

»Zu einer Spritztour mit offenem Hosenlatz.« Wolfe sah sie nur finster an und sagte nichts. »Waren Sie schon mal bei Ihrem Doktor zu Hause?«

Die Frage schien den Mann zu überraschen. »Nein!«, platzte er heraus.

»Sie wissen, wo er wohnt?«

»Nein.«

»Haben Sie seine Familie mal getroffen?«

»Nein, das gehört nicht zur Therapie.«

»Erzählen Sie mir, worüber Sie sprechen.«

»Er fragt mich, was ich denke und empfinde, wenn ich … diese Kinder sehe …« Er holte tief Luft. »Er will, dass ich über alles rede, was mir durch den Kopf geht. Ich sag ihm die Wahrheit. Es ist schwer, aber ich lerne, mich zu beherrschen. Ich muss nicht …« Wieder unterbrach er sich.

Adrian war geradezu hypnotisiert von der Art, wie Terri dem Mann auf den Zahn fühlte, ohne zu verraten, was sie herausfinden wollte. Doch als er Wolfes letzte Antwort hörte, regte sich etwas in einem hinteren Winkel seines Kopfes. Er versuchte, sich an seine eigenen Experimente zu erinnern, an seine klinischen Studien im Labor. Impulse, dachte er. Eine Versuchsperson hatte eine Reihe normaler Reaktionen auf eine Situation, bis ein weiterer Impuls hinzukam und die Kontrolle über diese Impulse beeinträchtigte, ja, manchmal zunichtemachte.

Wenn im Kino der Böse mit gezücktem Messer aus dem Dunkel springt, schreien wir. Wenn ein Wagen auf nasser Fahrbahn ins Schleudern kommt, nehmen Herzfrequenz, Drüsentätigkeit, Gehirnströme zu, während wir mit der Panik kämpfen. Und geraten außer Kontrolle. Er fragte sich, ob seine Frau Angst gehabt hatte, als sie den Wagen gegen die Eiche setzte. Nein, dachte er, sie war erleichtert, weil sie tat, was sie ihrer Meinung nach wollte. Adrian legte den Kopf schief und horchte auf Cassies Stimme, doch sie meldete sich nicht. Etwas anderes dagegen schon.

Er hatte das Gefühl, als legte sich eine Hand auf seine Schulter, damit er sich umdrehte und hinsah. Der Griff wurde fester, als sei es dringend. Doch er starrte nur weiter auf den Exhibitionisten. Man brauchte ihm nur die Alltagsrealität von Schulkindern vor Augen zu führen, um bei ihm bestimmte Phantasien auszulösen. Andere Menschen sehen Kinder beim Spielen. Mark Wolfe sah in ihnen Objekte der Begierde. Adrian hätte ihn in diesem Moment lieber gehasst als verstanden. Hass ist viel leichter.

»Hören Sie, Detective, es läuft schon viel besser mit mir. Dr. West hat mir wirklich geholfen. Vielleicht glauben Sie mir nicht, aber es stimmt. Sie können ihn ja fragen.«

Terri nickte. »Das werde ich tun. Ihnen ist schon klar, dass selbst diese Fahrten mit Ihrem Therapeuten an den Schulen vorbei gegen Ihre Bewährungsauflagen verstoßen?«

»Er hat gesagt, das täten sie nicht. Er hat gesagt, mein Bewährungshelfer sei damit einverstanden. Und wir haben nicht angehalten.«

Terri nickte wieder. Das nimmt sie ihm nicht ab, registrierte Adrian. Und da liegt sie richtig.

»Na schön, ich werde das überprüfen. Wir sind dann hier fertig.« Sie klappte ihr Notizbuch zu und machte Adrian Zeichen, blieb jedoch abrupt stehen und fragte in strengem Ton: »Wo ist Jennifer Riggins?«

Mark Wolfe schien verwirrt zu sein. »Wer?«

»Jennifer Riggins. Wo ist sie?«

»Ich kenne keine …«

»Wenn Sie mich anlügen, wandern Sie zurück in den Knast.«

»Ich habe den Namen noch nie gehört.«

Terri zückte erneut ihr Notizbuch und schrieb etwas hinein. »Sie wissen, dass es eine schwere Straftat ist, einen Polizisten anzulügen?«

»Ich sag die Wahrheit, ich hab keine Ahnung, von wem Sie reden.«

Adrian konnte Wolfe einiges vom Gesicht ablesen. Bemerkenswert, dachte er, wie er Wahrheit und Lüge verquickt.

»Ich denke, ich komme bald wieder, damit wir uns weiter unterhalten können«, sagte Terri. »Sie haben keine Pläne, zu verreisen, oder?« Das war nicht wirklich als Frage gemeint. Es war ein Befehl. Sie wandte sich an Adrian. »Also, Professor Thomas, wir sind hier für heute fertig.«

Adrian hätte hundert Fragen gehabt, doch ihm fiel keine ein. Er machte einen Schritt, hatte aber plötzlich das Gefühl, als flüsterte ihm jemand etwas ins Ohr. Brian. Es konnte nur Brian sein. Er blieb stehen. »Haben Sie einen Computer?«, platzte er heraus.

Terri machte an der Tür halt. Eine gute Frage, dachte sie. »Sagen Sie es ihm, Mark. Haben Sie einen Computer?«

Mark Wolfe nickte.

»Wozu verwenden Sie Ihren Computer?«

»Nichts weiter. Für E-Mails und die Sportergebnisse.«

»Wer emailt Ihnen denn?«

»Ich kenn ein paar Leute. Ich hab ein paar Freunde.«

»Sicher«, sagte Terri. »Ich nehme ihn mit.«

»Dazu brauchen Sie einen Durchsuchungsbefehl.«

»Tatsächlich?«

Wolfe zögerte. »Ich hol ihn. Er ist in meinem Zimmer.«

»Wir kommen mit.«

Sie folgten Wolfe durch die Küche. Die alte Frau fragte: »Kann ich jetzt stricken? Was sind das für Freunde von dir?« Er funkelte seine Mutter wütend an und öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer. Adrian sah ein paar Arbeitskleider herumliegen. Ein paar zerfledderte Sex-Magazine, ein paar Bücher und einen kleinen Schreibtisch mit einem Laptop. Wolfe ging hinüber, stöpselte ihn aus und überreichte ihn Terri. »Wann krieg ich ihn zurück?«

»In ein, zwei Tagen. Wie lautet Ihr Passwort?«

Wolfe zögerte.

»Wie lautet Ihr Passwort?«

»Candyman«, antwortete er.

Terri nahm den Apparat. »Alles klar«, sagte sie. »Wir machen Fortschritte.«

Als sie sich den Computer unter den Arm klemmte, dachte Adrian: Den hat er viel zu schnell freiwillig herausgerückt. Das leuchtete ihm nicht ein. Dennoch drehte er sich rasch einmal im Kreis und versuchte so viel wie möglich davon mitzubekommen, was das Zimmer über den Mann sagte, der es bewohnte. Er wünschte sich, die Titel auf den Büchern lesen zu können. Er schätzte, dass es auch irgendwo eine Schublade mit DVDs gab. Doch der Raum mutete spartanisch leer an. Ein Einzelbett, eine Kommode, der Schreibtisch und ein Holzstuhl. Wenig, das noch weniger preisgab.

Allerdings sagte ihm ein Gefühl, dass er doch etwas verriet. Als er sich gerade der Ermittlerin und dem Exhibitionisten anschließen wollte, hörte er ein Flüstern. Ersatz. Der Gedanke entfiel ihm so schnell, wie er gekommen war. Er drehte sich um, doch es war niemand da. Er verstand das Wort nicht, doch während er den anderen beiden zur Tür hinaus folgte, machte es ihm immer noch zu schaffen.

 

Der alte Professor und die Polizistin schwiegen während der Fahrt.

Sie hatte den Laptop auf den Rücksitz gepackt. Sie wusste, dass er kein Beweismaterial im eigentlichen Sinne darstellte und dass es vermutlich reine Zeitverschwendung war, die Dateien zu überfliegen. Die Beziehung zwischen Scott West und dem Straftäter bereitete ihr zwar Unbehagen, doch sie sah bis jetzt keinen Hinweis darauf, dass es mehr als reiner Zufall war. Sie wusste, dass nicht alles, was Mark Wolfe zu ihr gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, doch ihre Antennen hatten keine Lügen aufgefangen, die sie in die eine oder andere Richtung führten. Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad, während sie in der Dunkelheit zum Haus des alten Mannes fuhr.

Er war auffallend still. »Was haben Sie?«, fragte sie unvermittelt.

Er schien in irgendwelchen Erinnerungen oder Gedanken festzuhängen, bevor er antwortete. »Jennifer«, sagte er leise. »Wie stehen die Chancen, dass wir sie finden, Detective?«

»Nicht gut«, antwortete sie. »Es ist in unserer Gesellschaft nicht so schwer zu verschwinden, wie die meisten von uns glauben. Oder auch, jemanden verschwinden zu lassen.«

Adrian schien darüber nachzudenken. »Glauben Sie, dass Sie etwas auf diesem Laptop finden –«

Sie fiel ihm ins Wort. »Nein.«

Er drehte sich halb zu ihr um, als verlangte die Antwort nach einer Erläuterung. Sie tat ihm den Gefallen. »Es werden einige beunruhigende Dinge im Spiel sein. Vielleicht die übliche Pornographie. Ich würde mich nicht wundern, wenn er auch in irgendeiner Datei Kinderpornos hätte. Vielleicht auch noch irgendwas anderes, das darauf schließen lässt, dass der gute Dr. West mit seiner Therapie nicht ganz so erfolgreich ist, wie er vermutlich glaubt. Aber etwas über Jennifer? Was sollte es da für eine Verbindung geben? Nein, ich glaube, nicht. Ich werde nachsehen, aber ich bin nicht optimistisch.«

Adrian nickte langsam. »Ich fand die ganze Begegnung aufschlussreich«, sagte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich habe noch nie mit einem solchen Mann gesprochen. Es war sehr erhellend.«

»Haben Sie irgendetwas gehört, was uns weiterhelfen könnte?«, fragte Terri eher aus Höflichkeit, denn sie glaubte nicht, dass er tatsächlich irgendetwas Wichtiges mitbekommen haben könnte.

»Machen Ermittler das so?«, fragte Adrian zurück. »Verarbeiten sie Informationen so schnell?«

Sie lachte. »Das hier ist kein Hörsaal, Professor Thomas. Manchmal bleibt nicht viel Zeit, und man muss verdammt schnell Antworten finden. Bei der Mordkommission spricht man von den entscheidenden ersten achtundvierzig Stunden. Es gibt sogar eine Fernsehserie, die danach benannt ist. Für manche Verbrechen ist das Zeitfenster noch kleiner, für andere ein wenig größer. In jedem Fall müssen wir – auch wenn wir noch nicht auf die Antworten hoffen können – schleunigst in Erfahrung bringen, wo wir nach den Antworten suchen müssen.« Terri seufzte. »Wir haben Jennifers Zeitfenster schon weit überschritten.«

Adrian schien darüber nachzudenken. »Jennifer braucht mehr Zeit«, sagte er. »Ich hoffe, sie hat sie.«

Terri merkte, dass sie den alten Mann nicht unsympathisch fand. Sie hatte den Eindruck, dass er es mit seinem Bemühen zu helfen ehrlich meinte. Normalerweise schafften es Zivilpersonen nur, den Strafverfolgungsbehörden im Weg zu stehen. Es gab zu viele Leute, die zu viele Krimis sahen und glaubten, sie verstünden was davon. Behinderung, keine Hilfe, dachte sie. Dies war Teil ihrer Ausbildung und ihrer Berufserfahrung. Der alte Mann neben ihr andererseits, der zwischen scharfer Beobachtungsgabe über beharrliche Forderungen bis zu zeitweiliger Geistesabwesenheit hin und her driftete, war anders als die meisten Wichtigtuer und selbsternannten Helfer, die sie gewohnt war. Sie hielt an seiner Adresse. »Haus-zu-Haus-Service«, sagte sie.

»Danke«, sagte Adrian beim Aussteigen. »Vielleicht rufen Sie mich an, wenn Sie was Neues wissen …«

»Professor Thomas, überlassen Sie die Polizeiarbeit mir. Falls es etwas gibt, womit Sie mir meiner Meinung nach helfen können, melde ich mich.«

Sie hatte den Eindruck, dass der Mann niedergeschlagen war. Jennifer ist verschwunden, dachte sie, und er gibt sich die Schuld daran.

Es bestand ein Unterschied zwischen der Polizei – für die selbst die schlimmsten Tragödien zum Alltagsgeschäft gehörten – und den Menschen, die das Gefühl hatten, durch ihre plötzliche Einbeziehung in ein Verbrechen seien sie irgendwie auserwählt. Das sprengte ihren normalen Horizont in einer Weise, dass es über die Faszination hinaus zur Besessenheit werden konnte. Für eine Polizistin wie Terri dagegen war es einfach normal.

Adrian trat vom Wagen zurück und sah ihm hinterher.

»Sie ist eine gute Polizistin«, sagte Brian. »Aber sie hat ihre Grenzen. Der superclevere, von Natur aus intuitive, quasi-intellektuelle Ermittler ist eine Fiktion der Krimiautoren. Polizisten sind in Wahrheit nüchterne Problemlöser.«

Adrian trottete zur Haustür. »Warst du das eben im Haus?«, fragte er.

»Was dachtest du denn?« Brian schien sich zu zieren, als rechnete er mit einer weiteren Frage. Adrian drehte sich zu seinem toten Bruder um. Es war Brian, der Anwalt, der mit seiner Seidenkrawatte spielte und an der Bügelfalte seines Zweitausend-Dollar-Anzugs zupfte. Brian sah auf. »Du hast was beobachtet.«

»Aber Terri Collins hat gesagt …«

»Ach, komm schon, Audie, hier ist es von Anfang an nicht darum gegangen, einen Schuldigen zu finden. Zumindest noch nicht. Es geht um die Frage, wo wir nach Jennifer suchen können. Die einzige Möglichkeit, das zu tun, ist, sich eine Vorstellung davon zu machen, wer sie gekidnappt hat. Und warum.«

Adrian nickte. »Ja.«

»Und so denkt nun mal eine Kripobeamtin in einem idyllischen Universitätsstädtchen nicht, auch wenn sie einen ziemlich kompetenten Eindruck macht.«

Das leuchtete Adrian ein. Es war kühl. Er fragte sich, wo die erste Frühlingswärme geblieben war. Die Luft schien trügerisch, als verspräche sie eines und brächte etwas anderes. Unzuverlässige Jahreszeit, dachte er.

»Audie!«

Er drehte sich zu Brian um. »Es wird schwerer«, sagte er. »Es ist, als ob mit jedem Tag und jeder Stunde wieder ein Stück von mir dahinschwindet.«

»Deshalb sind wir ja da.«

»Ich glaube, ich bin zu krank.«

»Jetzt mach mal einen Punkt«, lachte Brian, »ich bin tot und lass mich davon nicht aufhalten.«

Adrian schmunzelte.

»Was hast du im Haus von dem Mistkerl gesehen?«

»Eine alte Frau, die leidet …« Adrian hielt inne. Was er gesehen hatte? »Ich habe einen Mann gesehen, der so tat, als sei er gefügig, während er in Wahrheit wahrscheinlich etwas verbergen will.«

Brian grinste und klatschte seinem Bruder auf den Rücken. »Was sagt uns das?«

»Das sagt uns, dass ich etwas übersehen habe.«

Brian legte die Hand an die Stirn, genau an die Stelle, an die er wohl den Lauf der Waffe gesetzt hatte, die Adrian drinnen auf seiner Kommode hatte. Er machte eine Schießbewegung, ohne darin wie Adrian eine bittere Ironie zu sehen.

»Ich denke, wir wissen beide, was zu tun ist«, sagte Brian.

 

Adrian machte sich auf seinem Autositz klein und hoffte, dass sein Besuch Mark Wolfe nicht argwöhnen ließ, er könnte ab jetzt beschattet werden. Hinter Mauervorsprüngen und in Winkeln, aus denen die Bäume mit ihrem ersten zarten Laub die aufgehende Sonne herausfilterten, hatten sich die morgendlichen Schatten eingenistet. Die Welt vor seinem Fenster erschien Adrian weder kahl und nackt noch sommerlich bekleidet. Manchmal kam es ihm so vor, als wartete zum Jahreszeitenwechsel eine Naturgewalt auf ein Startzeichen, von einem Tag auf den anderen von Winter auf Frühling umzuschalten.

Er wusste nicht, wie viele Jahreszeitenwechsel ihm noch blieben. Und wie viele er noch mitbekommen würde. Er drehte sich auf seinem Sitz nach Brian um, doch sein Bruder war nicht mehr bei ihm. Er fragte sich, wieso er seine Halluzinationen nicht heraufbeschwören konnte, wenn er sie brauchte. Es wäre beruhigend gewesen, jemanden zu haben, mit dem er sprechen konnte, und er hoffte, dass der selbstsichere Ton seines Bruders seiner Entschlusskraft Auftrieb geben würde.

Vermutlich überschritt er mit seinem Vorhaben die Grenze der Legalität. Falls es nicht illegal war, wäre das bedauerlich. Auf jeden Fall war es unmoralisch, und in dieser Hinsicht hoffte er auf die Hilfe seines Bruders, des Spitzenanwalts, denn Anwälte taten sich mit den moralischen Grauzonen meist weniger schwer. »Brian?«

Schweigen. Er hatte damit gerechnet. Er blickte erwartungsvoll zur Tür hinüber. Mark Wolfe müsste jeden Moment herauskommen, hoffte er, während er fröstelte.

Er dachte an seinen Bruder. Als sie klein waren, hatte er immer darüber gestaunt, wie furchtlos Brian war. Wenn Adrian und seine Freunde etwas taten – schwimmen, Ball spielen, Unfug treiben –, war Brian immer mit von der Partie und der Erste, der die Hand hob, wenn sie einen Streich ausheckten. Adrian erinnerte sich an eine Gelegenheit, als sie von ihren Eltern zusammengestaucht worden waren. Brian war ermahnt und dann in sein Zimmer geschickt worden. Adrian bekam noch einen Rüffel. Du solltest auf deinen kleinen Bruder aufpassen und Adrian, wie konntest du das zulassen … Er hatte ihnen nicht erklären können, dass trotz ihres Altersunterschieds offenbar Brian der Anführer war. Falsch herum, dachte er. Oder aber wir sind falsch herum aufgewachsen. Doch dann sagte er laut: »Aber deshalb verstehe ich noch lange nicht, wieso du dich erschossen hast.«

Adrian hatte das Gefühl, dass ihm alles in seinem Leben außer seiner Arbeit ein Rätsel war. Wieso hatte Cassie ihn geliebt? Wieso war Tommy gestorben? Was hatte mit Brian nicht gestimmt, dass Adrian von seinem Vorhaben nichts mitbekommen hatte? Einen Vorzug schien seine Krankheit zu haben. All diese Fragen, all die Trauer, die ihn überallhin begleitete, würden sich bald in einem Nebel auflösen. Er atmete aus. Ich bin schon tot, dachte er.

Er hörte, wie eine Wagentür zufiel. Ein kurzer Blick, und er sah, wie Mark Wolfe nicht anders als am Vortag aus seiner Einfahrt rollte. Der Mann fuhr weg.

Adrian sah auf die Uhr. Sie war ein Geschenk von seiner Frau an ihrem 25. Hochzeitstag gewesen. Wasserdicht – auch wenn er nur selten ins Wasser ging. Stoßfest – auch wenn er sie nie fallen ließ. Mit einer Batterie auf Lebenszeit – nun ja, mit ziemlicher Sicherheit wird sie noch die Zeit ansagen, wenn ich nicht mehr bin. Adrian hatte vor, eine Viertelstunde zu warten. Der kleine Zeiger sauste in fast hypnotischem Takt um das Zifferblatt.

Als er sicher sein konnte, dass Mark Wolfe zu seinem Job im Baumarkt unterwegs war, stieg Adrian aus und lief zügig zu dem adretten Haus hinüber. Er klopfte laut an und drückte die Klingel. Als die Tür einen Spalt aufging und die Mutter mit etwas leerem Blick um die Ecke spähte, trat Adrian vor.

»Mark ist nicht da«, sagte sie sofort.

»Das macht nichts«, erwiderte Adrian. Er drückte energisch gegen die Tür. »Er hat gesagt, ich sollte herkommen und ein bisschen Zeit mit Ihnen verbringen.«

»Das hat er getan?« Verwirrung. Adrian machte sie sich zunutze. Er kannte die Krankheit der Frau vermutlich besser als seine eigene.

»Natürlich. Wir sind alte Freunde. Jetzt erinnern Sie sich, nicht wahr?« Er wartete keine Antwort ab. Er drängte sich einfach ins Haus und marschierte geradewegs ins Wohnzimmer. Dort stand er fast an derselben Stelle wie am Abend zuvor.

»Ich kann mich nicht an Sie erinnern«, sagte sie. »Und Mark hat nicht viele Freunde.«

»Wir hatten schon das Vergnügen.«

»Wann?«

»Gestern. Sie erinnern sich.«

»Nein …«

»Und Sie haben gesagt, ich soll wiederkommen, weil wir uns noch so viel zu erzählen hätten.«

»Das hab ich gesagt …?«

»Wir haben über so vieles gesprochen. Zum Beispiel Ihre Strickarbeit. Sie wollten mir zeigen, was Sie gestrickt haben.«

»Ich stricke gerne. Ich stricke gerne Fausthandschuhe. Die schenke ich den Nachbarskindern.«

»Ich wette, Mark bringt sie ihnen.«

»Ja, genau. Er ist ein guter Junge.«

»Selbstverständlich ist er das. Er ist der beste Junge, den man sich denken kann. Es gefällt ihm, die Kinder glücklich zu machen.«

»Mit Fausthandschuhen im Winter. Aber jetzt …«

»Jetzt ist Frühling. Keine Fausthandschuhe mehr. Nicht bis zum nächsten Herbst.«

»Ich hab schon wieder vergessen – woher kennen Sie Mark?«

»Ich wünschte, Sie würden mir Fausthandschuhe machen.«

»Ja. Ich mach Fausthandschuhe für die Kinder.«

»Und Mark bringt sie ihnen dann. Was für ein guter Junge.«

»Ja, er ist ein guter Junge. Ich hab Ihren Namen vergessen.«

»Und er sieht mit Ihnen fern.«

»Wir haben unsere Sendungen. Mark mag besondere Sendungen. Zusammen sehen wir all die lustigen Sendungen, die frühen, und wir lachen, weil sie sich in all diesen Serien immer in solche Schwierigkeiten bringen. Und dann muss ich ins Bett, weil Mark nämlich sagt, dass seine Sendungen später kommen.«

»Dann sieht er also in diesem schönen, großen Apparat zuerst Ihre Sendungen mit Ihnen und danach seine.«

»Den hat er für uns gekauft. Es ist, als hätte man echte Menschen zu Besuch. Uns kommen nicht viele Freunde besuchen.«

»Aber ich bin Ihr Freund, und ich bin gekommen.«

»Ja. Sie sehen alt aus, so wie ich.«

»Bin ich auch. Aber jetzt sind wir Freunde, oder?«

»Ja, glaub schon.«

»Was sind das für Sendungen, die er sieht?«

»Er lässt mich ja nicht zugucken.«

»Aber manchmal können Sie nicht schlafen, stimmt’s? Und dann kommen Sie mal hier vorbei.«

Sie grinste. »Seine Sendungen sind …« Sie lachte laut. »Ich sollte das nicht sagen.«

Sie sah ihn mit einem kindlich verschämten Ausdruck an. Er wusste, dass er etwas beobachtet hatte, und seine Gedanken rasten, während er versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.

Er spürte, wie ihn seine Frau, sein Sohn und sein Bruder umringten, wusste, dass sie da waren und auch wieder nicht, um ihm klarzumachen, worum es ging, und seinem Verstand auf die Sprünge zu helfen.

Er sah die Frau an. Zwei verwirrte Menschen, dachte er. Ich kann sie verstehen, aber sie mich nicht.

Es war fast wie eine Fremdsprache, und der Gedanke brachte ihn auf Tommy, der in einem so fremden Land gestorben war, dass er es sich allenfalls anhand von Bildern vergegenwärtigen konnte, die über seinen inneren Bildschirm flackerten. Der Gedanke führte wieder zu dem Flachbildfernseher und einer Bemerkung der Frau zurück, und zu etwas, das sein Sohn ihm gesagt hatte, nur dass es in Wahrheit nicht sein Sohn, sondern der Geist seines Sohnes gewesen war. Stricken, dachte er. Sie strickt.

»Sie haben bestimmt auch einen Computer«, sagte er. »Bewahren Sie den bei Ihren Stricksachen auf?«

Die Frau lächelte. »Natürlich.« Sie ging hinüber und nahm den Korb mit dem Strickgarn und den Stoffmustern, der genau da, wo ihn Adrian vom Vorabend in Erinnerung hatte, neben dem Sessel auf dem Boden stand. Sie stellte ihn vor Adrian ab. Unter einem Strang rosaroter Wolle kam ein kleiner Apple-Laptop mitsamt Kabeln zum Vorschein.

Er blickte zum Bildschirm hinüber. Wenn er seine Mutter ins Bett geschickt hat, verbindet er den Laptop mit dem großen Apparat. »Den bring ich Mark«, sagte er. »Mark braucht ihn bei der Arbeit.«

»Er lässt ihn hier«, sagte sie. »Er lässt ihn immer hier.«

»Ja, aber die Polizistin, die gestern gekommen ist, wird ihn brauchen, er sollte ihn ihr deshalb nach der Arbeit bringen. Das wollte er tun.«

Adrian wusste, dass er mit diesem Haufen Lügen durchkommen würde, auch wenn die alte Frau zögerte. Es war pervers, räumte er ein, aber ein Kinderspiel.

Er nahm den Laptop und ging zur Tür. Passwort? Mark Wolfe hatte auf ihn nicht gerade den Eindruck gemacht, ein Dummkopf zu sein. Und er erinnerte sich an den verächtlichen Ausdruck im Gesicht von Detective Collins, als sie den Computer entgegennahm, den der Delinquent ihr so bereitwillig ausgehändigt hatte. Candyman. Wie naheliegend, dachte er. Ein derart schillerndes Passwort, das jedem, der die Dateien überprüfen wollte, suggerieren sollte, dass sich dahinter belastende Beweise verbargen, während es in Wirklichkeit in eine harmlose Sackgasse führte.

Der Laptop dagegen, den er in Händen hielt – der »Computer seiner Mutter« –, das war das eigentliche Corpus delicti. Er beäugte die grauhaarige Frau mit dem wilden Blick. »Hat Mark als Kind je ein Haustier gehabt …?«

»Wir hatten einen Hund namens Butchie …«

Adrian lächelte. Butchie. Das ist eine Möglichkeit.

»Mark musste ihn einschläfern. Butchie hat gern gejagt, und er hat Leute gebissen.«

Genau wie dein Sohn. Die alte Frau sah plötzlich so aus, als würde sie gleich weinen. Adrian überlegte einen Moment, dann stellte er eine weitere Frage. »Und wie hieß das Nachbarmädchen, Sie wissen schon, das Mädchen von nebenan, oder war es ein paar Häuser weiter, als Mark sechzehn oder siebzehn war?«

Augenblicklich nahm das Gesicht der Frau einen anderen Ausdruck an. Sie machte eine böse Miene. »Das ist so was wie ein Memory-Spiel, was? Ich kann mir nicht mehr alles so gut merken, ich vergesse viel …«

»Aber dieses Mädchen, an die erinnern Sie sich schon, nicht wahr?«

»Ich mochte sie nicht.«

»Wie hieß sie noch gleich …«

»Sandy.«

»Sie hat Mark damals das erste Mal in Schwierigkeiten gebracht, richtig?« Die Frau nickte. Er fragte sich, ob Mark Wolfe Sinn für Ironie besaß. Adrian machte sich, den Laptop unter den Arm geklemmt, bereits auf den Weg zur Tür, drehte sich jedoch, als er schon die Klinke in der Hand hielt, noch einmal um. »Wie heißen Sie?«

Sie lächelte. »Ich heiße Rose.«

»Wie die schöne Blume?«

»Als ich jung war, hatte ich leuchtend rote Bäckchen, damals, nach der Hochzeit mit …«

Sie brach mitten im Satz ab und legte die Hand vor den Mund.

»Wo ist er hingegangen?«

»Er hat uns verlassen. Ich kann mich nicht erinnern. Es war schlimm. Wir waren allein, und es war schwer. Aber jetzt kümmert sich Mark um mich. Er ist ein guter Junge.«

»Ja, das ist er. Wer hat Sie verlassen?«

»Ralph«, sagte sie. »Ralph hat uns verlassen. Ich war immer Ralphs Rose, und er hat gesagt, ich würde auf ewig blühen, aber er ist weggegangen, und ich blühe nicht mehr.«

Ralphsrose, dachte Adrian. Vielleicht. »Das war wirklich sehr nett, Rose. Rose, ich werde zurückkommen, und dann können wir uns noch mal übers Stricken unterhalten. Vielleicht stricken Sie mir ein Paar von diesen Fäustlingen.«

»Das wäre nett«, sagte sie.