Adrian nahm mindestens drei falsche Abzweigungen und wusste nach einer Reihe holpriger Straßen nicht mehr, wo er war. Sie führten durch eine Reihe kleiner Städtchen, die pittoresk gewesen wären, hätten nicht die allgegenwärtigen Zeichen von Armut und Verfall den Eindruck getrübt. Zu viele aufgebockte rostige Autowracks auf Abstellplätzen, zu viele alte landwirtschaftliche Geräte, die an wackeligen Zäunen lehnten. Er kam an Scheunen vorbei, die seit mindestens zehn Jahren keinen Anstrich mehr gesehen hatten, mit Dächern, die unter der Schneelast zu vieler strenger Winter eingesackt waren, daneben auch an extrabreiten, mit Satellitenschüsseln versehenen Caravans. Handbemalte Werbetafeln für echten Ahornsirup oder echtes amerikanisches Kunsthandwerk schossen über Kilometer wie Pilze aus dem Boden.
Er fuhr auf Straßen, die an keine beliebten Ziele führten. Es waren gewundene, schmale Sträßchen weitab von jenen Regionen Neuenglands, welche die Reisebroschüren füllten. Über weite Strecken dichter, wilder Baumbewuchs, der sich zu beiden Seiten der Fahrbahn erstreckte und mit den ersten Blattknospen sein frisches Grün ausbreitete. Zwischen den Wäldchen lagen Felder, auf denen einmal Milchkühe und Schafe geweidet hatten. Diese Gegenden von Amerika fristeten ein Mauerblümchendasein – bestenfalls zur Kenntnis genommen, wenn man sie möglichst zügig durchquerte, um irgendwo anders hinzukommen, zu einem exklusiven Sommerhaus am See oder einer teuren Ferienwohnung in einem Skigebiet. Mehr als einmal sah sich Adrian gezwungen, eine Strecke zurückzufahren, nachdem er stehen geblieben war, um sich seine altmodische, zerfetzte Landkarte anzusehen, die er aus dem Handschuhfach genommen hatte. Im Grunde hatte er keinen Plan.
Seine spontane Fahrt ins Blaue hatte sich dank all der Fehlentscheidungen, wie man sie eher von einem zwanzig Jahre älteren Mann erwartet hätte, beträchtlich verzögert. Er wusste, dass jede Minute zählte. Er trat wie jemand aufs Gas, der in Panik zum Krankenhaus wollte, mit Schwung in eine Kurve ging und im letzten Moment auf die Bremse trat, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Er schärfte sich ein, nicht noch einmal eine falsche Abzweigung zu nehmen. Noch mal falsch gefahren, haderte er mit sich, und es kann fatale Folgen haben. Zuweilen stöhnte er laut: »Nun mach schon, nun mach schon …«
Adrian versuchte, weiter an Jennifer zu denken, doch selbst das fiel ihm nicht leicht. Einerseits entglitt sie ihm immer wieder, andererseits kollidierten in seinem Kopf mehrere Bilder von ihr: die entschlossene Jennifer in der rosa Red-Sox-Kappe; die lächelnde Jennifer auf der Vermisstenmeldung, die auf dem Sitz neben ihm lag; die fast nackte Jennifer, die in die Kamera starrt, während sie auf die Fragen einer Unsichtbaren reagiert.
Er wusste, welche Jennifer er in dem Bauernhaus vorfinden würde.
Das, was von dem vernünftigen Psychologieprofessor, ehemaligen Institutsleiter, diesem durch und durch respektablen Teil von ihm übrig geblieben war, sagte ihm, dass er Detective Collins anrufen sollte, um ihr Bescheid zu geben, wo er war und was er beabsichtigte. Das wäre die umsichtige Vorgehensweise gewesen. Selbst Wolfe konnte er anrufen. Wolfe oder die Kommissarin hätten sicher viel besser gewusst, was zu tun war, als er selber.
Andererseits hatte es Adrian in dem Moment, als er sich am Morgen in den Wagen setzte, aufgegeben, vernünftig zu sein. Er wusste nicht, ob sein Verhalten der Krankheit zuzuschreiben war. Nicht auszuschließen. Vielleicht bricht jetzt der verrückteste Teil aus und diktiert, was ich tue. Hätte ich eine Handvoll von diesen Pillen genommen, die nichts bringen, sähe die Sache vielleicht anders aus.
Vielleicht aber auch nicht.
Adrian trat abrupt auf die Bremse, um auf einer schmalen Landstraße weiterzufahren. Er hielt fortwährend nach etwas Ausschau, das ihm verriet, ob er bald am Ziel war. Er rechnete jeden Moment damit, dass ein Pick-up um irgendeine Kurve brauste und wegen seines gefährlich langsamen Tempos wütend hupte. Er überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, die Maklerin anzurufen, um sich eine richtig gute Wegbeschreibung geben zu lassen oder sie sogar zu bitten, ihn hinzubringen. Andererseits sagte ihm eine beharrliche Stimme, dass er alles, was vor ihm lag, besser alleine machte. Und er vermutete, dass Brian hinter diesem Ratschlag steckte. Er war immer der Einzelgänger gewesen, der sich am liebsten auf sich selbst verließ und weniger auf andere. Vielleicht auch Cassie; sie hatte oft das typische Bedürfnis des Künstlers nach einsamen Entscheidungen. Erst recht würde Tommy mit seinem wunderbaren Selbstvertrauen dahinterstehen.
Er bog in eine Wendebucht für Schulbusse am Straßenrand ab und kam auf dem Schotter knirschend zum Stehen. Nach seiner zerrissenen Landkarte, den GPS-Koordinaten und den Angaben der Maklerfirma zu urteilen, konnte die Einfahrt zur Farm keine fünfhundert Meter mehr entfernt sein. Adrian starrte in die Richtung. Ein einsamer verbeulter Briefkasten mit einer Schlagseite wie ein betrunkener Matrose nach dem Landgang markierte die Stelle.
Sein erster Impuls war, einfach vors Haus zu fahren, auszusteigen und anzuklopfen. Er wollte schon den Gang einlegen, fühlte aber eine Hand auf seiner Schulter und hörte, wie Tommy flüsterte: »Ich glaube, so funktioniert das nicht, Dad.«
Adrian rührte sich nicht. »Wie siehst du das, Brian?«, fragte er in ungefähr demselben Ton wie in einer langatmigen Fakultätssitzung, wenn er die Diskussion eröffnete und Meinungen oder Beschwerden zuließ, mit denen reichlich zu rechnen war. »Tommy meint, ich soll nicht einfach an die Haustür gehen.«
»Hör auf den Jungen, Audie. Frontalangriffe werden meist leicht zurückgeschlagen, selbst wenn du das Überraschungsmoment auf deiner Seite hast. Und du weißt schließlich, dass du keine Ahnung hast, was dich erwartet …«
»Was schlagt ihr also –«
»Anschleichen, Dad«, schaltete sich Tommy wieder ein, auch wenn er immer noch sehr leise sprach. »Du musst unbemerkt da rein.«
Brian fügte hinzu: »Ich denke, in diesem Moment ist ein behutsames Vorgehen wichtig, Audie. Bloß kein Holterdiepolter. Keine lautstarken Forderungen. Kein Hier bin ich, wo ist Jennifer?. Wir müssen erst mal die Situation sondieren.«
»Cassie?«, fragte er laut.
»Hör auf die beiden, Audie. Die verfügen bei dieser Art von Operation über weit mehr Erfahrung als du.«
Ob sie damit richtiglag, stand auf einem anderen Blatt. Sicher, Brian hatte im Krieg eine Kompanie durch den Dschungel geführt, und Tommy hatte zahlreiche Militäreinsätze gefilmt. Doch aus Adrians Sicht war Jennifer eher eine seiner Laborratten. Sie steckte in einem Labyrinth, und er überwachte den Verlauf des Experiments. Der Gedanke, eine Stelle zu finden, an der er mit einem gewissen Sicherheitsabstand die Lage beobachten konnte, leuchtete ihm jedoch ein.
Adrian warf noch einmal einen gründlichen Blick auf die Ausdrucke der Makler-Website. Dann faltete er die Blätter zusammen und steckte sie sich in die Innentasche seines Sakkos. Er war schon halb aus dem Auto, als er Cassie flüstern hörte: »Vergiss nicht …«
Adrian schüttelte den Kopf und murmelte: »Konzentrier dich!« Er hatte den Eindruck, dass seine Denkfähigkeit auf vielleicht fünfzig Prozent gesunken war, vielleicht sogar noch weiter. Ohne ihre Mahnung wäre er verloren gewesen. »Tut mir leid, Possum«, antwortete er. »Du hast recht. Ich werde sie brauchen.« Er beugte sich noch einmal in den Wagen und griff nach der Ruger Neunmillimeter auf dem Beifahrersitz.
Das Gewicht der Waffe in der Hand war ihm vertraut. Er musste daran denken, dass er dafür viel häufiger Verwendung hatte als Brian. Sein Bruder hatte sie nur ein einziges Mal benutzt – um Selbstmord zu begehen. Adrian hätte sie um ein Haar zu dem gleichen Zweck verwendet und hatte sie dann wiederholt zum Einsatz gebracht, um Mark Wolfe zu bedrohen. Jetzt war vielleicht der Moment gekommen, in dem er sie noch einmal benötigen würde. Er versuchte, sie in die Jackentasche zu stecken, doch sie passte nicht hinein. Er versuchte, sie unter den Hosengürtel zu schieben, doch was für Fernseh- oder Filmstars ein Kinderspiel schien, beunruhigte ihn, und er hatte Sorge, dass sie ihm herausrutschen und verlorengehen könnte. Also behielt er den Revolver in der Hand.
Adrian sah in den Himmel. Eine leichte Brise ging durch die Bäume; Sonne und Schatten wogten hin und her. Er trottete über die Straße und machte sich auf den Weg zur Einfahrt. Er schreckte einen Schwarm kohlschwarzer Krähen von einer blutigen Beute auf, die sie halb verzehrt liegen ließen. Dass er niemandem begegnete, war eine Erleichterung, denn vermutlich sah er vollkommen irre und lächerlich aus.
Terri Collins holte alles aus ihrem Kleinwagen heraus, was er hergab, und schlug jegliche Zurückhaltung in den Wind. Mark Wolfe hielt sich an dem Griff über dem Beifahrersitz fest und genoss mit einem zufriedenen Grinsen die Achterbahnfahrt. Viele Kilometer flogen unter ihren Reifen dahin. Die meiste Zeit fuhren sie schweigend und horchten nur auf die GPS-Instruktionen der verführerischen, etwas metallischen Stimme des Navigationssystems, das über eine Anwendung in Terris Handy lief.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie gegenüber dem Professor aufgeholt hatte. Eine Menge. Genug? Sie war sicher, dass es sich hier um einen Notfall handelte, hätte jedoch Mühe gehabt zu erklären, wieso es so dringend war. Weil sie einen halb verrückten Universitätsprofessor davon abhalten musste, einen unschuldigen Menschen zu erschießen? Schon möglich. Um ein von zu Hause weggelaufenes Mädchen zu finden, das auf einer Porno-Website ausgebeutet wurde? Auch das war möglich. Um am Ende keins von beidem zu tun und sich zum Narren zu machen? Ziemlich wahrscheinlich.
Einmal hatte Wolfe gelacht. Sie fuhr fast hundertsechzig, und er fand das unglaublich amüsant. »Mich hätte ganz bestimmt ein Staatspolizist drangekriegt«, sagte er. »Und große Augen gemacht, sobald er mein Kennzeichen und meinen Führerschein überprüft hätte. Aber Sie haben Schwein.«
Terri sah das anders. In Wahrheit wäre sie froh gewesen, wenn ein Trooper von hinten herangebraust wäre und sie die Chance gehabt hätte, ihn um Unterstützung zu bitten.
Dabei war sie nicht sicher, ob sie Hilfe brauchte oder nicht. Sie fühlte sich wie auf einer bizarren Reise: In Begleitung des denkbar widerwärtigsten Sancho Pansa verfolgte sie einen Don Quijote, dem selbst der rudimentäre Realitätssinn des literarischen Vorbilds abging.
Die Navigationsstimme führte sie von der Autobahn auf entlegene Landstraßen, auf denen sie weiter so schnell fuhr, wie es die Kurven erlaubten. Ihre Reifen quietschten. Wolfe riss es unter der Fliehkraft von einer Seite zur anderen.
Eine abwechslungsreiche, idyllisch einsame Landschaft fegte an ihnen vorbei. Die Wälder und Felder hätten einfach nur schön und friedlich sein sollen, doch stattdessen schienen sie finstere Geheimnisse zu verbergen. Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, dass sie das vertraute Terrain von Ordnung und Methode hinter sich gelassen hatte. Die Stadt, in der sie arbeitete, passte zu ihr. Sicher war nicht alles ideal, doch was immer es an düsteren Unterströmungen gab, verstand sie, so dass sie nichts zu befürchten hatte. Diese Fahrt dagegen erfüllte sie mit düsteren Vorahnungen, die alles, was sie in ihren Jahren bei der Polizei erlebt hatte, in den Schatten stellten. Vielleicht nicht ihre Jahre als Opfer von Gewalt. Sie schüttelte den Kopf, als antwortete sie auf eine Frage, obwohl keine gestellt worden war.
Mark Wolfe starrte auf die Wegbeschreibung. »Ungefähr siebzehn Kilometer auf dieser Straße«, sagte er, »das heißt genau siebzehn Komma drei, wenn das hier stimmt. Dann noch eine Abzweigung, weitere sechs Komma neun Kilometer, und wir müssten da sein. Vorausgesetzt, das hier stimmt. Man kann sich auf Mapquest nicht immer verlassen.« Er lachte. »Hätte mir nie träumen lassen, mal den Navigator für die Polizei zu geben.«
Adrian fand einen Pfad, der sich parallel zur Einfahrt zwischen den Bäumen hindurchzuschlängeln schien. Er kletterte über umgefallene Stämme und stapfte auf schwammig feuchter Erde. Spitze Zweige und Dornen verfingen sich in seinen Kleidern, und nach wenigen Minuten wurde der Trampelpfad noch enger und unwegsamer. Er kämpfte sich durch frisch austreibendes Gestrüpp.
Mal führte der Pfad nach links, dann nach rechts, mal öffnete er sich, so dass Adrian zügig vorankam, dann wieder war er kaum noch auszumachen. Adrian mochte sich nicht eingestehen, dass er sich schon wieder verirrt hatte, doch ihm war klar, dass er in Richtungen gezwungen wurde, die ihn von seinem Ziel entfernten. Während er sich durch das Buschwerk voranarbeitete, bemühte er sich, seinen Orientierungssinn zu bewahren. Er rechnete schon halb mit einer Bemerkung von Brian, um wie viel schlimmer der Dschungel in Vietnam sei, doch er hörte nur den schweren, angestrengten Atem seines Bruders neben sich. Als er einen Moment stehen blieb, um sich auszuruhen, merkte er, dass es sein eigenes Keuchen war.
Er fühlte sich, als sei er in eine Falle getappt. Am liebsten hätte er sich den Weg mit der Neunmillimeter freigeschossen. Trotz der angenehmen Temperatur tropfte ihm der Schweiß von der Stirn. Es war wie in einer Schlägerei, und er holte aus, wenn ihm ein Zweig ins Gesicht peitschte, oder trat nach den dornigen Trieben, die sich an seiner Hose verhakten.
Adrian sah einen Moment auf. Der blaue Himmel schien ihm auf seinem Weg zu leuchten. Er zwang sich voran, auch wenn er wusste, dass »voran« im strengen Wortsinn vielleicht zur Seite oder zurück bedeutete. Er drehte sich völlig im Kreise und gestand sich ein, dass der dichte Wald ihm ein Schnippchen geschlagen hatte.
Für einen Moment geriet er bei dem Gedanken in Panik, er könnte sich in ein Niemandsland manövriert haben, aus dem er nicht wieder herausfinden würde, so dass er den Rest seiner Zeit auf Erden in einem dichten Gewirr aus Bäumen und Büschen verbringen musste, nur weil er ein einziges Mal die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Am liebsten hätte er um Hilfe gerufen. Er griff nach Zweigen und zog sich daran in die Richtung weiter, die gerade zur Verfügung stand. Mehr als einmal stolperte er, und nach und nach artete das Ganze in einen blutigen Kampf aus, bei dem er sich an Gesicht und Händen Kratzer und Striemen holte. Er verfluchte sein Alter, seine Krankheit und seine Obsession. Doch auf einmal lichtete sich der Wald, der ihn eben noch zu verschlingen drohte, und entließ ihn schließlich ganz aus seiner Gewalt.
Adrian stand auf einer Schneise, der Boden unter seinen Füßen fühlte sich fester an, das Dornengestrüpp trat zurück. Er sah auf und hatte den Weg ins Freie vor sich. Wie ein Ertrinkender wild nach Luft schnappt, sobald er mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche bricht, eilte er voran. Der Wald war hier zu Ende, und vor ihm lag ein lehmiges, grünes Feld. Voller Dankbarkeit fiel er auf die Knie. Er atmete ein paarmal tief ein und aus, um sich zu beruhigen und festzustellen, wo er war.
Adrian hatte eine kleine, gewellte Anhöhe vor sich und machte sich, die Sonne im Rücken, auf den Weg. Es roch leicht nach feuchter Erde. Oben angekommen, blieb er stehen, um sich zu orientieren. Zu seinem Erstaunen sah er in der Senke die Scheune und das Bauernhaus. Er griff in seine Jacke und zog das Bündel Maklerbroschüren heraus, um die Bilder aufgeregt mit dem zu vergleichen, was er vor Augen hatte. Ich bin da, dachte er unendlich erleichtert.
Seine verschlungenen Irrwege durch den Wald hatten ihn fast um das Haus herumgeführt, so dass er sich jetzt näher an der Scheune befand und eine Seitenfront des Hauses vor sich hatte. Er war mindestens fünfzig Meter von den beiden Gebäuden entfernt. Zwischen ihm und dem Haus lag offenes Gelände – ein lehmiges Feld, das einmal Weideland gewesen war.
Diesmal bat er seinen Bruder nicht um Rat.
Stattdessen ging Adrian in die Knie und kroch auf dem weichen Boden zu dem Haus, in dem er mit absoluter Sicherheit die vermisste Jennifer finden würde.