17

Sie war eingeschlafen. Sie wusste nicht, für wie lange – Minuten? Stunden? Tage? Doch von dem weinenden Baby wachte sie auf.

Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Es war ein schwaches Geräusch, aus weiter Ferne, und sie brauchte eine Weile, bis sie wusste, was es war.

Sie drückte Mister Braunbär fest an die Brust und drehte den Kopf zuerst in die eine, dann die andere Richtung, um festzustellen, woher das Heulen kam. Es schien eine ganze Weile zu dauern, dann hörte es plötzlich auf. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Jennifer hatte nicht viel Erfahrung mit Babysitten, und sie war ein Einzelkind, daher beschränkte sich ihr Wissen über kleine Kinder auf die Instinkte, die jeder in sich hat. Nimm das Baby hoch. Wiege das Baby. Füttere das Baby. Lächle das Baby an. Leg das Baby zum Schlafen wieder in sein Bettchen.

Jennifer wagte kaum, sich zu bewegen, um nicht das Geräusch zu übertönen. Der Laut eines Babys – selbst eines unglücklichen Babys, das sich Gehör verschaffen will – weckte bei ihr gemischte Gefühle. Es hatte etwas zu bedeuten, und sie versuchte, es herauszubekommen, zwang sich, analytisch, planvoll, logisch und scharfsichtig zu denken.

Sie kämpfte den Rest Schläfrigkeit herunter. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie das Schreien nur geträumt haben könnte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie sicher war. Nein, es war real. Aber etwas anderes stimmte nicht. Sie schüttelte den Kopf, zwischen den Erinnerungen an ihre Albträume beschlich sie ein seltsames Gefühl. Was ist es? Was ist es nur?, hätte sie am liebsten laut geschrien. Etwas war anders.

Sie spürte es. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf, ihr Atem kam stockend und flach. Sie schnappte nach Luft, als hätte sie ein Stromschlag getroffen. Und sie schrie. Der Klang ihrer eigenen Stimme hallte durch den Raum und erschreckte sie noch mehr. Sie zuckte. Ihr zitterten die Hände. Ihr Rücken versteifte sich. Sie biss sich auf die spröden, rissigen Lippen.

Die Haube war verschwunden.

Doch sie war immer noch im Dunkeln. Zuerst nahm sie an, sie könnte sehen und im Zimmer sei es dunkel. Dann wurde ihr klar, dass sie sich täuschte. Etwas anderes bedeckte ihre Augen.

Sie war verwirrt. Sie begriff nicht, wieso sie so lange gebraucht hatte, um zu merken, dass die Haube ersetzt worden war. Es musste einen Grund für den Wechsel geben, doch sie konnte nicht sagen, welchen. Sicher war es wichtig, doch warum, konnte sie nicht sagen.

Sie lehnte sich langsam zurück und hob die Hände ans Gesicht. Sie berührte ihre Wangen, dann die Augen. Nichts weiter als ein Tuch aus elastischem, seidigem Stoff, das ihr um den Hinterkopf gebunden war, hatte die Haube ersetzt. Sie tastete über den Knoten. Er hatte sich bereits mit ihrem Haar verfilzt. Sie berührte die Kette an ihrem Hals. Das hatte sich nicht geändert.

Ihr war klar, dass sie die Binde problemlos entfernen und herunterreißen konnte, doch dann hätte sie gesehen, wo sie war. Jennifer legte Mister Braunbär behutsam neben sich aufs Bett, hob die Hände und fasste mit den Fingern unter den Stoff. Dann hörte sie auf.

Irgendwo weit weg weinte das Baby wieder. Das ergab keinen Sinn. Wie passte in das, was hier passierte, ein Baby? Ein weinendes Baby bedeutete, dass sie sich in einer Wohnung oder in einem Haus in direkter Nachbarschaft zu anderen Häusern befand. Haben der Mann und die Frau, die mich auf der Straße entführt haben, ein Baby? Ein Kind bedeutete Elternschaft, Verantwortung, Normalität – doch das, was mit ihr geschah, hatte mit Normalität nicht das Geringste zu tun. Mit einem Baby verband sie Minivans und Gitterbettchen und Kinderwagen und Ausflüge in den Park, doch das alles war etwas aus einer anderen Welt. Die Haube war verschwunden. Jetzt trage ich eine Binde. Ich könnte sie mir abnehmen. Vielleicht wollen sie das ja. Woher soll ich das wissen! Ich möchte mich so verhalten, wie sie es wollen, aber ich weiß nicht, was sie von mir erwarten.

Dann sog sie heftig die Luft ein, als hätte sie ein Schlag in den Magen getroffen. Sie waren hier. Im Zimmer. Als ich schlief. Sie haben mir die Haube abgenommen und mich dabei nicht geweckt. Oh mein Gott …

Jennifer ging die Möglichkeiten durch: Sie hatten ihr etwas in eine ihrer dürftigen Mahlzeiten gemischt. Vor Erschöpfung war sie in einen so tiefen Schlaf gefallen, dass sie nicht einmal aufwachte, als sich ihre Entführer an ihr zu schaffen machten, ihr die Haube abnahmen und durch die Binde ersetzten. Was hatten sie noch mit ihr gemacht, als sie nichts mitbekam?

Zum hundertsten Mal, wie ihr schien, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten, schluchzte sie und schnappte nach Luft. Von den Tränen wurde die neue Augenbinde nass. Sie griff nach Mister Braunbär und flüsterte ihm zu: »Gott sei Dank, dass du noch bei mir bist, denn du bist das Einzige, das mir das Gefühl gibt, nicht ganz allein zu sein.«

In ihrer Qual und Einsamkeit schaukelte Jennifer vor und zurück, bis sich die Konvulsionen in ihrer Brust langsam entspannten. Ihr Atem wurde ruhiger, die Krämpfe, die sie geschüttelt hatten, ließen nach. Genau in dem Moment, als ihr Schluchzen verstummte, gab das Baby einen langen, herzzerreißenden Klagelaut von sich, dessen Echo in ihrer dunklen Welt widerhallte. Leise.

Wieder drehte sie den Kopf, versuchte auszumachen, aus welcher Richtung das Geräusch kam, ohne jedoch irgendetwas zu erkennen, das die Nähe eines Babys erklärte. Für ein, zwei Sekunden hatten die Schreie sie daran erinnert, dass außerhalb der Dunkelheit vor ihren Augen noch eine Welt existierte. Doch genauso plötzlich, wie sie in ihr Bewusstsein getreten waren, verstummten sie wieder und ließen sie im selben Schwebezustand zurück.

Wieder kämpfte Jennifer gegen ihre Emotionen an. Schluss mit den Tränen. Schluss mit dem Weinen. Du bist kein Baby. Jedenfalls wies sie den Gedanken energisch zurück. Einen beängstigenden Augenblick lang dachte sie, das Schreien und Plärren käme vielleicht von ihr selbst und sie hörte in einem seltsamen Rückschritt ins Kleinkindalter ihre eigene Stimme.

Sie atmete schwer. Nein, sagte sie sich. Nicht meine. Ich bin hier. Die sind dort. Reiß dich zusammen! Auch wenn sie sich das nicht zum ersten Mal sagte, wusste sie immer noch nicht, wie sie es anstellen sollte.

Sie war auch klug genug, um zu erkennen, dass jedes Mal, wenn sie sich den Befehl gab, ihre Angst in den Griff zu bekommen, etwas geschehen war, das ihre Bemühungen unterlief und sie erneut in die blanke Verzweiflung zurückwarf. Das machen sie mit Absicht.

Wieder strengte sie sich an, etwas zu hören. Jennifer war sich nicht sicher, ob die Babygeräusche ein gutes oder schlechtes Zeichen waren. Zweifellos waren sie wichtig, aber sie konnte nicht sagen, inwiefern. Das frustrierte sie wieder zu Tränen, doch diesmal machte sie sich klar, dass bisher alles, was sie zum Weinen gebracht hatte, ihre Lage nur verschlimmert hatte.

Sie legte sich aufs Bett zurück. Sie hatte Durst, Hunger, Angst und Schmerzen – auch wenn sie nicht sagen konnte, wo genau sie verletzt war. Es war wie ein Stich, der von der Brust in den ganzen Körper ausstrahlte. Sie begriff, dass sie gefangen gehalten wurde, doch Art und Aussehen ihres Gefängnisses waren für sie unsichtbar. Selbst die schlimmsten Mörder, die für immer im Gefängnis sind, wissen wenigstens, wieso. Ihr kam eine Szene aus einem Film in den Sinn, den sie irgendwann einmal gesehen hatte – weder an den Titel noch an die Schauspieler konnte sie sich erinnern, nur daran, wie ein Gefangener für jeden Tag, der verging, einen Strich in die Wand seiner Zelle ritzte. Selbst dazu war sie nicht imstande. Wissen, Orientierung, begriff sie, waren hier Mangelware. Ihr wurde systematisch verweigert, die Situation, in der sie sich befand, zu begreifen. Die Frau hatte gesagt, sie solle gehorchen. Doch bisher hatte sie noch niemand aufgefordert, irgendetwas zu tun.

Je mehr sie über das alles nachdachte, desto nervöser bohrte sie die Finger in Mister Braunbärs abgewetztes Fell. In gewissem Sinne war er das Einzige, das ihr von ihrem Leben bis zu dem Moment, als die Tür des Lieferwagens aufging und der Mann auf sie einschlug, geblieben war. Sie befand sich fast nackt in einem Raum, den sie nicht sehen konnte. Es gab eine Tür, das wusste sie. Es gab eine Toilette. Das wusste sie auch. Irgendwo gab es ein Baby. Der Boden bestand aus Zement. Das Bett quietschte. Die Kette an ihrem Hals straffte sich bei zwölf Jennifer-Schritten nach rechts oder links. Es war heiß.

Sie war am Leben, und sie hatte ihren Teddybären. Jennifer holte tief Luft. Also gut, Mister Braunbär, da fangen wir an. Du und ich. So wie es schon die ganze Zeit war, seit Dad gestorben ist und uns mit Mom allein gelassen hat.

Zum ersten Mal fragte sich Jennifer, ob jemand nach ihr suchte. Genau in dem Moment, als ihr dieser Gedanke kam, hörte sie wieder das Baby schreien. Einen einzigen, schrillen, verzweifelten Schrei. Dann herrschte erneute Stille, und sie war mit Mister Braunbär allein. Auch wenn sie sich dessen nicht bewusst war, half ihr der Laut, da er sie von der schrecklichsten Frage ablenkte, die sich ihr ins Bewusstsein bohrte: Wie soll irgendjemand wissen, wo er nach mir suchen soll?

 

»Ich spiel’s noch einmal ab«, sagte Michael. Er fummelte an der Hauptkamera herum. Das Trackingsystem funktionierte nicht ganz so, wie es sollte. »Wollen’s nicht übertreiben. Nur ein bisschen …«

Linda drückte ein paar Tasten auf dem Board. »Bist du sicher, dass sie es hören kann?«

»Klar, absolut. Sieh dir an, wie sie den Kopf bewegt. Und ob sie es hört!«

Linda beugte sich über die primäre Eingabekamera. »Du hast recht«, sagte sie. »Bist du sicher, dass es auch die Klienten hören können?«

»Klar. Aber die müssen sich genauso anstrengen, um zu raten, was Sache ist.«

Linda schmunzelte. »Du machst es ihnen nicht gerne leicht, stimmt’s?«

»Ist nicht mein Stil«, sagte Michael lachend. Er verschränkte die Hände im Nacken und räkelte sich, wie es jeder Bürohengst in einem großen Unternehmen nach allzu vielen Stunden vor dem Computerbildschirm tut. »Ich sag dir, die lieben es, wenn Nummer 4 so schreit wie eben. Das macht es umso realer für sie.«

So seltsam es war, empfand Michael für die vielen Subscriber von Whatcomesnext.com so etwas wie Verachtung. In seinen Augen war ihre Faszination eine Art zwanghafte Schwäche, auch wenn er nur allzu gerne ihr Geld nahm und sie mit dem versorgte, was sie haben wollten. Für ihn war klar, dass sie nur ihre eigene Unzulänglichkeit offenbarten, indem sie sich in den von ihnen beiden kreierten Phantasien ergingen. Da waren Tausende von Leuten, die für einen medialen Konsum der besonderen Art teures Geld bezahlten, weil sie armselige Kreaturen waren, einsame Männer, die selber kein Leben hatten und sich zum Ersatz auf die Geschichten einließen, die er ausbrütete.

Linda dagegen verschwendete kaum einen Gedanken an ihre Klientel – jedenfalls nicht so wie Michael. Für Linda waren sie keine Menschen mit dunklen Leidenschaften, die sie zu ihrer Website trieben, sondern nur eine lange Liste Accounts in einer langen Liste von Ländern. Zahlreiche Kreditkartenabbuchungen. Sie rechnete wie eine Geschäftsfrau – soundso viele Subskriptionen hießen soundso viele Dollar auf den Offshore-Strohmannkonten, die sie zu diesem Zweck eingerichtet hatte. Sie dachte selten daran, wer da draußen saß und ihnen zusah – außer um über Zahlen zu brüten oder dafür zu sorgen, dass Michael mit dem Programm die richtig dosierte Spannung erzeugte und mit Serie Nummer 4 ein packendes Drama inszenierte.

Michael war für die Geschichte von Nummer 4 verantwortlich, Linda fürs Geschäft. Beides schien für ihren Erfolg gleichermaßen wichtig. Ihre Beziehung war nach Lindas fester Überzeugung der Inbegriff wahrer Liebe. In ihrer Freizeit und zwischen den verschiedenen Serien las sie gerne Woche für Woche die Fan- und Klatschmagazine über Filmstars mit ihren Partnern. Sie erging sich allzu gerne in Spekulationen darüber, was Brad oder Angelina oder Jen oder Paris als Nächstes machen würden und wo sie sich vielleicht in einer kompromittierenden Situation ertappen ließen. Dass sie all dieses »Bäumchen, wechsle dich« der Promis fasziniert verfolgte, war sicher ihre größte, wenn auch letztlich harmlose Schwäche.

An vielen Tagen sehnte sich Linda danach, selbst berühmt zu sein. Sie stellte sich vor, wie über sie beide Artikel in Us oder People stehen würden, wenn die Menschen nur wüssten, wie erfolgreich Whatcomesnext.com war. Ein Jammer, dass der kriminelle Einschlag ihres Geschäfts sie daran hinderte, berühmt zu sein. Ihrer Meinung nach war das, was sie machten, so viel wichtiger als die Frage, mit wem sie es machten, dass ihre Arbeit einen anderen Maßstab erforderte. Sie waren Verkäufer von Phantasie. Das, fand sie, sollte ein bisschen mehr zählen als Geld. Eigentlich waren sie Stars, nur dass es die Welt nicht wusste.

Michael wusste, dass Linda davon träumte, prominent zu sein. Er dagegen bevorzugte die Anonymität – auch wenn er den Wunsch hatte, ihr zu gefallen. »Es wird Zeit, ihr was zu essen zu geben«, sagte er.

»Du oder ich?«, fragte Linda.

Michael reckte sich über die Monitore und kramte in einem Stoß loser Blätter. Sie enthielten ein sehr flexibles Drehbuch. Michael überließ nicht gerne etwas dem Zufall; schon lange bevor sie mit Serie Nummer 4 begannen, hatte er sich die Zeit genommen und viele Handlungselemente aufgeschrieben. Seine Blättersammlung, die er »Wirkung Zuschauer/Wirkung Nummer 4« betitelt und in Paragraphen eingeteilt hatte, enthielt Checklisten und genaue, praktische Anweisungen. Er war gerne penibel in seiner Planung, zugleich aber geistig beweglich und kreativ.

An der Uni hatte er einmal einen Kurs in Filmwissenschaft belegt und ein Referat über den Moment geschrieben, in dem Eva Marie Saint in Die Faust im Nacken ihren weißen Handschuh fallen lässt und Marlon Brando ihn aufhebt: Der Regisseur Elia Kazan war so klug gewesen, die Kameras bei dieser Szene, die nicht im Drehbuch stand, aber ein Klassiker in der Filmgeschichte wurde, weiterlaufen zu lassen. Ich hätte es genauso gemacht, sagte sich Michael oft. Er war nicht der Mann, der Schnitt! brüllte und sich auf das Vorhersehbare zurückzog. Er war nicht festgefahren. Als er auf den Bildschirm vor ihm blickte und sah, wie Nummer 4 ihren Teddy an sich drückte, während sie schluchzte, dachte er, dass all die großen Regisseure ihm nicht das Wasser reichen konnten, denn er gestaltete etwas Einmaliges, etwas Reales und etwas unendlich viel Dramatischeres und Unkalkulierbareres, als sie es je für möglich gehalten hätten.

»Ich denke, du gehst«, sagte er. »Sie scheint immer noch solche Angst zu haben. Wenn ich den Raum betrete – das sollten wir uns für den maximalen Schockeffekt aufsparen.«

»Du bist der Boss«, sagte Linda.

»Klar doch«, lachte Michael. Er rollte vom Computertisch weg und stand auf, um zu dem Tisch mit den Waffen hinüberzugehen. Er suchte einen Moment, dann griff er nach einem Colt Kaliber 357 Magnum. Linda nahm ihm die Waffe ab, während Michael sich wieder seinen Papieren zuwandte und sie rasch durchblätterte. »Hier«, sagte er. »Lies mal.«

Linda überflog die Seite. »Okie-dokie«, sagte sie grinsend. Dann sah sie auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. »Ich denke, ich geb ihr Frühstück«, sagte sie.

 

Linda öffnete leise die Tür und trat in den Keller. Sie trug wie zuvor einen zerknitterten weißen Schutzanzug und eine schwarze Sturmhaube, die alles außer den Augen bedeckte. Sie hatte ein Tablett in der Hand, wie man es in jeder Cafeteria bekam. Darauf stand eine Plastikwasserflasche, von der sie alle Marken- und Fabrikatsaufkleber abgelöst hatte. Sie hatte eine Schale Fertighaferbrei bereitet und dazu ein amerikanisches Produkt verwendet, das in alle Welt exportiert wurde. Dazu gab es eine Orange. Kein Besteck.

Nummer 4 fuhr in ihre Richtung herum und erstarrte, als sie hörte, wie die Tür aufging. Linda trat auf eines der X, die Michael mit Kreide auf den Boden gemalt hatte. Als Michael die Richtung der elektronischen Kamera änderte, hörte sie ein schwaches Surren. »Still sitzen. Nicht bewegen«, sagte Linda. Anschließend wiederholte sie denselben Befehl auf Deutsch, Französisch, Russisch und Türkisch.

Ihre Sprachkenntnisse waren dürftig. Sie hatte einige Phrasen, einige Schimpfwörter auswendig gelernt, da sie ihr von Zeit zu Zeit ganz gelegen kamen. Sie wusste, dass sie eine schlechte Aussprache hatte, doch das machte nichts. Wenn sie Englisch sprach, sprengte sie von Zeit zu Zeit britische Ausdrücke ein. Natürlich würde sich ein versierter Ermittler, der über Spracherkennungssysteme verfügte, von solchen kleinen Manövern nicht täuschen lassen. Doch Michael hatte ihr versichert, die Wahrscheinlichkeit, dass eine so hochkarätige Polizeibehörde sie verfolgte, sei äußerst gering. Michael – der ewige Student – hatte sich gründlich mit den Zuständigkeitskonflikten befasst, die alle ihre Internetdramen im Ernstfall auslösen müssten. Er war zuversichtlich, dass keine Behörde wirklich die Geduld aufbringen würde, sich das, was sie machten, genauer anzusehen. Sie operierten in der grauesten aller Grauzonen.

»Nach vorn blicken. Hände an die Seite.« Wieder gab sie ihre Befehle in mehreren Sprachen, die sie ein wenig durcheinanderbrachte. Einige Worte hatte sie bestimmt falsch in Erinnerung. Egal. »Ich stelle dir ein Tablett auf den Schoß. Wenn ich es dir erlaube, kannst du essen.«

Nummer 4 nickte.

Linda trat seitlich ans Bett und stellte das Tablett ab. Sie wartete. Sie registrierte, dass Nummer 4 zu zittern begonnen hatte und dass sich ihre Muskeln verkrampften. Das muss schmerzhaft sein, dachte sie.

Doch Nummer 4 schwieg weiter standhaft und befolgte, abgesehen von unwillkürlichen Regungen aus Angst, jeden Befehl. »Gut«, sagte Linda. »Du darfst essen.«

Sie achtete darauf, keine Kamera zu verdecken. Sie wusste, die Kundschaft würde von dem simplen Vorgang, dass Nummer 4 gefüttert wurde, fasziniert sein. Deshalb erfreuten sich ihre Webcasts solcher Beliebtheit: Sie nahmen die einfachsten, gewöhnlichsten Alltagsvorgänge und machten etwas Besonderes daraus. Wenn jede Mahlzeit für Nummer 4 die letzte sein konnte, bekam sie eine völlig neue Bedeutung. Die Zuschauer verstanden das – und es zog sie unwiderstehlich in ihren Bann. So ungewiss, wie das Schicksal von Nummer 4 erschien, wurden die gewöhnlichsten Dinge unwiderstehlich. Das war das Geniale an ihrem Konzept.

Sie sah zu, wie Nummer 4 die Hände auf das Tablett legte und die Schale, die Orange und die Wasserflasche entdeckte. Sie griff zuerst nach dem Wasser und trank gierig und hingebungsvoll. Ihr wird davon schlecht werden, dachte Linda, sagte aber nichts. Sie sah zu, wie Nummer 4 langsamer wurde, als würde ihr bewusst, dass sie sich noch einen Schluck für das Ende der Mahlzeit aufheben sollte. Danach ertastete sie die Schale mit dem Brei. Sie zögerte und fingerte auf dem Tablett nach einem Löffel. Als sie keinen fand, machte sie den Mund auf, als wollte sie eine Frage stellen, überlegte es sich aber anders. Sie lernt schnell. Nicht übel.

Nummer 4 hob die Schale an den Mund und fing an, den Haferbrei herunterzuschlürfen. Zuerst ging sie zögerlich heran, doch nachdem sie erst einmal gekostet hatte, schlang sie den Rest herunter und leckte die Schale aus.

Nette Geste, dachte Linda. Die Zuschauer werden das mögen. Sie war immer noch nicht vom Bett gewichen. Doch als Nummer 4 sich daranmachte, die Orange zu schälen, um an das Fruchtfleisch zu kommen, zog Linda langsam die Magnum Kaliber 357 aus dem Schutzanzug. Sie versuchte, ihre Bewegungen auf die von Nummer 4 abzustimmen, so dass die Waffe im selben Moment erschien, in dem Nummer 4 in die Orange beißen wollte.

Sie hob die Waffe, als die Orange die Lippen erreichte. Sie sah zu, wie Nummer 4 etwas Saft aus dem Mund lief. Linda zog mit dem Daumen den Hammer zurück und spannte den Hahn des Revolvers.

Bei dem Geräusch hörte Nummer 4 mitten im Kauen auf. Sie wird nicht genau wissen, was es ist, dachte Linda, aber sie wird begreifen, dass es tödlich ist. Nummer 4 schien von dem Geräusch wie erstarrt. Die Orange verharrte nur Zentimeter von ihren Lippen entfernt. Der ganze Körper bebte. Linda trat vor und hielt den Lauf der Waffe nur Millimeter von ihrer Stirn zwischen den Augen, so dass sie fast die Binde berührte. Sie wartete einen Moment, bevor sie die Mündung direkt an das Gesicht drückte.

Der Geruch von Waffenöl, der Druck des Laufs, diese Dinge waren für das Mädchen zweifellos unmissverständlich. Sie hielt die Position. Linda hörte ein Wimmern aus der Brust des Teenagers. Doch Nummer 4 sagte nichts und bewegte sich nicht, obwohl jeder Muskel in ihrem Körper vor Spannung zu platzen schien.

»Peng!«, flüsterte Linda. Laut genug, um vom Tonabnehmer registriert zu werden, aber nur so eben. Dann ließ sie den Hammer langsam wieder zurückfallen. Mit einer übertriebenen Bewegung zog sie die Waffe in Zeitlupe vom Gesicht des Mädchens zurück und steckte sie in den Anzug.

»Die Mahlzeit ist beendet«, sagte Linda knapp. Sie nahm Nummer 4 die Reste der Orange aus der Hand und ihr anschließend das Tablett vom Schoß. Sie sah, wie sich Nummer 4 wieder vom Kopf bis in die Zehenspitzen hinein verkrampfte. Sie hoffte, dass die Kameras das eingefangen hatten. Panik macht sich gut, dachte sie. Mit bedächtigen Schritten, die auf dem harten Zement kaum zu hören waren, ließ Linda den Raum mit Nummer 4 auf dem Bett hinter sich zurück.

In der Kommandozentrale darüber grinste Michael. Das interaktive Messageboard leuchtete auf. Eine Fülle an Meinungen und Reaktionen. Er wusste, dass er sie später alle durchsehen musste. Er legte immer besonderen Wert darauf, auf dem Board, das er für Serie Nummer 4 eingerichtet hatte, die Chats zwischen Klienten zu verfolgen.

Linda atmete tief ein, schloss die Augen und zog sich die Sturmhaube vom Kopf. Ich bin eine Schauspielerin, dachte sie.

 

Weder Linda vor der Kellertür noch Michael an den Monitoren bekam in diesem Moment mit, was als Nächstes geschah. Einige ihrer Klienten dagegen beugten sich zu den Bildschirmen vor.

Nummer 4 hatte sich, kaum war die Tür zugeschlagen, im Zimmer auf das Bett zurückgelegt. Sie hatte ihren Teddybären genommen, sich das abgegriffene Spielzeug zwischen die kleinen Brüste gedrückt und ihm wie einem Baby den Kopf gestreichelt, während sie dem leblosen Gegenstand unentwegt lautlos etwas zuflüsterte. Niemand, der sie beobachtete, konnte hören, was sie zu ihm sagte, auch wenn der eine oder andere aufs Geratewohl raten mochte, dass es immer wieder dieselben Worte waren. Sie konnten unmöglich an ihren Lippen ablesen, dass es die Worte Ich heiße Jennifer ich heiße Jennifer ich heiße Jennifer ich heiße Jennifer waren.