Jennifer erwachte mit dem Gefühl, dass etwas anders war, doch sie brauchte ein Weilchen, bis sie begriff, dass sie die Hände frei hatte und ihre Füße nicht mehr ans Bett gefesselt waren. Als sie sich durch den Betäubungsnebel kämpfte, fühlte sie sich wie jemand, der einen steilen Berg hinaufklettert und kurz vor dem Gipfel auf allen vieren krabbeln, sich an Erde und Steine krallen muss, während die Schwerkraft ihn in die Tiefe zieht.
Instinktiv wusste sie, dass Panik ihr nicht weiterhalf, dennoch kostete es sie eine große Willensanstrengung, gegen die Wogen anzukämpfen, die über sie hinwegzuschwappen drohten. Sie atmete schwer, ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Sie registrierte die Schweißausbrüche und Tränen und alle anderen Symptome der Angst. Sie musste alles daransetzen, dass ihre Hände nicht zitterten, während ihr ganzer übriger Körper unwillkürlichen Zuckungen und Krämpfen ausgeliefert war. Ihr kam der Gedanke, dass sie es in diesem Moment mit zwei Jennifers zu tun hatte; derjenigen, die kämpfte und versuchte, sich auf das, was mit ihr passierte, irgendwie einen Reim zu machen, und der anderen, die sich der hoffnungslosen Agonie überlassen wollte.
Wenn sie am Leben bleiben wollte, musste die erste siegen.
Sie hob die Hände ans Gesicht und berührte die seidene Kapuze. Sie wollte sie packen, sich vom Gesicht reißen, um zu sehen, wo sie war – doch sie war so geistesgegenwärtig, dem Bedürfnis zu widerstehen. Sie holte tief Luft und merkte, wie sie etwas beengte. Langsam senkte sie die Hände und traf mit den Fingern an ein Halsband. Es bestand aus billigem Leder, war mit spitzen Metallnieten beschlagen und ihr eng um den Hals geschnallt. Sie berührte das Ende einer Stahlkette, mit der sie an irgendetwas festgebunden war, allerdings so, dass sie ein wenig Bewegungsspielraum hatte.
Sie tastete ihre Haut nach Verletzungen ab, stellte jedoch keine fest. Ihre einzige Kleidung bestand nach wie vor aus ihrer dürftigen Unterwäsche. Sie legte sich wieder aufs Bett zurück und starrte in der Kapuze nach oben – an die Decke, in den Dachstuhl, in den Himmel.
Sie lag nicht länger mit abgespreizten Armen und Beinen da, war aber dennoch gefesselt. Sie konnte sich so weit bewegen, wie die Kette reichte, doch im Moment verspürte sie noch keinen Drang, von ihrer neuen Freiheit Gebrauch zu machen. Sie merkte plötzlich, dass ihre Blase drückte und sie immer noch schrecklichen Durst hatte.
Sie wusste, dass sie eigentlich auch Hunger haben sollte, doch die Angst schnürte ihr den Magen zu. Die Stellen, an denen sie die Schläge abbekommen hatte, fühlten sich immer noch wund an.
Ihr Denken war von dem Betäubungsmittel, das sie bekommen hatte, nach wie vor benebelt. Aber sie war am Leben. Mehr oder weniger jedenfalls. Sie erinnerte sich vage an die Begegnung mit der Frau. Sie hatte über Regeln gesprochen. Es kam Jennifer so vor, als hätte diese Unterhaltung an einem anderen Tag, in einem anderen Jahr, vielleicht sogar im Traum stattgefunden.
Tausend Möglichkeiten stürmten auf sie ein, doch jede war schlimmer als die andere, und sie zwang sich, diese Gedanken zu vertreiben und einen klaren Kopf zu bekommen. Unter der Kapuze schien zwar alles leer und unmöglich, doch immerhin atmete sie noch, und das war nicht wenig.
Vorsichtig strich sie mit den Fingern die Kette entlang und folgte ihrem schlaffen Bogen bis zu der Stelle, an der sie hinter und über ihrem Kopf an der Wand befestigt war. Sie hatte ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, an der Kette zu ziehen und zu sehen, ob sie sich losreißen konnte. Doch sie kämpfte dagegen an. Das würde zweifellos gegen die Regeln verstoßen.
»Sie ist wach!«
Der Mann, der sich in London über seinen Bildschirm beugte, erstarrte. Er war in dem kleinen Arbeitszimmer im hinteren Teil seiner Wohnung allein und saß an einem Schreibtisch, auf dem sich ein Durcheinander an Plänen, Berechnungen und schematischen Zeichnungen stapelte. Er war technischer Zeichner, und im selben Raum befand sich ein hoher Tisch, an dem er gelegentlich Illustrationen in Bleistift und Tinte anfertigte – auch wenn er inzwischen den größten Teil seiner Arbeit mit hochkomplizierten Computerprogrammen erledigte. Er wünschte sich, es wäre jemand da, mit dem er sein Staunen hätte teilen können; doch dann hätte das Ganze nicht funktioniert. Serie Nummer 4 musste man allein und in völliger Privatsphäre genießen, auf sich wirken lassen und verdauen.
Nummer 4 schien ihm verlockend jung zu sein, noch fast ein Kind. Er hatte Kinder aus einer gescheiterten Ehe, die er aber nur selten sah und die für ihn in diesem Moment in weiter Ferne waren. Er bewunderte die schlanke Figur von Nummer 4 und merkte, wie ihn Erregung durchströmte. Er stellte sich vor, dass sich ihre Haut wie eine Perle anfühlte, und seine linke Hand zuckte bei dem Impuls, Nummer 4 durch den Computerbildschirm zu streicheln. Als könne jemand seine Gedanken lesen, wechselte die Kameraeinstellung zu einer Nahaufnahme. Nummer 4 streckte wie eine Blinde tastend die Arme aus. Jeder Griff ins Leere – in die Luft oder an die Wand, an der sie angekettet war – jagte dem Zeichner freudige wohlige Schauder den Rücken herunter. »Sie will wissen, wo sie ist«, sagte er wieder laut, ohne dass es jemand hörte. »Aber das wird sie nicht herausbekommen …«
Nummer 4 blieb in der Nähe des Bettes und spielte Blindekuh. Jedes Mal wenn sie sich bewegte, beugte sich der Mann in London näher zu ihr heran. Gewissermaßen, dachte er, war er so allein wie sie, auch wenn er wusste, dass rund um den Globus viele andere Menschen Nummer 4 mit der gleichen Hingabe beobachteten.
Er bezweifelte, dass sie jemals im Fernsehen Patrick McGoohan in The Prisoner gesehen hatte oder in eine Bibliothek gegangen war, um John Fowles’ Der Sammler zu lesen. Wahrscheinlich hatte sie noch nie etwas von Barbara Jane Mackle und den Zeitungsartikeln gehört, die über sie erschienen waren, oder von dem Buch oder der darauf basierenden Fernsehinszenierung. Vielleicht hatte sie ja die Saw-Filme gesehen, die Jungen in ihrem Alter wegen der Mischung aus Blut und Folter und nackten Brüsten liebten, oder auch harmlosere Varianten wie Die Truman Show. Doch ob Nummer 4 diese Bilder mit ihrer eigenen Situation in Verbindung bringen würde, blieb fraglich, und er wusste, dass sie nie Sir Alec Guinness in seinem Wellblechkasten gesehen hatte, in dem er vor Hitze fast umgekommen wäre, nur weil er sich geweigert hatte, seinen Offizieren zu befehlen, die Brücke über den Kwai zusammen mit gemeinen Soldaten zu bauen. Für sie existierte das alles nicht. Er vermutete, dass sie weder von Kunst und Literatur noch von der Kriminalität der Freiheitsberaubung irgendeine Ahnung hatte. Er fragte sich, ob sie als Kind ein Haustier besessen hatte, und sei es auch nur einen Goldfisch in einem kleinen Bassin, der ständig gegen das Glas anschwimmt, das ihm die Grenzen seiner Welt aufzeigt.
Er sah, dass Nummer 4 zitterte. Er schüttelte den Kopf. Kein Haustier. Dann schmunzelte er. Ihm wurde bewusst, dass Nummer 4 eine Gefangene ihrer aller Phantasien war.
Jennifer versuchte, sich gut zuzureden, indem sie sich daran erinnerte, dass sie ein paar Instinkte besaß, die ihr gewisse Stärken verliehen. Sie sagte sich, dass sie dreimal den Mut aufgebracht hatte wegzulaufen. Diese Chance blieb ihr auch jetzt, solange sie gegen den Sog ankämpfte, sich der Angst zu überlassen. Sie atmete langsam ein und aus, um sich zu beruhigen.
Sie berührte den Rahmen des Bettes. Unter dem Schwarz der Kapuze stellte sie sich einen Metallrahmen und eine Matratze vor. Darauf befand sich ein grobes Baumwolllaken – sie vermutete, es war weiß. Also gut, dachte sie. Mal sehen, was wir berühren können. Langsam streckte sie die Füße über die Bettkante und strich mit den Zehen über den Boden. Es war Zement, er fühlte sich kalt an den Fußsohlen an, wie ein Kellerboden.
Sie bewegte die Füße weiter, um zu sehen, ob sie auf Hindernisse stießen. Nein. Jennifer befahl sich aufzustehen und wiederholte die Order. Sie wollte hören, ob ihre Stimme noch funktionierte, und so sagte sie leise: »Komm schon, Mädchen. Du schaffst das.«
Die Worte zu hören, statt sie nur zu denken, machte ihr ein wenig Mut. Sie richtete sich auf.
Fast im selben Moment wurde ihr schwindelig. In der Kapuze drehte sich alles, als wäre das Schwarz vor ihren Augen plötzlich flüssig. Sie taumelte ein wenig und wäre fast aufs Bett zurück- oder auf den Zementboden gesackt. Doch wie ein Akrobat auf dem Hochseil fing sie sich; langsam hörte das Drehen in ihrem Kopf auf, und sie hatte eine gewisse Kontrolle über ihre schwachen Muskeln. Sie wünschte sich, stärker zu sein, wie ein paar von den Athleten an ihrer Schule, die so aufs Gewichtheben versessen waren.
Immer noch keuchend, machte sie einen zaghaften Schritt nach vorn. Dabei hielt sie die Hände vor sich. Sie fühlte nichts. Sie holte nach links und rechts aus und stieß an eine Wand. Sie drehte sich halb um und bewegte sich im Krebsgang an der Wand entlang, während sie die flachen Gipskartonplatten unter den Fingern spürte. Sie hörte ein Rasseln, was wohl besagte, dass die Kette an ihrem Hals sich straffte. Sie vermutete, dass sie gegen das Bettgestell schlug.
Sie stieß mit dem Knie gegen etwas Hartes und blieb stehen. Der starke Geruch nach Desinfektionsmitteln drang durch die Seidenhaube. Ganz behutsam griff sie hinunter und strich mit den Händen über den Gegenstand.
Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich ein Bild von dem zu machen, woran er sie erinnerte, doch sie ertastete den Sitz und das Dreibein darunter. Es war eine mobile Toilette. Dass sie das erkannte, verdankte sie einem Zufall – als sie klein war, hatte ihr Vater sie zum Camping mitgenommen, und sie hatte hartnäckig herumgequengelt, weil sie in der freien Natur etwas so Primitives benutzen sollte. Jetzt war sie fast überglücklich. Ihr tat die Blase weh, und kaum hatte sie erkannt, was sich zu ihren Füßen befand, schossen ihr fordernde, stechende Schmerzen durch den Unterleib.
Sie rührte sich nicht. Sie hatte keine Ahnung, wer sie sehen konnte. Sie konnte nur vermuten, dass die Regeln die Benutzung der Toilette gestatteten. Sie wusste nicht, ob sie sich unbeobachtet fühlen konnte. Das Schamgefühl des jungen Mädchens war fast übermächtig. Ihr Sinn für Anstand lag im Widerstreit mit der Forderung der Natur. Sie hasste den Gedanken, dass jemand sie sehen konnte.
Ihr Unterleib stand Qualen aus. Sie begriff, dass ihr keine Wahl blieb. Sie hockte sich über den Sitz, zog sich mit einer einzigen zügigen Bewegung den Slip herunter und setzte sich hin.
Sie hasste jeden Moment, in dem sie sich erleichterte.
An den Bildschirmen über dem Raum, in dem Jennifer eingesperrt war, verfolgten Michael und Linda jeden ihrer Schritte. Die unbeholfenen, tastenden Bewegungen mit verbundenen Augen waren in ihrem Zeitlupentempo delikat. Sie konnten den Kitzel, den die Show dort in der Unterwelt ihren Zuschauern bescherte, fast mit Händen greifen. Ohne ein Wort zu wechseln, wussten sie beide, dass es für Hunderte zur Droge werden würde, Jennifer zuzusehen.
Und wie jeder gute Dealer hatten sie ein sicheres Gefühl dafür, das Angebot präzise auf die Nachfrage abzustimmen.