Jennifer sang Mister Braunbär leise etwas vor, als die Tür aufging. Es war kein spezielles Lied, sondern eine Mischung aus sämtlichen Kinderliedern, an die sie sich erinnern konnte, so dass »Row, Row, Row Your Boat« und »Itsy Bitsy Spider« in »The Bear Went Over the Mountain« und »I’m a Little Teapot« übergingen. Außerdem mischte sie noch das eine oder andere Weihnachtslied darunter. Jeden Liedtext, jeden Vers, jede Melodie, die ihr einfielen, summte sie vor sich hin. Um Rap und Rock ’n’ Roll machte sie einen großen Bogen, weil sie sich nicht denken konnte, wie sie daraus Trost schöpfen sollte. Als das Geräusch der Tür sie unterbrach, hielt sie die Luft an, sang jedoch im nächsten Moment umso lauter weiter. »God bless ye, merry Gentlemen, let nothing ye dismay, remember Christ our Saviour was born this Christmas day …Gott segne euch, ihr wackren Herren, seid guten Muts und wisst, an diesem Tag geboren ward unser Herre Christ …«
»Nummer 4, bitte pass auf.«
»Oh, the bear went over the mountain, the bear went over the mountain, the bear went over …«
»Nummer 4, hör auf zu singen, oder ich tu dir weh.« Jennifer hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Drohung ernst gemeint war. Sie hörte auf. »Gut«, sagte die Frau.
Jennifer hätte am liebsten gelächelt. Kleine Rebellionen, sagte sie sich. Tu, was sie verlangen, aber …
»Pass auf«, sagte die Frau.
Ich weiß, wo du bist, dachte Jennifer. Sie wusste nicht, wieso ihr das so wichtig war, aber das war es. Von den wenigen Sekunden, die sie unter ihrer Augenbinde hervorgespäht hatte, fühlte sie sich viel stärker. Endlich konnte sie sich im Raum orientieren. Sie wusste von der Videokamera, die auf sie gerichtet war. Sie hatte die kahlen weißen Wände, den grauen Fußboden gesehen, blitzschnell Maß genommen und vor allem gesehen, dass ihre Kleider in der Nähe des Eingangs gestapelt waren. Sie lagen alle säuberlich gefaltet neben ihrem Rucksack, als warteten sie dort frisch gewaschen und gebügelt auf sie. Es war nicht dasselbe, wie angezogen zu sein, doch allein schon die Möglichkeit, wieder in ihre Jeans und ihr T-Shirt zu schlüpfen, hatte sie mit Hoffnung erfüllt.
Die Kamera, die unbeirrbar auf sie gerichtet war, hatte ihr zu denken gegeben. Jennifer war klar, dass es demnach keine Privatsphäre gab. Als ihr diese Verletzung bewusst wurde, war sie rot geworden, doch im nächsten Moment hatte sie begriffen, dass, wer auch immer sie beobachtete, nicht sie zu sehen bekam, sondern eine Gefangene. Sie war nach wie vor anonym. Vielleicht war ihr Körper bloßgestellt worden, aber nicht sie. Es bestand ein Unterschied zwischen dem Menschen, der sie war, und dem, was sie tat. Irgendeine Doppelgängerin von Jennifer, die sie Nummer 4 nannten, machte dies oder das, während die echte Jennifer ihren Teddy festhielt und Lieder sang und herauszufinden versuchte, in was sie hineingeraten war. Sie wusste, dass es ein hartes Stück Arbeit werden würde, die wahre Jennifer zu beschützen und den Mann und die Frau, ihre Kerkermeister, in dem Glauben zu wiegen, die Pseudo-Jennifer sei echt.
Und noch etwas machte die Kamera ihr klar. Sie bedeutete, dass sie gebraucht wurde. Sie wusste zwar nicht, was für ein Drama hier inszeniert wurde, doch eins war klar: Sie war darin die Hauptdarstellerin. Sie wusste nicht, wie lange sie diese unverzichtbare Funktion am Leben erhalten würde, doch zumindest gab sie ihr eine gewisse Zeit, und sie war entschlossen, diese Zeit zu nutzen.
»Nummer 4, ich werde einen Stuhl ans Fußende deines Bettes stellen. Du wirst dich dorthin begeben und dich daraufsetzen.«
Jennifer schwang die Beine vom Bett. Sie stand auf. Dann räkelte sie sich, hob zuerst ein Bein, dann das andere und spannte die Muskeln. Sie ging auf die Zehenspitzen, dann auf die Fersen und wiederholte die Übung mehrfach schnell hintereinander. Danach drehte sie einen Arm auf den Rücken und dehnte den Oberkörper. Sie wiederholte die Bewegung mit dem anderen Arm. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln zusammenzogen und entspannten und ihr die Steifheit aus den Gliedern wich.
»Dies ist keine Gymnastikstunde, Nummer 4, tu auf der Stelle, was ich dir sage.«
Jennifer drehte den Kopf hin und her, um den Hals zu lockern, und tastete sich behutsam zum Fußende hinüber, indem sie sich mit einer Hand an der Matratze orientierte. Sie streckte die Hand aus und fühlte die Holzlehne eines Stuhls. Sie setzte sich wie ein mutwilliges Mädchen im Katechismusunterricht, das Angst vor der Nonne hat, in einer betont artigen Pose hin – kerzengerader Rücken, die Hände auf dem Schoß gefaltet, die Knie zusammengedrückt. Sie fühlte, dass die Frau näher auf sie zukam. In Erwartung weiterer Anordnungen drehte sie sich halb zu ihr um.
Der Schlag traf sie überraschend und brutal. Die flache Hand, quer über der Wange, hätte sie fast zu Boden geworfen. Der Schock war so qualvoll wie der Schlag. Hinter der Augenbinde sah sie Sternchen, und ihr Gesicht durchzuckte ein so heftiger Schmerz, als hätten sämtliche Nervenenden quer über ihren Körper einen Elektroschock erlitten. Schwindel und Schmerz bildeten eine Mischung, von der sich ihr alles im Kopf drehte.
Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren und wäre vom Stuhl gefallen, und sie schnappte nach Luft, als hätte sie jemand gewürgt. Sie wusste, dass sie ein paar wimmernde Laute wie ein Tier von sich gab, doch sie konnte nicht sagen, ob sie im Raum oder nur in ihrem Kopf widerhallten. Sie hielt sich am Sitz des Stuhls fest, denn ihr war klar, dass sie umso mehr getreten und verletzt werden würde, falls sie zu Boden fiel, auch wenn sie nicht wusste, wieso. Sie wollte etwas sagen, doch ihr kam kein Wort über die Lippen, nur Würgen und Schlucken.
»Begreifen wir die Situation jetzt ein bisschen besser, Nummer 4?«, fragte die Frau.
Jennifer nickte.
»Wenn ich dir einen Befehl erteile, hast du ihn zu befolgen. Ich denke, das hatten wir dir bereits klargemacht.«
»Ja. Ich wollte nur … mir war nicht bewusst …«
»Hör mit dem Gejammer auf.«
Sie hörte auf.
»Gut. Ich habe ein paar Fragen an dich. Du wirst sie genau beantworten. Beschränke dich auf die Informationen, um die du gebeten wirst. Ich will, dass du den Kopf still hältst und geradeaus siehst.«
Jennifer nickte. Sie spürte, wie die Frau sich dichter zu ihr vorbeugte, und sie hörte ein Flüstern, das einem Zischen glich. »Die Antwort auf die erste Frage lautet achtzehn«, sagte sie.
Hinter der Binde blinzelte Jennifer erstaunt. Sie begriff, dass diese Bemerkung nur für sie bestimmt war. Sie hörte das Knistern der Kleidung, als die Frau sich ein kleines Stück zurückbewegte. Es trat eine Pause ein, Jennifer nahm starr wie ein Roboter wieder die Haltung des Schulmädchens an und starrte geradeaus, wenn auch nur ins Schwarz unter der Maske.
»Gut. Nummer 4, sag uns, wie alt du bist.«
Jennifer zögerte einen Moment, dann platzte sie heraus: »Ich bin achtzehn.« Eine Lüge, dachte sie, die ihr einigen Schmerz ersparte. Die Frau fuhr fort.
»Weißt du, wo du bist?«
»Nein.«
»Weißt du, weshalb du hier bist?«
»Nein.«
»Weißt du, was mit dir passieren wird?«
»Nein.«
»Weißt du, welchen Tag wir haben? Oder vielleicht das Datum, die Uhrzeit oder auch nur, ob es Tag oder Nacht ist?«
Sie schüttelte den Kopf, zwang sich, damit aufzuhören, und sagte: »Nein.« Diesmal klang ihre Stimme ein wenig gebrochen, als handelte es sich bei dem Wort »nein« um kostbares Porzellan, das beim kleinsten Patzer in Stücke zerbrach.
»Wie lange bist du schon hier, Nummer 4?«
»Ich weiß nicht.«
»Hast du Angst, Nummer 4?«
»Ja.«
»Hast du Angst davor zu sterben, Nummer 4?«
»Ja.«
»Willst du weiterleben?«
»Ja.«
»Was wirst du tun, um weiterzuleben?«
Jennifer überlegte. Es konnte nur eine Antwort geben. »Alles.«
»Gut.«
Die Stimme der Frau schien vielleicht einen bis anderthalb Meter entfernt zu sein. Jennifer hegte den Verdacht, dass sie hinter die Kamera getreten war, damit sie ihre Antworten direkt in die Linse sprach. Sie schöpfte ein wenig Zuversicht. Ich werde gefilmt. Die Fähigkeit, das, was mit ihr passierte, auch nur bruchstückhaft zu begreifen, half. Sie wusste, dass ihr Bild irgendwohin ging. Irgendwo wurde sie in diesem Moment von irgendjemandem beobachtet. Ihre Muskeln spannten sich an. Sie haben keine Ahnung, wie stark ich sein kann, dachte sie. Dann kamen ihr Zweifel. Ich weiß nicht, wie stark ich sein kann. Sie hätte am liebsten geweint und der Verzweiflung, dem Drang, loszuschluchzen, einfach nachgegeben. Oder aber sich gewehrt, nur dass sie nicht wusste, wie.
»Steh auf, Nummer 4.« Sie gehorchte. »Zieh deinen Slip herunter.«
Sie konnte nichts dagegen machen, doch ihre Hände zögerten. Zugleich spürte Jennifer, dass die Frau schon die Muskeln spielen ließ, um sie wieder zu schlagen; sie tat, was die Frau verlangte. Sie sagte sich, es sei nicht anders als wie bei einem Arztbesuch oder in einer Umkleidekabine nach einem schweißtreibenden Training. Ihre Nacktheit hatte nichts Beschämendes an sich. Sie spürte, dass die Kamera sie wie mit der Lupe erfasste, und fühlte sich gedemütigt. Sie war den Tränen nahe, als die Frau sagte: »Du darfst dich wieder setzen.« Sie griff nach dem knappen Höschen, zog es hoch und setzte sich wieder hin. Es war, als wäre ihr etwas abgeschnitten worden. Als der Mann sie gezwungen hatte, sich nackt zu waschen, hatte sie sich nicht so schrecklich gefühlt wie jetzt.
»Wovor hattest du, bevor du in diesen Raum kamst, am meisten Angst?«
Sie musste überlegen. Vor Scham arbeitete ihr Kopf nicht richtig.
»Größte Angst, Nummer 4?« Der Ton der Frau war unnachgiebig.
Jennifer zermarterte sich den Kopf, um eine Antwort zu finden.
»Spinnen. Ich hasse Spinnen. Als ich klein war, hat mich eine Spinne gebissen, mein Gesicht ist dick angeschwollen, und seitdem …«
»Das ist eine Sache, vor der du Angst hast, Nummer 4. Aber was macht dir am meisten Angst?«
Jennifer zögerte. »Manchmal hatte ich dann Angst, ich könnte in einem Raum voller Spinnen eingeschlossen sein.«
»Das kann ich bewerkstelligen, Nummer 4 …«
Jennifer schauderte unwillkürlich. Sie wusste, dass die Frau nicht zögern würde. Sie vermutete, dass sie nur an der Oberfläche dessen, wozu die Frau fähig war, gekratzt hatte. Und sie rechnete damit, dass der Mann noch schlimmer war.
»Aber was macht dir am meisten Angst, Nummer 4?«
Immer noch hämmerte dieselbe Frage auf sie ein. Was war falsch an meiner Antwort? Das eine oder andere Wort steckte ihr im Hals, und sie hustete. Sie hatte eine Idee. »Dass ich nie aus der Kleinstadt rauskommen würde, in der ich gewohnt habe, und dass ich für den Rest meines Lebens dort festhängen würde.«
Die Frau schwieg. Jennifer überlegte, ob sie die Frau mit dieser Antwort vielleicht überrascht hatte.
»Also, Nummer 4, du hast dein Zuhause gehasst?«
Jennifers Kopf ging heftig auf und nieder, und sie antwortete: »Ja.«
»Was hast du gehasst?«
»Alles.«
Wieder sprach die Frau mit Bedacht. Ihre Stimme hämmerte auf Jennifer ein. Der stetige Rhythmus der Fragen war wie ein Sperrfeuer, das sie im Innersten traf. »Und deshalb wolltest du fliehen, richtig?«
»Ja.«
»Willst du immer noch fliehen, Nummer 4?«
Jennifer glaubte, von dem Schluchzen, das sie unterdrückte, müsste ihr die Brust zerspringen. Sie wusste nicht, ob die Frau meinte, Flucht von zu Hause oder Flucht aus ihrer Zelle. Diese Ungewissheit tat weh. »Ich will einfach nur leben«, sagte sie. Ihre Stimme bebte.
Die Frau legte eine Pause ein, bevor sie fortfuhr. Die Fragen waren gnadenlos.
»Was hast du in deinem Leben geliebt, Nummer 4?«
Sie überkam eine Flut von Kindheitserinnerungen. Mitten im Dunkel ihrer verbundenen Augen sah sie ihren Vater vor sich stehen, nur dass er diesmal am Leben war und ihr mit diesem schiefen Grinsen im Gesicht winkte und sie aufmunterte, zu ihm zu kommen. Sie erinnerte sich an Partys und Spielplätze. Sie sah ganz normale Momente vor sich, wie Picknicks und einen Familienausflug nach Fenway Park zu einem Ballspiel und mit Hot Dogs an einem Nachmittag im Sommer. Einmal war sie bei einer Schulexkursion zu einer nahe gelegenen Farm in einen Pferch gekrochen, in dem neugeborene Hundewelpen an den Zitzen ihrer Mutter saugten, und sie hatte gestaunt, wie weich und winzig und kraftstrotzend das Leben sein konnte. Sie hatte vor sich, wie sie und ihre Mutter, die sie aus gutem Grund nicht mehr lieben konnte, in einem Nationalpark in einem Fluss schwammen, in dem ihnen unter einem kleinen Wasserfall Kaskaden von kaltem Wasser über den Kopf strömten und sie beide die Gänsehaut ignorierten, weil es ein so wundervolles Gefühl war.
All diese Bilder bestürmten sie wie in einem rasanten Actionfilm hinter der Augenbinde. Sie sog heftig die Luft ein. All diese Gedanken gehörten ihr, und sie wusste, sie musste sie beschützen. »Nichts«, sagte sie.
Die Frau lachte. »Jeder liebt etwas, Nummer 4. Ich frage dich noch einmal: Was hast du geliebt?«
Ein Haufen Ideen schoss ihr durch den Kopf. Alle möglichen Bilder wirbelten durcheinander. Eine Flut von Erinnerungen. Sie hatte das Gefühl, dagegen ankämpfen zu müssen, um sie für sich behalten zu können. Sie zögerte einen Moment, bevor sie hastig begann: »Ich hatte mal eine Katze … genauer gesagt, hab ich ein streunendes Katzenjunges gefunden. Es war nass und struppig und hatte sich verirrt. Ich durfte es behalten. Ich hab es ›Socke‹ genannt, weil es weiße Pfötchen hatte. Ich hab es mit Milch gefüttert, und es hat nachts bei mir auf dem Bett geschlafen. Sie war jahrelang mein bester Freund.«
»Was ist aus Socke geworden, Nummer 4?«
»Mit sieben Jahren wurde sie krank. Der Tierarzt konnte sie nicht retten. Wir haben im Garten ein Loch gegraben und sie reingelegt. Danach hab ich tagelang geweint, und meine Eltern haben mir angeboten, mir ein neues Kätzchen zu besorgen, aber ich wollte keine neue, ich wollte nur diejenige, die gestorben war.« Sie schwieg einen Moment und fügte hinzu: »So, das war etwas, das ich geliebt habe.«
»Rührend, Nummer 4.«
Jennifer wollte gerade antworten: Du hast es so gewollt, doch sie durfte nicht noch eine Ohrfeige riskieren. Sie riss sich zusammen und vermied ein spöttisches Grinsen, genoss aber innerlich die Schadenfreude. Die Geschichte mit Socke war von vorn bis hinten erstunken und gelogen. Keine Katze, du Miststück. Keine tote Katze. Du kannst mich mal.
»Eine letzte Frage, Nummer 4.« Jennifer rührte sich nicht. Sie wartete. »Bist du noch Jungfrau, Nummer 4?«
Sie merkte, wie sich ihre Zunge pelzig anfühlte, registrierte den sauren Geschmack auf den Lippen. Sie waren trocken, und sie leckte sich mehrmals darüber. Sie wusste nicht, wie die richtige Antwort lautete. Die Wahrheit hieß Ja, aber war es gut, oder war es schlecht, das zu sagen? Sie spürte, wie ihr die Angst hochkroch. Die Andeutung von Sex schnürte ihr die Luft ab. Sie wollen mich vergewaltigen, dachte sie.
»Bist du noch Jungfrau, Nummer 4?«
Wenn sie nein antwortete, würden sie das irgendwie als Einladung verstehen? Wenn sie damit nahelegte, sie hätte schon Sex gehabt, würden sie das als Freibrief verstehen? War ihre Naivität etwas Gutes oder Schlechtes? Sie hasste es, sich entscheiden zu müssen. Keine der beiden Antworten schien richtig. »Ja«, sagte sie mit heiserer Stimme.
Die Frau lachte. »Du darfst aufs Bett zurück«, sagte sie. Ihr Ton triefte vor Spott.