31

Jennifer hockte auf dem Bett, kniff hinter der Binde die Augen zu und versuchte, sich ihr Zimmer zu Hause vorzustellen. Sie hatte angefangen, sich Dinge aus ihrer Erinnerung mit der Präzision eines Bauzeichners vorzustellen und jeden Winkel, jede Form und jede Farbe auszumalen. Spielzeug, Bilder, Bücher, Kissen, Poster. Ihr Schreibtisch stand an der und der Stelle, ihre Tagesdecke auf dem Bett hatte ein Quiltmuster aus sich überschneidenden Quadraten in Rot, Blau, Grün und Violett. Auf einer Kommode stand ein Foto in den Maßen 15 mal 10, auf dem sie bei einem Jugendfußballspiel den Ball köpfte.

Sie ließ sich damit Zeit, alles zusammenzutragen; sie wollte nicht das geringste Detail vergessen. Sie schwelgte in ihren Erinnerungen – die Handlung und die Figuren eines Buchs, das sie als Kind gelesen hatte; die ersten Ohrringe, nachdem sie sich Ohrlöcher hatte stechen lassen. So malte sie sich im Kopf genüsslich ihre Vergangenheit aus. Es half ihr dabei, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie erst seit wenigen Tagen Nummer 4, aber viele Jahre lang Jennifer gewesen war. Es war ein ständiger Kampf.

Die Augenbinde markierte, selbst wenn sie unter dem Rand hervor einmal einen kurzen Blick auf ihr Gefängnis werfen konnte, die Grenzen ihrer Existenz. Es kam vor, dass sie aufwachte und große Mühe hatte, sich irgendetwas aus ihrer Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen. Was sie fühlen, riechen und hören konnte – das, was sie sich von ihrer Gefängniszelle eingeprägt hatte und was, wie sie wusste, von der Kamera festgehalten wurde –, war alles, was ihr geblieben war. Dann hatte sie für eine Sekunde Angst, dass es weder gestern eine Jennifer gegeben hatte noch morgen eine geben würde, sondern nur die Jennifer in dieser Sekunde existierte.

Sie wusste tief in ihrem Innern, dass sie sich auf einem Schlachtfeld befand, nur dass sie nicht wusste, wo der Gegner stand und welche Waffen er gegen sie führte. Es wäre leichter gewesen, als Schiffbrüchiger auf einem winterlichen Meer zu treiben. Wenigstens wäre dann klar gewesen, dass sie gegen die Strömung und gegen die Wellen ankämpfen musste und dass sie, falls sie sich nicht über Wasser halten konnte, ertrinken würde.

Innerlich schluchzte sie. Äußerlich blieb sie ruhig.

Sie dachte: Ich bin erst sechzehn. Ich gehe noch auf die Highschool. Sie wusste, dass sie nicht viel von der Welt kannte. Sie war nicht in ferne Länder gereist und hatte keine ausgefallenen Sehenswürdigkeiten besucht. Sie war keine Spionin oder Soldatin, geschweige denn eine Kriminelle – oder sonst irgendjemand, der auch nur über die geringste Erfahrung mit Gefängnissen verfügte. Eigentlich hätte sie die Erkenntnis lähmen müssen, doch seltsamerweise tat sie es nicht. Ein paar Dinge weiß ich immerhin, redete sie sich gut zu. Zum Beispiel, wie man sich wehrt. Wahrscheinlich machte sie sich etwas vor, doch das war ihr egal. Jedenfalls war sie entschlossen, das wenige, das sie wusste, zu nutzen, um sich selbst zu helfen.

Wenn sie sich wehren wollte, dann fing es schon mal damit an, dass sie sich an das Leben erinnern musste, zu dem sie einmal gehört hatte. An das Gute und das Schlechte. Ihre Wut auf ihre Mutter, ihre Verachtung für den Mann, der es darauf abgesehen hatte, ihr Stiefvater zu werden – diese Dinge gaben ihrer Entschlusskraft Nahrung.

Neben der Kommode steht eine Bodenlampe aus schwarzem Metall mit einem roten Schirm. Der Teppich ist ein mehrfarbiger Kelim, der eine fleckige, alte beigefarbene Auslegeware abdeckt. Der schlimmste Fleck stammt von einer Tomatensuppe, die ich aus der Küche mit hochgenommen habe, was ich eigentlich nicht durfte. Sie hat mich angeschrien. Hat gesagt, ich sei unverantwortlich. War ich auch. Aber ich hab mich trotzdem mit ihr gestritten. Wie oft haben wir uns gestritten? Einmal am Tag? Nein, öfter. Wenn ich heimkomme, wird sie mich in die Arme nehmen und mir sagen, wie sie geweint hat, als ich verschwunden bin, und das wird mir guttun. Ich vermisse sie. Sie hat jetzt schon ein bisschen graue Haare, nur ein paar Strähnen, die sie zu färben vergisst, und ich weiß nicht, ob ich es ihr sagen soll. Sie könnte schön sein. Sie sollte schön sein. Werde ich je hübsch sein? Vielleicht weint sie jetzt. Vielleicht ist Scott bei ihr. Ich hasse ihn. Immer noch. Mein Vater hätte mich längst gefunden, aber er kann es nicht. Sucht Scott überhaupt nach mir? Sucht irgendjemand nach mir? Mein Vater sucht nach mir, aber er ist tot. Das hasse ich. Er wurde mir weggenommen. Krebs. Ich wünschte, ich könnte dafür sorgen, dass der Mann und die Frau Krebs bekommen. Mister Braunbär weiß Bescheid. Ich würde ihn neben mir ins Bett legen. Er kann sich erinnern, wie das Zimmer aussieht. Wie kommen wir nur hier raus?

Jennifer wusste, dass die Kamera alles einfing, was sie tat. Sie wusste, dass der Mann und die Frau – wer von beiden ihr mehr Angst machte, konnte sie nicht sagen – sie vielleicht beobachteten. Doch ganz still – als würde sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, wenn sie still war – strich sie mit den Fingerspitzen über die Kette an ihrem Hals.

Ein Glied. Zwei. Sie tastete jedes ab. Sie fühlten sich glatt an. Sie konnte sie sich vorstellen. Sie waren vermutlich silbern und glänzend, und sie hatten sie bestimmt in einer Tierhandlung gekauft. Die Glieder hatten nicht die Stärke und das Gewicht für einen Pitbull oder Dobermann. Aber sie waren wahrscheinlich stark genug, um sie festzuhalten. Sie griff sich hinter den Kopf und fand die Stelle, an der die Kette in einer Öse endete, die an der Wand befestigt war. Rigips, schätzte sie. Trockenbau.

Als sie sich einmal mit ihrer Mutter gestritten hatte – sie war länger als erlaubt draußen geblieben –, hatte sie einen Briefbeschwerer gegen die Wand geworfen. Es hatte einen dumpfen Aufschlag und ein großes Loch in der Wand gegeben, dann war er zu Boden gefallen. Ihre Mutter musste einen Handwerker rufen, um die Wand reparieren zu lassen. Rigips ist nicht stark. Vielleicht konnte sie die Öse herausreißen? Sie merkte, wie sie bei der Frage die Lippen bewegte, ohne dass ein Laut in ihrem Gefängnis widerhallte. Der Mann hatte das sicher bedacht.

Ich hab den Briefbeschwerer nicht wie ein Mädchen geworfen, rief sich Jennifer ins Gedächtnis. Mein Vater hat mir schon, als ich klein war, beigebracht, wie man einen Ball wirft. Er liebte Baseball. Er hat mir meine Red-Sox-Kappe geschenkt. Er hat mir beigebracht, wie es geht: den Arm am Ellbogen beugen und kräftig nach hinten ausholen. Nicht die Schulter bewegen. Dann mit aller Kraft werfen. Fastball. Ins Schwarze treffen. Den Gegner kaltstellen.

Sie lächelte, nur ein bisschen, weil sie nicht wollte, dass es von der Kamera eingefangen wurde. Vielleicht kann ich ein kleiner Pitbull sein, dachte sie. Jennifer strich sich mit den Fingern über das Lederhalsband. Wahrscheinlich in derselben Tierhandlung gekauft. Sie stellte sich die Unterhaltung vor. »Und was für eine Rasse wollen Sie damit anketten, Ma’am?« Sie sah die Frau an der Theke vor sich. Ihr habt keine Ahnung, dachte Jennifer. Ihr wisst nicht, was für eine Art Hund ich sein kann. Wie ich beißen kann.

Sie bohrte den Fingernagel in das Halsband und fing an, am Leder zu schaben. Es fühlte sich billig an. Sie ertastete ein kleines Schloss, so eins, mit dem man einen Koffer verschließt. Es sollte sie daran hindern, das Halsband zu öffnen. Sie kratzte ein bisschen fester, nur so viel, dass sie hinterher die Stelle wiederfinden konnte. Vielleicht, dachte sie, konnte sie so lange daran schaben, dass es zerriss.

Es musste einen Weg in die Freiheit geben. Zuerst musste sie von dieser Kette loskommen. Dann durch die Tür – war sie abgeschlossen? Sie musste es aus dem Kellerraum, in dem sie gefangen war, nach oben schaffen. Wo ist die Treppe? Muss ganz in der Nähe sein. War sie erst mal oben, galt es, eine Tür nach draußen zu finden. Dann musste sie rennen. In welche Richtung, war egal. Nur weg.

Das war der leichte Teil. Wenn ich erst mal so weit komme, dass ich wegrennen kann, hält mich keiner auf. Ich bin schnell. Auf jedem Spielfeld war ich die Schnellste. An der Highschool wollte der Trainer für Geländelauf, dass ich bei ihm mitmache, aber ich hab nein gesagt. Dabei hätte ich all die anderen Mädchen geschlagen, sogar die meisten Jungen. Ich muss nur die Chance bekommen.

Jennifer ließ die Hände von der Kette und dem Halsband sinken und fing an, ihren Teddy zu streicheln. Sie flüsterte Mister Braunbär zu: »Ein Schritt nach dem andern. Wir schaffen es, das verspreche ich dir.« Ihre Stimme hallte durch den Raum, und sie war erstaunt, dass sie laut gesprochen hatte. Einen Moment lang dachte Jennifer, sie hätte geschrien, doch dann schätzte sie, dass es nur ein Flüstern gewesen war. Beides schien möglich. Es hallte ihr in den Ohren nach, bis ein anderer Laut in ihr Bewusstsein drang.

Jemand war an der Tür. Sie zuckte zusammen und reckte den Kopf in die Richtung. Sie biss sich auf die Lippe. Sie hatte keinen Schlüssel im Schloss gehört. Sie hatte nicht gehört, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Sie versuchte sich zu erinnern, wie es bei den früheren Gelegenheiten gewesen war. Hatte sie da etwas gehört? Nein, es war nur das Geräusch des Türknaufs gewesen, der gedreht wurde. Was sagte ihr das?

Bevor sie auch nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit hatte, ihre eigene Frage zu beantworten, hörte sie die Stimme des Mannes.

»Steh auf, zieh deine Unterwäsche aus.«

 

Michael und Linda verstanden, dass es in Serie Nummer 4 nicht nur um Sex ging, sondern auch um Besitz und Kontrolle. Die sexuelle Komponente war wesentlich und nach ihrer Überzeugung der Dreh- und Angelpunkt, von dem der Erfolg der Show abhing.

Michael hatte Stunden damit zugebracht, sich die Hostel-Filme mit jeder Einzeleinstellung genau anzusehen, und war zu dem Schluss gekommen, dass sie am Ende zu einem Blutbad verkamen, das ihre Zuschauer auf Teenager einschränkte, denen es vor allem um platte Brutalität ging. Spritzte erst mal das Blut, war die Spannung bald dahin.

Linda fand diese Streifen ihrerseits widerwärtig; stattdessen hatte sie fast jedes Buch über Patty Hearst und die Symbionese Liberation Army, das sie auftreiben konnte, wieder und wieder verschlungen. Was sie faszinierte, war die psychologische Veränderung, der die Erbin unterzogen wurde, bis sie zu Tanya, der späteren Revolutionärin, wurde. Zwar hatten sie nicht vor, Nummer 4 unter Drogen zu setzen und ihr eine Waffe in die Hand zu drücken, damit sie bei einem unausgegorenen Banküberfall und einer nebulösen Revolution mitmischte, um die Armen durchzufüttern. Was Linda umso mehr an dem Fall interessierte, waren die Methoden, mit denen Hearst dazu gebracht wurde, ihre Identität aufzugeben: Isolation. Fortwährende Bedrohung. Sexueller Druck. Diese virtuose Mischung hatte nach und nach alles, was Patty Hearst ausmachte, ausgelöscht und sie zu einem unbeschriebenen Blatt werden lassen, mit dem ihre Entführer machen konnten, was sie wollten.

Dies waren Elemente, die sie in ihre Show einbauen konnten. Dabei ging sie einfach davon aus, dass sie ihre Faszination mit den Zuschauern rund um den Globus teilte. Ganz anders als Michael, der sowohl zur Show als auch zu den Menschen, die dafür bezahlten, rund um die Uhr Zugang zu Nummer 4 zu haben, eine klinische Distanz wahrte, wusste sie, dass sie einen Teil ihrer Passionen mit ihnen teilte.

Natürlich wurde sie mit zunehmender Sogwirkung umso grausamer. Sie wollte Nummer 4 besitzen – und sie wollte ihr wehtun.

Manchmal schlich sie, wenn Michael schlief, aus dem Bett, wickelte sich den nackten Körper in eine Decke, ging zu den Monitoren und sah zu. Dabei schlug ihr Herz wie bei den Benutzern, die irgendwo anonym dasselbe taten, höher. Es war eine andere Form der Intimität. Sie wurde in einer Weise erregt, die sie nicht erreichte, wenn Michael und sie sich liebten. Ihr Atem kam keuchend. Sie hatte den glühenden Wunsch, sich selbst zu berühren, und ihre Erregung steigerte sich noch, indem sie es sich versagte. Sie übte Verzicht, damit es, wenn sie sich Michael hingab, noch leidenschaftlicher war. Sie wusste, dass sie ihn mit dieser hemmungslosen Leidenschaft überraschte, doch er sagte nichts und gab ihr, was sie brauchte.

Die Jungfräulichkeitsuhr war ihre Idee. Sie war eine einfache Ergänzung. Ein Zeitmesser, der in die Bilder, die hinausgingen, eingeblendet wurde. Die Zuschauer wurden aufgefordert, zu wetten, wann genau Nummer 4 von ihren beiden maskierten Geiselnehmern gezwungen würde, ihre Jungfräulichkeit aufzugeben. Es war ein bisschen wie eine Tippgemeinschaft im Büro, nur dass es bei dieser Wette nicht um ein Fußball- oder Basketballspiel ging, sondern um Vergewaltigung.

Es war unmöglich vorherzusagen, wann es dazu kommen würde, doch es bezog die Zuschauer in ein interaktives Spiel ein.

Als die Uhr und die Angaben dazu, wie man eine Online-Wette posten konnte, das erste Mal erschienen, hatte es einen augenblicklichen Anstieg im E-Mail-Verkehr gegeben.

Viele Menschen lieben die Lotterie, dachte Linda, das Entscheidende war nur, den Anreiz nahezu beständig aufrechtzuerhalten.

Von Anfang an war bei Serie Nummer 4 das Element der Suggestion entscheidend gewesen, dazu ein gehöriges Maß an Action. Linda war peinlichst darauf bedacht, bei den Benutzern keine Langeweile aufkommen zu lassen und zugleich den Höhepunkt hinauszuschieben. Es ging darum, all die Menschen, die zuschauten, mit der Geschichte von Nummer 4 zu fesseln, so dass das Publikum, abgesehen von der sexuellen Stimulation, die Drehungen und Wendungen des Geschehens genoss, als wäre die Gefangenschaft von Nummer 4 eine Seifenoper, die sich real und andererseits auch nicht real vor aller Augen abspielte.

Die Jungfräulichkeitsuhr war nur so etwas wie ein kleiner Wechsel in der Kulisse.

Sie erschien in der Ecke gegenüber der anderen Uhr zu Nummer 4 in Rot, die fortlaufend die Zeit von Jennifers Gefangenschaft angab.

 

»Gut«, sagte Michael. Seine Stimme war barsch und tief. Nummer 4 hatte sich verschüchtert, fast wie ein Soldat, der strammsteht, am Fußende des Bettes postiert, nur dass sie, wie zuvor, als sie sich wusch, mit den Händen versuchte, ihre Blöße zu bedecken.

Er wusste, dass sie das nicht mit Absicht tat. Er wusste auch, dass diese Verschämtheit die meisten Zuschauer elektrisieren würde. Sie waren so an die Pornoindustrie gewöhnt, die ihre Akteure gar nicht schnell genug ausziehen konnte, um alles unverhüllt vorzuführen, dass der Widerwille von Nummer 4, zu zeigen, was die Leute sehen wollten, sie erregen würde.

»Hände an die Seite, Nummer 4«, sagte er kalt.

Er sah, wie sie zitterte. Er trat ein Stück nach links, um sicherzustellen, dass er die Kamera nicht blockierte, und noch deutlich näher heran. Nummer 4 sollte seine Anwesenheit, vielleicht sogar seinen Atem an der Wange spüren. Er vertraute darauf, dass Linda die anderen Kameraeinstellungen ebenfalls wechselte. Auch wenn sie mit der Kameraführung nicht so versiert war wie er, wusste sie genug, um wechselnde Blickwinkel zu gewähren.

Streichle sie mit der Kamera, dachte Michael. Er versuchte, Linda diese Botschaft zu schicken, und er war zuversichtlich, dass er damit Erfolg hatte. In diesen Dingen waren sie auf derselben Wellenlänge.

»Sieh geradeaus.«

Nummer 4 tat, was er sagte. Sie biss sich auf die Lippe; hoffentlich fing Linda das in einer Nahaufnahme ein.

»Wir haben noch weitere Fragen, Nummer 4«, fing er an. Sie nickte zwar nicht, doch er sah, wie sie den Kopf ein wenig in seine Richtung drehte. »Lass hören, Nummer 4, wie hast du dir dein erstes Mal vorgestellt?«

Wie nicht anders erwartet, traf sie die Frage unvorbereitet. Sie öffnete den Mund ein wenig, als hätte sie etwas auf der Zunge, wollte es aber doch nicht sagen.

Er soufflierte. »Hast du gedacht, du würdest dich verlieben? Hast du es dir romantisch vorgestellt? In einer lauen Sommernacht bei Mondenschein am Strand? Vor einem brennenden Kaminfeuer, in einer gemütlichen Hütte, während es draußen stürmt und schneit?« Er lächelte. Diese Phantasien hatte Linda beigesteuert. »Oder eher knallharter Sex auf dem Rücksitz eines Autos? Oder auf einer Party zwischen anderen Teenagern, wo du mitspielst, weil einer hartnäckig ist oder du zu viel getrunken oder vielleicht Drogen genommen hast?«

Nummer 4 antwortete nicht.

»Lass hören, Nummer 4. Wir wollen wissen, wie du es dir vorgestellt hast.«

»Ich hab nie, ich …«, stammelte sie.

»Klar hast du, Nummer 4«, knurrte Michael. Er bemühte sich, so bedrohlich wie möglich zu klingen. »Das tut jeder. Jeder stellt sich was vor. Nur dass die Wirklichkeit nie der Phantasie entspricht. Aber wir wollen es wissen, Nummer 4. Wovon hast du geträumt?«

Er beobachtete, wie sie erstarrte.

»Ich dachte, ich würde mich verlieben«, sagte sie stockend.

Michael grinste unter der Maske, die er trug. »Raus damit, Nummer 4. Wir sind neugierig, was du unter Liebe verstehst.«

Jennifer schwieg. Sie sagte sich, dass nicht Jennifer nackt vor der Kamera stand. Es war Nummer 4. Ich hab keine Ahnung, wer das ist. Jemand anders als ich, vollkommen anders, denn ich bin immer noch ich. Auch diejenige, die mit ihm spricht, ist jemand anders. Dann dachte sie: Gib ihm, was er haben will. Also spann sie sich eine Lüge aus. »Da war dieser Junge in meiner Schule, er hieß …«

Der Mann war mit einem Schritt vor ihr und packte sie augenblicklich am Kinn. Sein Griff war fest, und er drückte brutal zu.

Jennifer schnappte nach Luft. Sie war starr vor Schreck, als der Druck auf ihr Kinn zunahm. Das Furchteinflößende war zunächst nicht so sehr der Schmerz als vielmehr das Unerwartete der Bewegung. Doch als er immer fester drückte, wurde der Schmerz immer heftiger. Sie sah Farben hinter ihrer Augenbinde, ein Kaleidoskop an Rot und Weiß, dann spürte sie nur noch einen schwarzen, tiefen Schmerz.

»Nein. Keine Namen, Nummer 4. Keine Ortsangaben. Keine kleinen Einzelheiten, die jemand hören soll, damit jemand kommt und nach dir sucht. Ich sag das nicht noch einmal, Nummer 4, das nächste Mal tu ich dir richtig weh.«

Sie spürte seine Kraft. Es war, als schwebte eine dunkle Gewitterwolke über ihr. Sie nickte. Die Hand, die ihr Kinn gepackt hatte, ließ langsam los, und in ihren ganzen Körper kehrte das Gefühl zurück. Und die Erinnerung daran, dass sie nackt war.

»Weiter, Nummer 4, aber nimm dich in Acht.«

Sie merkte, dass er keinen halben Meter zurückgetreten war. Er stand immer noch ganz dicht bei ihr. Sie wollte nicht, dass er ihr wieder wehtat. Also phantasierte sie weiter. »Er war groß und dünn. Und er hatte dieses übermütige Lachen, das ich an ihm mochte. Er liebte Actionfilme und war richtig gut in Englisch. Ich glaube, er hat Gedichte geschrieben, und im Winter trug er diese komische Mütze, mit diesen Ohrenschützern zum Runterklappen, mit denen er ein bisschen wie ein Elefant ohne Rüssel aussah …«

Der Mann lachte kurz. »Gut«, sagte er. »Und was genau hast du dir vorgestellt, Nummer 4?«

»Ich dachte, wenn er mit mir ausgeht, dann darf er mich nach dem ersten Date küssen.«

»Ja. Und?«

»Und wenn er mich dann noch mal einladen würde, dann dürfte er mich wieder küssen und vielleicht meine Brüste anfassen.«

Sie hörte, wie der Mann näher herankam. Er sprach im Flüsterton, als sei sein Ärger verflogen und etwas anderem gewichen, was nur sie beide etwas anging.

»Ja, erzähl mir mehr, Nummer 4. Was würde beim dritten Date passieren?«

Jennifer starrte geradeaus. Sie wusste, dass sie in die Kamera blickte. Sie hegte den Verdacht, dass die Kamera auf ihre Brüste gerichtet war, als sie davon sprach. Allerdings, rief sie sich ins Gedächtnis, nicht auf meine. Sondern die von Nummer 4. Unter der Augenbinde blinzelte Jennifer, während sie versuchte, sich einen Jungen auszumalen, der nicht existierte.

Niemand war je mit ihr ausgegangen. Und außer bei einer Flaschendreh-Party mit zwölf hatte bis jetzt auch niemand sie küssen wollen. Zumindest nicht, dass sie wüsste. Manchmal hatte sie das auf den Gedanken gebracht, sie sei nicht hübsch. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass vielleicht das Gegenteil der Fall war; dass sie zu hübsch und zu anders und zu rebellisch war und dass dies alles zusammen ihre Klassenkameraden dazu gebracht hatte, ihre Hoffnungen weniger hoch zu stecken.

Sie erfand das Blaue vom Himmel herunter. Sie schöpfte aus Einschlafphantasien. Filmen. Büchern. Alles, was Romanzen bot, die man sich leicht merken konnte. »Und falls er wieder anrief und ich es einrichten konnte … einen Ort, an dem wir allein sein konnten und wo es ruhig war … dachte ich, wir würden …«, sie suchte nach Worten, »es miteinander tun.«

»Ich höre, Nummer 4.«

»Ich wollte, dass es in einem Zimmer passiert. Einem richtigen Schlafzimmer. Nicht auf einem Sofa oder im Auto oder in einem Keller. Und ich wollte, dass es langsam ist. Ich dachte, dass es wie ein Geschenk ist, das ich ihm gebe. Ich wollte, dass es etwas Besonderes ist. Und ich wollte nicht, dass er danach gleich wegläuft. Es sollte nicht beängstigend sein.«

Der Mann kam noch näher heran. Sie merkte, dass er sich hin und her bewegte. Als seine Finger sie am Arm berührten, hätte sie fast geschrien. Vor Angst war sie vollkommen verkrampft.

»Aber so wird es nun nicht kommen, nicht wahr, Nummer 4? Dieser Junge aus deiner Schule – der ist nicht hier. Und meinst du, er wird je erfahren, was für einen Leckerbissen er sich hat entgehen lassen?«

Sie antwortete nicht. Sie merkte, wie er ihr mit den Fingerspitzen so eben über die Haut strich. Sie zeichneten ihren Körper nach, als lenkten sie die Aufmerksamkeit auf jede Partie. Sie strichen die Schultern entlang. Den Rücken hinunter, über ihren Hintern. Um ihre Taille herum, über ihren Bauch. Dann weiter hinunter. Sie schauderte. Bei jemandem, den sie liebte, wäre es, das wusste sie, erotisch gewesen. Bei dem Mann war es, als legte sich Dunkelheit über sie. Sie zitterte und musste den Wunsch herunterkämpfen, zurückzuzucken.

»Willst du es hinter dich bringen, Nummer 4?«

»Ich weiß nicht …«

»Willst du es hinter dich bringen, Nummer 4

Jennifer schwieg. Würde ein Ja ihn darin bestärken, sie auf der Stelle zu packen? Sie niederzuwerfen und sich auf sie zu stürzen? Wäre ein Nein eine Beleidigung? Es konnte genauso gut zum selben Ergebnis führen. Sie atmete tief ein und hielt die Luft an, als würde es ihr vielleicht dabei helfen, die richtige Antwort zu finden, wenn sie fast erstickte – falls es überhaupt eine richtige Antwort gab. Ihre Schultern zuckten. Was wäre danach von ihr übrig?

Hätte sie noch irgendeinen Wert?

»Beantworte meine Frage, Nummer 4.«

Sie holte Luft. »Nein«, sagte sie.

Er flüsterte immer noch. »Du hast gesagt, du wolltest, dass es etwas Besonderes wird.«

Sie nickte. Der Mann sprach weiter sehr leise, und es war verhaltener Hass, nicht Liebe herauszuhören.

»Das wird es auch. Nur nicht so, wie du es dir gedacht hast.« Er lachte. Dann hatte sie das Gefühl, dass er zurücktrat. »Bald«, sagte er. »Denk drüber nach. Sehr bald. Es kann jede Minute so weit sein. Und es wird hart, Nummer 4. Es wird nicht das Geringste mit dem zu tun haben, was du dir vorgestellt hast.«

Dann hörte sie, wie er den Raum durchquerte. Eine Sekunde später noch ein Geräusch, als die Tür auf- und zuging.

Sie blieb, immer noch nackt, stehen. Lange, wohl mehrere Minuten lang, rührte sie sich nicht vom Fleck. Als die Stille ringsum immer übermächtiger wurde und zu schreien schien, atmete sie tief und langsam und tastete nach ihrer Wäsche. Sie schlüpfte hinein und kehrte aufs Bett zurück. Sie merkte, wie ihr der Schweiß aus den Achseln rann. Es kam nicht von der Hitze, es kam von der Bedrohung. Sie fand ihren Bären und flüsterte ihm zu: »Das geschieht nicht mit uns, Mister Braunbär. Es geschieht mit jemand anderem. Jennifer ist immer noch deine Freundin. Jennifer hat sich nicht geändert.«

Sie wünschte sich, sie hätte es selber glauben können. Sie begriff, dass etwas in ihr schwankte, hin und her. Ein ständiger Wechsel der Person, die sie war. Sie wusste nicht, ob sie es noch lange ausbalancieren konnte. Sie war dabei, das Gleichgewicht zu verlieren, als drehte sich der Raum außerhalb der Augenbinde. Sie fühlte sich schwindelig und schamrot und hätte schwören können, dass die Hand des Mannes überall an ihrem Körper rote Striemen und Narben hinterlassen hatte. Sie drückte Mister Braunbär an sich. Wehr dich, so viel du kannst, Jennifer. Das Übrige hat nichts zu bedeuten.

Sie nickte, wie um ihren eigenen Gedanken zu bestätigen. Dann sagte sie sich in ihrem tiefsten Innern: Egal, was passiert, es hat nichts zu bedeuten, es hat nichts zu bedeuten, es hat nichts zu bedeuten. Nur eins zählt: Bleib am Leben.