Der Anruf kam erst kurz vor 23 Uhr herein, als Detective Terri Collins gerade ernsthaft überlegte, ins Bett zu gehen. Ihre beiden Kinder schliefen bereits in ihrem Zimmer – nach den Hausaufgaben und der Gutenachtgeschichte, wie es sich gehört. Sie hatte gerade noch einmal nach ihnen gesehen, indem sie die Tür einen Spaltbreit öffnete und sich im matten Licht, das aus dem Flur auf ihre Gesichter fiel, davon überzeugen konnte, dass sie fest schliefen.
Keine Albträume. Gleichmäßiger Atem. Nicht einmal ein Schniefen, das eine Erkältung ankündigte. Sie wusste aus der Selbsthilfegruppe, die sie gelegentlich besuchte, dass manche alleinerziehenden Eltern sich von ihren schlafenden Kindern nur mühsam losreißen konnten. Es war, als ob sich all das Unheil, das diese Situation heraufbeschworen hatte, um diese Zeit ungezügelter austoben konnte, so dass sie die Stunden, die dringend für Ruhe und Entspannung benötigt wurden, mit Ungewissheit, Sorgen und Ängsten vergeudeten.
Doch an diesem Abend war alles in Ordnung und vollkommen normal. Sie ließ die Tür angelehnt und tappte gerade zum Badezimmer, als in der Küche das Telefon klingelte. Auf ihrem Weg zum Apparat sah sie auf die Wanduhr. Um diese Zeit muss es was Ernstes sein, dachte sie.
Es war der Nachtdienst der Notrufzentrale im Polizeipräsidium. »Detective, ich habe hier eine sehr beunruhigte Frau auf der anderen Leitung. Ich glaube, Sie hatten früher schon mit Anrufen von ihr zu tun. Offenbar geht es um eine Ausreißerin …«
Detective Terri Collins wusste sofort, um wen es sich handelte. Vielleicht ist Jennifer ja diesmal tatsächlich abgehauen, dachte sie. Doch das war unprofessionell, und »abgehauen« war eine wenig einfühlsame Floskel dafür, dass ein Teenager die gewohnten Schrecken gegen andere und möglicherweise schlimmere tauschte.
»Bitte warten Sie einen Augenblick«, sagte Terri. Sie wechselte mühelos von der Mutterrolle zu der der Kommissarin. Es gehörte zu ihren Stärken, dass sie die verschiedenen Bereiche ihres Lebens säuberlich voneinander trennen konnte. Allzu viele Jahre allzu großer Turbulenzen hatten bei ihr das dringende Bedürfnis nach geordneten, geregelten Verhältnissen geweckt.
Sie schaltete den Beamten der Leitstelle in die Warteschleife, während sie eine zweite Nummer wählte, die auf einer Liste neben dem Küchentelefon stand. Zu den wenigen Vorteilen der Erfahrungen, die hinter ihr lagen, gehörte es, dass sie über ein Netzwerk an potenziellen Helfern verfügte. »Hallo, Laurie, ich bin’s, Terri. Es tut mir wahnsinnig leid, dich um diese Zeit zu behelligen, aber …«
»Du wirst zu einem Fall gerufen, und ich soll auf die Kinder aufpassen?« Es schwang unverkennbar Freude in der Frage ihrer Freundin mit.
»Ja.«
»Bin gleich da. Kein Problem, mach ich gerne. Was meinst du, wie lange es ungefähr dauert?« Terri schmunzelte. Laurie litt wie kaum ein anderer an Schlaflosigkeit, und Terri wusste, dass es sie insgeheim freute, mitten in der Nacht gerufen zu werden, besonders, um auf Kinder aufzupassen, nachdem ihre eigenen erwachsen und weggezogen waren. Es gab ihr die Möglichkeit, etwas anderes zu tun, als sich sinnlos bis in die tiefe Nacht Kabelfernsehen reinzuziehen oder ängstlich in ihrem dunklen Haus hin und her zu laufen und über all das, was in ihrem Leben schiefgelaufen war, Selbstgespräche zu führen. Und das Thema war, wie Terri wusste, ein abendfüllendes Programm.
»Schwer zu sagen. Mindestens ein paar Stunden, eher länger, möglicherweise die ganze Nacht.«
»Dann bring ich die Zahnbürste mit«, antwortete Laurie.
Terri drückte auf die Warteschleifetaste und meldete sich wieder bei der Polizeileitstelle. »Sagen Sie Mrs. Riggins, dass ich in ungefähr einer halben Stunde bei ihr bin, um mit ihr zu reden. Sind schon uniformierte Polizisten da?«
»Unterwegs.«
»Geben Sie ihnen Bescheid, dass ich in Kürze dort bin. Sie sollten schon mal erste Zeugenaussagen aufnehmen, damit wir den zeitlichen Ablauf rekonstruieren können. Außerdem sollten sie versuchen, Mrs. Riggins zu beruhigen.«
Allerdings bezweifelte Terri, dass ihnen das gelingen würde.
»Verstanden«, sagte der Beamte und trennte die Leitung.
Laurie würde es in einer halben Stunde zu ihr schaffen. Terri mochte die Vorstellung, dass ihre Freundin ein fester Bestandteil jeder Ermittlung oder jedes Tatorts war, zu denen Terri gerufen wurde, nicht weniger wichtig als ein Kriminaltechniker oder Fingerabdruckexperte. Es war eine harmlose kleine Phantasievorstellung. Sie kehrte ins Bad zurück, spritzte sich ein wenig Wasser ins Gesicht und bürstete sich das Haar. So spät es auch war, wollte sie inmitten der verzweifelten Panik, die ihr gleich entgegenschlagen würde, frisch, gepflegt und außerordentlich kompetent erscheinen.
Es war dunkel auf der Straße, und in den Häusern brannten nur noch wenige Lichter, als Terri durch das Viertel von Mrs. Riggins fuhr. Das einzige Haus, in dem auf den ersten Blick noch jemand wach zu sein schien, war dasjenige, zu dem sie gerufen worden war. Das Licht an der Eingangsveranda schien hell, und Terri sah, dass sich im Wohnzimmer Gestalten bewegten. Ein Streifenwagen parkte in der Einfahrt, doch die Einsatzbeamten hatten das Blaurotlicht ausgelassen, so dass sich der Wagen unauffällig unter die anderen Fahrzeuge mischte, die auf den morgendlichen Exodus zur Arbeit oder zur Schule warteten.
Terri fuhr in ihrem zerbeulten, sechs Jahre alten Kleinwagen vor. Sie blieb einen Moment sitzen, um tief durchzuatmen, dann nahm sie ihre Umhängetasche mit Mikrokassettengerät und Notizbuch. Sie heftete ihre Dienstmarke an den Riemen der Tasche. Ihre Halbautomatik befand sich im Holster auf dem Sitz neben ihr. Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, dass sie gesichert und die Patronenkammer leer war, befestigte sie die Waffe am Gürtel ihrer Jeans. Sie trat in die Nacht hinaus und lief über den Rasen zum Haus.
Sie hatte diese Fahrt im Lauf der letzten anderthalb Jahre schon zweimal gemacht. Ihr Atem bildete weiße Wolken. Es war kälter geworden, allerdings nur so viel, dass man sich in Neuengland die Jacke ein bisschen enger zog und vielleicht den Kragen hochschlug. Es war eine klare, nächtliche Kälte, nichts im Vergleich zum strengen Winterfrost, eigentlich nur eine eindeutige Warnung, dass der Frühling zwar gelegentlich versuchte durchzudringen, aber noch nicht ganz angekommen war.
Terri wünschte sich, sie wäre erst kurz drüben am Revier vorbeigefahren und hätte in ihrem Vier-Personen-Kommissariat ihre Akte über die Familie Riggins gezogen, auch wenn sie zuversichtlich war, dass sie jede Einzelheit und jede Notiz in diesen Berichten im Gedächtnis abgespeichert hatte. Sie hasste das Gefühl, in einen Tatort hineinzumarschieren, der in Wahrheit etwas ganz anderes war, als es der erste Anschein nahelegte. Eine minderjährige Ausreißerin, so würde sie es fürs Dezernat formulieren, und so würde das Kommissariat den Fall auch behandeln. Sie wusste genau, was für Schritte sie unternehmen musste und welche Vorgehensweise für einen solchen Fall von Verschwinden in den Dienstvorschriften stand. Sie hatte sogar eine vage Ahnung vom wahrscheinlichen Ausgang des Falls.
Doch das war nur die Spitze des Eisbergs, rief sie sich ins Gedächtnis. Es gab einen tieferen Grund dafür, dass Jennifer beharrlich versuchte wegzulaufen, und es stand zu vermuten, dass sich hinter ihrem unbeirrbaren Wunsch, von zu Hause wegzukommen, ein dunkles Geheimnis verbarg, vielleicht das eigentliche Verbrechen in diesem Fall. Terri hegte einfach nur wenig Hoffnung, dass sie es je ans Licht bringen würde, egal, wie viele Aussagen von der Mutter oder ihrem Freund sie aufnahm oder wie hart sie an dem Fall arbeitete. Sie hasste den Gedanken, sich mit diesem verlogenen Spiel zu arrangieren.
Auf den Eingangsstufen zögerte sie. Einen Moment dachte sie an ihre eigenen beiden Kinder, die zu Hause fest schliefen und gar nicht gemerkt hatten, dass sie nicht mit geöffneter Tür in ihrem kleinen Schlafzimmer am Ende des Flurs lag und eine gedimmte Lampe anhatte, um sofort aufzuspringen, falls sie irgendwelche seltsamen Geräusche hörte. Sie waren noch so klein, dass der Kummer und die Sorgen, die sie ihr einmal machen würden – denn wer blieb schon davon verschont –, noch in weiter Ferne lagen.
Jennifer war da um einiges weiter. In so mancher Hinsicht weiter, musste Terri denken. Wie einen letzten Schluck Wasser aus einem Glas trank sie noch einmal die Nachtluft. Sie klopfte einmal, öffnete dann selbst die Tür und trat rasch in den kleinen Flur. An der Wand neben der Treppe zu den Schlafzimmern im Obergeschoss hing, wie sie sich erinnerte, ein Foto der neunjährigen Jennifer mit rosa Schleife im sorgfältig frisierten Haar. Das Mädchen hatte eine niedliche Lücke zwischen den Schneidezähnen. Es war die Art Fotos, die Eltern liebten und Teenager hassten, weil es beide an dieselbe Zeit erinnerte, die verschiedene Linsen auf unterschiedliche Weise verzerrten.
Links sah sie im Wohnzimmer Mary Riggins und Scott West, ihren Freund, auf der Sofakante hocken. Scott hatte Mary den Arm locker um die Schulter gelegt, und er hielt ihre Hand. In einem Aschenbecher auf einem Beistelltisch mit Softdrinkdosen und halbleeren Kaffeetassen brannten Zigaretten. Ein wenig unbehaglich hielten sich zwei uniformierte Beamte im Hintergrund. Bei dem einen handelte es sich um den Sergeant der Spätschicht, bei dem anderen um einen zweiundzwanzigjährigen Neuling, der erst seit einem Monat dabei war. Sie nickte ihnen zu und registrierte den unauffälligen Blick des Sergeants zur Decke, als Mary Riggins losschluchzte: »Sie hat es wieder getan, Detective …«, und Sturzbäche folgen ließ.
Terri wandte sich der Mutter zu. Sie hatte geweint, ihr Make-up verteilte sich in schwarzen Striemen über ihre Wangen, so dass sie ein wenig an Halloween erinnerte. Ihre Augen waren verquollen, und sie sah viel älter aus, als sie war. Tränen waren für Frauen im mittleren Alter immer eine heikle Angelegenheit – sie förderten im Handumdrehen all die Jahre zutage, die sie mit aller Macht zu verbergen suchten.
Statt irgendwelche weiteren Erklärungen abzugeben, drehte sich Mary Riggins einfach nur zur Seite und vergrub den Kopf an der Schulter von Liebhaber Scott. Er war ein wenig älter als sie und sah mit seinem grauen Haar selbst in Jeans und verwaschenem, rotkariertem Arbeitshemd distinguiert aus. Er arbeitete als New-Age-Therapeut und spezialisierte sich auf die holistische Behandlung einer ganzen Bandbreite an psychiatrischen Erkrankungen. Seine Praxis florierte in akademischen Kreisen, die für neue Techniken etwa so offen waren wie Menschen, die sich von einer Diät in die andere stürzen. Er fuhr ein leuchtend rotes Mazda-Sportcabrio und war oft sogar im Winter, wenn auch in Parka und Holzfällermütze, mit offenem Verdeck zu sehen, was irgendwie die Grenze von der Exzentrik zur Fahrlässigkeit überschritt.
Die städtische Polizei war mit Scott West und seiner Arbeit bestens vertraut; er und sein Mazda handelten sich mit verlässlicher Regelmäßigkeit Knöllchen wegen Geschwindigkeitsübertretung ein, und bei mehr als einer Gelegenheit musste sich die Polizei mit den wenig erfreulichen Folgen seiner eigensinnigen Heilungsmethoden befassen. Mehrere Selbstmorde. Eine Pattsituation mit einem messerschwingenden paranoiden Schizophrenen, dem er geraten hatte, das ihm verschriebene Haldol durch Johanniskraut zu ersetzen.
Terri stufte sich als nüchterne Pragmatikerin ein, die sich vom gesunden Menschenverstand leiten ließ und Klartext redete. Wenn sie dem einen oder anderen damit gelegentlich unfreundlich erschien, dann konnte sie damit leben. Sie hatte in ihrem Leben genügend Leidenschaft und Exzentrik und Irrwitz hinter sich, um Ordnung und Regeln zu schätzen, weil die sie vor Schlimmerem bewahrten.
Scott beugte sich vor. Er sprach im routinierten Habitus des Therapeuten: tiefes, ruhiges, vernünftiges Timbre. Der Ton sollte ihn in dieser Situation als ihren Verbündeten empfehlen, während Terri wusste, dass wohl eher das Gegenteil zutraf. »Mary ist schrecklich durcheinander, Detective. Allen unseren Bemühungen zum Trotz ist es dem Mädchen schon fast zur Gewohnheit geworden …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Terri wandte sich an die beiden uniformierten Polizisten. Der Sergeant reichte ihr ein Blatt liniertes Papier, wie es jeder Highschool-Schüler in seinem Ringbuchordner benutzt. Die Handschrift war sorgfältig und zeugte von dem Wunsch des Verfassers, jedes Wort klar und leserlich zu schreiben; es war nicht die hastig hingekritzelte Notiz eines Teenagers, der es nur noch eilig hatte wegzukommen. Diese Nachricht war ausgefeilt. Terri war sich ziemlich sicher, dass sie, legte sie es darauf an, verworfene frühere Fassungen im Papierkorb oder in den Mülltonnen hinterm Haus finden würde. Terri las sich den Zettel dreimal durch.
Mom,
ich geh mit ein paar Freunden ins Kino, wir treffen uns vorher in der Mall. Wir essen da was zusammen, und vielleicht schlaf ich hinterher bei Sarah oder Katie. Ich ruf dich nach dem Kino an und sag dir Bescheid, oder ich komm dann nach Hause. Es wird jedenfalls nicht allzu spät. Ich hab die Hausaufgaben gemacht und bis nächste Woche nichts Neues auf.
Sehr vernünftig. Aufs Wesentliche beschränkt. Von vorn bis hinten gelogen. »Wo haben Sie das gefunden?«
»War mit einem Magneten an der Kühlschranktür befestigt«, sagte der Sergeant. »Unübersehbar.«
Terri las die Notiz noch ein paarmal durch. Du lernst dazu, nicht wahr, Jennifer? Sie überlegte. Du hast genau gewusst, was du schreiben musst.
Kino – ihre Mutter musste folglich annehmen, dass ihr Handy ausgeschaltet sein würde, was ihr ein Zeitfenster von mindestens zwei Stunden verschaffte, in denen sie logischerweise nicht zu erreichen wäre.
Ein paar Freunde – bewusst vage, aber scheinbar harmlos. Wahrscheinlich waren die beiden, deren Namen sie angab, Sarah und Katie, bereit, für sie zu schwindeln, oder selbst nicht erreichbar.
Ich ruf dich an – damit ihre Mutter und Scott dasitzen und auf das Klingeln des Telefons warteten, so dass wertvolle Minuten verstrichen.
Keine Hausaufgaben – auf diese Weise räumte Jennifer den offensichtlichsten Vorwand ihrer Mutter aus, sie anzurufen.
Saubere Arbeit, räumte Terri ein.
Sie sah zu Mary Riggins auf. »Sie haben bei ihren Freunden angerufen?«, fragte sie.
Scott fühlte sich bemüßigt, für sie zu antworten. »Selbstverständlich, Detective. Nach den letzten Kinovorstellungen haben wir sämtliche Sarahs und Katies angerufen, die uns einfielen. Wir konnten uns beide nicht entsinnen, diese Namen schon mal von Jennifer gehört zu haben. Dann sind wir alle anderen Namen durchgegangen, die wir von ihr in Erinnerung hatten. Keiner von ihnen war in der Mall gewesen, und keiner war mit Jennifer verabredet gewesen. Oder hatte sie nach Schulschluss am Nachmittag gesehen.«
Terri nickte. Cleveres Mädchen, dachte sie erneut.
»Jennifer scheint nicht allzu viele Freunde zu haben«, sagte Mary wehmütig. »Sie hat sich schon seit der Junior High immer ein bisschen schwergetan, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu schließen.«
Diese Bemerkung nahm, wie Terri vermutete, einen Gedanken auf, den Scott in vielen »Familien«-Diskussionen geäußert hatte. »Aber könnte sie vielleicht mit jemandem zusammen sein, den Sie nicht kennen?« Mutter wie Freund schüttelten gleichermaßen den Kopf. »Sie gehen nicht davon aus, dass sie vielleicht einen Freund hat, den sie vor Ihnen beiden geheim hält?«
»Nein«, antwortete Scott. »Das hätte ich mitgekriegt.«
Klar doch, dachte Terri. Sie sagte es zwar nicht laut, machte sich aber auf ihrem Schreibblock eine Notiz.
Mary riss sich zusammen und versuchte, nicht ganz so tränenselig zu reagieren, doch vor Angst zitterte ihre Stimme. »Als ich endlich daran dachte, in ihr Zimmer zu gehen, vielleicht war da ja noch eine Nachricht oder sonst irgendein Hinweis, da hab ich gesehen, dass ihr Teddy weg war. Sie hat ihn Mister Braunbär genannt. Sie hat nachts immer damit geschlafen … er ist für sie so was wie eine Kuscheldecke. Den hat ihr Vater ihr kurz vor seinem Tod geschenkt, ohne ihn wäre sie nirgends hingegangen …«
Zu sentimental, dachte Terri. Jennifer, diesen Teddybären mitzunehmen war ein Fehler. Vielleicht der einzige, aber in jedem Fall ein Fehler. Sonst hättest du vielleicht vierundzwanzig statt sechs Stunden Vorsprung. »Ist in den letzten Tagen irgendetwas Besonderes passiert, das Jennifer dazu gebracht haben könnte, jetzt wegzurennen?«, fragte sie. »Ein schlimmer Streit? Vielleicht ein Vorfall in der Schule?«
Mary Riggins schluchzte nur. Scott West zögerte nicht mit der Antwort. »Nein, Detective. Falls Ihre Frage auf irgendeinen Vorfall mit Mary oder mir abzielt, der Jennifer zu diesem Schritt bewegt haben könnte, kann ich Ihnen versichern, dass es da nichts gibt. Kein Streit, keine Forderungen. Keine jugendlichen Wutausbrüche. Sie hatte keinen Hausarrest. Sie wurde nicht bestraft. Tatsächlich war es hier in den letzten Wochen sogar ausgesprochen friedlich. Ich hoffte schon – ihre Mutter auch –, wir wären vielleicht über den Berg.«
Das liegt daran, dass sie ihre Pläne geschmiedet hat, dachte Terri. Scotts überheblicher, anmaßender Wortschwall enthielt mindestens eine Lüge, wenn nicht mehr. Früher oder später würde sie dahinterkommen. Ob ihr die Wahrheit dabei helfen würde, Jennifer zu finden, stand auf einem anderen Blatt.
»Sie ist ein ziemlich problembehafteter Teenager, Detective. Sie ist sensibel und intelligent, aber sehr verstört und verworren. Ich habe sie gedrängt, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber bis jetzt … Sie wissen ja, wie eigensinnig Kinder in dem Alter sein können.«
Das wusste Terri. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob Eigensinn in diesem Fall das Problem traf. »Meinen Sie, dass sie ein bestimmtes Ziel haben könnte? Würde sie zu einem Angehörigen fahren? Einer Freundin, die weggezogen ist? Hat sie je davon gesprochen, in Miami Model zu werden oder Schauspielerin in L. A.? Oder in Louisiana auf einem Fischerboot zu arbeiten? Irgendwas, egal, wie nebensächlich oder weit hergeholt es Ihnen erscheinen mag. Es wäre eine erste Spur, der wir nachgehen können.«
Terri hatte diese Fragen bereits bei Jennifers ersten beiden Ausreißversuchen gestellt. Doch da hatte Jennifer keinen solchen Vorsprung wie heute Abend geschafft, sondern war nicht weit gekommen, das erste Mal ein paar Kilometer, das zweite Mal bis in die nächste Stadt. Diesmal war es anders.
»Nein, nein …«, sagte Mary Riggins und rang die Hände, bevor sie nach einer weiteren Zigarette griff. Terri sah, wie Scott versuchte, sie davon abzuhalten, indem er ihr die Hand auf den Unterarm legte, doch sie schüttelte ihn ab, griff nach der Marlboro-Packung und zündete sich eine neue Zigarette an, obwohl eine halb gerauchte noch im Aschenbecher glimmte.
»Nein, Detective. Mary und ich haben uns das Hirn zermartert, aber uns ist nichts eingefallen, was unserer Meinung nach helfen könnte.«
»Fehlt eigentlich kein Geld? Kreditkarten?«
Mary Riggins bückte sich und nahm eine Handtasche vom Boden. Sie riss sie auf, zog eine Lederbrieftasche heraus und leerte drei Tankstellenkreditkarten, eine blaue American-Express- und eine Discover-Karte zusammen mit einem Ausweis der Stadtbibliothek und einer Discount-Karte eines örtlichen Supermarkts auf den Tisch. Sie fummelte daran herum und suchte dann hektisch jedes Fach ihrer Brieftasche ab. Als sie aufsah, kannte Terri die Antwort auf ihre Frage.
Terri nickte und überlegte. »Ich brauche das aktuellste Foto, das Sie haben«, sagte sie.
»Hier«, antwortete Scott und reichte ihr etwas, das er offenbar bereitgehalten hatte. Terri nahm das Bild und betrachtete es. Ein lächelnder Teenager. Was für eine Lüge, dachte sie.
»Ich werde auch ihren Computer oder Laptop brauchen«, sagte Terri.
»Wozu sollte das …?«, fing Scott an, doch Mary unterbrach ihn. »Ihr Laptop steht auf ihrem Schreibtisch.«
»Das ist aber ein Eingriff in die Privatsphäre«, sagte Scott. »Ich meine, Mary, wie sollen wir Jennifer erklären, dass wir der Polizei gerade gestattet haben, ihren persönlichen …«
Er sprach nicht weiter. Terri dachte: Wenigstens merkt er, wie dämlich er klingt. Aber vielleicht macht ihm das ja im Moment die geringsten Sorgen. Dann stellte sie unvermittelt eine Frage, die sie vielleicht besser für sich behalten hätte. »Wo ist ihr Vater begraben?«
Für einen Moment herrschte Stille. Selbst das fast ununterbrochene Schluchzen verstummte für eine Weile. Terri sah, wie sich Mary Riggins zusammenriss und aufrichtete, als müsse sie im Rückgrat und zwischen den Schulterblättern erst ein wenig Kraft und Stolz zusammenkratzen. »Oben am Nordufer, nicht weit von Gloucester. Aber was spielt das für eine Rolle?«
»Wahrscheinlich keine«, sagte Terri. Insgeheim dachte sie allerdings: Da würde ich hingehen, wenn ich ein wütender, depressiver Teenager wäre, der nichts sehnlicher will, als von zu Hause wegzukommen. Würde sie nicht dem einzigen Menschen, von dem sie glaubt, je wirklich geliebt worden zu sein, einen letzten Besuch abstatten, bevor sie das Weite sucht? Sie schüttelte so sacht, dass es niemand im Raum sehen konnte, den Kopf. Ein Friedhof, dachte sie, oder auch New York, der beste Ort zum Untertauchen.