Adrian hatte das Gefühl, als flösse auf einmal Strom statt Blut in seinen Adern. Er starrte auf den Fernsehbildschirm und merkte, wie Jahre von ihm abfielen, und er wusste, dass er es sich nicht mehr leisten konnte, alt und verwirrt zu sein. Er musste den Teil von sich zurückerobern, der unter den Ablagerungen des Alters und der Krankheit verschüttet war.
»Soll ich noch eine Website ausprobieren?«, fragte Wolfe. Adrian konnte nicht sagen, ob aus seinen Worten die nächtliche Erschöpfung oder das echte Bedürfnis durchklang, voranzukommen. Wolfe beugte sich immer noch zu dem Bild des Mädchens unter der Haube vor. Adrian war klar, dass Wolfe auch für den Fall, dass sie hier nicht fündig wurden, zu Whatcomesnext.com zurückkehren würde, sobald Adrian ihn verließ. Wolfes Stimme klang heiser wie die eines Verdurstenden, der vor sich eine Oase entdeckt. Es schien, als hätte sich die Erregung wie ein mächtiger Geruch über das Zimmer gelegt.
Adrian zögerte. Brian schrie ihm geradezu ins Ohr, er solle auf der Hut sein, und so war sich Adrian bewusst, dass er jetzt keinen Fehler machen durfte. Der tote Anwalt und Bruder erteilte ihm ziemlich widersprüchliche Befehle: Jetzt musst du dich beeilen, aber geh äußerst umsichtig vor! »Wissen Sie was«, sagte Adrian langsam, als könne er seiner Lüge damit Glaubwürdigkeit verleihen, »ich glaube, das ist nicht die richtige Website …«
»Okay«, antwortete Wolfe und griff nach der Tastatur.
»Aber wir sind nahe dran. Ich meine, das ist die Richtung, in der wir suchen müssen.«
Wolfe hielt inne, während er das Bild auf dem Fernseher in sich aufsog. Egal, wie müde er war oder wie ausgelaugt oder hungrig und durstig oder wie sehr er von etwas anderem in seinem Leben abgelenkt wurde – die Ressourcen seiner Zwanghaftigkeit waren allemal stärker. Der unmittelbare Anschauungsunterricht zu Phänomenen, die er in klinischen Tests immer wieder studiert und nachgestellt hatte, war für Adrian faszinierend. Fast hätte er sich gestattet, in die Haltung der akademischen Wissbegier zu verfallen, hätte ihn nicht das Gezeter seines Bruders auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht.
Wolfe sagte: »Nahe dran gibt’s nicht, Professor. Entweder ist es Klein-Jennifer, oder sie ist es nicht.«
Indem er das »Klein-Jennifer« geflissentlich überhörte, antwortete Adrian: »Versteh schon, Mister Wolfe. Ich hab sie eben nur kurz gesehen und bin mir nicht vollkommen sicher.« Er war sich hundertprozentig sicher, wollte es aber nicht sagen.
»Also, dieses Tattoo – entweder ist es echt oder gefälscht. Genauso wie die Narbe. Wenn sie in die Kamera sagt, sie sei achtzehn, dann ist das entweder die Wahrheit oder gelogen, und mir persönlich sieht das nach einer verdammten Lüge aus. Aber sagen Sie’s mir, Professor. Was ist es? Das ist Ihr Fachgebiet. Jedenfalls ist es schon spät, und ich denke, wir machen besser Schluss für heute.«
Wahrheit oder Lüge. Adrian war immer noch auf die Hilfe des Triebtäters angewiesen. Er betrachtete die Gestalt unter der Haube. Dieses Mädchen war an einem fernen Ufer gefangen. Es lag an ihm, eine Brücke zu finden. »Nur damit ich verstehe, womit wir es hier zu tun haben: Wenn ich rauskriegen wollte, wo diese Website angesiedelt ist, was müsste ich …« Er gab sich Mühe, die Frage in beiläufigem, unbekümmertem Ton zu stellen, auch wenn sein Manöver wohl allzu durchschaubar war. Dennoch blieb er dabei und baute auf Wolfes Ermattung. »Ich meine, wir haben uns quer durchs Internet gesurft. Aber woher wollen wir wissen, wo wir physisch hinmüssen, sobald wir Jennifer erst im Web entdeckt haben?«
Wolfe gab ein kurzes, ungläubiges Lachen von sich, ohne sich auch nur für einen Moment vom Bildschirm zu lösen. »Ist gar nicht so schwer«, sagte er. »Das heißt, kommt drauf an. Je nachdem, wer sie betreibt.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Adrian.
Wolfe sprach mit ihm wie ein Lehrer in der dritten Klasse, der es leid war, dass seine Schüler nur auf ihre Versetzung schielten, statt ihre Hausaufgaben zu machen. »Wie kriminell sie sind.«
Adrian wippte auf seinem Sessel. »Kommt das nicht der Frage gleich, ob jemand ein bisschen schwanger ist, Mister Wolfe? Sie sind entweder …«
Wolfe wirbelte auf seinem Sitz herum und fixierte Adrian mit einem scharfen, kalten Blick. »Haben Sie denn nicht aufgepasst, Professor?«
Adrian blieb sitzen, auch wenn er vollkommen verwirrt war. Sein Schweigen war eine stumme Frage, die Wolfe nur allzu bereitwillig beantwortete. »Was meinen Sie, wie weit wollen sie die Welt wissen lassen, dass das, was sie treiben, illegal ist?«
»Wohl eher nicht«, fing Adrian an.
»Falsch, Professor, falsch, falsch, falsch. Die Schattenwelt. Da müssen sie sich Glaubwürdigkeit verschaffen. Wenn die Leute annehmen, sie wären ganz legal … wo bleibt da der Reiz? Der Kitzel? Die Grenzüberschreitung?«
Wolfe verblüffte Adrian mit seiner treffenden Analyse der menschlichen Natur. »Mister Wolfe«, sagte er bedächtig, »ich bin beeindruckt.«
»Ich hätte wie Sie Professor werden sollen«, sagte Wolfe, und sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das sich wohltuend von dem Grinsen unterschied, das er an den Tag legte, wenn er seinen Begierden frönte. »Also gut, Professor. Sie müssen wissen, dass zu jeder Website eine IP-Adresse gehört – eine unverwechselbare Bezeichnung für den Server, der sie rausbringt. Es gibt ein ziemlich einfaches Programm, mit dem man zu jedem Server die entsprechende GPS-Ortung bekommt. Wir können das hier ziemlich schnell nachsehen, nur dass …«
»Nur dass was?«, fragte Adrian.
»Die Bösen – Gauner, Terroristen, Banker, was weiß ich – das ebenfalls wissen. Es gibt Programme zu kaufen, mit denen man, während man sieht oder sendet, anonym bleiben kann … nur dass …«
»Nur dass was?«
»Na ja, nur dass es de facto nicht so ist. Alles lässt sich letztlich entschlüsseln, hängt ganz davon ab, wer nach einem auf der Suche ist. Man kann Dinge also verschlüsseln – wenn Sie ein Konzern sind oder das Militär oder die CIA, dann sind Sie ziemlich gut darin, etwas zu verstecken. Sind Sie aber nur eine Site wie die hier«, er zeigte auf das Mädchen mit der Haube, »na ja, dann wollen Sie sich ja im Grunde nicht verstecken. Sie wollen eher, dass die Leute Sie finden. Nur eben nicht die falschen Leute. Wie die Cops.«
»Und wie verhindert man das?«, fragte Adrian.
Wolfe rieb sich langsam das Gesicht, bevor er wieder in die Tasten griff. »Denken Sie wie ein Böser, Professor. Die haben schon Ihre Subskriptionsgebühr. Die bleiben also nur lange genug da, um das gute alte Bankkonto aufzufüllen. Und dann, simsalabim, machen sie sich vom Acker, bevor die falschen Leute von ihnen Wind bekommen haben.«
Adrian blickte auf den Bildschirm, sah die Zeituhr von Serie Nummer 4. Er holte tief Luft. Er erinnerte sich an die Morde im Moor – oder Tommy flüsterte es ihm ins Ohr – und dachte nur: Risiko. Mindestens zur Hälfte speiste sich die Erregung mörderischer Paare aus dem Risiko. Auch die Beziehung lebte davon und glitt immer tiefer in die Perversion ab. Den großen Flachbildschirm füllte das nackte Mädchen aus. All die Gefahr verstärkte die Leidenschaft der Täter. Ihm schwirrte der Kopf. Alles, was er vor sich sah und was er wusste, drehte sich wie ein Mühlrad in seinen Gedanken. Er versuchte, sich zu fassen und die Kontrolle zu bewahren.
Wolfe tippte erneut. Das Mädchen wich einer Suchmaschine. Er gab immer weitere Begriffe ein, bis er stillhielt und die Informationen las, die vor ihm erschienen. Dann schrieb er eine Zahlenfolge auf einen Notizblock. Anschließend öffnete er eine zweite Suchmaschine und tippte die Zahlen in dafür vorgesehene Kästchen ein. Eine dritte Bildfläche erschien und forderte eine stattliche Summe für die Ausführung der Suche. »Wollen Sie das durchziehen?«, fragte Wolfe.
Adrian starrte auf den Fernsehapparat. Er kam sich vor wie die Touristen beim Anblick des Steins von Rosette, die zwar wussten, dass es der Schlüssel zum Verständnis von Sprachen war, ohne jedoch die geringste Ahnung zu haben, wie es funktionierte. »Ich denke, schon.«
Wie zuvor warteten sie auf die Bestätigung seiner Kreditkarte. In wenigen Sekunden hatten sie Zugang zu einer Website, die ebenfalls nach einem Benutzernamen und Passwort verlangte. Wolfe tippte das hinlänglich bekannte »Psychoprof«, gefolgt von »Jennifer«, ein.
»Also, wenn das nicht interessant ist …«, sagte Wolfe.
»Was denn?«
»Da kennt sich jemand verdammt gut im Internet aus. Würde mich nicht wundern, wenn ein Hacker allererster Güte bei dieser Site mitmischt.«
»Mister Wolfe, geht das bitte ein bisschen genauer?«
Wolfe seufzte. »Sehen Sie sich das an«, sagte er. »Die IP-Adresse wechselt. Allerdings nicht allzu häufig …«
»Was?«
»Es ist möglich, die IP-Adresse zu verlagern, besonders wenn man sie durch Server-Systeme in Fernost oder in Osteuropa jagt; da sind sie sehr schwer zurückzuverfolgen, weil sie Aktivitäten jenseits der Legalität bedienen. Natürlich entsteht dabei das Problem, dass man sozusagen die elektronische Alarmanlage auslöst, im Vordergrund, Professor. Wenn man seine Site so einrichtet, dass die IP-Adresse alle zwei, drei Minuten wechselt, also, dann ist natürlich jedem Typen von Interpol – und sowieso deren Computern – sonnenklar, dass da jemand etwas Übles ausheckt, was sie neugierig macht. Und ehe sie wissen, wie ihnen geschieht, haben sie mit ihrer Porno-Site das FBI und die CIA und den MI-6 und den deutschen oder französischen Nachrichtendienst am Hals. Das wollen sie natürlich nicht. Ganz und gar nicht, besten Dank!«
»Also …«
»Derjenige, der diese Site hier eingerichtet hat, wusste das offenbar. Also beschränkt er sich auf ein halbes Dutzend Server. Sehen Sie mal, er springt zwischen denen hin und her.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Das bedeutet ein ausgefuchstes Rückzugsmanöver. Und ich tippe mal, wenn Sie zu allen eine GPS-Suche durchführen, stoßen Sie auf eine leere Wohnung in Prag oder in Bangkok. Aber seine Hauptsendezentrale hat er woanders. Wenn es hier um Terroristen ginge, würde es die Cops – oder ein paar Typen von der Delta Force, die für die CIA arbeiten – durchaus einige Zeit kosten, rauszukriegen, wo sie sich wirklich verstecken, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Adrian betrachtete den Bildschirm. Wo sie sich wirklich verstecken. Er fand den Sexualstraftäter erstaunlich eloquent. »Sind irgendwelche von diesen IP-Adressen hier in den Staaten?«, fragte er.
Wolfe lächelte. »Ah«, sagte er langsam. »Endlich hat’s beim Professor gefunkt.« Er spielte weiter auf seiner Klaviatur. »Ja«, sagte er. »Zwei. Eine in …«, er zögerte, »Austin, Texas. Die kenne ich. Das ist ein großer Pornographie-Server, mit x ›Watch me‹-Webcam-Sites und ebenso vielen von der Sorte ›Stelle dich und deine Freundin beim Vögeln ein‹. Mal sehen, wo die andere gelistet ist …« Nach ein paar weiteren Tastenklicks sagte er: »Also, das haut mich um.« Adrian starrte auf die GPS-Koordinaten, die der Computer gefunden hatte. »Das ist ein Kabelnetz in Neuengland«, sagte Wolfe.
Adrian überlegte einen Moment und fragte dann ganz ruhig: »Und wo ist das, Mister Wolfe?«
Ein Schnellfeuerklicken erfüllte den Raum. Das Bild wechselte, und weitere GPS-Informationen trafen ein. »Also, wenn Sie wissen wollen, von wo aus Whatcomesnext.com ins Internet sendet, bekommen Sie von diesem Programm die Antwort.«
Nach einer Weile erschien eine weitere GPS-Ortung auf dem Computer. Adrian starrte darauf und prägte sich die Zahlen ein. Bring sie nicht durcheinander, schärfte er sich ein. Vergiss sie nicht. Zeig ihm nichts.
»Hab ich mir meine zwanzig Riesen verdient?«, fragte Wolfe. »Es ist nämlich ziemlich spät.«
»Ich weiß nicht, Mister Wolfe«, log Adrian. »Das Ganze ist faszinierend. Ich bin beeindruckt. Aber ich stimme Ihnen zu. Es ist schon sehr spät, und, na ja, ich bin nicht mehr der Jüngste. Ich schaue morgen vorbei, und wir machen weiter.«
»Das Geld, Professor.«
»Ich muss erst sicher sein.«
Wolfe tippte wieder, und erneut erschien das Mädchen mit der schwarzen Haube vor ihnen. Beide Männer starrten hin. Sie wechselte die Stellung, indem sie die Beine anzog, als ob sie fröstelte.
Wolfe rutschte ein wenig unruhig hin und her, als sei er besorgt, dass ihm eines von zwei Dingen, die er zugleich im Auge hatte, entwischen könnte. Adrian kam zu dem Schluss, dass er einfach weiterlügen sollte, auch wenn er wusste, dass Wolfe ihm das wohl kaum abkaufen würde. »Ich bringe eine Anzahlung mit. Betrachten Sie es als eine Art Vertrauensvorschuss, Mister Wolfe. Auch wenn ich bezweifle, dass wir schon gefunden haben, wonach wir suchen.«
Wolfe lehnte sich zurück und räkelte sich wie eine Katze, die gerade aufwacht. Es war eher unwahrscheinlich, dass der Mann auch nur einen Pfifferling auf »Klein-Jennifer« oder Adrian oder sonst etwas gab, das außerhalb seiner persönlichen Interessen lag. Adrian – oder, besser gesagt, seine Kreditkarte – hatte Wolfe Zugang zu ein paar neuen verheißungsvollen Reisezielen verschafft. »Auch wenn das nun nicht Klein-Jennifer sein sollte«, sagte Wolfe, »handelt es sich auf jeden Fall um ein Mädchen, das Hilfe braucht, Professor. Denn ich glaube nicht, dass das, was für die Kleine als Nächstes kommt, allzu erfreulich ist.« Wolfe lachte. »Sie verstehen? Kleiner Gutenachtkalauer. Sehr treffend, dieser Serientitel.«
Adrian stand auf. Er warf einen letzten Blick auf das maskierte Mädchen, als überließe er sie, indem er jetzt ging, schutzlos einer bösen Macht. Während er sie betrachtete, hatte er plötzlich das Gefühl, als streckte sie durch den Bildschirm die Hand nach ihm aus. Wie eins seiner Gedichte fing er an, sich die GPS-Koordinaten immer wieder stumm aufzusagen. Gleichzeitig hörte er in seinem Hinterkopf die Befehle von Brian, Tu dies! Tu das! Nun mach schon! Uns läuft die Zeit davon!, doch erst als er seinen toten Sohn flüstern hörte: Du weißt, was du siehst, riss er sich von dem Bild los und schlurfte aus dem Haus des Sexualstraftäters.