Das Sirenengeheul erreichte ein dramatisches Crescendo, so dass Jennifer das Gefühl bekam, es ertönte unmittelbar außerhalb ihrer Zelle. Dann hörte es mit einem Schlag auf. Mit dumpfem Knall wurden offenbar mehrere Wagentüren zugeschlagen. Es folgte heftiges Donnern an eine ferne Tür. Zwar konnte sie nicht direkt hören, wie jemand rief: »Aufmachen! Polizei!«, doch die Lücke füllte sie mit ihrer Vorstellungskraft aus, besonders, als sie auf einem Fußboden über ihr den Trommeltakt von lauten Schritten hörte.
Sie war wie erstarrt – allerdings weniger, um zu gehorchen, sondern vielmehr, weil sie von Gedanken und Bildern, die sie in der Dunkelheit bedrängten, überwältigt wurde. Das Wort Rettung nistete sich in ihrem Kopf ein.
Jennifer schnappte unwillkürlich nach Luft und konnte das Schluchzen, das folgte, nicht unterdrücken. Ein reißender Sturzbach widersprüchlicher Gefühle wirbelte durch ihre Gedanken.
Sie wusste, dass die Kamera auf sie gerichtet war, und wenn die Linse jede noch so kleine Bewegung von ihr aufnahm, war klar, dass sie auch irgendwo auf einem Monitor ankam. Doch zum ersten Mal bestand die Chance, dass sie noch jemand anders sehen könnte. Jemand anders als die Frau und der Mann. Nicht jemand Anonymes und Körperloses, sondern jemand, der vielleicht auf ihrer Seite stand. Nein, dachte sie, jemand, der mit absoluter Sicherheit auf meiner Seite steht.
Jennifer drehte den Kopf ein wenig zur Zellentür. Sie reckte sich vor und horchte. Sie versuchte, Stimmen herauszuhören, doch ihr schlug nichts als Stille entgegen. Sie sagte sich, dass das ein gutes Zeichen war. Sie malte sich aus, was gerade vor sich ging.
Sie müssen die Haustür öffnen. Wenn die Polizei anklopft, kann man sie nicht einfach stehen lassen. Es wird einen Wortwechsel geben … »Sind Sie …?«, und: »Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie hier eine junge Frau in Ihrer Gewalt haben. Jennifer Riggins. Kennen Sie die junge Frau?« Der Mann und die Frau werden nein sagen – aber damit sind sie die Cops noch lange nicht los, denn die werden ihnen nicht glauben. Die Cops werden hartnäckig sein. Sie lassen sich nicht verarschen. Sie kaufen ihnen die Lügen nicht ab. Sie erzwingen Einlass, und jetzt stehen sie alle oben in irgendeinem Raum. Die Polizisten sind misstrauisch und stellen Fragen. Höflich, aber bestimmt. Sie wissen, dass ich hier bin oder zumindest in der Nähe, aber sie wissen noch nicht, wo genau. Es ist nur eine Frage der Zeit, Mister Braunbär. Sie sind jeden Moment da. Der Mann versucht, sich rauszureden. Die Frau versucht, die Polizei davon zu überzeugen, dass alles in bester Ordnung sei, aber die Polizei weiß es besser. Der Mann und die Frau bekommen es mit der Angst zu tun. Sie wissen, die Sache ist für sie gelaufen. Die Cops ziehen ihre Waffen. Der Mann und die Frau versuchen wegzurennen, aber sie sind umstellt. Sie können nirgends hin. Jeden Moment werden die Cops nach ihren Handschellen greifen. Ich hab das hundertmal im Film gesehen. Die Cops werden den Mann und die Frau auf den Boden drücken und die Handschellen zuschnappen lassen. Vielleicht fängt die Frau dann zu weinen an und der Mann zu fluchen »Ihr könnt mich mal«, aber das kümmert die Cops nicht. Kein bisschen. Das haben sie alles schon tausendmal gehört. Einer von ihnen wird sagen: »Sie haben das Recht zu schweigen …«, während die anderen ausschwärmen, um nach uns zu suchen, Mister Braunbär. Pass gut auf, wir werden sie jeden Moment hören. Die Tür fliegt auf, und jemand sagt: »Mein Gott«, oder so was Ähnliches, und dann werden sie uns helfen. Sie zerreißen dieses Halsband mit der Kette um meinen Hals. »Alles in Ordnung? Bist du verletzt?« Sie werden mir die Augenbinde runterreißen. Jemand wird rufen: »Wir brauchen einen Krankenwagen!« Jemand anders wird zu uns sagen: »Keine Angst, also … kannst du laufen? Sag uns, was sie dir angetan haben.« Und ich werd’s ihnen sagen, Mister Braunbär. Ich werd ihnen alles sagen. Du auch. Und im nächsten Moment helfen sie mir in meine Sachen, und es wimmelt hier nur so von Sanitätern und Cops. Ich bin mittendrin. Jemand reicht mir ein Handy, und es ist meine Mom am anderen Ende.
Sie ist so glücklich, dass sie weint, und vielleicht verzeih ich ihr diesmal ein bisschen, weil ich wirklich nach Hause will, Mister Braunbär. Ich will einfach nur nach Hause. Vielleicht können wir wegen alldem hier noch mal ganz von vorn anfangen. Kein Scott. Vielleicht eine andere Schule mit neuen Leuten, die nicht so gemein sind, und von jetzt an ist alles anders. Es wird so sein wie damals, als Dad noch lebte, nur dass er nicht da ist, aber ich kann ihn dann wieder fühlen. Ich weiß, dass er ihnen geholfen hat, mich zu finden, auch wenn er tot ist. Es ist, als ob er ihnen gesagt hätte, wo sie nach mir suchen müssen, und sie sind gekommen, und da sind wir. Und dann, Mister Braunbär, holen uns die Cops hier raus. Es wird Nacht sein, und überall sind Kameras und Blitzlichter und Reporter, die irgendwelche Fragen brüllen, aber ich werde nichts sagen, weil ich nach Hause gehe. Du und ich zusammen. Sie setzen uns auf den Rücksitz eines Streifenwagens, die Sirene geht an, und ein Staatspolizist sagt: »Da hast du ja noch mal ganz schön Glück gehabt, Jennifer. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Also, bist du bereit, heimzufahren?« Und ich sage: »Ja. Bitte.« Und in einer Woche oder so ruft jemand von 60 Minutes oder CNN an, und sie werden sagen »Wir zahlen dir eine Million Dollar, nur um deine Geschichte zu hören, Jennifer«, und dann, Mister Braunbär, können wir ihnen sagen, wie es gewesen ist. Wir sind reich und berühmt, und von da an wird alles anders.
Jeden Moment.
Sie horchte angestrengt und wartete darauf, dass etwas aus ihrer Phantasievorstellung ein Geräusch verursachte und ihr bestätigte, was gerade ganz in ihrer Nähe passierte.
Doch es war still. Das Einzige, was sie hören konnte, war ihr eigener Atem, schnell und krächzend. Sie hatten ihr befohlen, ruhig zu sein. Sie wusste, dass sie fast zu allem fähig waren. Es gab Regeln, die sie nicht übertreten durfte. Gehorsam war alles. Andererseits war das hier ihre Chance. Sie war sich nur nicht sicher, was sie machen sollte.
Jede lautlose Sekunde war wie ein Nadelstich. Sie merkte, wie sie heftig zu zittern begann, wie die vertrauten Muskelkrämpfe sie von oben bis unten erfassten. Es war fast unmöglich stillzuhalten. Es kam ihr so vor, als forderte jeder Nerv, jedes Organ in ihrem Körper, jeder Pulsschlag etwas anderes von ihr. Sie hatte das Gefühl, als würde sie hilflos durchgeschüttelt, wie im ersten Moment auf einer Achterbahn, wenn die Schienen hinunterführen und der Wagen plötzlich kopfüber in atemberaubendem Tempo und unter all dem Geschrei in die Tiefe stürzt.
Jennifer wartete. Es war die Hölle. Sie rechnete damit, jeden Moment in Sicherheit zu sein. Sie reckte den Kopf und versuchte, etwas zu hören, irgendetwas, das ihr klarmachte, was los war. Doch die Stille lähmte sie. Und dann drängte sich ihr der Gedanke auf: Das dauert zu lange, Mister Braunbär, das dauert zu lange!
In ihrer Panik überstürzten sich die Ideen, was sie tun könnte. Sie konnte rufen: Ich bin hier! Oder sie konnte anfangen, mit der Kette zu rasseln. Sie konnte das Bett umwerfen oder gegen die Toilette treten. Irgendetwas, damit diejenigen, die da oben waren, horchten und merkten, dass sie in der Nähe war.
Tu was! Irgendetwas! Damit sie nicht wieder gehen!
Sie hielt es nicht länger aus und schwang die Beine über die Bettkante, doch sie fühlten sich so schwach wie Gummi an, ohne jede Kraft. Sie zwang sich aufzustehen. Sie war so nah dran! Sie wusste, dass sie um Hilfe rufen, einen gewaltigen Lärm veranstalten, schreien, kreischen musste – egal, was, wenn nur jemand kam.
Jennifer öffnete den Mund und nahm allen Mut zusammen.
Und verstummte, bevor sie einen Laut herausgebracht hatte. Sie werden mir wehtun.
Nein, die Polizei wird dich hören. Die werden dich retten.
Falls die Cops nicht kommen – bringen sie mich um.
Es schnürte ihr die Luft in der Brust ein. Es fühlte sich an, als würde sie erdrückt.
Sie bringen mich sowieso um.
Nein.
Ich bin wertvoll. Ich bin wichtig. Ich bedeute ihnen etwas. Ich bin Nummer 4. Sie brauchen Nummer 4.
Von all den Möglichkeiten hin und her gerissen, war sie wie versteinert. Alles machte ihr Angst.
Jennifer wusste, dass sie sich in Sicherheit bringen musste. Doch hinter der Augenbinde sah sie zwei Wege, beide dicht an einer Klippe entlang. Sie konnte nicht sagen, welcher der richtige war, welcher in die Sicherheit führte, aber eines war ihr klar: Wenn sie sich für einen Pfad entschieden hatte, gab es kein Zurück, denn der Weg würde sich hinter ihr in nichts auflösen. Ihr liefen heiße Tränen die Wangen hinunter. Sie wollte um jeden Preis etwas hören, das ihr sagte, welche Richtung sie einschlagen sollte, doch die Stille bereitete ihr genau solche Qualen wie alles, was der Mann und die Frau ihr angetan hatten. Jennifer dachte: Ich werde sterben. So oder so werde ich sterben.
Nichts ergab einen Sinn, nichts war klar.
Es war unmöglich, auch nur ansatzweise vorherzusagen, was richtig und was falsch war. Sie krallte die Finger um Mister Braunbär.
Und dann – als ob jemand anders ihre Hand nähme und bewegte – schob sie den Rand ihrer Binde hoch.
»Tu’s nicht!«, rief der Filmemacher.
»Doch! Doch! Mach schon!«, brüllte seine Frau, die Performance-Künstlerin.
Sie saßen wie gebannt vor dem Flachbildschirm an der unverputzten Ziegelwand ihres Lofts in Soho. Der Filmemacher war ein dünner, drahtiger Mann Ende dreißig, der Dokumentarfilme über die Armut in der Dritten Welt für eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen drehte und davon gut leben konnte. Er und seine Frau waren kürzlich von einem gemeinsamen schwulen Freund verheiratet worden, der das Priesteramt frustriert aufgegeben hatte und wahrscheinlich überhaupt nicht befugt war, eine Eheschließung vorzunehmen. Seine Frau war genauso dünn, mit einer medusenhäuptigen Mähne wirrer schwarzer Locken. Sie trat häufig in Nachtclubs und auf Kleinbühnen auf, nicht die Liga, die im New Yorker verzeichnet war, was ihr eine trendige Glaubwürdigkeit verlieh, auch wenn sie es insgeheim vorgezogen hätte, in den Mainstream aufzusteigen, der mehr Geld und mehr Ruhm versprach.
»Sie muss sich ihren Weg in die Freiheit erkämpfen!«, sagte die Frau aufgeregt.
Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Sie muss ihnen intellektuell Paroli bieten, so wie man sich einem Mann mit einer Pistole stellt –«, fing er an, wurde jedoch unterbrochen.
»Sie ist doch noch ein Kind. Paroli bieten? Kannst du vergessen.«
Dies war das zweite Mal, dass die beiden Whatcomesnext.com abonnierten. Nach ihrer Überzeugung war das Geld für die Nutzung berufsbezogen und somit steuerlich abzugsfähig. Avantgarde-Filme, Schauspielkunst der neuen Welle. Oft führten sie, nachdem sie Nummer 4 verfolgt hatten, tiefgründige Diskussionen über das, was sie gesehen hatten, und seine Bedeutung für die zeitgenössische Kunst. In ihrer beider Augen war Whatcomesnext.com eine konsequente Fortführung von Warhols Welt und der Factory, die noch vor Jahrzehnten verlacht wurden, inzwischen aber bei Kritikern und Denkern, denen sie nahestanden, zunehmend an Bedeutung gewannen.
Nummer 4 reizte sie beide, doch sie verlagerten ihr Interesse auf die intellektuelle Ebene, da sie sich den kriminellen oder voyeuristischen Aspekt ihrer Teilnahme nicht eingestehen wollten. So verheimlichten sie ihre Subskription vor ihren Freunden, auch wenn sie beide bei so mancher Dinnerparty, bei der sich die Diskussion den neuen Filmtechniken und der wachsenden Bedeutung des Internets als der Schnittstelle von Film und Kunst zuwandte, am liebsten damit herausgeplatzt wären, wie sehr sie Serie Nummer 4 fesselte und was sie ihnen bedeutete. Doch sie hielten sich zurück, auch wenn sie davon überzeugt waren, dass viele andere Gäste dieser Partys sie ebenfalls verfolgten. Immerhin hatten sie auf diesem Wege überhaupt von dem Angebot erfahren.
Doch während sie Nummer 4 Tage und Nächte hindurch in ihrer Gefangenschaft begleiteten, war jeder von ihnen eine andere Beziehung mit ihr eingegangen. Der Filmemacher neigte in seinen Reaktionen eher zur Beschützerrolle, machte sich über das, was mit ihr passieren würde, Sorgen, so dass er hoffte, dass sie vorsichtig agierte und nichts unternahm, was sie in Gefahr und das Boot vielleicht unnötig zum Kentern brachte. Seine Frau dagegen wollte, dass Nummer 4 ihre Grenzen ausreizte. Sie wollte, dass Nummer 4 jede Chance ergriff. Sie wollte, dass sie sich gegen den Mann und die Frau erhob und wehrte. Sie drang auf Rebellion, während er von Umsicht und Gehorsam sprach.
Jeder von ihnen glaubte, das, was sie Tag und Nacht dem Bildschirm entgegenschrien, sei für Nummer 4 die einzige Überlebenschance. Sie hatten schon heftige Diskussionen darüber geführt, was den Sog von Nummer 4 und der Geschichte, die sich um sie entspann, nur noch verstärkte.
Jeder wollte seinen persönlichen Zugang zu dem Drama rechtfertigen. Die Frau hatte bereits frohlockt, als Nummer 4 das erste Mal unter ihrer Augenbinde hervorsah. Der Filmemacher war aufgesprungen und hatte vor Erregung mit der Siegesfaust in die Luft geschlagen, als Nummer 4 sich trotz der Drohungen des Mannes nicht rührte.
Der Filmemacher sagte bei solchen Gelegenheiten: »Das ist wirklich ihre einzige Möglichkeit, auch nur die geringste Kontrolle zu bewahren. Sie muss sich quasi ausradieren.«
Die Performance-Künstlerin erwiderte dann: »Sie muss ihre eigene Geschichte ausagieren. Sie muss versuchen, und sei es auch nur in den kleinsten Nebensächlichkeiten, die Kontrolle zurückzugewinnen. Nur so kann sie im Gedächtnis behalten, wer sie ist, und sicherstellen, dass der Mann und die Frau sie als Menschen und nicht als Sache sehen.«
»Das kannst du vergessen«, erwiderte der Ehemann. Dies klang – wie all die anderen Wortwechsel darüber – nach dem Keim eines Streits, endete aber jedes Mal damit, dass er seiner Frau das Bein streichelte und sie sich enger an ihn schmiegte. Faszination als Vorspiel.
Eben saßen sie nach einem guten Abendessen zu einer teuren Flasche Weißwein halb ausgezogen auf dem Sofa und ließen sich in den kurzen Momenten vor dem Schlafengehen vom Echtzeitdrama gefangen nehmen. »Das ist ihre Chance, verdammt noch mal!«, rief die Frau ein wenig zu laut. »Ergreif die Gelegenheit, Nummer 4! Worauf wartest du!«
»Hör mal, du liegst daneben, vollkommen daneben«, antwortete ihr Mann und erhob selber die Stimme, während er auf den Bildschirm starrte. »Wenn sie Zweifel bekommen, dass sie ihnen gehört, kann es der Anfang vom Ende für sie sein. Sie könnten in Panik geraten, sie könnten …«
Er verstummte. Seine Frau zeigte auf die Ecke des Bildschirms. Nummer 4 hatte beide Hände an das Halsband gelegt und damit die Aufmerksamkeit des Paars erregt. Augenblicklich wechselte der Aufnahmewinkel zur Obersicht, aus nächster Nähe schräg von hinten; diese Position wurde gehalten. Der Filmemacher registrierte die Veränderung, wusste instinktiv, was sie zu bedeuten hatte, und lehnte sich gebannt nach vorn. Doch die Performance-Künstlerin zeigte auf etwas anderes.
Jennifer klemmte sich Mister Braunbär unter den Arm und griff zum Halsband mit der Kette. Sie sah drei Möglichkeiten: Mach ordentlich Lärm. Versuch wegzulaufen. Tu gar nichts und hoffe inständig auf das Eintreffen der Polizei.
Das Erste war genau das, was sie ihr verboten hatten. Sie hatte keine Ahnung, ob die Polizisten oben sie hören konnten. Nach allem, was sie wusste, konnte sie nur vermuten, dass ihre Zelle – genau für den Fall, der gerade eingetreten war – schalldicht isoliert worden war. Andererseits konnte sie all diese Geräusche hören. Sie dachte daran, dass der Mann und die Frau so vieles sorgfältig geplant hatten; folglich musste sie etwas Unerwartetes tun. Dieser Gedanke machte ihr Angst.
Sie verstand, dass sie sich an einem Abgrund bewegte. Sie wägte alle Optionen genau ab – wurde jedoch zugleich von einer verzweifelten Energie erfasst.
Jennifer zerrte an dem Hundehalsband. Ihre Fingernägel rissen und kratzten daran. Sie biss die Zähne zusammen. Seltsamerweise entfernte sie nicht die Augenbinde, als kostete es sie zu viel Mut, zwei Verbote auf einmal zu übertreten.
Ihr brachen die Nägel ab, sie rieb sich die Haut am Hals wund. Sie atmete wie ein Taucher, der unter Wasser eingeklemmt war und sich verzweifelt nach Luft sehnte. Das letzte bisschen Kraft, das sie noch hatte, nahm sie für die Attacke auf das Lederband zusammen. Mister Braunbär rutschte ihr aus dem Arm und fiel zu ihren Füßen auf den Boden. Sie schluchzte vor Schmerzen. Sie wollte schreien, doch als sie schon den Mund geöffnet hatte, gab das Leder nach. Sie keuchte und zerrte wie wild daran.
Und plötzlich glitt es herunter.
Jennifer schluchzte auf und wäre beinahe aufs Bett zurückgefallen. Sie hörte, wie die Kette rasselnd auf den Boden traf. Danach herrschte Stille, doch innerlich kam es Jennifer so vor, als herrschte ein betäubender Lärm, wie eine laute, dissonante Ouvertüre oder das Kratzen auf einer Schiefertafel oder ein Düsenflugzeug, das nur wenige Meter über ihren Kopf hinwegbraust. Sie hielt sich die Ohren zu.
Sie versuchte, sich zu fassen, nachdem ihr von der plötzlichen Freiheit schwindelig geworden war. Es kam ihr so vor, als hätte die Kette sie wie die Fäden einer Marionette aufrecht gehalten, und jetzt fühlten sich ihre Beine wie Gummi an, flatterten ihre Muskeln wie eine zerrissene Fahne in einer kräftigen Böe. Hunderte Gedanken rasten ihr durch den Kopf, doch die schreiende Angst verdüsterte sie alle. Zitternd hob sie die Hände und riss sich die Augenbinde weg.
Sobald sie das schwarze Tuch heruntergezerrt hatte, war es, als starrte sie in die Sonne. Sie hielt sich die Hand über die blinzelnden, tränenden Augen und dachte im ersten Moment, sie sei blind, doch es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sich ihre Sehkraft erholte und die Scharfeinstellung wie bei einer Filmkamera funktionierte.
Im selben Moment zuckte sie zusammen, denn sie blickte genau in die Hauptkamera, kaum einen Meter von ihr entfernt. Sie hätte sie am liebsten zertrümmert, tat es aber nicht. Vielmehr bückte sie sich nur ruhig und hob ihren Stoffbären auf. Dann drehte sie sich langsam zu dem Tisch um, auf dem sie ihre Kleider gesehen hatte, als sie das erste Mal vor Tagen unter der Augenbinde hervorgespäht hatte.
Sie waren verschwunden.
Wie unter einer Ohrfeige taumelte sie ein wenig zurück. Eine Woge aus Angst und Übelkeit erfasste sie, und sie schluckte schwer. Sie hatte fest mit ihren Kleidern gerechnet, als ob ihre Jeans und das zerrissene Sweatshirt ihr ein Stück von ihrem vertrauten Leben wiedergeben könnten, während der Albtraum, in den sie gestürzt worden war, so lange weiterzugehen schien, wie sie nackt in ihrer Zelle stand. Sie versuchte, diese Kluft mit dem Verstand zu überwinden, doch vergeblich. Stattdessen drehte sie den Kopf nach links und rechts und hoffte, sie doch noch irgendwo zu finden. Aber der Raum war leer – außer dem Bett, der Kamera, der heruntergefallenen Kette und der mobilen Toilette.
Eine innere Stimme versuchte, sie zu beruhigen – halb so wild, halb so wild, auch so, wie du bist, kannst du wegrennen –, doch falls sich dieser Gedanke in ihrem Kopf einnistete, dann nur in einem hintersten Winkel. Sie trat einen Schritt vor. Jennifer wiederholte immer wieder den Befehl Verschwinde, verschwinde, verschwinde, ohne zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Sie hatte lediglich die verschwommene Idee, irgendwie auszubrechen und nach den Polizisten oben zu rufen. Ihre Phantasievorstellungen passten sich auf Schritt und Tritt neuen Erkenntnissen an: Jetzt würde Jennifer die Polizisten finden müssen, statt umgekehrt.
Sie holte tief Luft, durchquerte an der Kamera vorbei mit nackten Füßen ihre Zelle und griff nach dem Türknauf. Sei bloß nicht abgeschlossen, sei nicht abgeschlossen …
Sie legte die Finger um den Knauf. Er drehte sich. Sie dachte: Oh mein Gott, Mister Braunbär, wir sind frei.
Behutsam und so leise wie möglich öffnete sie die Tür. Sie spannte alle Nerven an und sagte sich: Achtung, wir werden rennen, so schnell wir können. Schneller als je zuvor.
Sie hatte gerade eben Zeit für einen einzigen Atemzug, einen einzigen Blick auf ihre Umgebung. Sie sah einen dunklen, modrigen Kellerraum und durch ein hölzernes, von Spinnweben überzogenes, verstaubtes Fenster den nächtlichen Himmel.
Ein Licht, so hell, wie sie es noch nie im Leben gesehen hatte, explodierte direkt vor ihrem Gesicht und blendete sie. Sie atmete heftig ein und hielt sich schützend den Bären vor die Augen. Es war, als entzündete sich eine grelle, weiße Flamme. Dann wurde ihr wie zu Beginn ihrer Gefangenschaft eine Haube über den Kopf gestülpt, und es war plötzlich wieder pechschwarz.
Sie hörte die harte Stimme der Frau: »Keine klugen Entscheidungen, Nummer 4.«
Eine Sekunde lang wehrte sie sich heftig, doch dann wurde sie niedergeworfen und mit einem Griff festgehalten, der sie schmerzhaft in einen Schraubstock zwängte. All die Schrecken der vergangenen Tage konzentrierten sich in dieser einen Sekunde und stürzten sie in ein großes schwarzes Loch.
Sie taumelte hilflos in die Tiefe.
Die Performance-Künstlerin schüttelte den Kopf. »Verdammt«, sagte sie traurig, doch immer noch fasziniert. »Verdammt.« Der Filmemacher-Ehemann seufzte. »Hab ich dir doch gleich gesagt«, flüsterte er, während sie zusahen, wie Nummer 4 sich vergebens wehrte. »Das dürfte einfach nicht sein«, sagte seine Frau, ohne jedoch die Übertragung abzuschalten. Stattdessen ergriff sie seine Hand und schauderte, während sie sich miteinander auf dem Sofa zurücklehnten und – ganz und gar gebannt – das Geschehen weiterverfolgten.
Zur gleichen Zeit schickte im Tau-Epsilon-Phi-Haus der University of Georgia der Verbindungsstudent seinem Kommilitonen, der in einem Abendseminar saß, eine brandheiße SMS. »Kein Scheiß! Wir haben gewonnen. Es geht gerade ab. Du verpasst es.«
Er warf sein Handy weg und konzentrierte sich auf den Bildschirm. Er hatte trockene Lippen, seine Kehle war ausgedörrt, und er hatte das Gefühl, als wäre es drückend schwül im Zimmer. Er hielt sich an der Kante seines Schreibtischs fest, um nicht heftig vor und zurück zu wippen. Er wusste, dass das, was er da sah, real war – die Schreie von Nummer 4 konnten unmöglich gestellt sein –, und er rutschte in einer Mischung aus Erregung und Scham auf seinem Stuhl herum.
In der Ecke des Bildschirms blieb die Vergewaltigungsuhr auf einer Zahl stehen, die einen Moment lang rot aufblitzte, bevor sie auf null zurückgesetzt wurde.