Er dachte: Die waren wirklich schrecklich.
Natürlich konnte »schrecklich« ihr Verbrechen nicht im Mindesten beschreiben. Das Wort war »antiseptisch«. Adrian starrte auf Bilder von Myra Hindley und Ian Brady, die auf dem Umschlag der Encyclopedia of Modern Murder prangten, welche er sich von Roger Parsons ausgeliehen hatte. Er war sowohl fasziniert als auch erschrocken. Das Buch enthielt so viele grausige Details, dass sie durch die schiere Masse beliebig und irgendwie belanglos wurden. Dieses Opfer wurde mit einem Beil getötet. Die Schreie jenes Opfers wurden auf Tonband festgehalten. Sie machten pornographische Fotos. Dieses Kind wurde draußen im Moor in einem nicht sehr tiefen Grab verscharrt.
Die Lektüre war wie ein Gang über ein Schlachtfeld. Wenn man eine Leiche sieht, hat es eine grausige Faszination, so dass man sich kaum davon losreißen kann. Hat man hundert gesehen, stumpft man ab.
Wie jeder gute Wissenschaftler hatte sich Adrian in sein Thema vertieft. Es freute ihn, festzustellen, dass ihm seine Gabe, in kürzester Zeit eine Fülle an Informationen zu verarbeiten, noch nicht wie so viele andere seiner intellektuellen Fähigkeiten abhandengekommen war. Nachdem er sich einen großen Teil der Nacht und des folgenden Vormittags mit einem Haufen Bücher sowie Computer-Recherchen um die Ohren geschlagen hatte, wusste Adrian, dass er sich über das eigentümliche Phänomen krimineller Liebespaare ein Bild verschafft hatte. Was tut der Mensch aus Liebe? Wundervolle Dinge? Oder entsetzliche Dinge?
Zugleich hoffte er, dass niemand käme und ihn aufforderte, sechs und neun zusammenzuzählen, oder ihn fragte, welchen Wochentag sie hatten, oder auch welche Woche im Monat oder welchen Monat im Jahr oder auch welches Jahr – denn er bezweifelte, dass er darauf, selbst mit der feinfühligen Hilfe eines geliebten, doch längst verstorbenen Menschen, die korrekten Antworten wusste. Geister waren hilfreich – aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Er war sich immer noch nicht im Klaren, von welchem praktischen Nutzen die Informationen waren, die er von ihnen bekam.
Er war klug genug, um zu wissen, dass sich jede Halluzination aus der Erinnerung speiste, aus der Erfahrung, aus seiner Projektion von etwas, das Cassie oder Brian oder wer auch immer früher einmal gesagt haben mochte oder jetzt vielleicht sagen würde – wären sie noch am Leben. Ihm war klar, dass alle diese Dinge, die ihm real erschienen, in Wahrheit daher rührten, dass in seinen eigenen Stirnlappen das chemische Gleichgewicht durcheinandergeraten war, so dass es zu Kurzschlüssen und Abnutzungserscheinungen kam. Dennoch waren sie eine Hilfe, und mehr konnte er nicht verlangen.
Eine Stimme unterbrach seine Tagträumereien. »Was sagt uns das?«
Adrian blickte von seinem Schreibtisch auf und sah Cassie in der Tür zu seinem Arbeitszimmer stehen. Sie wirkte blass, alt und niedergedrückt. Sie hatte diesen traurigen Ausdruck in den Augen, den er aus den Tagen vor ihrem Unfall in Erinnerung hatte, als sie vor Kummer nicht mehr sie selbst war. Verschwunden war die attraktive, schlanke und verführerische Cassie aus ihren ersten Ehejahren. Hier stand die müde, kranke Frau, die verzweifelt darauf wartete zu sterben. Als er sie so sah, stockte Adrian der Atem, und er wollte zu ihr durchdringen, sie irgendwie trösten, obwohl er wusste, dass ihm das in ihren letzten gemeinsamen Monaten kein einziges Mal gelungen war.
Er merkte, wie ihm die Tränen aufstiegen, und so ignorierte er ihre Frage und versuchte, etwas zu sagen, zu dem er sich vor ihrem Tod hätte aufraffen sollen. Vielleicht hatte er es ja auch hundertmal gesagt, und es hatte nur keinen Widerhall gefunden.
»Cassie«, fing er behutsam an. »Es tut mir so leid. Niemand, weder du noch ich, noch sonst irgendjemand, hätte irgendetwas daran ändern können. Er hat genau das getan, was er tun wollte …«
Sie wischte die Entschuldigung mit einer einzigen Handbewegung weg. »Ich hasse das«, sagte sie brüsk. »Diesen Selbstbetrug, wir hätten nichts dagegen unternehmen können. Es gibt immer etwas, was irgendjemand hätte tun oder sagen können. Und Tommy hat immer auf dich gehört.«
Adrian schloss die Augen. Er wusste, wenn er sie wieder öffnete, würden sie automatisch zu einem anderen Foto auf der Ecke seines Schreibtischs wandern: dem seines Sohnes in Barett und Talar bei seiner Abschlussfeier unter strahlend blauem Himmel. Der Inbegriff einer verheißungsvollen Zukunft.
Er hörte, wie sich Cassies Stimme unerbittlich in die ersten schmerzlichen Erinnerungen drängte. Zögernd wandte er sich ihr zu. Sie war bestimmt und duldete keinen Widerspruch – wie immer, wenn sie wusste, dass sie im Recht war. Nur selten hatte er ihr das verübelt, vielmehr in diesem Wesenszug das Vorrecht des Künstlers gesehen. Überspitzt gesagt, hatte man ein Anrecht auf seine eigene Meinung, wenn man wusste, wo man unwiderruflich auf einer weißen Leinwand die erste farbige Linie zog, etwas, wozu er selber nie den Mut gehabt hätte.
»All diese Bücher und Computer-Recherchen – was sagt uns das?«, wiederholte sie ihre Frage.
Adrian rückte sich die Lesebrille auf der Nasenspitze zurecht – die Version des Akademikers von entschlossenem Handeln. »Da steht, dass sie zusammen fünf Menschen getötet haben.«
Er zögerte. »Fünf Menschen, soweit die Polizei im ländlichen England sie identifizieren konnte. Es könnten mehr gewesen sein. Manche Kriminologen gehen eher von acht aus. Die Zeitungen dort – es war 1963 oder 64 – haben es das Ende der Unschuld genannt.«
»Menschen?«
Adrian schüttelte den Kopf. »Du hast recht, ich sollte genauer sein. Kinder. Im Alter von zwölf bis sechzehn oder siebzehn Jahren.«
»Das ist ungefähr Jennifers Alter.«
»Stimmt. Aber das ist wohl eher Zufall.«
»Ich dachte, in deinen Vorlesungen hättest du Zufälle immer gehasst und behauptet, die kämen so gut wie nie vor. Psychologen wollen Erklärungen, keine Zufälle.«
»Vielleicht die Freudianer.«
»Adrian, ich bitte dich.«
»Tut mir leid, sollte ein Witz sein.« Er warf seiner toten Frau ein schwaches Lächeln zu. Sie war zwischen Tür und Angel stehen geblieben, wie sie es oft tat, wenn sie ihn einerseits nicht bei der Arbeit stören wollte, aber andererseits eine Antwort auf eine Frage brauchte. Dann verharrte sie auf der Schwelle, als würde sie ihn weniger stören, wenn sie ein wenig Abstand hielt.
»Willst du nicht reinkommen?«, fragte er und deutete auf einen Sessel.
Cassie schüttelte den Kopf. »Ich hab zu viel zu tun.«
Er sah sie wohl ein wenig betroffen an, denn sie fuhr in milderem Ton fort. »Audie«, sagte sie bedächtig, »Du weißt, dass dir nicht viel Zeit bleibt. Weder dir noch Jennifer.«
»Ja«, räumte er ein. »Ich weiß.« Er überlegte. »Es geht nur darum …«
»Nur um was?«
»Es geht darum, Informationen in die Tat umzusetzen. Diese beiden – die Moormörder, Brady und Hindley – kamen ins Schleudern, als sie versuchten, noch jemand anderen in ihre Perversionen einzubeziehen, und der Kerl, den sie ins Boot holen wollten, hat die Polizei gerufen. Solange sie unter sich waren, voneinander zehrten, konnte ihnen nicht viel passieren. Erst als sie jemand anderen beeindrucken wollten, jemanden, der sich als nicht ganz so gemeingefährlich pervers erwies, wurden sie geschnappt.«
»Erzähl weiter«, sagte Cassie. Ein zartes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Sie spornte ihn an.
Adrian wusste, dass es in ihrer Beziehung immer so gewesen war. Die Künstlerin in ihr zog ihm den Kopf aus den Wolken; fand eine praktische Anwendungsmöglichkeit für all seine Arbeit im Labor. Adrian spürte eine Woge der Leidenschaft. Wie hätte er auch nicht die Frau lieben sollen, die seinen Ideen einen Sinn verlieh? Er war plötzlich aufgewühlt, und wie bei so vielen Gesprächen bei Tisch, im Garten, am Kamin kam er in Schwung.
»Die Psychodynamik von Mörderpaaren ist immer schwer zu fassen. Offensichtlich gibt es immer eine übermächtige sexuelle Komponente. Aber die Verbindung scheint tiefer zu gehen. Das versuche ich gerade zu verstehen. Beziehungen sind immer ein wechselseitiger Prozess, das heißt, etwas wird äußerlich verarbeitet, diskutiert, analysiert – und so weiter. So sieht es jedenfalls aus. Aber es kommt noch etwas Entscheidendes hinzu, was mit Beflügeln, Ermächtigen zu tun hat und beängstigend ist. Es geht über ein bloßes Einverständnis weit hinaus – es hat mit einem dunkleren, elementareren Kräftespiel zu tun.«
Cassie schnaubte, doch ihr Grinsen blieb. Sie blieb im Türrahmen, deutete aber auf die Bücher. »Geh nicht alles mit dem Verstand an, Adrian«, sagte sie, und er musste zum zweiten Mal schmunzeln. Ihr Tonfall brachte all die Jahre zum Klingen, die sie zusammen verbracht hatten. »Wir sind hier nicht in der Universität. Du hast am Ende weder einen Aufsatz zu schreiben noch einen Vortrag zu halten. Es geht nur um ein kleines Mädchen, das entweder tot oder lebendig sein wird.«
»Aber ich muss es doch verstehen …«
»Ja. Aber nur, damit du handeln kannst«, sagte Cassie.
Er nickte und winkte sie herein. »Komm schon«, flüsterte Adrian. »Leiste mir Gesellschaft. Das ganze Zeug hier …«, er wischte mit einer Handbewegung über die Enzyklopädie, »das macht mir Angst.«
»Das sollte es auch.« Cassie blieb im Türrahmen stehen.
»Dieser Fall – das ist in den 1960ern passiert …«
»Und? Was ist heute anders?«
Er antwortete nicht, sondern dachte nur: Wir sind heute weniger naiv als damals.
Cassie musste den Gedanken gehört oder mitbekommen haben, denn sie unterbrach ihn sofort. »Nein. Die Menschen haben sich nicht geändert. Nur die Mittel.«
Adrian war erschöpft, von alledem, was er über eine Reihe von Morden erfahren hatte, ausgelaugt. »Wie kann ich eine Form des Verständnisses – du weißt schon, das aus den Büchern – in eine andere Form – praktisches Handeln – ummünzen, die mir hilft, Jennifer zu finden?«, fragte er.
Cassie lächelte. Er sah, wie ihr Gesicht sich entspannte. »Du weißt, wem du diese Frage stellen solltest«, sagte sie.
Adrian wippte ein wenig auf seinem Stuhl und dachte, sie meinte Brian. Außerdem fragte er sich, was genau er tun musste, um eine seiner Halluzinationen bewusst und nach Bedarf herbeizuführen, wenn er sie brauchte, um sich sagen zu lassen, wo’s langging.
Er betrachtete die geballten Informationen über die Morde und schob den ganzen Wust von sich, nicht weit, aber ein paar Zentimeter auf dem Schreibtisch zurück, als könnte er verhindern, sich damit zu infizieren, indem er den Kontakt mied. Er drehte sich zu einem Bücherregal um und griff an Fachtexten und Lehrbüchern vorbei in eines seiner Fächer mit Lyrik. In all den vollgestopften Bücherregalen in sämtlichen Zimmern des kleinen Hauses war mindestens ein Fach für Lyrikbände reserviert, da er nie im Voraus wusste, wann er eine Dosis verdichtete Sprachkunst brauchte.
Adrian ging mit den Fingern die Buchrücken durch. Er wusste nicht, wonach er suchte, sondern verspürte nur den übermächtigen Drang, das richtige Gedicht zu finden.
Etwas, das zu meiner Stimmung und meiner Situation passt, dachte er.
Seine Hand schwebte über einer Anthologie der »Kriegsdichter«, all dieser todgeweihten jungen Männern aus dem Ersten Weltkrieg. Er griff danach und schlug sie an einer willkürlichen Seite auf. Sein Blick fiel auf Owens Dulce et Decorum Est. Er las: »Viele hatten keine Stiefel mehr/Und hinkten mit bloßen, blutigen Füßen weiter.« Ja, dachte er, das war er.
Er las die Worte des Gedichts dreimal, dann schloss er die Augen und atmete tief ein. Das Erste war der Geruch. Dickflüssiges, schwarzes Öl, dazu ein rostiger Metallgeschmack auf der Zunge, rauchig und unglaublich heiß, als stünde die ganze Welt bei voll aufgedrehtem Gas auf dem Herd und wäre kurz vor dem Überkochen.
Er hustete heftig. Bei geschlossenen Augen drang ihm ein so schrecklicher Gestank in die Nase, dass er sich fast übergeben musste. Wie im Schlaf befahl er sich, aufzuwachen, doch im nächsten Moment merkte er, wie sein ganzer Körper nach vorne taumelte, dann wieder nach hinten sackte, während er zugleich ein Knirschen hörte, welches das Dröhnen und Heulen des Motors übertönte. Plötzlich wurde er auf seinem Sitz in die Höhe geworfen, als befänden sie sich auf stürmischer See, und auf der Suche nach irgendeinem Halt griff er ins Leere. Im selben Moment hörte er neben sich, direkt an seinem Ohr, eine so vertraute Stimme, dass sie ihm wie Musik geklungen hätte, wären da nicht der schreckliche Geruch, der betäubende Lärm und das Schaukeln und Rütteln gewesen.
»Halt dich fest, Dad, es wird noch um einiges schlimmer.« Adrian riss die Augen auf. Er saß nicht mehr an seinem Schreibtisch, inmitten von Büchern und Papieren, Bildern und Gedichten, während er seinen Erinnerungen nachhing. Vielmehr wurde er auf dem Rücksitz eines Humvee durchgeschüttelt.
Es gab ein schepperndes Geräusch, und der Motor zog an. Er drehte sich zu der Person auf dem Sitz neben ihm um. »Tommy!« Er hatte wohl nach Luft geschnappt, denn sein Sohn lachte laut, während er mit der einen Hand einen Griff am Wagendach umklammerte und mit der anderen seine Kamera ruhig zu halten versuchte. Sein schwarzer Kevlar-Helm glitt ihm fast über die Augen herunter. Seine marineblaue Flak-Jacke war ihm zum Hals hochgerutscht. Er sah jung aus, fand Adrian. Und schön.
»Ich muss schnell reden, Dad, wir sind bald an der Stelle, an der ich sterbe.«
Vom Vordersitz aus warf der Fahrer – ein junger Marine in khakifarbenem Tarnanzug und dunkler Wraparound-Sonnenbrille – ein paar bittere Bemerkungen über die Schulter. »Scheißsprengladung im Sand vergraben. Unmöglich, die zu sehen. Wir waren von vornherein am Arsch. Falludscha am Arsch.«
Das war wohl als Witz gemeint, denn es folgte angespanntes Gelächter. Adrian sah sich zu den anderen Marines um, die auf dem hintersten Sitz eingepfercht waren. Sie starrten, die Waffen im Anschlag, aus den Fenstern in die abweisende, sandfarbene Landschaft und nickten stumm. »Wenn das nicht die ideale Stelle für einen Scheißhinterhalt ist …«, sagte einer von ihnen. Adrian konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sein Ton war zugleich schroff und fatalistisch, als wüsste er, dass niemand etwas an dem ändern konnte, was im nächsten Moment passieren würde.
Der Schütze, der das aus dem Dach ragende Gewehr Kaliber 50 bediente, beugte sich vor. Er war höchstens einundzwanzig Jahre alt und lachte hinter seiner sandverkrusteten Schutzbrille und mit dreckverschmierten Zähnen. »Wir hätten uns auf diese Mission nie einlassen sollen«, brüllte er gegen das Motorengeräusch und den Wind an, der durch die offenen Fenster peitschte. »Das roch vom ersten Kilometer an nach Ärger.«
Auf dem Todessitz vorne legte mit ungerührtem Blick ein schwarzer Lieutenant den Hörer des Funkgeräts hin und drehte sich zu dem Trupp hinter ihm um. »Halten Sie die Klappe!«, befahl er streng. »Hören Sie, nicht jeder hier beißt ins Gras. Sie, Masters, und Sie, Mitchell, marschieren hier mit ein paar Schrammen und einer blutigen Nase raus. Und Sie, Simms, ziemlicher Mist, das mit Ihren Beinen, aber Sie überleben’s und können mit dem großen Vogel nach Hause fliegen. Und wir machen einen ganzen verfluchten Haufen Sandneger platt, weil ich noch Luftunterstützung anfordere, bevor ich abgefackelt werde, also hören Sie gefälligst auf zu jammern.«
Plötzlich hellte sich die Miene des Lieutenants auf, und ein Grinsen legte sich über sein Gesicht, während er auf Tommy zeigte. »Und unser Zeitungsjunge hier verhilft uns armen Ärschen zu ewigem Ruhm, hab ich recht, Tommy?«
Tommy grinste. »Gebongt«, sagte er.
Einer der Marines beugte sich herüber, klatschte Tommy auf den Schenkel und sagte: »Hast uns zu Scheiß-Internetstars gemacht!« Er lachte, während er das Gewehr im Anschlag hielt.
Als der Wagen plötzlich schneller fuhr und über Trümmer holperte, wurde Adrian zur Seite geworfen. Er erhaschte einen Blick auf Lehm- und Ziegelbauten, auf schwarz verrußte und von schwerem Beschuss zerlöcherte Wände. An den Straßenrändern lagen die zersplitterten Überreste von Palmen. Aus einem Graben ragten ausgebrannte Autos und der bis zur Unkenntlichkeit verformte, noch rauchende Rumpf eines Panzers. Aus einer Luke hing eine verkohlte Leiche. Er hörte, wie jemand im Vorbeifahren murmelte: »Man soll sich nie mit den Fliegern anlegen …«
Tommy beugte sich nach vorn und versuchte, über die Schulter des Fahrers einen guten Blickwinkel zu bekommen, während sie auf eine Gruppe schäbiger, niedriger Häuser zurasten. Staub und Rauch schienen allgegenwärtig, und Adrian wurde den Geruch nicht mehr los. Tommy filmte, sprach dabei jedoch mit seinem Vater. »Ich weiß, es ist ziemlich schlimm, aber man gewöhnt sich dran. Außerdem ist das nur das Kordit von den Explosionen und vielleicht ein bisschen brennendes Öl. Wart’s ab, bis du den Geruch von Leichen schnupperst, die ein paar Tage in der Sonne gelegen haben.«
Er ließ die Kamera sinken. »Immerhin hab ich einen Preis gewonnen«, sagte er. »Ich hatte die ganze Sache im Kasten, von der Stelle, an der es uns erwischt, bis zu dem Feuergefecht. Sogar nachdem es mich erwischte, hatte ich noch den Finger am Abzug, und die Kamera hat weitergefilmt. Bevor die Aufnahmen ins Internet gestellt wurden – hast du gewusst, dass ich fast drei Millionen Mal aufgerufen wurde? –, hat der Moderator der Spätnachrichten alle zusammengetrommelt und eine schöne Rede gehalten. Du weißt schon, wo er darüber gesprochen hat, was es heißt, Kriegsberichterstatter zu sein, wie Frank Capra und Ernie Pyle, und die wirkliche Story in den Kasten zu kriegen. Er hat über die Jungs in Vietnam geredet – ein paar von denen sind wahrscheinlich mit Onkel Brian auf Patrouille gegangen. Diese Jungs sind mit nichts weiter als ihrer Nikon um den Hals oder einem Notizbuch in der Hand losgezogen und haben nicht mal Panzerwesten getragen.
Der Moderator hat über Tradition und Berufsethos gesprochen, es klang bei ihm wie eine Art höhere Berufung, wie die Priesterweihe. Aber unter uns, Dad, ich meine, wir beide wissen, dass ich nur hier war, weil ich gerne gefilmt habe und weil ich das Abenteuer genossen habe, und da gibt’s nun mal nichts Besseres, als sich einem Trupp taffer Marines anzuschließen, selbst wenn es einen das Leben kostet.«
»Ganz richtig. Eindeutig taff!«, brüllte der 50-Kaliber-Schütze gegen den Wind.
»Tommy …«, würgte Adrian heraus.
»Nein, Dad, du musst mir zuhören, weil ab jetzt alles schnell gehen wird. Ich versuche, später noch mal zu dir zu kommen, wenn es nicht so verwirrend ist. Aber vorher hab ich dir noch was Wichtiges zu sagen …«
»Tommy, bitte …«
»Nein, Dad, hör mir zu …«
Der Humvee legte an Fahrt zu. Der Marine hinterm Lenkrad jauchzte auf und sagte: »Gleich ist die Kacke am Dampfen, Jungs. Haltet den Schwanz und die Eier fest, es geht los!« Adrian verstand nicht, wie Menschen, die tot waren, darüber reden konnten, wie sie sterben, bevor es passiert ist, auch wenn er wusste, dass es vor sechs Jahren tatsächlich passiert war. Er suchte an der Seite des Humvee Halt, als der Geländewagen in einen Haufen Sand und Dreck schlitterte. Neben ihm redete Tommy in ruhigem Ton weiter.
»Geh noch mal durch, was dir klargeworden ist, als du die Enzyklopädie gelesen hast. Da findest du alles Wissenswerte. Du musst nur ein bisschen moderner denken.«
»Aber Tommy …«, setzte Adrian an.
Sein Sohn fuhr mit einem besorgten Gesichtsausdruck zu ihm herum. »Dad! Überleg mal, wieso ich gekommen bin …«
»Du warst Dokumentarfilmer. Du durftest als ziviler Kriegsberichterstatter die Marines begleiten. Ich weiß noch, wie aufgeregt du warst …«
»Mach nicht mehr draus, als es war.«
»Tommy, du fehlst mir. Und deine Mutter, sie war danach nicht mehr derselbe Mensch … Es hat sie umgebracht.«
»Ich weiß, Dad, ich weiß. Ich weiß, ein Kind zu verlieren – egal, in welchem Alter –, danach ist nichts mehr wie vorher. Deshalb ist Jennifer so gottverdammt wichtig.«
»Aber ich sterbe, Tommy. Und …«
Einer der Marines, der ein Maschinengewehr im Anschlag hatte und aus dem Fenster des Humvee zielte, drehte sich um. »Hey, wir sterben alle, vom Tag unserer Geburt an. Krieg das auf die Reihe, Alter! Hör auf Tommy, der hat’s voll drauf.« Von den anderen Männern kam zustimmendes Gemurmel. Sie beugten sich alle über die Waffen.
»Jennifer, Dad. Konzentrier dich auf Jennifer. Ich bin nicht mehr. Mom ist nicht mehr. Onkel Brian ist nicht mehr. Und es gibt noch andere. Freunde. Verwandte. Hunde …«, lachte er, auch wenn Adrian nicht sehen konnte, was so komisch war. »Wir leben alle nicht mehr. Jennifer schon. Noch. Das muss ich dir nicht sagen. Du spürst es selbst. Irgendetwas in all den Büchern, all den Vorlesungen – irgendetwas sagt dir, wenn du ehrlich bist, dass sie noch lebt. Noch.«
»Mist, es ist so weit …«, sagte der Fahrer plötzlich.
Tommy packte seinen Vater am Knie. Adrian spürte den Druck. Er wollte verzweifelt die Arme um seinen Sohn werfen, ihn irgendwie vor dem beschützen, was im nächsten Moment passieren würde. Er streckte die Hände aus, doch sie griffen aus irgendeinem Grund zu kurz und fuchtelten hilflos in der Luft.
»Es geht ums Sehen, Dad. Es geht darum zu zeigen, was man macht. Daher kommt der Kick. Es da draußen vorzuzeigen, so dass es jeder sehen kann, das gibt einem Kraft. Es macht einen hart. Es ist erregend. Erinnerst du dich nicht, als du über das Pärchen gelesen hast, das vor fünfzig Jahren in England gemordet hat? Fotos. Tonbänder. Wieso haben sie das gemacht? Komm schon, Dad, das ist dein Metier. Du solltest es wissen …«
»Aber Tommy …«
»Nein, Dad, es ist so wenig Zeit. Es passiert jetzt gleich. Weißt du nicht mehr, wie ich dir mal erzählt habe, weshalb ich filmen will? Weil es die reinste Wahrheit ist. Wenn ich meine Filme machte, konnte niemand sagen, es sei nicht real oder wahr. Aus dem Grund haben wir es alle gemacht. Dank der Bilder, die wir festgehalten haben, sind wir über uns hinausgewachsen. Keine Lügen hinter einer Kamera, Dad. Gott! Es ist so weit!«
Adrian wollte etwas antworten, doch die Explosion zerriss die Luft. Der Humvee schien sich aufzubäumen, als gehörte er nicht mehr der Erde an. Im Nu füllte sich der Innenraum des Jeeps mit Rauch und Flammen, und die Druckwelle warf Adrian nach hinten. Wegen der plötzlichen Dunkelheit, die ihn einhüllte, glaubte er, ohnmächtig zu sein. All die Gerüche, all die Geschmäcker schienen sich zu verstärken, und in seinen Ohren ertönte ein schrilles Klingeln. Ihm war schwindelig. Er war von oben bis unten voller Sand und Staub. Er versuchte, sich nach Tommy umzusehen, doch zunächst konnte er nur bizarr verdrehte und verzerrte Gestalten erkennen. Wo Sekunden zuvor Marines gesessen hatten, sah er jetzt nur noch Körper, von der in der Straße versteckten Mine zu einem Fleischknäuel zermalmt, zerfetzt.
Dann plötzlich fand er sich, als hätte jemand die Ton- und Bildspur eines Films vorgespult, draußen wieder. Unter einem blassblauen Himmel, in erbarmungsloser Hitze und ohrenbetäubendem Lärm und etwas, das er zuerst für einen Insektenschwarm hielt, bis er begriff, dass es sich um kleinkalibriges Feuer handelte. Zu seinen Füßen war ein Marine, dem ein Bein fehlte und der schreiend zu einem niedrigen Lehmwall robbte. Adrian drehte sich, immer noch auf der Suche nach seinem Sohn, um die Achse. Er bemerkte den Lieutenant, der etwas ins Funktelefon brüllte, doch Adrian konnte nicht verstehen, was er sagte. Das Geräusch schien näher zu kommen. Und es gab ein Donnern von großkalibrigen Waffen, nachdem andere Humvees in der Kolonne das Feuer eröffnet hatten. Adrian hielt sich die Ohren zu und schrie: »Tommy! Tommy!«
Er drehte sich um und entdeckte seinen Sohn. Tommy blutete stark aus den Ohren. Sein Bein war gebrochen; er zog es nutzlos hinter sich her. Aber so wie man es ihnen erzählt hatte, filmte er. Er hatte die Kamera geschultert, als wäre sie seine einzige Waffe, und er hielt das Feuergefecht fest.
Adrian merkte, dass ihm der Mund offen stand. Er wollte den Namen seines Sohnes brüllen, brachte aber keinen Ton heraus. Er sah, wie Tommy die Kamera auf den Lieutenant schwenkte, der in einer staubigen Blutlache lag. Adrian hörte das Kreischen nahender Kampfjets, er blickte auf und sah, wie eine Formation Warthogs im Tiefflug nahte. Sie hatten die Sonne hinter sich und wirkten wie schwarze Tupfer über dem Horizont. Adrian stand mitten im Kugelhagel und in den Detonationen, doch plötzlich wirkte alles langsam, beinahe gemächlich. Er drehte sich wieder zu der Stelle um, an der er Tommy gesichtet hatte, und versuchte ihm zuzurufen: Geh in Deckung! Doch Tommy stand ungeschützt im Freien. Adrian versuchte, zu ihm zu laufen; er hatte den vagen Wunsch, sich über seinen Sohn zu werfen und von dem, was über ihm niederging, abzuschirmen, doch seine Beine bewegten sich nicht.
»Tommy«, flüsterte er. Er sah, wie die kleinen Staubblumen auf ihn zurasten. Er wusste, dass es sich um Kugeln handelte, die in direkter Linie der Warthogs aus einer fünfzig Meter entfernten Hütte kamen. Wenn sie doch nur ein wenig schneller gewesen wären, dachte Adrian. Wenn nur die Piloten ein, zwei Sekunden früher geschossen hätten. Wenn nur … Die Linie der Kugeln näherte sich unerbittlich seinem Sohn. Adrian sah zu, wie Tommy seinen eigenen Tod mit der Kamera festhielt. Er ereilte ihn, Bruchteile von Sekunden bevor die Hütte in einem Flammenmeer aufging.
Die Zeit, dachte Adrian, war zu grausam. Er hob die Hände ans Gesicht, um all die Bilder, die auf ihn einstürmten, daran zu hindern, in sein Blickfeld zu treten und sich seiner Vorstellungskraft zu bemächtigen. In der plötzlichen Dunkelheit verebbten all der Lärm und der Aufruhr wie das Ende eines Liedes im Radio, und als er die Augen aufmachte, war er wieder allein, in der Stille seines Arbeitszimmers, umgeben von Büchern, die von Mord handelten.
Adrian hatte das Gefühl, als sei er gerade ein wenig gestorben.
Er wollte etwas zu seinem Sohn sagen. Er sah sich nach Cassie um, doch sie war nicht da. Einen Moment lang dachte er, sein Gehör hätte unter der Wucht der Explosionen Schaden genommen; er hörte einen Klingelton. Er hielt an, wurde immer lauter, bis es so schmerzhaft war, dass er schreien wollte, doch dann merkte er plötzlich, dass es an seiner Haustür läutete.