EPILOG
Die Psychologieklausur zur
Semesterhalbzeit
Es dauerte fast zwei Wochen, bis ein Helikopter der Staatssicherheit, der über das weitflächige Naturschutzgebiet im Norden des Staates hinaus seine Rasterfahndung ausgedehnt hatte, Diana Claytons Leiche fand. Die Nachricht kam an dem Morgen, an dem sowohl Jeffrey als auch Susan aus dem Krankenhaus in New Washington entlassen werden sollten – zwei Tage nachdem der Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika mit überwältigender Mehrheit dafür gestimmt hatte, den Einundfünfzigsten Bundesstaat in die Union aufzunehmen.
Frustriert hatte Jeffrey, obwohl noch nicht wieder bei Kräften, mit den Chirurgen gestritten und verlangt, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, um die Suchtrupps der Staatssicherheit zu begleiten, die vom Haus am Buena Vista Drive ausgeschwärmt waren, um unter die Ereignisse jener Nacht einen Schlussstrich zu ziehen – doch dies hatten ihm die Ärzte verweigert. Susan, die sich in ihrem Bett erholte, blieb gelassener, als würde sie auch so bis ins letzte Detail wissen, was in den Stunden nach der Flucht ihres Vaters aus dem Musikzimmer und nachdem sie und ihr Bruder vor Anspannung, Blutverlust und Schock das Bewusstsein verloren hatten, dort draußen geschehen war.
Erstaunlicherweise war es dem Hubschrauberteam gelungen, Dianas Leiche vom Rand der Schlucht zu bergen, während die steile Landschaftsformation es daran hinderte, zu den sterblichen Überresten von Peter Curtin in den Canyon hinab vorzudringen. Gleichwohl hatte man ihn aus der Luft entdeckt, doch für die Bergung wäre ein Team von erfahrenen Bergsteigern nötig gewesen. Einen solchen Aufwand wollte der Direktor der Staatssicherheit, Mr. Manson, nicht bewilligen.
Er hatte sich am Tag ihrer Entlassung bei ihnen im Krankenhaus blicken lassen. In strahlendster Laune wegen der Kongressabstimmung war er an ihr Bett geeilt, und das trotz eines Sitzungsmarathons zur Planung flächendeckender Freudenfeste im Bundesstaat am kommenden Wochenende – Feuerwerke, Löschzüge mit heulenden Sirenen, Blaskapellen, puschelschwingende Cheerleader, Pfadfinderparaden auf den Hauptstraßen sämtlicher neuer Städte, denkwürdige Ansprachen und schulterklopfende Gratulationen. Ein einziges rotweißblaues Straßenfest mit Hotdogs, Limonade und Root Beer wie in den guten alten Zeiten, ein Ereignis, das sich vor dem vierten Juli nicht zu verstecken brauchte, auch wenn ihnen ein kalter Wind um die Ohren pfiff.
»Sie können natürlich leider nicht dabei sein«, erklärte er Bruder und Schwester fröhlich. »Bedauerlicherweise sind Ihre Visa abgelaufen.«
Manson überreichte Jeffrey und Susan Schecks und fügte an Susan gewandt hinzu: »Natürlich hatten wir mit Ihnen kein Arrangement wie mit Ihrem Bruder. Doch es erschien uns nur fair.«
»Schweigegeld«, erwiderte Susan. »Halt-die-Klappe-Knete.«
»Die man«, konterte Manson gewitzt, »genauso gut ausgeben kann wie jedes andere Geld. Vielleicht sogar besser.«
»Ich nehme an, die junge Miss Lewis wird ebenfalls für ihre Verletzungen und ihr Schweigen entschädigt?«
»Vier Jahre Collegestipendium. Ebenso eine Therapie auf Staatskosten. Eine Hochstufung von einem braunen Wohnviertel in ein blaues für ihre Familie, ebenfalls vom Steuerzahler spendiert. Eine neue Stelle, mit Gehaltserhöhung, für den Vater. Dasselbe für die Mutter. Ach so, ja, als kleines Extra haben wir noch ein paar Autos draufgelegt, damit sie etwas stilvoller zu ihren neuen Arbeitsplätzen pendeln können. Genauer gesagt, gehörten diese Fahrzeuge Ihrem verstorbenen Vater und Ihrer bösen, bösen Stiefmama. Wir haben noch ein paar kleine Vergünstigungen dazugepackt. Jedenfalls war es äußerst leicht, sich mit der Familie und der jungen Frau selbst handelseinig zu werden. Ich meine, immerhin gefällt es ihnen hier, und sie hatten wirklich keine Lust, wegzuziehen. Oder in diesem speziellen Fall, die Pferde scheu zu machen.«
»Sie können trotzdem nicht verhindern, dass geredet wird«, beharrte Susan.
»Meinen Sie tatsächlich?«, fragte Manson zurück. »Doch, ich denke schon. Die Leute sprechen nicht gerne über derlei Dinge. Sie wollen nicht glauben, dass sie passieren können. Ausgerechnet hier. Deshalb glaube ich eher, dass sie schweigen werden. Sich vielleicht mit ein paar Albträumen herumschlagen, aber schweigen.«
Manson beugte sich nach unten und öffnete eine Aktentasche. Er zog eine zwei Wochen alte Ausgabe der New Washington Post heraus und warf sie Susan hin. Sie las die Schlagzeile: TÖDLICHER UNFALL EINER STAATSBEAMTIN BEI SCHIESSÜBUNG. Neben der Meldung prangte ein Foto von Caril Ann Curtin. Susan starrte es an und drehte sich zu ihrem Bruder um.
Jeffrey schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf den Scheck, den Manson ihm übergeben hatte. »Dieses Ende ist teuer erkauft.«
»Sie haben mein ganzes Mitgefühl. Aber Ihrer Mutter wäre, soviel ich weiß, ohnehin nicht viel Zeit ge…«
»Stimmt«, schnitt ihm Jeffrey das Wort ab. In seinem Ton schwang Ärger mit. »Aber wie hoch ist der Preis für ein halbes Jahr? Eine Woche? Einen Tag? Ja, eine Minute? Für ein Kind ist jede Sekunde kostbar.«
Manson lächelte. »Professor, mir scheint, Sie stellen Fragen, die Ihre Mutter bereits mutig beantwortet hat, und alle weiteren Fragen können ihr Verdienst nur schmälern.«
Jeffrey schloss für einen Moment die Augen. Dann nickte er. »Sie sind ein sehr cleverer Mann, Mr. Manson«, musste er zugeben. »Auf Ihre Weise stehen Sie meinem Vater in nichts nach.«
Manson lächelte weiterhin. »Ich nehme an, das war als Kompliment gemeint. Sie verlassen uns bald? Heute wäre ein guter Tag dafür.«
»Er hat diesen Brief nie an die Zeitungen geschickt, oder? Denjenigen, der Sie so in Panik versetzt hat. Und der uns zu seinem Hause geführt hat. Aber Sie hatten noch mal Glück, nicht wahr? Die ganze Wucht dieser negativen Publicity ist Ihnen erspart geblieben.«
»Nein«, sagte Manson und schüttelte den Kopf. »Er hat diesen Brief nicht abgeschickt. Da haben wir wirklich Glück gehabt.«
»Fragt sich bloß, wieso nicht«, warf Susan ein.
»Es gibt mit Sicherheit einen Grund«, überlegte Jeffrey. »Es gab für alles einen Grund. Wir wissen lediglich nicht, was es in diesem Fall war.«
Er wandte sich an den Politiker, der auf einem unbequemen Sessel saß, vor Freude über die glückliche Wendung des Schicksals jedoch gegen solche Unannehmlichkeiten völlig unempfindlich schien.
»Sie wissen so gut wie ich, dass er gewonnen hätte. Er lag absolut, hundertprozentig richtig in Bezug auf die Wirkung, die sein Brief gehabt hätte. Sie hätten das nächste halbe Jahr damit zugebracht, jedem Käseblatt der Nation fadenscheinige Entschuldigungen und Lügen aufzutischen. Und die Kongressabstimmung? Ich weiß nicht.«
»Oh«, machte Manson mit einer dezenten, abwinkenden Handbewegung. »Das war mir klar. Das war mir schon lange klar. Die öffentliche Meinung ist wankelmütig. Sicherheit ist eine fragile Angelegenheit. Man kann nur bis zu einem gewissen Punkt die Wahrheit verschleiern. Irgendwann kommt sie ans Licht oder, schlimmer noch, es entsteht eine Art Mythos, ein Gerücht oder etwas, das man eine urbane Legende nennt. Für mich, Professor, ist die einzige Frage, die bleibt: Wieso hat er erst alles darangesetzt, Sie, Ihre Schwester und Ihre verstorbene Mutter hierherzubringen; wieso hat er alles getan, um die Entstehung dieses Bundesstaates zu torpedieren, und dann doch nicht die letzte Konsequenz gezogen? Die ihm tot oder lebendig den gewünschten Erfolg gebracht hätte? Das finde ich höchst eigenartig, Sie nicht?«
»Das macht mir zu schaffen«, gab Jeffrey zu.
Manson lächelte. Er stand auf und streckte die Glieder. »Nun ja«, meinte er in einem Ton, der das Ende der Diskussion signalisierte. »Diese Sorge können Sie mit nach Hause nehmen.« Er nickte Susan Clayton noch einmal zu und verließ, ohne ihnen die Hand zu schütteln, den Raum.
Nicht weit von Lake Placid, tief im Herzen der Adirondack Mountains, gibt es eine Stelle, die man den Bear Pond nennt und die nur mit einem Kanu über den größeren Upper Saint Regis Lake zu erreichen ist. Die Fahrt führt an den handgeschlagenen Holzblöcken der großen, uralten Anwesen vorbei, die sich das ganze Ufer entlang erstrecken, bis man zwischen dem Spalier der dunkelgrünen Kiefern und Fichten an einen kleinen Landesteg gelangt. Dort muss man das Kanu eine halben Meile weit auf einem schmalen Pfad zu einem kleineren, morastigen Gewässer tragen, das sich über seine gesamte Ausdehnung in eine dichte Seerosendecke und in Schweigen hüllt. Dieser kleinere See ist namenlos. Dann gibt es noch einen zweiten Pfad, auf dem man das Kanu schultern muss: keine achtzig Meter lang, von Kiefernnadeln und dem ersten weißen Pulverschnee bedeckt, der in diesem Teil der Welt mit dem Polarwind aus dem Norden kommt und einen strengen Winter verspricht, denn in dieser Gegend sind alle Winter streng. Am Ende dieses zweiten Pfads beginnt der Bear Pond. Das Ufer ist felsig – grauer Granit, der in die leuchtend grünen Wälder rings um den See übergeht. Das Wasser ist kristallklar und tief; in dieser verborgenen Welt entdeckt man die reglosen, schimmernden Gestalten der Regenbogenforellen. Es ist ein Ort, der nur wenige Kompromisse kennt; von einer frostigen Schönheit und einer Stille, die nur gelegentlich vom überirdischen Lachen eines Seetauchers unterbrochen wird. Fischadler kreisen in der eisblauen Luft über dem kleinen See und lauern auf die eine oder andere Forelle, die sich tollkühn allzu dicht an die Oberfläche wagt.
Es war Susans Idee gewesen, Dianas Asche hierher zu bringen.
Bruder und Schwester hatten einen alten Angelführer gefunden, der sich bereit erklärte, sie zu begleiten. Der Morgen war klar, es lag Frost in der Luft. Die Seen waren noch nicht vereist; nur eine kleine Brise, ein kalter Wind, der durch den strahlenden Sonnenschein stob, erinnerte daran, dass diese Welt bald ihre Pforten schließen würde. Die Feriendomizile der Reichen, vor einem Jahrhundert von den Rockefellers und den Roosevelts erbaut, waren jetzt verbrettert und verwaist.
Sie waren allein auf dem See.
Der Führer übernahm das Heck, Jeffrey den Bug, und im Takt paddelten sie zügig gegen die Kälte an. Während die aschfarbenen Paddel ins eisige Wasser tauchten, saß Susan, ein kleines Metallkästchen mit der Asche ihrer Mutter in der Hand, in der Mitte des Kanus unter einer rot karierten Decke und lauschte auf das rhythmische Plätschern des Wassers an der Bootswand.
Als sie das Ufer des Bear Pond erreichten, schien die Brise sich zu legen. Das Kanu knirschte auf dem Kies, und Susan entdeckte das erste dünne Eis, das sich am Rand des Wassers bildete. Der Führer ließ sie allein, um in der Mitte einer bescheidenen Lichtung den nassen Schnee beiseitezuräumen und ein kleines Feuer vorzubereiten.
»Wir sollten etwas sagen«, schlug seine Schwester vor.
»Wozu?«, entgegnete Jeffrey.
Seine Schwester nickte, holte mit dem Arm aus und streute die Asche in großem Bogen in den See.
Sie blieben eine Weile stehen und sahen zu, wie die Asche sich ausbreitete und schließlich wie Rauchwölkchen im klaren Wasser unterging.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Jeffrey.
»Ich denke, ich gehe nach Hause, wo es die ganze verdammte Zeit über warm ist, und sobald ich da bin, werfe ich mein Skiff an. Dann fahre ich bis zu einer seichten Stelle, wo sonst keiner hinkommt, und lasse mich einfach treiben. Ich genieße die Salzluft, bis sich ein alter Pompano blicken lässt, der nach einem Leckerbissen sucht und mir nicht allzu viel Beachtung schenkt. Dann halte ich ihm eine kleine Krabbenfliege direkt unter die Feinschmeckernase und bereite ihm eine Überraschung, wenn er den verdammten Haken zu spüren bekommt. Ich denke, das werde ich tun.«
Jeffrey schmunzelte; er zog gegen die wachsende Kälte die Schultern hoch. »Klingt vernünftig«, meinte er.
»Und du?«, wollte Susan wissen.
»Zurück in den Sklavendienst. Lege die Themen für meine Lehrveranstaltungen fest. Bereite die Seminare fürs Semester vor. Lass mich auf endlose, unglaublich langweilige und letztlich fruchtlose Diskussionen mit den Institutskollegen ein. Stehe für den nächsten Haufen undankbarer, ungebildeter und zumeist verhätschelter Studenten bereit, die an die Uni kommen. Klingt nicht halb so aufregend wie das, was du vorhast.«
Susan lachte. »Zeigt nur, wie sehr wir uns unterscheiden. Nehme ich zumindest an.«
Sie blickte in die endlose Weite des blauen Himmels. »Es ist so klar«, seufzte sie. »Aber ich glaube, es gibt bald heftigen Schnee.«
»Noch heute Abend«, stimmte Jeffrey zu. »Spätestens morgen.«
Sie kehrten zusammen dem See den Rücken.
»Jetzt sind wir wohl Waisen«, sagte sie.
Einhundertsieben Studenten hatten sich für seinen Einführungskurs über Verhaltensstörungen eingeschrieben – den »Mordsspaß« ließ sich keiner entgehen. Er hielt seine üblichen Vorträge über vorsätzlichen Mord und krankhafte Täter und baute einen Exkurs über das Wutsyndrom und Massen mörder ein. Er widmete eine ganze Stunde dem Düsseldorfer Mörder Peter Kürten, der im Einundfünfzigsten Bundesstaat seinem Vater Pate gestanden hatte. Er fragte sich, wieso sein Vater ausgerechnet diesen Mörder zu solchen Ehren kommen ließ. Kürten war ein Unmensch gewesen, war selbst aus einer inzestuösen Beziehung und Missbrauch hervorgegangen, ein Perverser mit charmanten Manieren, der seinen Opfern nicht die geringsten Gefühle entgegenbrachte – mit Ausnahme des letzten Mädchens, das er unerklärlicherweise aus der Folter entließ, nachdem sie ihn angefleht und ihm das Versprechen gegeben hatte, keiner Menschenseele zu erzählen, was er ihr angetan hatte. Wieso er beschloss, sie gehen zu lassen – nachdem zweifellos ein Dutzend anderer nicht minder verzweifelt um Gnade gebettelt hatten – blieb sein Geheimnis. Natürlich war sie geradewegs zur Polizei gelaufen, die wiederum direkt zu Kürten marschierte und ihn zusammen mit seinen Anhängseln verhaftete. Er hatte nicht den geringsten Fluchtversuch unternommen, noch es der Mühe wert gefunden, sich im anschließenden Gerichtsverfahren zu verteidigen. Der bleibende Eindruck, der sich Kürtens Scharfrichtern einprägte, war das Gefühl, dass ihn erregte, sich vorzustellen, wie sein eigenes Blut aus ihm herausspritzte, nachdem das Fallbeil seinen Hals durchtrennt hätte. Kürten schritt grinsend zum Schafott.
Sein Vater, so glaubte Jeffrey, hatte das Böse verehrt.
Die Klausur zur Semesterhalbzeit bestand in einem Essay, der auf Prüfungsbögen innerhalb einer Stunde verfasst werden musste. Die Studenten strömten schweigend in den Hörsaal und machten mürrische Gesichter, als empörte sie die Zumutung, ihre Kenntnisse unter Beweis stellen zu müssen. Sie füllten die Reihen, während er auf die Uhr sah und die Zeit im Auge behielt. Er ließ die allseits bekannten Mappen mit den Prüfungsbögen austeilen und sah zu, wie die Studenten ihre Namen auf die Hüllen schrieben.
»Also«, sagte er. »Es wird nicht geredet. Falls Sie einen zusätzlichen Bogen brauchen, heben Sie die Hand, und ich bringe Ihnen einen. Noch Fragen?«
Ein Mädchen mit gegelter Stachelschweinfrisur hob die Hand. »Können wir gehen, falls wir früher fertig sind?«
»Wenn Sie wollen«, erwiderte Jeffrey. Er nahm an, dass sie entweder einen anderen Termin hatte oder nicht vorbereitet war und nicht den halben Vormittag damit vergeuden wollte, herumzusitzen, ohne die Fragen beantworten zu können. Er schaute sich noch einmal um und sah sonst keine erhobenen Hände. Er ging zur Tafel und fing an, etwas zu schreiben. Er hasste diesen Moment, in dem er mehr als hundert Studenten den Rücken kehren musste, die allesamt wütend waren, eine Klausur schreiben zu müssen. Vollkommen ungeschützt, dachte er. Wenigstens hatte es an diesem Morgen keinen Alarm gegeben.
In der Ecke des Hörsaals saß ein Mann des Campus-Sicherheitsdienstes auf einem Stahlrohrstuhl. Jeffrey hatte sich angewöhnt, zu jeder Prüfung einen Polizisten anzufordern. Der Officer trug kugelsichere Kleidung und ließ einen langen Schlag stock aus Graphit zwischen den Beinen baumeln. Seine Maschinenpistole hing ihm über der Schulter. Der Mann sah gelangweilt aus, und bevor Jeffrey sich zur Wandtafel drehte, gab er ihm mit dem Kopf ein Zeichen, wachsamer auf die Studenten zu achten.
Die Klausur umfasste zwei Teile. Im ersten Teil mussten die Studenten die Menschen charakterisieren und zuordnen, deren Namen Jeffrey an die Tafel schrieb. Es handelte sich dabei um eine Reihe von Mördern, die er alle in seinen Vorlesungen behandelt hatte. Der zweite Teil bestand aus einem Essay zu einer von zwei Fragen:
Auch wenn Charles Manson
keinem Mörder die Hand führte, wurde er dennoch wegen Mordes
verurteilt. Erklären Sie die Gründe und beschreiben Sie, welchen
Einfluss er auf die Täter hatte, die entsprechende Verbrechen
verübten. Erklären Sie, inwiefern dies Manson von anderen Mördern,
über die wir gesprochen haben, unterscheidet.
Erklären Sie Ted Bundys Attacke im Haus der
Chi-Omega-Studentenverbindung und vergleichen Sie dieses Verbrechen
mit Richard Specks Mord an den acht Nonnen in Chicago. Beschreiben
Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Welchen Einfluss hatten diese
Verbrechen jeweils auf das soziale Umfeld?
Er war mit der Aufgabenstellung fertig und kehrte von der Tafel zu seinem Pult zurück. Während die Studenten sich an die Arbeit machten, griff er nach der Tageszeitung. Quer über den unteren Rand der Titelseite fand er einen Artikel, der ihn deprimierte.
Ein Professor für Romanistik am benachbarten Smith College war am Abend zuvor auf seinem Weg über den Campus nach Einbruch der Dunkelheit erschossen worden. Offenbar hatte sich der Mörder von hinten angeschlichen, eine kleinkalibrige Pistole gezogen und einen einzigen Schuss in die Schädelbasis abgegeben, bevor er unentdeckt in die Nacht entschwand. Die Polizei vernahm zahlreiche derzeitige und ehemalige Studenten des Professors. Insbesondere diejenigen, die in seinen Seminaren durchgefallen waren. Er hatte zu den wenigen Kollegen gehört, der in einer Zeit, in der selbst klägliche Arbeiten gute Noten einbrachten, dafür bekannt war, streng zu zensieren.
Jeffrey las weiter, bis er zum Sportteil kam – schon wieder ein Bestechungs- und Punktabzugsskandal bei der Basketballmannschaft. Er schlug den Lokalteil auf. Noch während er die Zeitung durchstöberte, schlossen die ersten Studenten die Klausur ab. Er hatte eine kleine Plastikbox vor dem Podium auf den Boden gestellt. Sie warfen die blauen Mappen hinein und verließen den Saal. Gelegentlich verweilte jemand an der Tür, und Jeffrey schnappte ein paar Wortfetzen, ein Lachen oder eine Beschwerde auf. Als schließlich die Klingel das Ende der Stunde einläutete, war der Hörsaal leer.
Er sammelte die Mappen ein, bedankte sich bei dem gelangweilten Polizisten und kehrte in sein kleines Büro im Psychologischen Institut zurück. Wie immer zählte er die Klausuren, bevor er mit den Korrekturen begann, um zu überprüfen, ob jeder Student seine Arbeit abgegeben hatte.
Er war überrascht, als seine Strichliste auf einhundertacht Einträge kam.
Er warf einen neugierigen Blick auf den Stapel. Einhundertsieben Studenten im Kurs. Niemand hatte um einen zweiten Klausurbogen gebeten. Dennoch einhundertacht Ergebnisse. Sein erster Gedanke war, dies könne nur Teil eines ausgeklügelten Täuschungsmanövers sein. Es wäre nicht der erste Versuch. Bei einigen der kreativeren Tricks hatte Jeffrey sich gefragt, wieso diese Studenten nicht dieselbe Zeit aufs Lernen verwendet und sich den Betrugsversuch erspart hatten. Doch es lag zum Teil, so hatte er längst begriffen, auch in der Natur des modernen Bildungswesens selbst, dass Pfuschen reizvoller als Lernen schien.
Er zählte noch einmal. Es blieb beim selben Ergebnis.
Jeffrey blätterte den Stapel durch und war gespannt, was sich jemand bei diesem Manöver gedacht hatte, als er sah, dass auf einer der blauen Mappen der Name fehlte. Er seufzte und vermutete, er hätte versehentlich eine leere zu den ausgefüllten gelegt. Er zog sie aus dem Stapel.
Nur um sicherzugehen, schlug er sie auf.
In der Mappe lag ein handgeschriebener Zettel:
Offensichtlich wäre es ein Leichtes, den
Professor zu töten, der einem so viel genommen hat. Eine
Möglichkeit bestünde darin, das wahre Motiv für den Mord zu
verschleiern. Zu diesem Zweck könnte man etwa wahllos Professoren
nahegelegener anderer Universitäten und Colleges töten. Erst zwei
andere, dann die eigentliche Zielperson und dann noch einmal zwei.
Du wirst dieses Schema zweifellos erkennen, Professor. Bei Agatha
Christie findest du es in Die Morde des Herrn ABC.
Geschrieben 1935, vor fast einem Jahrhundert. In diesem Buch
gelingt es einem klugen Belgier, einem Mann, der eine romanische
Sprache spricht, das Komplott zu durchschauen. Ich frage mich, ob
der Roman noch aufgelegt wird. Und ich frage mich auch, ob
irgendjemand bei der hiesigen Polizei so klug ist wie Hercule
Poirot. Aber das ist nur eine Idee.
Ich wüsste noch andere Möglichkeiten.
Unser Vater hat mir eine Menge beigebracht. Er hat mir immer
eingeschärft, ich müsste mir eine umfassende Bildung zulegen, um es
mit dem Professor Tod aufzunehmen. Die neue Welt zu vernichten, in
der ich groß geworden bin, ist vermutlich weniger schwierig, und
deshalb denke ich, dass ich entweder morgen oder auch erst nächstes
Jahr in den Einundfünfzigsten Staat zurückkehre. An unserem letzten
gemeinsamen Abend habe ich mich mit unserem Vater darüber
ausgetauscht, wie ich ihre selbstgefällige Wahnvorstellung
vollkommener Sicherheit gründlich zunichtemachen kann.
Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich mich wieder bei dir
melde, wenn ich so weit bin.
Die Nachricht war nicht unterzeichnet, was ihn nicht überraschte.
Jeffrey Clayton hatte das Gefühl einer großen Leere. Es hatte nichts mit der Angst vor einer Bedrohung zu tun oder auch nur mit Enttäuschung. Er hatte das Gefühl, mit einem Schlag viel gelernt zu haben, und ihm kam der Gedanke, dass Wissen vielleicht das Einzige war, was ihn von seinem Vater und Männern seines Schlages unterschied.
Er spürte, wie sich sein Gesicht zu einem trockenen Lächeln verzog, als er endlich begriff, wieso sein Vater seinen sensationellen Brief an die Zeitungen nicht abgeschickt hatte. Weil er wusste, was er hinterließ. Eine andere Art von Vermächtnis. Und was er hinterlassen hatte, besaß das Potenzial, seine ei genen Fähigkeiten bei weitem zu übertreffen. Väter und Söhne.
Jeffrey legte die Mappe beiseite. Er begrüßte die Information, so beunruhigend sie war, mit einem kühlen, unerbittlichen Enthusiasmus. Er starrte ein letztes Mal auf die Botschaft und erkannte, dass der tote Professor auf der Titelseite der Morgenzeitung die handschriftliche Notiz ergänzte. Er vermu tete, dass er eigentlich Angst haben sollte, stellte jedoch fest, dass ihn die Situation faszinierte und beflügelte.
Er schüttelte den Kopf. Es sei denn, ich finde dich zuerst, sagte er stumm zu dem Phantom seines Bruders.