24. KAPITEL
Der letzte freie Mann
Als im Haus die Lichter angingen, verschlug es Diana Clayton den Atem, und Susan brachte nur ein kurzes »Gott!« heraus, als sei vor ihnen in der Dunkelheit ein Feuer ausgebrochen.
Beide Frauen wichen von der erleuchteten Rasenfläche zurück, um nicht genau an der Stelle, an der vor wenigen Minuten Jeffrey gezögert hatte, gesehen zu werden. Susan ließ langsam das Nachtsichtgerät sinken und warf es zu Boden. »Das bringt nichts mehr«, murmelte sie.
Diana kroch zu der Stelle und hängte sich das Fernglas um. Die beiden Frauen lagen zwischen wildem Gestrüpp bäuchlings auf dem modrig feuchten Boden, der nach faulenden Blättern roch. Das Haus in der Mitte der Lichtung strahlte weiter in einer gespenstischen Helligkeit, als verspottete es die Nacht.
»Was ist da los?«, flüsterte die ältere Frau.
Susan schüttelte den Kopf. »Entweder hat Jeffrey drinnen irgendeinen Alarm ausgelöst, bei dem automatisch jede Lampe im Haus angeht, oder aber sie haben alles angeschaltet und Jeffrey erwischt. So oder so ist er drinnen, und wir haben noch keine Schüsse gehört, ich vermute also, dass die Sache funktioniert …«
»Dann müssen wir zusehen, dass wir hinters Haus kommen«, meinte Diana.
Susan nickte. »Lauf möglichst gebückt. Und so leise, wie du kannst. Los geht’s.«
Sie bewegte sich zügig durch das dichte Unterholz der Bäume und das Gestrüpp und nutzte das gedämpfte Licht, das vom Haus her durch die Äste sickerte. Einen Moment lang kam es Susan unheimlich vor, dass die Lampen vom Haus den Mond überstrahlten. Es gab ihr das Gefühl, als seien sie nicht mehr allein, sondern ständig in Gefahr, entdeckt zu werden. Sie bewegte sich, vornübergebeugt, geschickt und schnell, indem sie wie ein nachtaktives Tier, das vor dem Morgengrauen flüchtet, von einem Baum zum nächsten huschte, um nicht gesehen zu werden. Hinter ihr kämpfte sich ihre Mutter durch das Unterholz, indem sie Zweige und Büsche zur Seite bog und gelegentlich einen Kraftausdruck vom Stapel ließ, wenn sie mit den Kleidern an Dornen hängen blieb oder ein Zweig zurückschnellte und sie im Gesicht traf. Susan drosselte ihr Tempo aus Rücksicht auf ihre Mutter, wenn auch nur ein wenig, denn sie wusste nicht, ob ihnen viel Zeit blieb oder keine; ihr Instinkt hämmerte ihr ein, sich zu beeilen, wenn auch nicht zu hetzen, ein heikler Unterschied, dachte sie, wenn das Leben von Menschen auf dem Spiel steht.
Sie blieb einen Moment mit dem Rücken an einen Baum gelehnt stehen, allerdings nicht vor Erschöpfung. Während sie wartete, bis Diana sie eingeholt hatte, bemerkte sie nicht weit von ihr eine beinahe unsichtbare Infrarotkamera, kaum fünfzehn Zentimeter lang, wie ein winziges Teleskop. Doch sie nahm es als ein böses Zeichen und wusste, dass sie aus triftigen Gründen dort hing. Dass sie sie entdeckt hatte, war reines Glück. Wahrscheinlich hatte sie auf ihrer Pirsch durch den Wald den Strahl von einem halben Dutzend anderer Vorrichtungen gekreuzt. Alle drei hatten sie damit gerechnet. Es war Aufgabe ihres Bruders, die Menschen im Haus beschäftigt zu halten, so dass sie die zweite Angriffswelle überraschend traf.
Diana sackte neben ihr an einen Stamm, und Susan zeigte auf die Kamera.
»Meinst du, sie haben uns gesehen?«, fragte Diana.
»Nein, ich glaube, sie interessieren sich mehr für Jeffrey.« Was sie tatsächlich glaubte, sprach sie nicht aus: Falls ihr Bruder sich in diesem Punkt geirrt hatte, starben sie vielleicht alle in dieser Nacht.
Diana Clayton nickte und flüsterte: »Lass mir nur einen Moment, damit ich wieder zu Atem komme …«
»Alles in Ordnung, Mutter? Geht’s noch?«
Diana griff nach Susans Hand und drückte sie fest. »Werd’ nur langsam ein bisschen alt. Bin offenbar nicht ganz so fit für eine Nachtwanderung mitten durch den Wald wie du. Also, auf geht’s.«
Susan überlegte, was sie antworten sollte, doch alles schien völlig aberwitzig, wenn auch nicht aberwitziger als die Tatsache, dass ihre todkranke Mutter sich mit mörderischer Entschlossenheit durch dieses Dickicht kämpfte. Sie warf einen einzigen verstohlenen Blick auf Diana, wie um die Kraftreserven der älteren Frau zu taxieren. Doch sie wusste, dass ein Blick dafür nicht genügte und dass es außerdem in der Natur von Kindern lag – wie erwachsen sie auch waren –, ihre Eltern grundsätzlich entweder für stärker oder für schwächer zu halten, für idealer oder fehlerhafter, als sie tatsächlich waren. Und so vertraute Susan einfach darauf, dass ihre Mutter über Energien verfügte, von denen sie nichts ahnte.
Sie drehte sich um und spähte wieder zum Haus ihres Vaters hinüber. Ihr kam der Gedanke, dass sie noch vor wenigen Wochen ihrem Bruder ziemlich verworrene Gefühle entgegengebracht hatte und sich nunmehr bewaffnet durch feuchtes Moos und struppiges Gebüsch vorankämpfte, während er sich der allergrößten Gefahr aussetzte und darauf vertraute, dass sie die Situation zu seinen Gunsten wendete. Sie biss sich heftig auf die Lippe und lief weiter.
Diana folgte ihrer Tochter und umschiffte alle Hindernisse. Ausgerechnet in diesem Moment kam ihr der seltsamste Gedanke: Susan war so schön, wie sie ihre Tochter noch nie gesehen hatte. Dann peitschte ein Zweig zurück, sie duckte sich und murmelte einen Fluch, bevor sie weiterlief.
Die Waffen fest im Griff, kämpften sie sich langsam, aber sicher weiter zwischen den Bäumen voran zur Rückseite des Hauses und hofften, dass sie von drinnen nicht gesehen wurden.
Jeffrey saß auf der Kante eines üppigen, dunklen Ledersofas im großen Wohnzimmer seines Vaters, inmitten teurer Gemälde an den Wänden, einer Mischung aus moderner Kunst mit leuchtend bunten Farben, die sich über weiße Leinwand ergossen, und traditioneller Kunst des Westens – Cowboys, Indianer, Siedler sowie Pferdewagen der Kolonialzeit in romantisierten edlen Posen. Der ganze Raum mit seiner hohen Decke war voller kleiner Kunstgegenstände: indianische Vasen und Schalen; eine handgetriebene Kupferlampe mit brüniertem Schirm; echte, antike Navajo-Teppiche. Auf einem Sofatisch aus Glas rollte sich neben einem Buch von Georgia O’Keeffe eine mumifizierte Klapperschlange ein und zeigte im aufgerissenen Maul die spitzen Zähne. Es war der Raum eines reichen Mannes und die gewagte Mischung aus verschiedenen Stilen und Formgebungen, die dennoch einen exquisiten, kultivierten Geschmack verriet. Jeffrey bezweifelte, dass es in diesem Haus irgendwelche Reproduktionen gab.
Sein Vater saß ihm gegenüber in einem Sessel aus Holz und >Leder. Jeffreys kugelsichere Weste, die Maschinen- und die halbautomatische Pistole lagen zu seinen Füßen. Caril Ann Curtin stand direkt hinter ihrem Mann, eine Hand auf seiner Schulter, in der anderen immer noch eine kleine halbautomatische Waffe, entweder Kaliber zweiundzwanzig oder fünfundzwanzig, schätzte er, mit einem Schalldämpfer ausgestattet. Die Waffe eines Attentäters, dachte er. Eine Waffe, die heimlich und mit einem kaum hörbaren dumpfen Knall traf. Beide waren schwarz gekleidet; sein Vater in Jeans und einem Rollkragenpullover aus Kaschmir, Caril Ann in Steghose und einem handgestrickten Wollpullover. Sowohl der Erscheinung als der Ausstrahlung nach wirkte er jünger, als er tatsächlich war. Er war äußerst drahtig, immer noch athletisch; hatte eine weiche Haut, die sich straff über den Muskelpaketen spannte. Seine Bewegungen waren von einer raubtierartigen Geschmeidigkeit und einer lässigen Eleganz, die für Kraft und Schnelligkeit sprachen. Er stieß mit der Zehe gegen die auf den Boden gehäuften Waffen, und machte ein angewidertes Gesicht.
»Bist du hergekommen, um mich zu töten, Jeffrey? Nach all den Jahren?«
Jeffrey hörte seinen Vater reden und merkte, wie der Ton an alte Erinnerungen rührte, so wie einem nach Jahren plötzlich ein gefährlicher Moment hinter dem Lenkrad wieder vor Augen steht, eine vereiste Autobahn, auf der man ins Schleudern geriet und nur mit knapper Not überlebte.
»Nein, nicht unbedingt. Aber zumindest bereit, dich zu töten«, antwortete er bedächtig.
Sein Vater lächelte. »Willst du damit sagen, selbst wenn dein ziemlich stümperhaftes Eindringen ins Haus von uns nicht bemerkt worden wäre, hättest du mich nicht automatisch erschossen?«
»Ich war noch zu keinem Schluss gekommen.« Jeffrey schwieg, dann fügte er hinzu: »Bin ich immer noch nicht.«
Der Mann, der jetzt als Peter Curtin und früher als Jeffrey Mitchell bekannt war und zwischendurch vermutlich unter anderem Namen gelebt hatte, schüttelte den Kopf und warf seiner Frau einen Blick zu, die ihn nicht erwiderte, sondern den abendlichen Eindringling mit dem ungezügelten Hass eines Gespenstes anstarrte.
»Nein, tatsächlich? Du hast ernsthaft geglaubt, dass diese Nacht vorübergehen könnte, ohne dass einer von uns stirbt? Das kann ich kaum glauben.«
Jeffrey zuckte die Achseln. »Glaub, was du willst«, entgegnete er brüsk.
»Da hast du nun wieder recht«, stimmte Peter Curtin zu. »Ich habe immer geglaubt, was ich wollte. Und auch getan, was ich wollte.« Er sah seinem Sohn mit einem stahlharten Blick in die Augen. »Ich bin vielleicht der letzte wirklich freie Mann. Mit Sicherheit der letzte freie Mann, dem du begegnen wirst.«
»Kommt ganz darauf an, wie man Freiheit definiert«, gab Jeffrey zu bedenken.
»Meinst du wirklich? Dann sag mir eins, Jeffrey. Du hast unsere Welt hier gesehen. Verlieren wir nicht jede Minute und jeden Tag Stück für Stück unsere Freiheit? Und zwar, indem wir hinter Mauern und Sicherheitsvorkehrungen leben müssen, um unsere letzten Freiheiten zu verteidigen, oder aber indem wir hierher, in diesen neuen Staat ziehen, der seine Mauern in Form von Vorschriften und Gesetzen errichtet. Die mir alle nichts anhaben können. Nein, diese Freiheiten sind Illusionen. Meine sind real.«
Er sagte das mit einer Kälte, die den Raum ausfüllte. Jeffrey dachte, er sollte eigentlich etwas antworten, etwas dagegenhalten, doch er blieb stumm. Er wartete, bis das leicht schiefe, höhnische Grinsen um die Mundwinkel seines Vaters verschwunden war und sein Ausdruck neutral zu sein schien.
»Wir vermissen deine Mutter und deine Schwester«, sagte Peter Curtin nach einer Weile. Jeffrey bemerkte einen leichten Singsang in seinem Tonfall, eine Mischung aus Sarkasmus und spöttelnder Selbstgefälligkeit. »Ich hatte mich auf euch gefreut. Dann wären wir alle wieder beisammen.«
»Du hast doch nicht wirklich erwartet, dass ich sie mitkommen lasse?«, erwiderte Jeffrey prompt.
»Ich war mir nicht sicher.«
»Sie ohne Not der Gefahr aussetzen? So dass du uns alle hintereinander mit drei Kugeln töten kannst? Meinst du nicht, ich hätte es für klüger gehalten, dafür zu sorgen, dass du dir jeden Tod von uns ein bisschen schwerer erkaufen musst?«
Peter bückte sich nach Jeffreys großer Neun-Millimeter-Pistole und zog sie langsam aus dem Holster. Er betrachtete die Waffe eine Weile, als fände er daran etwas seltsam, dann schob er wie beiläufig eine Ladung ein, entsicherte und zielte direkt auf Jeffreys Brust.
»Erschieß ihn jetzt«, zischte Caril Ann Curtin. Zur Ermunterung drückte sie die Schulter ihres Mannes so fest, dass ihre Knöchel weiß von seinem Pullover abstachen. »Töte ihn jetzt.«
»Du hast dir keine besondere Mühe gegeben, mir deinen eigenen Tod ein bisschen schwerer zu machen, oder?«, fragte sein Vater.
Jeffrey starrte in den Lauf der Pistole. In ihm tobten zwei gegensätzliche Gedanken. Er wird es nicht tun. Noch nicht. Er hat von mir noch nicht bekommen, was er haben will. Und dann ebenso heftig: Doch, das hat er. Hier werde ich sterben. Er holte tief Luft und antwortete so teilnahmslos, wie es ihm mit ausgedörrter Kehle und trockenen Lippen gelang: »Meinst du nicht, wenn ich mein Eindringen in dieses Haus so lange und sorgsam geplant hätte wie du deine Morde, dass dann ich jetzt die Waffe in der Hand halten würde und nicht du?« Er sprach mit Bedacht und gab sich alle Mühe, dass seine Stimme nicht zitterte.
Peter Curtin ließ die Waffe sinken. Seine Frau gab ein leises Stöhnen von sich, rührte sich jedoch nicht vom Fleck.
Als Peter Curtin lächelte, zeigte er glänzende, vollkommen weiße, ebenmäßige Zähne. Er zuckte die Achseln. »Du stellst die typischen Fragen eines Akademikers, der du schließlich auch bist. Mit hübschen rhetorischen Schnörkeln, stelle ich fest. Dieser Ton macht sich zweifellos im Hörsaal gut. Ich frage mich, ob die Studenten an deinen Lippen hängen. Und die jungen Frauen – vielleicht beschleunigt sich ihr Puls, und sie werden feucht zwischen den Beinen, wenn du in den Übungsraum schlenderst? Ich wette ja.« Er lachte und griff nach der Hand seiner Frau, die auf seiner Schulter ruhte. Dann fuhr er in einem kälteren und berechnenderen Ton fort: »Du stellst hier Mutmaßungen über meine Wünsche an, die zutreffen mögen oder auch nicht. Vielleicht hege ich weder gegen Diana noch gegen Susan böse Absichten.«
»Ach ja?«, fragte Jeffrey und zog eine Braue hoch. »Ich denke doch.«
»Nun denn, das wird sich zeigen, nicht wahr?«, antwortete sein Vater.
»Du wirst sie nicht noch einmal finden«, entgegnete Jeffrey trotzig und legte alle Überzeugungskraft in seine Lüge.
Sein Vater schüttelte langsam den Kopf. »Selbstverständlich werde ich das, wenn ich will. Ich habe jede andere Entscheidung, die du getroffen hast, vorausgesehen, Jeffrey, jeden einzelnen Schritt. Ich war mir lediglich nicht sicher, ob du heute Abend allein hier hereinpoltern und jeden nur denkbaren Alarm auslösen würdest oder ihr drei zusammen. Das Problem war, dass ich letztlich nicht sagen konnte, wie feige du tatsächlich bist.«
»Ich bin gekommen, richtig?«
»Du hattest keine Wahl. Nein, lass es mich anders sagen: Ich habe dir keine Wahl gelassen …«
»Ich hätte dir ein SWAT-Team auf den Hals schicken können.«
»Und dir diese Konfrontation entgehen lassen? Nein, ich glaube nicht. Das war nie wirklich eine Option, weder für dich noch für deine Mutter, noch für deine Schwester.«
»Sie sind in Sicherheit. Susan kümmert sich um Mutter. Die nimmt es sowieso jederzeit mit dir auf. Und außerdem findest du sie nicht. Diesmal nicht. Nie wieder. Ich habe sie an einen vollkommen sicheren Ort geschickt …«
Peter Curtin brach in ein wieherndes, kaltes Lachen aus. »Und wo bitte schön soll das sein? Das hier ist angeblich der letzte sichere Ort. Und ich habe allen gezeigt, was für eine kolossale Lüge sie da verbreiten.«
»Du wirst sie nicht finden. Sie sind gänzlich außer deiner Reichweite. So viel habe ich von dir gelernt.«
»Ich würde meinen, ich hätte dir in den letzten Wochen gezeigt, dass nichts außerhalb meiner Reichweite liegt.«
Wieder lächelte Peter Curtin. Jeffrey holte tief Luft und beschloss, zu einem schnellen, wirkungsvollen Gegenstoß auszuholen.
»Du hast eine zu hohe Meinung von dir …« Er hatte schon das Wort Vater auf den Lippen, schluckte es aber herunter. Er beeilte sich, die plötzliche Stille zu füllen, und fügte hinzu: »Das ist bei Mördern wie dir durchaus kein seltenes Phänomen. Ihr wiegt euch in dem illusorischen Glauben, etwas Besonderes zu sein. Einmalig. Außergewöhnlich. In Wahrheit ist natürlich das genaue Gegenteil der Fall. Ihr seid einer von vielen. Jeder ein Routinefall.«
Peter Curtins Gesicht verdunkelte sich für einen Moment, er kniff die Augen zusammen, als starrte er plötzlich an Jeffreys Worten vorbei direkt in seine Gedankengänge. Doch ebenso, wie der Ausdruck gekommen war, wich er wieder dem Grinsen und einem amüsierten Ton. »Du reizt mich. Du willst mich wütend machen, bevor ich dazu bereit bin. Ist das nicht typisch Kind? Die Schwächen der Eltern aufdecken und sich zunutze machen. Aber ich vergesse meine gute Erziehung. Bis jetzt hast du deine Stiefmutter erst in ihrer Effizienz kennengelernt. Caril Ann, Liebes, das ist Jeffrey, von dem ich dir so viel erzählt habe …«
Die Frau rührte sich nicht und bequemte sich auch zu keinem Lächeln. Sie starrte Jeffrey Clayton nur weiter mit unverhohlener Wut an.
»Und mein Halbbruder?«, fragte Jeffrey. »Wo mag der wohl stecken?«
»Ach, ich denke, das wirst du früher oder später erfahren.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Er ist nicht hier. Er ist fort … hm, zum Studium.«
Die beiden Männer verfielen für einen Moment in Schweigen und starrten einander an. Jeffrey wurde heiß im Gesicht, als wäre es auf einmal im Raum sehr warm geworden. Der Mann, der ihm gegenübersaß, war ebenso fremd wie engstens vertraut, er wusste über ihn alles und nichts. Als jemand, der Mörder studiert und gejagt hatte, als Professor Tod, wusste er eine Menge. Als sein Sohn kannte er nur seine eigenen rätselhaften Gefühle. Er fühlte sich seltsam schwindelig und fragte sich, was sie miteinander teilten und was nicht. Jede Modulation in der Stimme seines Vaters, jeder kleine Manierismus, der zum Vorschein kam, gab Jeffrey einen Stich, und er fragte sich, ob auch er so sprach und ob auch er so schaute oder handelte. Es war wie das Zerrbild in einem Spiegelkabinett, und er versuchte, auszumachen, wo die Täuschung begann und wo sie endete. Jeffrey hatte das Gefühl, als hätte er mit einem Mann, der an einer hoch ansteckenden Viruskrankheit litt, dieselbe Luft geatmet und vom selben Glas getrunken; jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als die Inkubationszeit abzuwarten und zu sehen, ob er sich angesteckt hatte oder nicht.
Er holte gierig Luft und sagte einfach nur: »Du wirst mich nicht töten.«
Sein Vater grinste wieder, und ihm war anzusehen, dass ihm die Situation das größte Vergnügen bereitete. »Vielleicht werde ich es«, erwiderte er, »vielleicht auch nicht. Aber diesmal stellst du die falsche Frage, mein Sohn.«
»Und was wäre die richtige Frage?«, konterte Jeffrey.
Der Ältere zog eine Augenbraue hoch, als erstaunte ihn entweder der Ton seines Sohnes oder die Tatsache, dass er die Antwort nicht wusste. »Die Frage lautet, ob ich es muss.«
Jeffrey hatte das Gefühl, in einem Glutofen zu sitzen. Seine Lippen waren ausgetrocknet. Er hörte seine eigenen Worte wie von ferne aus dem Mund eines Fremden.
»Ja«, antwortete er. »Ich denke, das musst du.«
Wieder sah sein Vater ihn amüsiert an. »Und wieso?«
»Weil du dir nie wieder sicher sein könntest. Weil du nie wissen würdest, ob ich irgendwo da draußen bin und dich jage. Und niemals sicher wärst, ob ich dich nicht ein zweites Mal finde. Du funktionierst nicht, solange du dich nicht sicher fühlst, und zwar hundert Prozent. So bist du gestrickt, und solange du wüsstest, dass ich noch am Leben bin, würdest du deine Zweifel nie los.«
Peter Curtin schüttelte den Kopf. »Oh doch«, widersprach er. »Ich hätte die volle Garantie.«
»Und wie?«, fragte Jeffrey in scharfem Ton zurück.
Sein Vater antwortete nicht. Stattdessen beugte er sich zu einem Lesetisch hinüber und nahm ein kleines elektronisches Gerät zur Hand. Er hob es hoch, damit es Jeffrey sehen konnte.
»Normalerweise«, erklärte sein Vater, »sind diese Dinger für junge Eltern mit Säuglingen. Ich glaube, deine Mutter hat nach deiner Geburt und der deiner Schwester so ein Ding benutzt, auch wenn ich mich nicht genau erinnern kann. Ist so lange her. Jedenfalls sind sie überaus hilfreich.«
Peter Curtin drückte einen Knopf und sprach dann in das Babyphone. »Kimberly? Bist du da? Kannst du mich hören? Kimberly, ich wollte dir nur sagen: Deine einzige Chance ist endlich eingetroffen.«
Curtin drückte auf einen anderen Knopf, und Jeffrey hörte, wie eine blecherne, verängstigte Stimme durch das Rauschen drang:
»Bitte, jemand soll mir helfen, bitte, helft mir …«
Sein Vater schnitt die Stimme mitten in ihrer flehentlichen Bitte per Knopfdruck ab.
»Ich wüsste auch gern, ob sie überleben wird«, sagte er mit einem Lachen. »Kannst du sie retten, Jeffrey? Kannst du sie, deine Schwester, deine Mutter und dich selbst retten? Bist du so stark und so clever?«
Wieder grinste er. »Ich glaube, das ist nicht möglich. Alle kannst du nicht retten.«
Jeffrey antwortete nicht. Sein Vater starrte ihn weiter an.
»Habe ich dich richtig erzogen?«
»Du hattest mit meiner Erziehung nicht das Geringste zu tun.«
Peter Curtin schüttelte den Kopf. »Ich hatte jede Menge mit deiner Erziehung zu tun.«
Wieder hielt er das Babyphone hoch.
»Was hat das mit ihr zu …«, fing Jeffrey an.
»Alles.«
Wieder schwiegen beide Männer.
In diese Stille hinein flüsterte Caril Ann Curtin zum zweiten Mal: »Peter, lass mich alle beide töten. Ich flehe dich an. Noch ist Zeit.«
Doch Peter Curtin winkte nur ab. »Wir werden ein Spiel miteinander spielen, Jeffrey. Ein äußerst gefährliches Spiel. Und sie ist die einzige Spielfigur.«
Jeffrey saß stumm auf seinem Platz.
»Es geht um einen hohen Einsatz. Dein Leben gegen meins. Das Leben deiner Mutter und deiner Schwester gegen meins. Deine Zukunft und ihre Zukunft gegen meine Vergangenheit.«
»Wie lauten die Regeln?«
»Regeln? Es gibt keine Regeln.«
»Worum geht es dann bei dem Spiel?«
»Also, ich muss schon sagen, Jeffrey, es überrascht mich, dass du das nicht erkennst. Es geht um das grundlegendste Spiel überhaupt. Das Spiel um den Tod.«
»Ich verstehe nicht.«
Peter Curtin lächelte sarkastisch. »Aber natürlich tust du das, Professor. Man spielt es im Rettungsboot oder am Steilhang, wenn der Hubschrauber der Bergwacht eintrifft. Es wird im Fuchsbau und in brennenden Gebäuden gespielt. Es geht darum, wer lebt und wer stirbt. Es geht darum, eine Wahl zu treffen, auch wenn man weiß, wie katastrophal die Wahl für jemand anderen ist.«
Er wartete, als rechnete er mit einer Reaktion, und fuhr, als sie ausblieb, fort: »In dieser Nacht geht es um Folgendes: Du tötest sie, und du gewinnst. Sie stirbt, und du gewinnst dein eigenes Leben, das deiner Schwester, das deiner Mutter und dazu meins, denn es steht dir dann frei, es mir zu nehmen. Oder mich, wenn dir das lieber ist, der Polizei zu übergeben. Du könntest mir auch einfach das Versprechen abverlangen, nie wieder zu töten, und ich würde mich daran halten. Dann könntest du mich am Leben lassen und müsstest dir nicht die Hände mit dem ödipalsten Blut schmutzig machen, das man sich vorstellen kann. Die Wahl liegt bei dir. Du entscheidest. Ich werde mich danach richten. Und um zu gewinnen, brauchst du nichts weiter zu tun, als sie zu töten …«
Es war plötzlich keine Luft zum Atmen mehr im Raum.
»Bring sie für mich um, Jeffrey.«
Der ältere Mann verstummte und beobachtete die Wirkung, die seine Worte im Gesicht seines Sohnes hinterließen. Er hielt das Babyphone hoch, drückte auf den Empfangsknopf und ließ ein paar Sekunden lang das qualvolle Schluchzen einer in Panik versetzten jungen Frau im Zimmer widerhallen.
Die Entfernung zwischen dem Waldrand und der Rückseite des Hauses war nicht so groß wie auf der Eingangsseite, aber dennoch war ein gewaltiger Lichtkegel zu durchqueren. Susan Clayton betrachtete die Fläche skeptisch; sie hatte etwa die Länge, auf die sie mit einiger Treffsicherheit ihren Köder einem gemächlich dahinschwimmenden Fisch hinwerfen konnte. Fast hörte sie das zischende Geräusch der Angelschnur über ihrem Kopf, bevor sie über die unruhige blaue Wasserfläche ihrer Heimat sauste. Sie war, das wusste sie, gut darin, genau abzuwägen, wie viel Einsatz es erforderte, den Köder mit seiner kleinen Illusion aus Federn, Stahl und Leim genau da zu plazieren, wo sie ihn haben wollte. Jetzt, wo es darum ging, abzuschätzen, wie schnell sie die offene Fläche überqueren konnte, war sie sich weniger sicher.
Auch Diana Clayton versuchte, ihre Situation richtig einzuordnen.
Sie leuchtete ihr nicht gänzlich ein. Sie atmete langsam ein und wieder aus und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Sie und ihre Tochter lagen beide bäuchlings auf der feuchten Erde und starrten geradeaus, doch mit ihrer Aufmerksamkeit war Diana woanders. Sie versuchte, sich jede Einzelheit eines Lebens vor einem Vierteljahrhundert ins Gedächtnis zu rufen, vor allem aber, jeden Gesichtszug des Mannes, an dessen Seite sie gelebt hatte.
»Ich komm da rüber«, flüsterte Susan, »aber nur, wenn keiner hinsieht.«
Dann schüttelte sie den Kopf. »Falls es doch jemand tut, komme ich keine zwei Meter weit, bevor sie mich entdecken.« Sie überlegte. »Ich denke, mir bleibt nichts anderes übrig.«
Diana griff mit der Hand nach dem Unterarm ihrer Tochter. »Irgendetwas stimmt da nicht, Susie. Du musst mir auf die Sprünge helfen.«
»Was?«
»Also, erstens wissen wir, dass es hier an der Rückseite zwei Türen gibt. Die übliche Gartentür, die wir sehen und die in die Küche führt. Die ist wie jede andere Gartentür. Sieht zumindest so aus. Und dann gibt es diese Geheimtür aus dem Musikzimmer nach draußen. Die müssen wir finden. Die müsste da drüben sein, da links, neben der Garage.«
»In Ordnung«, meinte Susan, »dann gehen wir einfach mal davon aus.«
»Nein, da ist noch etwas, das mir zu schaffen macht. Wir hätten eigentlich auf das Nebengebäude stoßen müssen. Du weißt schon, der Schuppen, der laut dem Bauunternehmer nicht in den Plänen ist. Der müsste irgendwo hier hinten sein. Ich denke, wir sollten ihn finden.«
»Aber wieso? Jeffrey ist im Haus, demnach ist er …«
»Ich meine nur«, unterbrach Diana sie bedächtig, »wozu hat man eigentlich eine Alarmanlage? Wieso stellt man sicher, dass man jemanden, der sich durch den Wald anschleicht, auf Schritt und Tritt beobachten kann? Wieso installiert man ein kostspieliges System, das in diesem Staat illegal ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Mir fällt dazu nur ein einziger Grund ein. Um Zeit zu gewinnen. Um vorgewarnt zu sein. Für sich genommen beschützt es ihn vor gar nichts, am wenigsten vor der Polizei. Es ist einfach nur ein Frühwarnsystem, das ihm ein paar Minuten Vorsprung gewährt. Wozu mag er das wohl brauchen?«
Die Antwort auf diese Frage lag auf der Hand. Susan antwortete leise, als ihr alles klar wurde: »Zu einem einzigen Zweck: Weil er, falls jemand kommt und ihn sucht – jemand, der weiß, wer er ist, und was er macht –, etwas Zeit braucht, um abzuhauen. Sich aus dem Staub zu machen.«
Diana nickte. »So sehe ich das auch.«
»Ein Fluchtweg«, dachte Susan weiter laut nach. »David Hart, der Mann in Texas, zu dem mich Jeffrey mitgenommen hat – der hat gesagt, wir sollten mit so was rechnen. Einen Weg rein, einen Weg raus.«
Diana rollte sich auf die Seite und spähte in das Dunkel hinter sich. »Was genau soll da laut diesem Bauunternehmer in dieser Richtung sein?«
Susan lächelte. »Es ist wild, leer, unbebaut, Ödland und Berge. Naturschutzgebiet in staatlichem Besitz. Erstreckt sich meilenweit …«
Diana starrte in die schwarze Nacht, die sich ihnen an die Fersen geheftet und mit ihnen angepirscht hatte. »Vielleicht ist es auch«, sagte sie ruhig, »die Rückzugsroute aus dem Einundfünfzigsten Staat.«
Beide Frauen machten sich auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung: vom Rand des Lichtkegels weg, in schräger Linie zum Haus. Sie tasteten sich durch die Bäume, wo das Unterholz dichter schien, als wären es lauter knochige Hände, die nach ihren Kleidern griffen oder ihnen das Gesicht zerkratzten. Trotz der kühlen Nacht waren sie vor Erschöpfung und Anspannung und vermutlich auch Angst verschwitzt.
Susan hatte das Gefühl, als versuchte sie, in einer Kloake zu schwimmen. Sie kämpfte sich entschlossen und wütend durch den Wald, als ob sie gegen einen Feind anging. Das Licht vom Haus war diffus und wenig hilfreich; die Schatten und schwarzen Vertiefungen machten es ihnen nicht leichter. Susan fluchte leise, machte einen Schritt, merkte, dass sich ihr Sweater in einem Dornenbusch verhakte, zog daran und verlor das Gleichgewicht, so dass sie mit einem kurzen Aufschrei vorwärtspurzelte.
Ihre Mutter, die hinter ihr nicht weniger zu kämpfen hatte, rief ihr etwas lauter, doch immer noch im Flüsterton zu: »Susan, alles in Ordnung?«
Susan reagierte nicht sofort. Ihr gingen verschiedene Dinge durch den Kopf – der Schreck des Falls, ein tiefer Kratzer in der Wange von einer Dorne, ein Schlag gegen das Knie von einem Stein, vor allem aber das Gefühl von kaltem Metall unter ihrer Hand. Die Dunkelheit machte es fast unmöglich, etwas zu erkennen, doch sie tastete sich voran und ignorierte alle anderen Empfindungen, als sie etwas Spitzes fühlte, das ihr in die Handfläche schnitt. Sie stöhnte unter dem plötzlichen Schmerz.
»Was ist?«, fragte Diana.
Susan antwortete nicht gleich. Stattdessen tastete sie die Spitze ab und fand eine zweite, dann eine dritte, alle unter Gestrüpp und Unkraut versteckt.
»Hol mich der Teufel«, murmelte sie. »Mutter, sieh dir das an.«
Diana krabbelte auf Händen und Knien, bis sie neben Susan war. Sie ließ ihre Hand von Susan führen, bis auch sie die Reihe spitzer Pflöcke im Boden fühlte.
»Was meinst du …«
»Wir sind auf der richtigen Spur«, sagte Susan. »Jetzt stell dir vor, du würdest in diese Richtung fliehen, aber du willst nicht, dass dir irgendjemand in irgendeinem Wagen folgen kann. Die hier würden an einem Reifenpaar schon dafür sorgen, oder? Pass auf, hier könnten noch mehr Fallen sein.«
Drei Meter weiter stieß Susan auf einen niedrigen, Achsen brechenden Graben in der Erde. Sie drehte sich wieder zum Haus um. Vielleicht dreißig Meter entfernt warf es sein Licht in den Himmel. Sie konnte gerade noch eine Art schmalen Trampelpfad erkennen.
Es ist ein Weg, dachte sie. Aber einer, der mit genügend Büschen und Gestrüpp getarnt war, um sich hoffnungslos zu verheddern, es sei denn, man kannte diesen Pfad genau. Hatte man jedoch die richtige Route genau im Kopf, dann konnte man sich schnell durch zunehmend schwieriges Gelände bewegen.
»Da ist es«, sagte ihre Mutter plötzlich.
Susan drehte sich um und ließ ihren Augen Zeit, sich wieder an die Nacht zu gewöhnen, bevor sie sah, wohin Diana zeigte. Weitere sieben Meter von ihnen entfernt befand sich ein kleines Gebäude fast unsichtbar zwischen Unkraut und Farn, die so dicht daran gepflanzt worden waren, dass sie den niedrigen Bau fast bis ans Dach überwucherten. Sie tasteten sich langsam bis zu dem Häuschen vor. An der Vorderseite hatte es ein Tor wie eine Garage. Susan griff danach, dann hielt sie inne.
»Es könnte ein Alarm damit verbunden sein«, überlegte sie.
»Oder eine Bombe.«
Auch wenn sie nicht wusste, ob sie damit richtig lag, reichte ihr die pure Möglichkeit, um die Finger davonzulassen.
Diana hatte sich um den Schuppen herumgekämpft. »Da ist ein Fenster«, rief sie leise.
Susan eilte an ihre Seite. »Sieht man etwas?«
»Ja, ein bisschen.«
Susan drückte die Nase an die kalte Scheibe und starrte hinein. Sie stöhnte leise. »Auf den Nagel getroffen, Mutter. Du hattest recht.«
Die beiden Frauen konnten schemenhaft einen teuren Geländewagen mit Vierradantrieb erkennen. So weit sie sahen, war er voll bepackt, startklar für die Reise.
Diana trat vom Fenster zurück. »Es muss da hinten irgendwo eine Straße geben oder so was wie eine Piste, immer weiter in den Wald hinein. Ich wette, er hat eine genaue Fluchtroute geplant.«
»Aber was ist mit Flugzeugen oder meinetwegen auch Helikoptern?«
Diana zuckte die Achseln. »Berge, Canyons, Wälder – wer weiß? Er hat bestimmt einkalkuliert, wie und womit er verfolgt wird, und sich darauf eingestellt. Wahrscheinlich gibt es Meilen von hier entfernt eine zweite Garage mit einem weiteren Fahrzeug. Vielleicht sogar ein drittes oben im Norden, nahe der Grenze nach Oregon. Oder auch Richtung Kalifornien. Eher wohl da. Da kann man leicht untertauchen. Auch nicht allzu weit bis nach Mexiko runter, wo man noch weniger Fragen stellt, besonders einem reichen Mann.«
Susan nickte.
»Es muss nicht perfekt sein. Solange niemand davon weiß. Mehr hat er nicht nötig. Nur ein offener Spalt, und er schlüpft durch.«
Susan drehte sich wieder zum Haus um und seufzte. »Ich muss jetzt rein«, sagte sie. »Wir brauchen schon zu lange, und Jeffrey könnte in ernsten Schwierigkeiten stecken.« Sie wandte sich noch einmal ihrer Mutter zu, die gierig die kalte Luft einsog. »Bleib du hier«, wies Susan sie an. »Warte einfach ab, was passiert.«
Diana schüttelte den Kopf. »Ich sollte besser mit dir gehen.«
»Nein«, widersprach Susan. »Wir wollen auf keinen Fall riskieren, dass er abhaut. Egal, was passiert, wir dürfen nicht zulassen, dass er davonkommt. Außerdem kann ich mich, glaube ich, schneller bewegen und auch leichter Entscheidungen treffen, wenn ich weiß, dass du wenigstens hier draußen in Sicherheit bist.«
Diana sah die Logik ein, auch wenn sie ihr nicht gefiel.
Susan deutete auf den obskuren Pfad durch das Unterholz Richtung Haus. »Das ist die Route. Halte ein Auge drauf.«
Einen Moment lang hätte sie ihre Mutter gern umarmt, etwas Rührseliges und Liebevolles gesagt, doch sie kämpfte dagegen an. »Wir sehen uns gleich«, sagte sie mit aufgesetzter Zuversicht.
Dann drehte sie sich um und kehrte, so schnell sie konnte, dorthin zurück, wo höchstwahrscheinlich das Schicksal ihres Bruders an seidenen Nervenfasern hing.
Jeffreys Kehle war so ausgedörrt, als hätte er an einem heißen, trockenen Tag ein schnelles Wettrennen hinter sich gebracht. Er leckte sich über die Lippen, um sie ein bisschen anzufeuchten, doch vergeblich. Seine Stimme klang brüchig. »Und wenn ich mich weigere?«, fragte er.
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wirst du nicht tun. Nicht, wenn du dir mein Angebot gründlich überlegst.«
»Ich werde es nicht tun.«
Peter Curtin wechselte die Stellung, als fände er die Reaktion seines Sohnes unangemessen und nicht durchdacht. »Das ist eine reflexartige, unkluge Entscheidung, Jeffrey. Überleg es dir gut.«
»Da gibt es nichts zu überlegen.«
Sein Vater runzelte die Stirn. »Das sehe ich ein bisschen anders«, meinte er in halb spöttischem, halb gereiztem Ton, als könnte er sich nicht ganz entscheiden, welches die angemessenere Reaktion war. »Die Alternative wäre natürlich, dass ich mich einfach an meine liebe Frau wende und auf ihren Rat höre, den sie mir so eindringlich gibt. Was meinst du, Jeffrey, wie schwer es wohl für mich ist, zu Caril Ann zu sagen: ›Löse du dieses Dilemma für mich‹? Und du weißt, was sie machen würde.«
Jeffrey sah die Frau mit den harten Augen an, die immer noch wie fest gefroren dastand und kaum merklich den Finger am Abzug ihrer Pistole bewegte. Sie funkelte ihn nach wie vor wütend an, und es schien sie äußerste Mühe zu kosten, ihre Aggression im Zaum zu halten. Er vermutete, dass sie sich genauso wie sein Vater schon lange im Voraus mit dieser Begegnung beschäftigt hatte. Er fragte sich, was Curtin ihr im Lauf der Jahre, in denen sie ihre mörderischen Abenteuer miteinander teilten, zu ihr gesagt hatte, um sie auf diesen letzten Akt vorzubereiten. So wie man langsam, aber zielstrebig einen Kampfhund abrichtet. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, die Muskeln unter dem Pullover gespannt. Und gleich einem Hund, der mit jeder Faser seines Wesens wie eine gespannte Feder auf das eine Wort seines Herrn wartete, so wartete auch sie. Jeffrey schoss durch den Kopf: Das ist eine Frau, die jeden Gedanken und jedes Gefühl über Bord geworfen hatte, bis nur noch diese Wut übrig geblieben ist. Und dieser ganze Zorn richtet sich auf mich. Das, was von Caril Anns Augen ausging, war wie ein starker, böser Wind, der einem ins Gesicht blies.
»Sträubst du dich immer noch?«, fragte sein Vater. »Kannst du dich immer noch nicht entscheiden?«
»Ich kann das nicht«, erwiderte Jeffrey.
Peter Curtin schüttelte in übertriebener Enttäuschung den Kopf kräftig hin und her.
»Was heißt, du kannst nicht? Lächerlich! Jeder kann töten, wenn er triftige Gründe hat. Mensch, Jeffrey, Soldaten töten aufgrund der fragwürdigsten Befehle von Offizieren, die sie hassen. Und ihr Lohn ist wesentlich bescheidener, als was ich dir heute Abend anbiete. Und überhaupt, Jeffrey, was weißt du schon von diesem Mädchen?«
»Nicht viel. Oberstufenschülerin. Sie war einmal, soweit ich unterrichtet bin, mit deinem anderen Sohn liiert …«
»Ja, deshalb ist meine Wahl auf sie gefallen. Das und der glückliche Umstand, dass sie auf dem Weg zur Schule eine Abkürzung nimmt, und zwar durch ein verlassenes Gelände unserer neuen kleinen Stadt. Eigentlich habe ich sie immer gemocht. Sie ist sympathisch, hat zwar ein wenig verschwommene Vorstellungen vom Leben, aber das gilt ja wohl für die meisten Teenager. Sie ist attraktiv, auf eine frische, unverdorbene Weise. Sie scheint intelligent zu sein – nicht übertrieben, weißt du, nicht phänomenal, aber trotzdem intelligent. Jedenfalls auf dem Weg zu einem guten College. Auch wenn es andererseits schwer zu sagen ist, was für eine Zukunft sie vor sich hat. Nun gibt es natürlich intelligentere, begabtere Kinder, aber Kimberly hat etwas, einen Sinn für Abenteuer. Etwas Rebellisches – ich nehme an, das fand dein Halbbruder an ihr attraktiv –, das macht sie einfach interessanter als die Mehrzahl der schablonenhaften Kids, die dieser Staat heranzüchtet.«
»Wieso erzählst du mir das?«
»Ah, du hast recht. Das sollte ich besser nicht. Wer sie ist, sollte keine Rolle spielen. Dass sie ein Leben, Träume, Hoffnungen und Wünsche hat – was auch immer, das ist wirklich nicht von Belang. Was hat dieses Mädchen, dass du auch nur für einen Augenblick denken kannst, ihr Leben wäre wichtiger als dein eigenes? Als das deiner Schwester und deiner Mutter? Und das Leben wer weiß wie vieler junger Frauen, auf die meine Wahl vielleicht in Zukunft fällt? Ich würde sagen, ich habe dich vor eine denkbar einfache Wahl gestellt. Wenn du sie tötest, rettest du dich selbst. Und als zusätzlicher Anreiz: Du rettest all diese anderen Menschen. Wie gesagt: Du kannst meiner Laufbahn, ja sogar meinem Leben ein Ende setzen. Sie zu töten erscheint in jeder Hinsicht – finanziell, ökonomisch, ästhetisch und emotional absolut sinnvoll. Ein Leben verlierst du, viele andere rettest du dafür. Der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Der Kostenaufwand ist höchst bescheiden.«
Peter Curtin lächelte seinen Sohn an. »Jeffrey, sieh mal, du tötest sie, und du wirst berühmt! Du bist ein Held. Ein Held für diese moderne Welt, in der wir leben. Nicht ohne Fehler, aber ein tatkräftiger Mann. Du wirst von Küste zu Küste gefeiert werden, und zwar von praktisch allen, außer vielleicht den nächsten Angehörigen der kleinen Kimberly. Doch deren Protest dürfte leise ausfallen. Falls sie überhaupt jemand hört, was fraglich ist, wenn man bedenkt, wie gekonnt die Kerle, die diesen Staat regieren, Unannehmlichkeiten unter den Teppich kehren. Deshalb kann ich wirklich nicht verstehen, wieso du auch nur für den Bruchteil einer Sekunde zögern kannst.«
Jeffrey sagte nichts.
»Es sei denn …«, fuhr sein Vater langsam fort, »… du hättest Angst vor dem, was du vielleicht über dich selbst rausfinden könntest. Das könnte allerdings ein Problem darstellen. Gibt es irgendwo tief in dir eine Tür, die du lieber nicht aufmachen möchtest? Nicht einmal einen kleinen Spalt breit? Weil du davor Angst hast, was du reinlassen könntest? Rein oder auch raus …?«
Peter Curtin war offensichtlich in seinem Element. »Nun ja, damit liegt vermutlich der Preis für den Tod dieser ganz und gar unbedeutenden jungen Dame ein wenig höher, als wir zunächst angenommen hatten …«
Jeffrey war nicht bereit, auf diese Frage zu reagieren.
Er starrte auf das Paar ihm gegenüber und taxierte das Funkeln in den Augen seines Vaters im Vergleich zu dem eisigen Blick seiner Frau. In diesem Moment erschienen sie ihm als ein überaus gegensätzliches Paar. Die Frau bis zum Anschlag gespannt und darauf versessen zu töten. Sein Vater dagegen wirkte gelöst, redselig und unbeschwert, ohne auf die Zeit zu achten, während er es genoss, seinen Sohn in ein wohl kalkuliertes Dilemma zu stürzen. Für ihn war das Töten nur das Dessert: Die Folter war das Hauptgericht. Angesichts seines spöttischen Tons fiel es Jeffrey nicht schwer, sich vorzustellen, wie qualvoll das Ende so vieler Opfer in den letzten Minuten gewesen sein musste.
Die Helligkeit im Zimmer, die Hitze, die immer unerträglicher zu werden schien, der stete Druck, der von den Worten seines Vaters ausging, pressten ihm die Brust zusammen, als wäre er tief unter Wasser. Er wollte an die Oberfläche auftauchen, um zu atmen. Ihm wurde in dieser Sekunde bewusst, dass er in die elementarste Falle gegangen war, die der Mann ihm gegenüber, seinem Kind, in klarer Absicht stellte: Zwischen ihm und seinem Vater lag eine feine Linie, an der sich ihre Wege schieden – für ihn zählten Menschenleben. Für seinen Vater nicht.
Jeffrey wollte leben.
Seinem Vater, der so vielen den Tod gebracht hatte, war es egal, ob er in dieser Nacht überlebte oder starb. Ihm ging es um etwas anderes.
Jeffrey blieb stumm und versuchte aus jedem mühsamen Atemzug Kraft zu schöpfen, um Haltung zu bewahren.
Zeit, dachte er plötzlich. Du musst Zeit schinden.
Es arbeitete fieberhaft in seinem Kopf. Seine Schwester musste jeden Moment eintreffen, und ihre Ankunft konnte das Kräftespiel so weit verschieben, dass er den Hals aus der Schlinge ziehen konnte, die sein Vater immer enger zog. Und danach wäre bald mit dem Einsatzkommando der Staatssicherheit zu rechnen.
Er fühlte sich wie in einem Schraubstock, der ihm immer unerbittlicher den Brustkorb zusammendrückte.
Er sah seinen Vater an. Gib ihm ausweichende Antworten, dachte er. »Wie kann ich dir trauen?«
Peter Curtin lächelte. »Was? Du vertraust nicht dem Ehrenwort deines eigenen Vaters?«
»Ich traue dem Wort eines Mörders nicht. Denn das ist alles, was du bist. Ich mag mit Fragen hergekommen sein, aber du hast sie mir beantwortet. Jetzt brauche ich mir nur noch selbst ein paar Antworten zu geben.«
»Macht das nicht das Leben aus?«, entgegnete Curtin. »Und wer wüsste mehr über das Spiel von Leben und Tod als ich?«
»Vielleicht ich«, antwortete Jeffrey. »Und vielleicht weiß ich, dass es kein Spiel ist.«
»Nicht? Jeffrey, jetzt verwunderst du mich aber. Es ist das faszinierendste Spiel überhaupt.«
»Weshalb solltest du dann bereit sein, es heute Abend aufzugeben? Wenn ich, wie du behauptest, nichts weiter zu tun brauche, als einer Frau, die mir vollkommen fremd ist, eine Kugel zwischen die Augen zu jagen, wirst du dich mir dann wirklich beugen und akzeptieren, was ich für dich entscheide? Ich glaube nicht. Ich glaube, du lügst.. Ich glaube, du spielst falsch. Ich glaube, du verfolgst heute Abend nur eine einzige Absicht, nämlich mich zu töten. Und woher soll ich wissen, ob Kimberly Lewis überhaupt noch am Leben ist? Du könntest mit diesem kleinen Babyphone da jedes Mal ein Tonband abspielen. Vielleicht hast du sie längst wie all die anderen irgendwo wie Müll entsorgt, und sie liegt mit gespreizten Armen und Beinen irgendwo im Wald, wo sie niemand findet …«
Curtin hob blitzschnell die Hand, und in seinem Gesicht zuckte für einen Moment ein Anflug von Ärger auf. »Ich habe sie nie einfach entsorgt! So war es nie geplant.«
»Geplant? Klar doch«, konterte Jeffrey sarkastisch. »Der Plan war, sie erst mit Genuss zu vögeln und dann zu töten, genau wie jeder andere kranke …«
Curtin schnitt energisch mit den flachen Händen durch die Luft. Jeffrey rechnete mit einer wütenden Antwort seines Vaters, doch was er zu hören bekam, wurde im kältesten, berechnendsten Ton gesprochen.
»Ich hätte mehr von dir erwartet«, erklärte Curtin. »Ich hätte dich für intelligenter gehalten. Für gebildeter.« Er legte vor sich die Fingerspitzen zu einer Pyramide aneinander und starrte seinen Sohn durchdringend an. »Was weißt du von mir?«, fragte er plötzlich.
»Ich weiß, du bist ein Mörder …«
»Du weißt rein gar nichts«, unterbrach ihn Curtin. »Du weißt nichts! Du weißt nicht, wie man sich in der Gegenwart von Größe benimmt! Du zeigst keinen Respekt. Du verstehst nichts.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Es hat nichts damit zu tun, einfach zu töten. Nichts ist so leicht, wie zu töten. Aus sexueller Gier, aus Spaß oder aus irgendeinem anderen Grund. Nichts leichter als das, Jeffrey. Es ist nichts weiter als eine Zerstreuung. Wenn man sich die Mühe macht, es gründlich zu studieren, dann ist es wirklich keine besonders schwere Aufgabe. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, dem Tod eine schöpferische Seite abzugewinnen …« Er überlegte, dann fügte er hinzu: »… und deshalb bin ich etwas Besonderes.«
Einen Augenblick lang starrte der Vater den Sohn mit einem Ausdruck an, als seien dies Dinge, die dieser hätte verstehen müssen.
»Ich war ziemlich aktiv, doch das gilt auch für andere. Ich war brutal, aber auch das ist nichts Weltbewegendes. Hättest du gedacht, Jeffrey, dass ich vor ein paar Jahren, als ich über der Leiche einer jungen Frau stand, an einen Punkt kam, an dem ich begriff, dass ich in dem Moment hätte weggehen können, und niemand hätte auch nur die leiseste Ahnung von der Tiefe des Gefühls gehabt, von der Befriedigung über das, was ich vollbrachte? Und in diesem Augenblick, Jeffrey, da wusste ich, dass ich es mir zu leicht gemacht hatte. Ich lief Gefahr, dass mich künftig das langweilen könnte, was meinem Leben Sinn gab. In jenem Moment dachte ich an Selbstmord. Mir gingen auch andere obskure Möglichkeiten durch den Kopf, Terrorismus, Massenmord, politische Attentate, doch das habe ich alles verworfen, weil ich wusste, dass ich mit all dem in Vergessenheit geraten würde. Und dass mich niemand je verstehen würde. Aber ich strebte nach Höherem, Jeffrey. Ich wollte, dass man mich in Erinnerung behält …«
Er lächelte wieder. »Und dann erfuhr ich vom Einundfünfzigsten Staat. Dem neuen Territorium, an das sich so viele Hoffnungen und Wünsche knüpfen – der Traum von einer wahrhaft amerikanischen Vision von der Zukunft, auf der Grundlage einer ach so idealisierten Vorstellung von der Vergangenheit. Und wer hätte besser in dieses Konzept gepasst als ich?«
Jeffrey sagte nichts.
»An wen erinnert man sich, Jeffrey? Besonders da draußen, im Westen? Wer sind die Helden? Wer ist uns im Gedächtnis haften geblieben, Billy the Kid mit seinen einundzwanzig Opfern oder sein schändlicher ehemaliger Freund Pat Garrett, der ihn niedergeschossen hat? Wir singen Balladen auf Jesse James, einen äußerst blutrünstigen Mörder, aber nicht über Robert Ford, den Feigling, der ihm eine Kugel in den Rücken gejagt hat. So war es in Amerika schon immer. Melvin Purvis interessiert uns herzlich wenig. Er scheint langweilig und berechnend. Doch die Heldentaten eines John Dillinger leben fort. Beschämt es uns nicht irgendwie, dass eine Drohne wie Eliot Ness Al Capone aus dem Verkehr gezogen hat? Mit einer Anklage wegen Steuerbetrugs und Bestechung des Gerichts? Wie erbärmlich! Weißt du, wer Charlie Manson angeklagt hat? Seien wir doch ehrlich, Jeffrey: Fasziniert es uns nicht viel mehr zu beweisen, dass Bruno Richard Hauptmann es nicht gewesen sein kann, als dass wir Mitleid mit Lindberghs Baby hätten? Hast du gewusst, dass man in Fall River bis heute Lizzie Borden feiert – eine Axtmörderin, verflucht noch mal? Ich könnte dir endlos viele Beispiele nennen. Ich sage dir, wir sind eine Nation, die ihre Kriminellen liebt. Ihre schlechten Taten romantisiert und den Schrecken, den sie verbreitet haben, ignoriert. Stattdessen lassen wir sie in unseren Liedern und Legenden weiterleben, und sogar gelegentlich in Festen wie zum Beispiel mit dem D.-B.-Cooper-Day oben im Nordwesten am Pazifik.«
»Wer sich über das Gesetz hinwegsetzt, hat schon immer eine gewisse Anziehungskraft besessen …«
»Genau. Und das bin ich mein Leben lang gewesen. Jemand, der sich über das Gesetz hinwegsetzt. Denn ich beraube diesen Staat seiner zentralen Eigenschaft: seiner Sicherheit. Und deshalb wird man sich an mich erinnern.«
Peter Curtin seufzte. »Das ist mir bereits jetzt gelungen. Egal, was heute Nacht aus mir wird. Siehst du, ganz gleich, ob ich nun überlebe oder sterbe: Mein Platz in der Geschichte ist mir sicher. Durch deine Anwesenheit und durch die Aufmerksamkeit, die diese Nacht auf sich lenken wird, bevor sie vorbei ist.«
Wieder herrschte einen Augenblick Stille im Raum, dann fuhr der Mörder fort: »Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem die Entscheidung fallen muss, Jeffrey. Du bist ein Teil von mir, das weiß ich. Jetzt musst du in die Tiefe gehen und diesen Teil von dir, der uns gemeinsam ist, aus der Versenkung holen und die naheliegende Wahl treffen. Es ist so weit, Jeffrey. Es ist Zeit, dass du das wahre Wesen des Tötens begreifst.«
Er sah seinen Sohn an. »Töten, Jeffrey, macht dich frei.«
Curtin stand auf. Er beugte sich zu dem kleinen Lesetisch vor und öffnete mit einem kurzen, schabenden Geräusch eine Schublade. Dieser entnahm er ein großes Messer aus Armeebeständen, das er aus einer olivgrünen Scheide zog. Im polierten Stahl der gezackten Klinge spiegelte sich das Licht. Curtin bewunderte die Waffe, streichelte die stumpfe Kante und drehte die Klinge dann, um seinen Finger an die scharfe Schneide zu legen. Er hob die Hand und zeigte Jeffrey ein dünnes Rinnsal Blut an seinem Daumen.
Er lauerte auf die Reaktion seines Sohnes. Jeffrey versuchte, ein möglichst ausdrucksloses Gesicht zu wahren, während ihn innerlich die Emotionen wie eine plötzliche Meeresströmung vor dem sommerlichen Strand in die Tiefe zu zerren drohten.
»Was?«, sagte Curtin und grinste wieder. »Hattest du etwa gedacht, ich würde dich diese Erfahrung mit etwas so Sterilem wie einer Schusswaffe machen lassen? Damit du die Augen zukneifst, ein Stoßgebet gen Himmel schickst und abdrückst? So sauber und distanziert wie ein Exekutionskommando? Das würde dir nicht die Augen öffnen.«
Curtin warf das Messer mit Schwung quer durchs Zimmer. Einen Moment blitzte es in der Luft, dann landete es mit einem leisen, dumpfen Geräusch zu Jeffreys Füßen auf dem Teppich, wo es immer noch glitzerte, als wäre es lebendig.
»Es ist Zeit«, sagte sein Vater. »Meine Geduld ist zu Ende. Keine Verzögerungen mehr.«