7. KAPITEL
Kaffee Smaragd Thant
Diana Clayton verließ nur noch ungern das Haus.
Einmal pro Woche fuhr sie notgedrungen zur nächsten Apotheke, um sich ihren Vorrat an Schmerzmitteln, Vitaminen und dem einen oder anderen Versuchsmedikament zu besorgen, die alle wenig gegen das deprimierend stetige Fortschreiten der Krankheit auszurichten schienen. Während sie auf ihre Pillen wartete, plauderte sie aufgesetzt heiter mit dem jungen Apotheker, einem kubanischen Immigranten, der immer noch mit so starkem Akzent sprach, dass sie kaum verstand, was er sagte, dessen Gesellschaft sie aber genoss, da er ihr in unerschütterlichem Optimismus ein bizarres Gebräu nach dem anderen empfahl, in der festen Überzeugung, es würde ihr Leben retten. Danach überquerte sie die vier Fahrbahnen der Route 1, indem sie vorsichtig dem Verkehr auswich. War dies geschafft, bog sie in eine Seitenstraße ab, in der – nur einen Häuserblock entfernt und ein Stück hinter den hässlichen, grellbunten Einkaufszentren am Highway der Keys – eine kleine Bücherei angenehm im Schatten lag.
Der stellvertretende Leiter der Bibliothek, etwa zehn Jahre älter als sie, flirtete gern mit ihr. Er hockte auf einem erhöhten Sitz hinter einem vergitterten Fenster und wartete schon auf sie. Sobald er sie sah, legte er den Finger an den Knopf für die Sicherheitstüren. Obwohl verheiratet, war der Mann einsam, was er damit begründete, dass seine Frau nur Zeit für ihre zwei Pitbulls habe und ansonsten süchtig die Geschicke der Stars diverser Seifenopern verfolge. Er war ein schon fast komischer Schwerenöter, der Diana hartnäckig zwischen den spärlichen Regalen folgte und sie dabei im Flüsterton zu Cocktails, zum Essen und ins Kino einlud – egal, was, wenn es ihm nur Gelegenheit gab, ihr zu gestehen, dass sie seine einzige wahre Liebe sei. Sie fand seine Avancen zu gleichen Teilen schmeichelhaft und lästig, und so gab sie ihm einen Korb nach dem anderen, ohne ihn ganz zu entmutigen, auch wenn sie sich einschärfte, dass sie auf jeden Fall beabsichtigte zu sterben, bevor sie dem Bibliothekar sagen musste, er solle sie ein für alle Male in Ruhe lassen.
Sie las nur Klassiker, mindestens zwei pro Woche. Dickens, Hawthorne, Melville, Stendhal, Proust, Tolstoi und Dostojewski. Griechische Tragödien und Shakespeare verschlang sie geradezu. Wenn überhaupt, so führten sie ihre Vorstöße in die Moderne höchstens bis Faulkner und Hemingway – zu Letzterem aus einer Art Loyalität zu den Keys und weil ihr gefiel, was er über das Sterben zu sagen hatte. In seinen Büchern hatte er dem Tod – wie verkommen und schmutzig er auch sein mochte – stets eine romantische, heroische Qualität abgewonnen, und das gab ihr Mut, auch wenn sie wusste, dass es nur Fiktion war.
Sobald sie ihre Bücher hatte, verabschiedete sie sich von dem Bibliothekar, wobei es sie jedes Mal einige Mühe kostete, sich loszueisen und seine letzten flehentlichen Bitten abzuwehren. Anschließend eilte sie noch eine sonnendurchflutete Nebenstraße entlang zu einer alten, verwitterten Baptistenkirche. Im Vorgarten des weißen Schindelbaus stand eine einsame hohe Palme, zu hoch, um viel Schatten zu spenden, dafür aber mit einer angesplitterten Holzbank über den Wurzeln. Diana wusste, dass der Chor gerade proben würde und dass die Stimmen aus dem dunklen Kirchenraum wie eine Brise nach draußen bis zu ihrer Bank herüberwehten, wo sie dann saß, sich ausruhte und lauschte.
Neben der Bank befand sich ein Schild:
BAPTISTENKIRCHE DER NEUEN KAVALLERIE
GOTTESDIENSTE: SONNTAG, 10:00 und 12:00 UHR
BIBELSTUNDE: 9:00 UHR
KOMMENDE PREDIGT:
WIE WIR JESUS ZU UNSEREM BESTEN FREUND
MACHEN KÖNNEN
REV. DANIEL JEFFERSON, PREDIGER
In den letzten Monaten war der Prediger mehrfach herausgekommen, um Diana davon zu überzeugen, dass es in der Kirche viel sicherer, bequemer und kühler sei und dass niemand etwas dagegen hätte, wenn sie dort den Proben beiwohnte. Jedes Mal hatte sie dankend abgelehnt. Sie liebte es, den Stimmen zu lauschen, wenn sie sich draußen zur sengenden Sonne erhoben. Sie genoss es, wenn sie sich anstrengen musste, um die Worte zu verstehen. Sie wollte nicht, dass ihr jemand von Gott erzählte, was der Prediger, offenbar ein freundlicher Mensch, unweigerlich versuchen würde. Vor allem wollte sie ihn nicht verletzen, indem sie sich weigerte, ihn anzuhören, wie ehrlich er es auch meinte. Sie wollte einfach nur der Musik zuhören, da sie festgestellt hatte, dass sie ihre Schmerzen vergaß, solange sie sich auf die freudigen Klänge des Chors konzentrierte.
Für sie war das ein kleines Wunder.
Pünktlich um drei Uhr nachmittags waren die Proben zu Ende. Diana erhob sich dann von ihrer Bank und ging langsam nach Hause. Die Regelmäßigkeit, mit der sie diesen Ausflug unternahm, die immer gleiche Route und ihr Schneckentempo machten sie, wie sie sehr wohl wusste, zu einer offensichtlichen und halbwegs lohnenswerten Zielscheibe. Dass sie bisher noch kein Dieb, der auf ihr bescheidenes Geld, und kein Junkie, der auf ihre Schmerzmittel aus war, entdeckt und ermordet hatte, war eigentlich erstaunlich und wahrscheinlich das zweite Wunder in Verbindung mit ihrem wöchentlichen Ausgang.
Zuweilen ließ sie sich ein wenig gehen und hing der Vorstellung nach, dass es weniger beängstigend wäre, von einem Herumtreiber mit gierigem Blick oder einem Drogensüchtigen niedergemetzelt zu werden, als am Leben zu bleiben und sich in teuflischer Grausamkeit von ihrer Krankheit langsam zu Tode foltern zu lassen. Sie fragte sich, ob ein kurzer schrecklicher Moment nicht besser sei als die sich endlos hinziehenden Qualen ihrer Krankheit. Sie entdeckte in ihrer Haltung eine geradezu berauschende Freiheit. Sie blieb am Leben, bestand darauf, ihre Medikamente zu nehmen und sich jeden wachen Augenblick innerlich gegen die Krankheit aufzulehnen. Sie vermutete, dass dieser Kampfgeist von einem Pflichtgefühl herrührte und dem unbeirrbaren Wunsch, ihre beiden Kinder, auch wenn sie schon erwachsen waren, nicht in einer Welt allein zu lassen, der niemand mehr zu trauen schien.
Sie wünschte sich, eins von beiden hätte ihr ein Enkelkind geschenkt.
Ein Enkelkind, dachte sie, wäre die reine Wonne gewesen.
Doch sie verstand, dass ihr das nicht mehr vergönnt sein würde, und malte es sich stattdessen in ihrer Fantasie aus. Sie erfand Namen und stellte sich Gesichter vor und erdachte sich künftige Erinnerungen als Ersatz für die realen, die sie sich wünschte. Sie stellte sich Urlaubsreisen und Ferien, Heiligabende und Schulaufführungen vor. Es war fast mit Händen zu greifen, wie sie ein Enkelkind in ihren Armen hielt und ihm nach einem kleinen Kratzer oder Schnitt die Tränen abtupfte oder wie sie seinem gleichmäßigen, betörenden Atem lauschte, während sie ihm ein Buch vorlas. Sie sah in diesen Tagträumereien eine Schwäche, aber eine harmlose.
Und das fiktionale Enkelkind half ihr dabei, ihre Sorgen über die Kinder zu vergessen, die sie hatte.
Für Diana war beider seltsame Entfremdung und selbstgewählte Einsamkeit oft so schmerzhaft wie ihre Krankheit. Aber welche Pille konnten sie nehmen, um die Distanz zu verringern, die zwischen sie getreten war?
Als sie an diesem Nachmittag – die Klänge von »Onward Christian Soldiers« noch im Ohr, dazu Wem die Stunde schlägt sowie Große Erwartungen unter dem Arm – die letzten Meter zu ihrer Einfahrt ging und sich mit Sorgen wegen ihrer Kinder plagte, sah sie, wie sich im Westen eine riesige Gewitterwolke bedrohlich zusammenbraute. Sie fragte sich, ob das Unwetter auf die Keys zusteuerte, wo es dann mit einem Feuerwerk an Blitzen und Platzregen niedergehen würde, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sah. Sie hoffte, dass ihre Tochter bis dahin wohlbehalten zu Hause war.
Susan Clayton verließ an diesem Abend ihr Büro in einer Phalanx von Redaktionskollegen, unter den wachsamen Augen und den Automatikwaffen des Gebäudesicherheitsdienstes. Sie wurde ohne besondere Vorkommnisse zu ihrem Wagen geleitet. Normalerweise brauchte sie für die Fahrt vom Zentrum Miamis zu den Upper Keys etwas mehr als eine Stunde, selbst wenn sie auf der Überholspur ohne Geschwindigkeitsbegrenzung fuhr. Das Problem war natürlich, dass fast jeder diese Spur bevorzugte, was bei einem Tempo von hundert Meilen und einem Abstand von einer Fahrzeuglänge eine gewisse Kaltblütigkeit verlangte. Die Stoßzeit, dachte sie, hat mehr Ähnlichkeit mit einem Stockcar-Rennen als mit harmlosem, abendlichem Pendlerverkehr; es fehlte nur die Tribüne voller kerniger Voyeure, die auf einen Unfall hofften. Auf den Schnellstraßen außerhalb der Innenstadt wären sie meistens auf ihre Kosten gekommen.
Sie genoss den Adrenalinstoß, den die Fahrt ihr bescherte, vor allem aber die reinigende Wirkung auf ihre Fantasie; die Konzentration auf die Straße, auf die Autos vor und hinter ihr, ließ keinen anderen Gedanken zu. Das machte den Kopf frei und vertrieb sämtliche Tagträumereien, Bürosorgen und Ängste um ihre kranke Mutter. Sie hatte sich dazu erzogen, von der Schnellspur in den weniger riskanten, langsameren Verkehr hinüber zu wechseln, falls sie nicht in der Lage war, sich ganz aufs Fahren zu konzentrieren.
Dies war ein solcher Tag, und das ärgerte sie.
Neidisch blickte sie auf die links vorüberbrausenden Fahrzeuge, die im Licht der Geschäftsviertel glitzerten. Doch fast im selben Moment, in dem sie den Neid auf das unbegrenzte Tempo der anderen spürte, wurde ihr bewusst, dass sie sich über die noch nicht gelösten Rätselworte des anonymen Briefschreibers den Kopf zerbrach: Previous Always Coffee Emerald Thant – vorherig immer Kaffee Smaragd Thant.
Sie vermutete, dass der Stil des Rätsels mehr oder weniger dem des ersten entsprach: ein einfaches Wortspiel, bei dem jedes Wort in einer logischen Verbindung zu einem anderen stand – die Antwort auf das Rätsel, die ihrerseits zur Antwort des Schreibers führen musste.
Es ging nun darum, beides auszutüfteln. Herauszufinden, ob sie voneinander unabhängig oder miteinander verbunden waren – ob darin noch ein verstecktes Zitat oder ein anderer Dreh enthalten war, der die Botschaft des Mannes in einer weiteren Schicht verbarg.
Sie bezweifelte es. Er wollte, dass sie herausfand, was er ihr zu sagen hatte. Er wollte nur, dass es clever, einigermaßen schwierig und so kryptisch wirkte, dass sie ihrerseits wieder antworten würde.
Manipulativ, dachte sie.
Ein Mann, der Kontrolle ausüben will.
Was noch? Ein Mann, der etwas Bestimmtes bezweckt?
Auf jeden Fall.
Aber was?
Sie war nicht sicher, aber es gab nur zwei Möglichkeiten: sexuell oder emotional.
Ein Wagen vor ihr bremste scharf, und sie trat mit aller Kraft auf die Bremse. Während das ABS pulsierte, saß ihr die Panik wie ein Kloß im Hals, und ohne dass sie das Wort Unfall auch nur dachte, kribbelte ihr ganzer Körper, und ihr wurde heiß. Ringsum hörte sie Reifen quietschen und rechnete jeden Moment mit dem Kreischen von Metall. Doch es blieb aus; einen Moment herrschte Stille, dann rollte der Verkehr weiter und legte an Tempo zu. Am Himmel donnerte ein Helikopter; sie sah, wie sich der Scharfschütze über den Lauf seiner Waffe beugte und den Verkehrsstrom im Auge behielt. Sie stellte sich hinter dem dunkel getönten Plexiglas seines Helms eine gelangweilte Miene vor.
Was weiß ich?, fragte sie sich.
Immer noch sehr wenig.
Aber so ist das Spiel nicht gedacht, hielt sie dagegen. Er will, dass ich es am Ende entwirrt habe. Es wäre kein Rätsel, wenn er nicht erkannt werden wollte. Er will nur bestimmen, wann. Die Sache ist gefährlich, wurde ihr klar.
Es gab eine Bar, das Last Stop Inn, etwa auf halber Strecke zwischen Miami und Islamorada, an der Peripherie eines exklusiven Einkaufszentrums, das die Bewohner der feineren, mit Mauern geschützten Vorstädte aufnahm. Sie ging gerne in diese Bar, nicht jeden Tag, aber doch oft genug, um mit einigen Barkeepern flüchtig bekannt zu sein und gelegentlich auch einen anderen Stammkunden wiederzuerkennen. Mit denen verband sie allerdings nichts – nicht einmal das eine oder andere belanglose Gespräch. Sie mochte einfach die oberflächliche Vertrautheit der namenlosen Gesichter, der beliebigen Stimmen, deren Klang sie kannte, der Kameraderie ohne Vorgeschichte. Sie scherte auf die Fahrbahn zur entsprechenden Ausfahrt aus.
Der Parkplatz war zu drei Vierteln voll. Der schwarze Teer schimmerte in einem seltsamen Chiaroscuro von unterschiedlichen Lichtern; das erste Abendrot vermischte sich mit gelegentlichen Scheinwerferpaaren vom angrenzenden Highway. Die nahe gelegene Shoppingmall bot überdachte Gehwege aus Holz und sorgfältig angelegte Pflanzungen – im Wesentlichen Palmen und Farne, die wie ein Dschungel wirken sollten, so dass der Einkaufstrip zur Safari in einem gefälligen Regenwald wurde, in dem teure Boutiquen die wilden Tiere ersetzten. Die Wachleute der Mall trugen die Khakifarben von Großwildjägern zu Tropenhelmen, auch wenn ihre Waffen eher auf städtisches Ambiente zielten. Die Großspurigkeit des Nachbarn hatte auf das Last Stop Inn ein wenig abgefärbt, wenn auch ohne denselben finanziellen Aufwand. Ihre eigenen Anpflanzungen hatten rund um den Parkplatz schattige, dunkle Winkel geschaffen. Susan lief zügig an einer struppigen Palme vorbei, die am Eingang der Bar Wache stand.
Der Hauptraum war schummrig beleuchtet. Es gab ein paar Tische, an denen Geschäftsleute in Gruppen saßen und mit gelockerten Krawatten an ihren Martinis nippten, während zwei Kellnerinnen sie zuvorkommend bedienten. Hinter der langen, dunklen Mahagonibar hatte ein einzelner Keeper, den sie nicht kannte, alle Hände voll zu tun. Er war jung, mit zottigem Haar und Koteletten wie ein Rockstar der Sechziger und fiel mit seinem Erscheinungsbild ein wenig aus dem Rahmen – eindeutig jemand, der sich einen anderen Job wünschte, vielleicht auch hatte, aber nebenbei Cocktails mixte, um über die Runden zu kommen.
Die Hocker vor dem Tresen waren mit etwa zwei Dutzend Gästen besetzt, womit es recht voll, aber nicht eng war. Als Single-Bar war das Inn nicht wirklich geeignet – auch wenn wohl etwa ein Drittel der Kundschaft aus Frauen bestand –, dies war ein Ort zum Trinken, was ein gelegentliches Rendezvous nicht ausschloss. Es war weniger energiegeladen als die Bars, in denen man Beziehungen anknüpfte; man unterhielt sich nicht laut, und die Hintergrundmusik war nicht aufdringlich, sondern verhalten. Es war ein Ort, der für alles geschaffen war, was sich mit einem Glas in der Hand bewerkstelligen ließ.
Susan setzte sich auf einen Hocker fast am Ende des Tresens, in einiger Entfernung zu den anderen Gästen. Der Barkeeper kam auf ihre Seite, wischte die Holzfläche mit einem Tuch ab und quittierte ihre Bestellung eines Scotch on the Rocks mit einem Nicken. Er kehrte fast unverzüglich mit ihrem Drink zurück, stellte ihn ihr hin, nahm ihre Bezahlung entgegen und kehrte ans andere Ende der Bar zurück.
Sie zog ihr Notizbuch und einen Stift heraus, legte beides neben ihr Glas und beugte sich darüber, um mit der Arbeit zu beginnen.
Previous – vorherig, fing sie an. was meinte er damit? Etwas, das vorher kam.
Sie nickte innerlich: Etwas in der ersten Botschaft – Ich habe dich gefunden.
Sie schrieb den Satz in die erste Zeile und darunter:
Coffee Emerald Thant – Kaffee, Smaragd Thant.
Das sind wieder simple Wortspiele. Möchte er zeigen, wie clever er ist? Wie komplex sind sie? Oder fängt er an, ungeduldig zu werden und hat sie leicht gemacht, damit ich mit der Antwort nicht zu viel Zeit vergeude?
Kennt er meine Deadlines bei der Zeitschrift?, überlegte sie. Denn wenn ja, dann wüsste er, dass ich nur bis morgen Zeit habe, um das hier rauszubekommen und mir eine angemessene Antwort einfallen zu lassen, die ich in der regulären Kolumne bringen kann.
Susan nahm einen langen Schluck Scotch und leckte dann am Glasrand. Der Alkohol durchdrang sie wie der Verlockungszauber einer Sirene. Sie mahnte sich, langsam zu trinken; als sie ihren Bruder zuletzt gesehen hatte, hatte sie beobachtet, wie er ein Glas Wodka kippte, als wäre es Wasser, ohne Genuss, nur um durch den Alkohol zu entspannen. Er joggt, dachte sie. Er joggt, treibt leichtsinnige Sportarten und trinkt sich dann die Muskeln, die er sich antrainiert hat, wieder weg. Sie nippte erneut an ihrem Drink und kam zu dem Schluss: Ja, previous – vorherig – bedeutet etwas aus der ersten Botschaft. Und always – immer – weiß ich schon. Sie betrachtete die Worte, wog sie gegeneinander ab und sagte laut vor sich hin:
»Ich habe immer …«
»Ich auch«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken fuhr sie auf ihren Drehstuhl herum.
Der Mann, der hinter ihr stand, hielt einen Drink in der Hand und lächelte teils lässig, teils mit einer aggressiv gespannten Erwartung, die sie augenblicklich abstieß. Er war groß und wuchtig, wahrscheinlich fünfzehn Jahre älter als sie, mit beginnender Glatze und einem Ehering am Finger. Der klassische untergeordnete Typ, wie sie mit einem Blick erkannte: der kleine Mann in der Managementetage, der bei Beförderungen übergangen wird, die Möchtegern-Führungskraft. Auf eine schnelle Nummer aus. Anonymer Sex, bevor er zum Mikrowellendinner nach Hause fährt, zu einer Frau, der es völlig egal ist, wann er nach Hause kommt, und zwei missmutigen Kindern im jugendlichen Alter. Wahrscheinlich hatte nicht einmal der Hund Lust, mit dem Schwanz zu wedeln, wenn er zur Tür hereinkam.
Ihr lief ein Schauder über den Rücken.
Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und fügte hinzu: »Ich wollte schon immer dasselbe.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
»Egal, was Sie schon immer, das hab ich auch schon immer«, antwortete er hastig. »Kann ich Ihnen einen Drink spendieren?«
»Ich hab schon einen.«
»Wie wär’s mit einem zweiten?«
»Nein, danke.«
»Woran arbeiten Sie denn so hart?«
»Meine Sache.«
»Ich könnt’s ja auch zu meiner machen, wie?«
»Das glaube ich kaum.«
Sie ließ den Mann stehen und drehte ihm auf ihrem Hocker den Rücken zu, während er näher kam.
»Nicht besonders freundlich«, bemerkte der Mann.
»Ist das als Frage gemeint?«
»Nein«, gab er zurück, »eher eine Feststellung. Wollen Sie nicht reden?«
»Nein«, antwortete sie. Sie glaubte, dass sie zumindest versuchte, höflich, aber bestimmt zu sein. »Ich möchte in Ruhe gelassen werden, mein Glas austrinken und dann verschwinden.«
»Kommen Sie schon, haben Sie sich nicht so. Erlauben Sie mir, Ihnen einen Drink zu spendieren. Plaudern wir ein bisschen. Und sehen wir, was passiert. Man kann nie wissen. Ich wette, wir haben eine Menge gemein.«
»Nein, danke«, lehnte sie ab. »Und ich glaube nicht, dass wir auch nur das Geringste gemein haben. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich war gerade mit etwas beschäftigt.«
Der Mann lächelte, nahm noch einen Schluck aus seinem Glas und nickte. Er beugte sich zu ihr vor, nicht betrunken, denn das war er nicht, und auch nicht allzu bedrohlich, denn bis zu diesem Moment hatte er nur zu optimistisch gewirkt – vielleicht ein wenig zu hoffnungsvoll –, doch mit einer plötzlichen Intensität, die sie zurückzucken ließ.
»Schlampe«, zischte er. »Fick dich, du Schlampe.«
Ihr blieb die Luft weg.
Der Mann kam noch näher heran, und sie roch das aufdringliche Aftershave und seine Fahne.
»Weißt du, was ich am liebsten mit dir machen würde?«, fragte er im Flüsterton, allerdings ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich würde dir gern dein beschissenes Herz herausschneiden und darauf rumtrampeln, während du zusiehst.«
Bevor sie Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, machte der Mann plötzlich kehrt und verschwand mit zügigen Schritten entlang der Bar, bis sich sein breiter Rücken in der anonymen Masse der anderen Geschäftsanzüge verlor.
Sie brauchte eine Weile, um sich zu fassen.
Der Ausbruch von Obszönitäten hatte sie wie Ohrfeigen getroffen. Sie atmete hastig tief ein und sagte sich: Jeder ist gefährlich. Niemand ist sicher.
Sie merkte, wie verkrampft sie innerlich war, wie es ihr den Magen zur Größe einer Faust zusammengezogen hatte. Vergiss nicht, erinnerte sie sich. Sei immer auf der Hut, jeden Augenblick.
Sie drückte sich ihr Glas an die Stirn, auch wenn ihr nicht heiß war, und nahm dann einen großen Schluck, während sie aufsah und feststellte, dass der Barkeeper mit dem Rücken zu ihr arbeitete. Er schüttete Kaffeepulver in eine Espressomaschine. Sie bezweifelte, dass er den Mann hatte kommen sehen. Sie drehte sich einmal ganz auf ihrem Hocker herum, doch niemand schien auf irgendetwas zu achten, das außerhalb eines Radius von zwanzig Zentimetern lag. Schatten und Geräusche schienen unterschiedliche Botschaften auszusenden und wirkten verstörend. Sie lehnte sich ein Stück zurück und blickte vorsichtig die Bar entlang, um zu sehen, ob der Mann noch da war, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, doch sie konnte sich nur noch an den Ton und die plötzliche Wut in seinem Flüstern erinnern. Sie wandte sich wieder der Botschaft auf dem Schreibblock vor ihr zu, starrte auf die Worte, dann wieder zum Barkeeper, der eine Kanne unter die Öffnung der Maschine hielt und einen Schritt zurücktrat, um dem steten schwarzen Tropfen zuzusehen.
Coffee, dachte sie plötzlich. Kaffee wird aus Bohnen gemacht.
I have always bean/been – Ich war die ganze Zeit…
Sie schrieb es auf und hob den Kopf.
Es kam ihr vor, als würde sie beobachtet, und wirbelte auf der Suche nach dem Mann noch einmal im Kreis. Doch auch diesmal ließ er sich nicht blicken.
Für einen Moment versuchte sie, das Gefühl abzuschütteln, doch vergeblich. Bedächtig nahm sie Stift und Block und steckte beides in ihre Handtasche neben die kleine Automatikpistole, die zuunterst lag. Als sie das beruhigende kühle Metall der Waffe spürte, witzelte sie: Zumindest bin ich nicht allein.
Susan taxierte die Situation: ein überfüllter Raum, Dutzende unzuverlässige Zeugen, wahrscheinlich niemand dabei, der sich auch nur an ihre Anwesenheit erinnern würde. Im Geist schritt sie den Weg zum Parkplatz ab, schätzte die Entfernung zu ihrem Auto und versuchte, sich an jeden dunklen Winkel zu erinnern, in dem der Mann, der ihr das Herz herausschneiden wollte, lauern könnte. Sie dachte daran, den Barkeeper zu bitten, sie hinauszubegleiten, bezweifelte jedoch, dass er dazu bereit war. Er stand allein hinter dem Tresen und würde seinen Job riskieren, wenn er seinen Posten aufgab.
Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Drink. Du bist verrückt, dachte sie. Halt dich ans Licht, vermeide die Schatten, und dir wird nichts passieren.
Sie schob das Glas mit dem Rest Scotch von sich, nahm ihre Tasche, legte sich den langen Riemen über die rechte Schulter, so dass sie unauffällig die rechte Hand hineinstecken, die Pistole packen und den Finger am Abzugsbügel halten konnte.
Jemand musste einen Witz gerissen haben, denn an der Bar brach lautes Gelächter aus. Sie rutschte von ihrem Sitz und lief mit gesenktem Kopf zügig durch das Menschengewühl. Am Ende der Bar befand sich links von ihr eine Doppeltür mit einem Zeichen für die Damentoilette. Darüber stand in Rotschrift AUSGANG. Das leuchtete unmittelbar ein: Mache einen Umweg über die Damentoilette und gib dem Kerl Zeit, auf dem Parkplatz vor der Bar herumzulungern, da er vermuten muss, dass du durch die Eingangstür kommst; verschwinde stattdessen durch eine Hintertür, laufe so schnell wie möglich zum Auto, wähle eine andere Route und fahre aus einer anderen Richtung nach Hause.
Falls er auf sie wartete, hätte sie einen Vorsprung. Vielleicht konnte sie ihn sogar ganz austricksen.
Im selben Moment drückte sie die Schwingtür auf und befand sich in einem schmalen Flur. Eine einzige, nackte Glühbirne warf ihr Licht auf fleckige, vergilbte Wände, an denen mehrere Kästen Alkoholika gestapelt waren. An einer anderen Wand führte sie ein handgemaltes Schild mit einem grob gezeichneten Pfeil Richtung Toiletten. Sie vermutete, dass der Ausgang direkt dahinter lag. Sobald sich die schallgedämmten Türen in ihrem Rücken geschlossen hatten und den Lärm von der Bar dämpften, war es bedeutend leiser. Sie marschierte den Flur entlang und bog nach links ab. Der schmale Korridor setzte sich noch drei Meter fort und endete vor zwei Türen an gegenüberliegenden Wänden – für HERREN und für DAMEN. Der Ausgang befand sich dazwischen. Zu ihrem Schrecken sah sie noch zwei weitere Dinge: ein rotes Schild an der Tür nach draußen mit der Aufschrift: NOTAUSGANG – ACHTUNG ALARM und eine schwere, in der angrenzenden Wand verankerte Metallkette mit Vorhängeschloss, die um die Klinke gewunden war.
»Toller Notausgang«, flüsterte sie.
Sie zögerte einen Moment, machte einen Schritt zurück Richtung Bar und drehte sich in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass sie alleine war, dann entschied sie sich für die Damentoilette. Der Raum war knapp bemessen und reichte nur für zwei Kabinen mit zwei Becken an der gegenüberliegenden Wand. Wenig passend befand sich nur ein einziger Spiegel zwischen den Waschgelegenheiten. Die Örtlichkeit war weder sauber noch gut ausgestattet. In dem grellen Neonlicht hätte jede kränklich gewirkt, egal, wie viel Make-up sie auflegte. In einer Ecke befand sich ein roter Metallautomat für Kondome und Tampons. Ihr stieg der scharfe Geruch von zu viel Desinfektionsmitteln in die Nase. Sie seufzte, betrat eine der Kabinen und setzte sich resigniert auf die Toilette. Sie war gerade fertig und griff nach dem Spülhebel, als sie hörte, wie sich die Haupttür öffnete.
Sie hielt inne und horchte gespannt auf das Klicken von Stöckelschuhen auf dem verfleckten Linoleum, hörte jedoch stattdessen ein schlurfendes Geräusch und dann das Zuschlagen der Tür.
Und dann die Stimme des Mannes. »Schlampe«, knurrte er. »Komm raus.«
Sie drückte sich an die hintere Wand der Kabine. An der Tür befand sich ein kleiner Riegel, doch sie bezweifelte, dass er auch nur einem einzigen Tritt standhielt. Ohne zu antworten, griff sie in ihre Tasche und zog die Automatik heraus. Sie entsicherte, brachte die Waffe in Anschlag und wartete.
»Komm raus«, wiederholte der Mann. »Zwing mich nicht, dich zu holen.«
Sie wollte schon mit einer Drohung antworten, so etwas wie: »Hau ab, oder ich schieße«, besann sich jedoch. Sie musste alle Willenskraft zusammenreißen, um ihren rasenden Puls in den Griff zu bekommen, und sie sagte sich ruhig: Er weiß nicht, dass du bewaffnet bist. Wenn er klug wäre, wüsste er es, aber das ist er nicht. Er ist zwar nicht stockbetrunken, sondern nur so, dass er seine Aggressionen rauslässt und ein bisschen verblödet ist, aber wahrscheinlich verdient er es nicht einmal, zu sterben – allerdings war sie sich bei näherer Betrachtung dessen nicht so sicher.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte nur ein wenig.
»Komm schon raus, Schlampe, ich hab ’ne Überraschung für dich.«
Sie hörte, wie er seinen Reißverschluss hoch- und runterzog. »Eine große Überraschung«, meinte er lachend.
Sie änderte ihre Meinung und legte den Finger fester um den Abzug. Ich bring ihn um, dachte sie.
»Ich bleibe hier drin. Wenn Sie nicht sofort verschwinden, schreie ich«, rief sie. Dabei hatte sie die Pistole unverwandt auf die Kabinentür gerichtet, genau geradeaus. Sie überlegte, ob eine Ladung das Metall durchschlagen und den Mann dahinter verwunden würde. Möglich, aber unwahrscheinlich. Sie stählte sich: Wenn er die Tür eintritt, sieh zu, dass du trotz Schock und Krach nicht danebentriffst. Halte die Arme ruhig und ziele tief. Schieß dreimal; heb dir vorsichtshalber ein paar Schuss auf. Schieß nicht daneben.
»Komm schon«, lockte der Mann. »Lass uns ein bisschen Spaß miteinander haben.«
»Hau ab«, erwiderte sie.
»Schlampe«, knurrte der Mann erneut und diesmal wieder im Flüsterton.
Die Kabinentür verbeulte sich, als er kräftig dagegentrat.
»Du glaubst, du bist sicher?«, fragte er. Er klopfte an die Tür wie ein Handelsvertreter. »Das Ding hält mich nicht ab.«
Sie antwortete nicht, und er klopfte wieder.
Er lachte. »Ich werde husten und pusten und dir dein Haus zusammenpusten, du kleines Schwein.«
Die Tür dröhnte unter dem zweiten Tritt. Sie zielte den Lauf entlang und hielt den Atem an. Sie staunte, dass die Tür gehalten hatte.
»Was meinst du, Schlampe? Aller guten Dinge sind drei.«
Sie zog mit dem Daumen den Hammer zurück und straffte die Schultern, um jeden Moment zu schießen. Doch der dritte Tritt ließ auf sich warten. Stattdessen hörte sie, wie plötzlich die Haupttür aufging und mit einem Knall wieder zufiel.
Es trat kurze Stille ein, bevor sie den Mann sagen hörte: »Wer zum Teufel sind Sie denn?«
Es kam keine Antwort.
Stattdessen erklang ein langgezogenes Ächzen, gefolgt von einem Gurgeln und dann einem Zischen. Danach ein Krachen und Tritte – wie ein kurzer Stepptanz, der nach Sekunden vorbei war. Einen Moment herrschte Stille, dann hörte sie ein langgezogenes Blubbern, als ob aus einem Ballon die Luft entwiche. Sie konnte nichts sehen und war nicht bereit, ihre Schießstellung aufzugeben, um sich zu bücken und durch den Türspalt zu spähen.
Sie hörte ein paar kurze, angestrengte Atemzüge. Dann lief Wasser, und wenig später wurde der Hahn mit einem Quietschen zugedreht. Dann hörte sie Schritte und zuletzt, wie jemand ohne Hast die Tür aufmachte und hinter sich schloss.
Die Pistole im Anschlag, wartete sie weiter und versuchte, sich auszumalen, was geschehen war.
Sie hatte das Gefühl dafür verloren, ob Sekunden oder Minuten vergangen waren, seit die dritte Person die Damentoilette betreten und wieder verlassen hatte. Sie wusste nur, dass Stille eingetreten war und dass sie keinen Laut mehr hörte außer ihrem eigenen beschleunigten Atem. Vom Adrenalin dröhnte ihr der Kopf, als sie schließlich die Waffe sinken ließ und nach dem Riegel griff.
Sie schob ihn langsam beiseite und zog behutsam die Tür auf. Zuerst sah sie die Füße des Mannes. Sie waren nach oben gerichtet, als hätte er sich auf den Boden gesetzt. Er trug teure braune Lederschuhe, und sie fragte sich, wieso ihr das nicht früher aufgefallen war.
Susan trat aus der Kabine und drehte sich zu dem Mann um. Sie biss sich fest auf die Lippe, um den Schrei zu unterdrücken, der sich in ihrer Kehle staute.
Der Mann war in dem kleinen Zwischenraum zwischen den beiden Becken in sitzender Stellung zusammengesackt. Er hatte die Augen geöffnet und starrte sie mit einem ungläubigen Staunen an. Sein Mund klaffte weit offen.
Seine Kehle war zu einem breiten, rotschwarzen Hautspalt aufgeschlitzt – wie ein besonders sarkastisches zweites Grinsen.
Etwas Blut hatte sich auf dem weißen Hemd gesammelt, die Brust verschmiert und dann unter ihm eine Lache gebildet. Sein Hosenlatz war offen und seine Genitalien entblößt.
Susan taumelte von der Leiche zurück.
Schock, Angst und Panik durchzuckten sie wie Stromschläge. Sie begriff kaum, was geschehen war, und noch weniger, was sie machen sollte. Eine Sekunde lang starrte sie auf die Automatik in ihrer Hand, als hätte sie vergessen, dass sie davon Gebrauch gemacht hatte, als hätte irgendwie ihr Schuss den Mann umgebracht, der, vom Tod überrascht, mit leerem Blick am Boden saß. Als sie eine Woge der Übelkeit überschwemmte, stieß sie die Pistole in ihre Handtasche. Sie schnappte nach Luft und kämpfte den Brechreiz herunter.
Susan war sich nicht bewusst, dass sie wie vom Schlag getroffen zurückgezuckt war, bis sie die Wand im Rücken spürte. Sie befahl sich, die Leiche anzusehen, und merkte erst da zu ihrem eigenen Staunen, dass sie die ganze Zeit darauf starrte und ihren Blick nicht abwenden konnte. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, sich Details einzuprägen, und hatte plötzlich den Gedanken, ihr Bruder wüsste jetzt ganz genau, was zu tun war. Er hätte richtig gedeutet, was passiert war und warum und wie dieser Mord sich in die entsprechende Statistik und einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang einordnete. Von solchen Gedanken wurde ihr nur noch schwindeliger, und sie presste den Rücken an die Wand, als hoffte sie, die Mauer zu durchstoßen und nach hinten zu entkommen, statt an der Leiche vorbei zu müssen.
Sie starrte weiter auf die Stelle. Die Brieftasche des Mannes lag offen neben ihm, und in ihren Augen sah es so aus, als hätte sie jemand geplündert. Ein Raubüberfall?, fragte sie sich. Unwillkürlich streckte sie die Hand danach aus, zog sie aber wieder zurück, als hätte sie eine Giftschlange vor sich. Sie mahnte sich, nichts anzufassen.
»Du bist nicht da gewesen«, flüsterte sie.
Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, die sich am Rande der Panik überschlugen. Nach wenigen Sekunden merkte sie, dass sie ihre Emotionen wieder ein wenig unter Kontrolle hatte. Du bist kein kleines Kind. Das ist nicht der erste Tote, den du siehst, auch wenn du noch keinen so hautnah erlebt hast.
»Die Toilette!«, erinnerte sie sich laut.
Sie hatte nicht gespült. DNA. Fingerabdrücke. Sie kehrte in die Kabine zurück, schnappte sich die Rolle Papier und wischte das Türschloss ab. Dann drückte sie den Hebel. Während das Wasser gurgelte, trat sie heraus und betrachtete die Leiche. Plötzlich war sie eiskalt und gefasst.
»Du hast es verdient«, sagte sie. Auch wenn sie nicht sicher war, ob sie es glaubte, schien es doch ein ebenso passendes Epitaph zu sein wie jedes andere. Sie zeigte auf die freiliegenden Weichteile des Mannes.
»Was hattest du damit vor?«
Susan zwang sich, noch einmal die Wunde im Hals des Mannes anzuschauen.
Was war passiert? Ein Rasiermesser, vermutete sie, oder ein Jagdmesser vielleicht, das die Halsschlagader quer durchtrennt hatte.
Aber wieso? Und wer?
Bei diesen Fragen beschleunigte sich erneut ihr Puls.
Behutsam, als gelte es, keine schlafenden Hunde zu wecken, öffnete sie die Toilettentür und trat in den Flur. Sie sah einen einzelnen Teilabdruck einer Sohle in rotbraunem Blut am Boden. Als sich die Tür hinter ihr schloss, machte sie einen großen Schritt darüber und vergewisserte sich, dass sie nicht dieselben verräterischen Spuren hinterließ. Ihre Schuhe waren sauber.
Susan stolperte den Flur entlang und bog nach rechts zu der Doppeltür ab, die in die Bar zurück führte. Sie lief schneller, zwang sich dann aber, nicht zu hetzen. Für einen Moment überlegte sie, ob sie zum Barkeeper gehen sollte, damit er die Polizei rief. Doch so schnell der Gedanke kam, so zügig war er wieder verschwunden. Es war etwas geschehen, an dem sie einen Anteil hatte, auch wenn sie nicht sagen konnte, wie und warum.
Sie legte eine Eisschicht über ihre Emotionen und betrat die Bar.
Dort schlug ihr lautes Stimmengewirr entgegen. In den wenigen Minuten, die sie weg gewesen war, hatte sich der Raum gefüllt. Sie warf einen Blick auf ein paar Frauen und dachte, dass es wohl nicht lange dauern würde, bis eine von ihnen ebenfalls nach hinten verschwand. Sie ging die Reihe der Männer durch.
Welcher von euch ist ein Mörder?, fragte sie sich.
Und warum?
Nicht einmal ansatzweise wollte sie über eine Antwort nachdenken. Sie wollte fliehen.
Ruhig und stetig, fast auf Zehenspitzen, um möglichst keine Aufmerksamkeit zu erregen, strebte sie dem Ausgang zu. Sie schloss sich einer Gruppe Geschäftsleute an, die das Lokal gerade verließ, und tat so, als gehörte sie dazu, bis sie in die Nacht hinaustrat.
Susan schnappte nach der schwarzen Luft, als wäre sie Wasser an einem heißen Tag. Sie hob den Kopf und warf prüfende Blicke die Seiten des Gebäudes entlang, in dem sich die Bar befand. Langsam ließ sie den Blick von einer Laterne zur nächsten wandern, die ihr schwaches gelbes Licht auf den Parkplatz warfen. Sie suchte nach Überwachungskameras. Die besseren Lokale hatten sie innen wie außen installiert. Doch Susan konnte keine entdecken und murmelte ein leises Dankeschön an die knauserigen Eigentümer des Last Stop Inn, wo immer sie gerade waren. Sie überlegte, ob vielleicht eine Kamera ihre Begegnung mit dem Mann an der Bar aufgezeichnet hatte, bezweifelte es dann aber. Wie dem auch sei – falls es ein solches Video gab, dann würde die Polizei sie früher oder später ausfindig machen, und sie konnte ihnen das Wenige sagen, das sie wusste. Oder auch lügen und nichts verraten.
Ohne es zu merken, hatte sie ihre Schritte auf dem Parkplatz beschleunigt, bis sie ihren Wagen erreichte. Sie schloss die Tür auf, warf sich hinters Lenkrad und stieß den Schlüssel in die Zündung. Sie wollte den Gang einlegen und so schnell wie möglich davonbrausen, doch erneut brachte sie ihre Emotionen unter Kontrolle und verlangte von ihnen, sich dem praktischen Menschenverstand und dem Bedürfnis nach Sicherheit zu beugen. Bewusst langsam ließ sie den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. Sie sah in die Spiegel und fuhr aus ihrer Lücke. Immer noch unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung, trat sie in gemächlichem Tempo die Flucht an. Dabei war sie sich nicht bewusst, dass ein professioneller Verbrecher ihre ruhige Hand am Steuer und die Coolness ihres Rückzugs bewundert hätte – erst Stunden später kam ihr dieser Gedanke.
Susan fuhr eine Viertelstunde, erst dann hatte sie das Gefühl, sich von dem Mann mit der aufgeschlitzten Kehle weit genug entfernt zu haben. Im selben Moment übermannte sie eine bleierne Erschöpfung, die ihr in jede Pore drang, und sie hatte das Gefühl, sie müsste das Lenkrad loslassen, damit ihre Hände endlich zittern konnten.
Schlingernd bog sie auf den nächsten Parkplatz ein und suchte sich eine gut beleuchtete Lücke direkt gegenüber dem soliden, quadratischen Bau einer großen, nationalen Elektronikkette. An der Ladenfront prangte eine wuchtige Leuchtschrift in Neonrot, die einen Farbklecks in den dunklen Himmel warf.
Sie wollte sich darüber klarwerden, was in der Bar geschehen war, doch es blieb schwer zu fassen. Ich saß in der Damentoilette in der Falle, versuchte sie, die Ereignisse zusammenzufassen, und der Mann kam rein, und er wollte mich vergewaltigen, das heißt, vielleicht, vielleicht wollte er sich auch nur entblößen, aber so oder so hatte er mich in die Enge getrieben, und dann kam ein anderer Mann herein, der den ersten, ohne ein Wort zu sagen – er hat kein einziges Wort gesagt – der den Mann einfach getötet, sein Geld gestohlen und mich zurückgelassen hat. Wusste er eigentlich, dass ich da war? Sicher. Aber wieso hat er nicht geredet? Besonders, nachdem er mich gerettet hat?
Der Gedanke machte ihr zu schaffen, und sie wälzte ihn eine Weile umher, bis sie es nicht mehr leugnen konnte: Der Mörder hat mich gerettet.
Sie merkte, dass sie das große rote Schild an der Vorderseite des Computergeschäfts anstarrte. Das Schild sagte ihr etwas, aber es schien nebulös, als hörte sie jemanden weit weg immer wieder ein und denselben Ton auf einem Musikinstrument spielen. Ihr Blick ruhte auf dem Schild, und sie war froh, einen Moment nicht an die Ereignisse in der Bar zu denken. Irgendwann sprach sie den Namen aus, wenn auch leise. »The Wiz.«
Dann fragte sie sich: »Was ist das?«
Sie bekam augenblicklich eine trockene Kehle.
Emerald – Smaragd.
The Wizard of Oz, der Zauberer von Oz, lebte in der Smaragdstadt.
Sie sang vor sich hin: »… the wiz, the wiz, the wiz, the wiz, what a wonderful wizard he is, he is …«
Sie griff nach dem Notizblock in ihrer Tasche und schob die Pistole beiseite, um dranzukommen. Previous Always Coffee Emerald Thant – vorherig immer Kaffee Smaragd Thant.
Susan merkte, wie die unterschiedlichsten Gefühle in einer einzigen Kaskade in ihr aufwallten – Angst, Neugier, eine bizarre Befriedigung. Das letzte Wort, dachte sie, das hätte ich früher sehen sollen. Viel früher, weil es das leichteste ist. Mitte der sechziger Jahre, derselben Zeit, aus der ihre Botschaft an den Briefschreiber stammte, kam der Generalsekretär der Vereinten Nationen aus Birma. Er war nicht so bekannt wie ein paar von den Männern, die ihm im Amt vorausgegangen oder auch gefolgt waren, aber er war ihr geläufig. Nachname: Thant. Vorname entsprechend der Landessitte: der Buchstabe U.
Sie sagte es laut vor sich hin: »Previous Always Coffee Emerald Thant.«
I have always bean wiz u – Ich bin immer bei dir gewesen.
Ihre Hände fingen plötzlich an zu zittern, und sie ließ den Bleistift auf den Wagenboden fallen, weil sie sich am Lenkrad festhalten musste. Sie schnappte nach Luft, und in dieser Sekunde hätte sie nicht sagen können, ob das noch die Restangst von den Ereignissen des Abends war oder eine neue Panik, die aus den eben zu Papier gebrachten Worten hochbrodelte, oder sogar eine noch dunklere Kombination aus beiden.