21. KAPITEL
Vermisst
Jeffrey und Susan standen an der Ecke der Abode Street in einer kleinen Gemeinde namens Sierra, etwa anderthalb Stunden nördlich von New Washington. Ein Fahrer von der Staatssicherheit lehnte einen halben Häuserblock entfernt an einem Wagen und sah ihnen dabei zu, wie sie die Straße in beide Richtungen absuchten. Für einen Moment hatte Jeffrey sich gefragt, ob dieser Agent der neue Auftragskiller sei, der ihnen wie ein Schatten folgen sollte, um den richtigen Moment abzupassen, in dem er ihren Vater in die Schusslinie bekam. Doch er bezweifelte es. Der Ersatzkiller wird im Verborgenen arbeiten, dachte er. Versteckt und anonym. Er würde ihnen folgen und seine Chance abpassen, um aufzutauchen. Vermutlich waren solche Fähigkeiten im Einundfünfzigsten Bundesstaat eher rar gesät, auch wenn es in den übrigen Staaten ein Überangebot gab. In dem neuen Gebilde verfügte die Polizei eher über Bürohengste, die den Kugelschreiber und keine Knarre schwingen konnten. Deshalb, vermutete er, wog der Verlust von Agent Martin schwer.
Er wirbelte herum, als könne er irgendwo den Doppelgänger des Agenten in einer Ecke lauern sehen. Er entdeckte jedoch niemanden, womit er eigentlich auch gerechnet hatte. Manson war nicht der Mann, der denselben Fehler zweimal machen würde.
Ein paar Meter von Bruder und Schwester entfernt standen lediglich ein Mann und eine Frau mittleren Alters. Sie scharrten nervös mit den Füßen, während sie unverwandt auf die Claytons starrten, ohne miteinander zu sprechen. Es handelte sich um den Direktor und seine Stellvertreterin der Highschool von Sierra. Der Mann war eine Karikatur seiner Spezies: klein, mit runden Schultern, Stirnglatze und der nervösen Angewohnheit, sich ständig die Hände zu reiben, als wären sie kalt. Dazu räusperte er sich immerzu, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ohne andererseits ein Wort zu sagen; gelegentlich warf er dem Polizisten einen Blick zu, als wollte er ihm erklären, weshalb sie beide so jäh aus ihrer Alltagsroutine gerissen worden und in dieser kleinen Straße vierhundert Meter von der Schule entfernt gelandet waren.
Die Straße selbst war kaum mehr als ein Streifen staubbedeckten Teers, nicht einmal zwei Häuserblocks lang. Es schien fast übertrieben, ihr einen Namen zu geben. Auf halber Höhe des zweiten Blocks befand sich eine glänzend weiß und dunkelgrün gestrichene Wellblechgarage – wohl die Farben der Schule, nahm Susan an. Einen Teil des Dachs zierte eine riesige Zeichnung von einem Baum mit Armen, Beinen, Gesicht und gefletschten Zähnen und dem Versprechen: KAMPF UM DIE FICHTEN AN DER SIERRA HIGH.
Jeffrey und Susan liefen langsam die Straße hinunter und ließen den Blick in alle Richtungen schweifen, um irgendeinen Anhaltspunkt dafür zu finden, was am Morgen geschehen war. Die Straße endete an einem gelben Metalltor, das eine kleine, unbefestigte Zufahrt verschloss. Sonst gab es keinen Zaun oder dergleichen, sondern nur ein paar Haufen losen Schotter am Tor. Neben einem der Betonpfeiler, an denen die Torpfosten befestigt waren, entdeckte Jeffrey einen farbigen Gegenstand. Er ging hinüber und fand einen roten Schnellhefter aus Plastik. Er hob ihn an einer Ecke hoch und sah, dass sich darin ein halbes Dutzend gedruckte Seiten befanden. Wortlos zeigte er ihn seiner Schwester.
Sie wandten sich beide um und nahmen die Garage unter die Lupe. Sie hatte die Größe eines Basketball-Spielfelds, mit anderthalb Geschossen. Es gab keine Fenster, und an der großen Doppelschwingtür befand sich ein Vorhängeschloss. Die Geschwister liefen um das Gebäude herum. Jeffrey suchte den Boden ab, in der Hoffnung, vielleicht auf Reifenspuren zu stoßen, doch es war staubtrocken und alles vom Wind sauber gefegt.
Als sie wieder hinter dem Gebäude hervortraten, kam der Schuldirekter auf sie zu.
»In dem Schuppen lagern wir unser schweres Gerät«, erklärte er. »Ein paar Traktoren mit Mähvorrichtungen, eine Schneefräse, die wir nie benutzen, Schläuche und Sprinkleranlagen. All die Sachen zur Pflege der Football- und Fußballplätze. Dann noch die Linienmarkierer. Ein paar der Trainer bewahren da außerdem Dinge wie Fußballtore und Schlagtunnel auf.«
»Und das Vorhängeschloss?«
»Die Kombination kennen ein paar Leute, vor allem so ziemlich jeder in der Hausmeisterei. Das Ding dient eigentlich nur dazu, überagile Schüler daran zu hindern, sich einen Traktor für einen wilden Samstagabend auszuleihen.«
Jeffrey drehte sich um. Der unbefestigte Weg, der durch das Tor versperrt war, führte durch eine dichte Baumgruppe. »Hier durch?«, fragte er und zeigte darauf.
»Der Weg endet an den Sportplätzen hinter der Schule«, sagte der Direktor und rieb sich vehement die Hände. »Das Tor soll Schülerfahrzeuge draußen halten. Weiter nichts. Tatsächlich hatten wir noch nie ein Problem, aber Sie wissen schon, bei Teenagern ist Vorsicht besser als Nachsicht.«
»Bestimmt«, pflichtete Jeffrey bei.
Die stellvertretende Direktorin, eine Frau in Khakihose und blauem Blazer, mit einer Brille an einem Goldkettchen um den Hals, kam auf Susan und Jeffrey zu. Sie war vielleicht fünfzehn Zentimeter größer als der Direktor und sprach in einem amtlich sachlichen Ton, der von Selbstdisziplin kündete.
»Sie dürfen eigentlich nicht über diesen Weg zur Schule kommen. Das ist zwar keine klare Vorschrift, aber …«
»Es ist eine Abkürzung, nicht wahr?«
»Ein paar von den Schülern, die in den braunen Wohngebieten nicht weit von hier leben, nehmen den Weg, statt ganz um das Gelände herum zu laufen. Vor allem, wenn sie spät dran sind. Ich meine, wir legen natürlich Wert darauf, dass sie pünktlich in der Schule erscheinen …«
Susan blickte auf ihren Notizblock. »Kimberly Lewis, wann hatte sie heute ihre erste Stunde?«
Die stellvertretende Direktorin öffnete eine Aktentasche aus Billigleder und zog einen gelben Schnellhefter heraus. Sie öffnete ihn, überflog eine Seite und sagte dann: »Zum Schulbeginn läutet es um zwanzig nach sieben. Sie hatte die erste Stunde im Lesesaal. Die geht dann bis viertel nach acht. Um zwanzig nach acht hätte sie im Leistungskurs amerikanische Geschichte sein müssen. Da ist sie nicht erschienen.«
Susan nickte. »Sie musste heute ein Referat abliefern, oder?« Die Direktorin sah sie erstaunt an. »Ja, tatsächlich.«
Bevor sie weitersprach, warf Susan einen Blick auf die Mappe, die Jeffrey neben dem Tor aufgelesen hatte. »Über den ›Kompromiss von 1850‹. Und was ist mit dem Lesesaal? Sie ist in der Oberstufe, nicht wahr? Musste sie denn da sein?«
»Nein. Sie war auf der Liste der Vertrauensschüler. Für die ist die Stillarbeit nicht obligatorisch …«
»Demnach könnte sie später als das Gros der Schüler gekommen sein?«
»Heute ja. Da waren so ziemlich alle anderen schon im Unterricht.«
»Sagen Sie, gab es Reparaturarbeiten? Welche Handwerker waren in der Schule?«
»Heute werden im Spindraum der Jungen die Wände gestrichen. Wir mussten den Kindern eine Nachricht schicken, dass der Spindraum für heute geschlossen bleibt. Bis die Farbe trocken ist. Damit keiner reinkommt. Die Malerutensilien stehen in der Hausmeisterei in der Schule.«
Susan blickte zu ihrem Bruder hinüber und sah, dass jede Bemerkung ihn traf wie ein Stilett – jedes Wort war ein schmerzhafter Stich: das Zusammenspiel kleiner Details, die sich unerbittlich zu einer Gelegenheit für den Mörder zusammenfügten. Sie selbst empfand dagegen nur kalte Wut, als ob jede neue Information dem Zorn in ihrem Innern neue Nahrung gäbe. Es war genauso wie das Gefühl, das in ihr hochgekocht war, als sie die Bilder der ermordeten jungen Frauen angestarrt hatte.
»Also«, schaltete sich Jeffrey in die Unterhaltung ein, »was passierte, nachdem sie nicht aufgetaucht war?« Sein Ton klang ein wenig hart.
»Nun, ich bin erst in der Mitte des Vormittags dazu gekommen, die Abwesenheitsmeldungen durchzugehen«, berichtete die stellvertretende Direktorin. »Die übliche Verfahrensweise sieht einen Anruf bei den Eltern vor, falls ein Schüler sich bis dahin nicht schon von sich aus gemeldet hat. Kurz vor Mittag hab ich bei den Lewis’ zu Hause angerufen …«
»Aber es hat sich niemand gemeldet, richtig?«
»Beide Elternteile arbeiten, und ich wollte sie nicht im Büro stören. Ich dachte, ich bekomme Kim ans Telefon. Ich nahm an, sie sei krank. Bei uns ging eine Grippe um, hat die Kinder wirklich schlimm erwischt. Meistens schlafen sie sich einfach gesund …«
»Aber es ging keiner ran, richtig?«, hakte Jeffrey eindringlicher nach.
Die Direktorin sah ihn ärgerlich an. »Korrekt.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Nun, ich dachte, ich versuche es später noch mal, wenn sie aufgewacht ist.«
»Haben Sie bei der Staatssicherheit angerufen und dort gemeldet, dass eine Schülerin vermisst wird?«
Die Direktorin beugte sich mit einem Ruck nach vorn. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mr. Clayton: Wieso sollten wir das tun? Unentschuldigtes Fehlen ist keine Sicherheitsfrage, sondern eine Frage der Disziplin. Die intern geregelt wird.«
Jeffrey zögerte, doch seine Schwester antwortete für ihn.
»Es kommt drauf an, um was für eine Art von unentschuldigtem Fehlen es sich handelt«, schränkte sie bitter ein.
»Also«, schnaubte die Direktorin, »Kimberly Lewis gehört nicht zu den Schülerinnen, die sich in Schwierigkeiten bringen. Sie ist eine erstklassige Schülerin und sehr beliebt …«
»Hat sie Freunde? Einen Freund?«, fragte Susan.
Zuerst zögerte die Direktorin. »Nein. Keinen Freund. Dieses Jahr nicht. Sie ist durch und durch ein gutes Mädchen. Wahrscheinlich auf dem Weg zu einem Spitzencollege.«
»Jetzt nicht mehr«, murmelte Susan so leise, dass es nur ihr Bruder hören konnte.
»Letztes Jahr hatte sie einen Freund?«, fragte Jeffrey plötzlich neugierig.
Die stellvertretende Direktorin zögerte wieder. »Ja. Letztes Jahr schon. Sie hatte eine intensive Beziehung von der Art, von der wir eher abraten. Glücklicherweise war der fragliche junge Mann eine Klasse über ihr. Er ging ans College, und die Beziehung brach damit ab, nehme ich an.«
»Sie mochten den Jungen nicht?«, vermutete Jeffrey.
Susan drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Und wenn schon?«, flüsterte sie ihm zu. »Wir wissen doch, was hier passiert ist, oder?«
Jeffrey bat die Direktorin mit der erhobenen Hand um eine Pause, nahm seine Schwester am Ellbogen und trat mit ihr ein Stück zur Seite. »Ja«, pflichtete er leise bei, »wir wissen, was hier passiert ist. Aber wann hat er sich dieses Mädchen ausgesucht? Auf welchem Wege hat er seine Informationen eingeholt? Vielleicht weiß der Exfreund etwas. Vielleicht war die Beziehung, von der die Direktorin meint, sie hätte sich aufgelöst, noch gar nicht vorbei. Jedenfalls könnten wir hier ein bisschen tiefer nachhaken.«
Susan nickte. »Ich bin ungeduldig«, sah sie ein.
»Nein«, erwiderte ihr Bruder, »du bist nur konzentriert.«
Sie kehrten zu den beiden Schulleitern zurück.
»Sie mochten den Jungen nicht?«, wiederholte Jeffrey seine Frage.
»Ein schwieriger, aber äußerst intelligenter junger Mann. Ist irgendwo an der Ostküste ans College gegangen.«
»Wie schwierig?«
»Grausam«, erklärte die Frau, »manipulativ. Man hatte immer das Gefühl, als machte er sich über einen lustig. Ich habe ihm keine Träne nachgeweint, als er seinen Abschluss gemacht hat. Gute Zensuren, Spitzenergebnisse in den Klausuren. Und der Hauptverdächtige bei einem Laborbrand, den wir letztes Frühjahr hatten. Man konnte ihm natürlich nie etwas nachweisen. Mehr als ein Dutzend Labortiere, Meerschweinchen und weiße Ratten, sind bei lebendigem Leib verbrannt. Nun, jedenfalls, jetzt ist er nicht mehr hier. Er wird vermutlich eine Karriere draußen in den anderen fünfzig Staaten vorantreiben, ich glaube nicht, dass dieser Staat das Richtige für ihn ist.«
»Haben Sie noch seine Schülerakte?«
Die Direktorin nickte.
»In die würde ich gern einmal hineinschauen. Vielleicht muss ich mit ihm reden.«
Nun mischte sich der Direktor ein. »Ich brauche eine Verfügung der Staatssicherheit, um sie Ihnen rauszugeben«, erhob er salbungsvoll Einspruch.
Jeffrey schenkte ihm ein gemeines Lächeln. »Wie wäre es, wenn ich Ihnen gleich ein Team Agenten herüberschicke, um danach zu suchen? Die könnten geradewegs in Ihr Büro marschieren. Dann hat wenigstens die gesamte Schülerschaft Gesprächsstoff für mehrere Tage.«
Der Direktor funkelte den Professor wütend an. Er warf einen kurzen hilfesuchenden Blick auf den Fahrer der Staatssicherheit, der nur stumm nickte.
»Sie sollen Ihre Akte haben«, gab der Direktor nach. »Ich schicke sie Ihnen elektronisch.«
»Die ganze Datei«, stellte Jeffrey klar.
Der Mann nickte mit zusammengekniffenen Lippen, als hielte er den einen oder anderen Kraftausdruck zurück. »Na schön, wir haben Ihre Fragen beantwortet. Jetzt wäre es wohl an der Zeit, dass Sie uns sagen, was hier eigentlich vor sich geht.«
Susan trat näher heran und sagte in einem schroffen Ton, den sie sonst nicht an sich kannte, an den sie sich aber wohl gewöhnen musste: »Ganz einfach.« Sie deutete um sich. »Sehen Sie? Schauen Sie sich richtig gründlich um.«
»Ja«, gab der Direktor in einem genervten Ton zurück, den er wohl bei seinen Schülern bis zur Perfektion kultiviert hatte, der aber bei Susan nicht verfing. »Was genau soll ich denn sehen?«
»Ihren schlimmsten Alptraum.«
In den ersten Minuten ihrer Fahrt zurück nach New Washington saßen sie beide im Fond des staatseigenen Wagens und schwiegen sich an, während der Agent Gas gab, sobald die Autobahn in Sicht war. Susan klappte das Referat des vermissten Mädchens auf und las in der Hoffnung, durch den Aufsatz ein Gefühl für die junge Frau zu bekommen, ein paar Abschnitte daraus. Doch das brachte keine Erkenntnisse. Sie erfuhr nur nüchterne Daten über Sklavenstaaten und freie Staaten und den Kompromiss, der ihnen Zugang in den Bund verschaffte. Entbehrt nicht der Ironie, dachte sie.
Sie ergriff als Erste das Wort: »Also, Jeffrey, du bist der Experte. Ist Kimberly Lewis noch am Leben?«
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte ihr Bruder gedrückt.
»Dachte ich mir«, erwiderte Susan ruhig. Sie stöhnte fru striert. »Und was nun? Warten, bis irgendwo die Leiche auftaucht?«
»Ja. So hart das auch klingt. Wir machen schlicht da weiter, wo wir gerade waren. Es gibt allerdings ein einziges Szenario, das ich mir vorstellen kann, bei dem sie vielleicht noch am Leben ist.«
»Nämlich?«
»Ich möchte nicht ausschließen, dass sie Teil dieses Spiels ist. Vielleicht ist sie der Preis.«
Er blies langsam die Luft durch die Nase. »Der Gewinner bekommt alles.«
Jeffrey sprach leise und niedergeschlagen. »Das tut verdammt weh«, meinte er. »Siebzehn Jahre alt, und sie ist entweder bereits tot, einfach weil er sich über mich lustig macht, weil er mir zeigen will, dass er sozusagen direkt unter der Nase des berühmten Professors Tod jemanden kidnappen kann – und außerdem kündigt er es auch noch an, und ich bin zu dämlich und zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um es zu sehen.« Er schüttelte den Kopf. »Oder aber dieses Mädchen sitzt irgendwo mit Handschellen gefesselt in einem Zimmer und fragt sich, wann sie sterben wird, und hofft, dass jemand kommt, um sie zu retten. Die Einzigen weit und breit, die dazu in der Lage wären, sind wir. Und ich sitze hier und sage: ›Wir müssen sorgsam vorgehen. Das braucht seine Zeit.‹ Wirklich«, stieß Jeffrey wütend hervor, »Das nenne ich Draufgängertum.«
»Gottverdammt«, fluchte Susan und betonte jede Silbe, um ihrer Hilflosigkeit Luft zu machen. »Was sollen wir nur machen?«
»Was können wir überhaupt unternehmen, ich meine, über das hinaus, was wir ohnehin schon tun?«, brachte Jeffrey zwischen den Zähnen hervor. »Wir nehmen die Liste mit den Häusern, vergleichen sie mit jedem Namen auf der Liste der Staatssicherheit und dann mit jedem Fahrzeug, in dem Opfer transportiert werden können. Sehen wir mal, was dabei rauskommt.«
»Und gehen einfach davon aus, dass die junge Miss Kimberly, während wir all das tun, noch am Leben ist?«
»Sie ist tot«, antwortete Jeffrey schroff. »Sie war in dem Moment tot, als sie heute Morgen den Fuß vor die Tür setzte – allein und spät genug dran, um die Abkürzung über eine menschenleere Straße zu nehmen. Sie wusste es zwar noch nicht, aber da war sie schon tot.«
Zuerst schwieg Susan, auch wenn sie sich die winzige Hoffnung gönnte, ihr Bruder könnte sich irren. Dann entgegnete sie ruhig: »Nein, ich denke, wir sollten so schnell wie möglich handeln. Sobald wir ein Haus gefunden haben, das passen könnte. Dann handeln wir. Denn wenn wir auch nur eine Minute zu lange warten, könnte das eine Minute zu spät sein, und das würden wir uns nie verzeihen. Niemals.«
Jeffrey zuckte die Achseln. »Natürlich hast du recht. Wir unternehmen was, sobald wir können. Das will er vermutlich. Das ist wahrscheinlich der einzige Grund, weshalb die arme Kimberly Lewis in die Sache hineingeraten ist. Er hat sie nicht entführt, um seine perversen Gelüste zu befriedigen, sondern als Auslöser für eine Kurzschlusshandlung meinerseits.« Jeffrey klang resigniert. »Da hat er wohl schon gewonnen.«
Susan kam plötzlich ein Gedanke, der sie wie ein Blitz durchzuckte. »Jeffrey«, flüsterte sie. »Wenn er sie entführt hat, damit du handelst – was durchaus logisch klingt, auch wenn wir es nicht sicher wissen, weil wir eigentlich gar nichts sicher wissen –, aber falls ja, ist es dann nicht genauso logisch, dass er uns mit irgendeinem Detail dieser Entführung etwas darüber verrät, wo wir nach ihr suchen müssen?«
Jeffrey wollte etwas erwidern, überlegte aber erst. Er lächelte. »Susie, Susie, die Rätselkönigin. Mata Hari. Falls ich das hier überlebe, musst du raufkommen und mit mir zusammen eins meiner Oberseminare halten. Dieser Ranger in Texas hatte recht. Du wärst eine umwerfende Ermittlerin. Und ich bin überzeugt, du hast hier den absolut richtigen Riecher.«
Er klopfte seiner Schwester liebevoll aufs Knie. »Das Schreckliche an der ganzen Sache ist, dass jede neue Erkenntnis uns ihm einerseits ein Stück näher bringt, es andererseits aber alles nur noch schlimmer macht.« Er lächelte wieder, doch diesmal war es ein trauriges Lächeln.
Für den Rest der Fahrt zurück zu den Büros der Staatssicherheit blieben sie stumm. Susan beschloss widerstrebend, ihr gesamtes Waffenarsenal aus dem Stadthaus zu holen, wo sie es versteckt hatte, und während ihres gesamten übrigen Aufenthalts im Einundfünfzigsten Bundesstaat grundsätzlich genügend Schusswaffen und Munition bei sich zu haben, um ein für alle Mal die moralischen und psychologischen Rätsel zu lösen, die sie und ihre Familie verfolgten.
Diana Clayton beobachtete, wie ihr Sohn gewissenhaft die ausgedruckte Liste mit den Angestellten der Staatssicherheit durchforstete. Sie sah, wie mit jedem Namen, den er las, die Frustration in ihm wuchs. Die Frauen mit Zugang zu den höheren Sicherheitsstufen waren vorwiegend Sekretärinnen und Angestellte niedrigen Ranges. Daneben stieß er auf ein paar Abteilungsleiterinnen und eine Anzahl Agentinnen.
Ein Problem, mit dem sich Jeffrey herumschlug, ergab sich daraus, dass die Grenzen zwischen den Zugangsebenen fließend waren. Ihm leuchtete ein, dass jemand mit Stufe acht vermutlich auch einen begrenzten Zugang zu Ebene neun haben musste – so funktionierten Bürokratien. Und wenn die Frau seines Vaters wirklich clever war, dann würde sie auf einem niedrigeren Level bleiben und zugleich lernen, wie sie die höheren knacken konnte. Auf diese Weise würde sie ihr Geheimnis bewahren.
Diana sprach wenig, während ihr Sohn in die Ausdrucke vertieft war. Sie hatte darauf bestanden, dass er und Susan sie über das, was an der Schule vorgefallen war, informierten, und das hatten sie getan, wenn auch nur in knappster Form. Sie war nicht in sie gedrungen. Sie erkannte, dass ihre Kinder Angst um sie hatten und sie vermutlich für das schwächste Glied in der Kette hielten. Ihr war auch bewusst, dass sie mit ihrer Gegenwart und dadurch, dass sie ihrer Meinung nach auf der Abschussliste ihres Mannes ganz oben stand, sie alle drei in Gefahr brachte. Dennoch klammerte sie sich an den Gedanken, noch gebraucht zu werden. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie sie vor fünfundzwanzig Jahren, als ihre Kinder darauf angewiesen waren, dass sie etwas unternahm, gehandelt hatte. Und eine innere Stimme sagte ihr, dass sie jetzt noch einmal gefordert war.
Und so behielt sie ihre Gedanken für sich und versuchte, nicht im Weg zu stehen, was ihr keineswegs leichtfiel. Sie hatte nicht einmal protestiert, als Susan verkündete, sie wollte mit dem Wagen und dem Fahrer noch einmal zum Haus zurückkehren, um ein paar Kleider sowie Medikamente zu holen, die sie dort gelassen hatten, und noch ein paar Dinge, die sie nicht näher benannte, auch wenn ihre Mutter wusste, was sie meinte.
Jeffrey hatte sich im Alphabet bis F durchgewühlt und dabei jeden Namen gelb markiert, der mit einer Adresse in einer blauen Siedlung verzeichnet war. Anschließend würde er die Liste der markierten Namen mit der Liste der sechsundvierzig Häuser abgleichen, die sie als mögliche Tatorte eingegrenzt hatten. Bis dahin hatte er dreizehn solche Übereinstimmungen festgestellt und sich für eine genauere Überprüfung vorgemerkt, sobald er die mühselige Kleinarbeit mit der Liste hinter sich hatte. Im Interesse der Gründlichkeit und weil er hinsichtlich der Liste mit sechsundvierzig Häusern gewisse Zweifel hegte, nahm er sich manchmal einen Namen und kehrte zu der Hauptliste im Computer zurück, wo er unter den Tausenden Bauplänen den ursprünglichen Grundriss zu dem Haus der jeweiligen Frau herauszog, um sich zu vergewissern, dass er nichts übersehen hatte. Das kostete zusätzlich Zeit, und er wischte den Gedanken beiseite, dass er sie einem siebzehnjährigen Mädchen in Todesangst stahl.
Während er an der Arbeit saß, piepte der Computer neben ihm dreimal.
»Das muss eine E-Mail sein«, sagte er zu seiner Mutter. »Kannst du sie bitte für mich abrufen?« Er sah kaum auf.
Diana ging zur Tastatur und gab ein Passwort ein. Sie las einen Moment, dann wandte sie sich an ihren Sohn. »Du hast um eine Akte der Highschool Sierra gebeten?«
»Ja. Der Freund des Mädchens. Ist es das?«
»Ja. Es ist eine kurze Anmerkung von einem Mr. Williams dabei, offenbar der Direktor, die nicht gerade freundlich ist …«
»Was sagt er denn?«
»Er erinnert dich daran, dass es ein Verstoß Stufe gelb ist, wenn du vertrauliche Schülerakten unerlaubt benutzt, auf den eine Geldbuße und gemeinnützige Arbeit stehen …«
»Trottel.« Jeffrey grinste. »Noch was?«
»Nein …«
»Druckst du es dann aus? Ich guck’s mir gleich an.«
Diana folgte seiner Bitte. Sie las ein bisschen in den Anfang der Akte hinein und bemerkte, während der Drucker in Schwung kam: »Der junge Mr. Curtin hier scheint ein höchst bemerkenswertes Kind zu sein. Lauter Einsen und ebenso viele Probleme wegen auffälligen Betragens. Stört in der Klasse. Spielt Streiche. Wird beschuldigt, rassistische Graffiti zu sprühen, auch wenn es ihm nicht nachgewiesen werden kann. Soll hinter einer sexuellen Belästigung eines schwulen Mitschülers stecken, aber wieder können sie nichts beweisen. Hauptverdächtiger bei einem Laborbrand. Keine Maßnahmen ergriffen. Vorübergehend der Schule verwiesen, weil er ein Messer mitbringt … ich dachte, so etwas gibt es in diesem Staat nicht. Erzählt einem Klassenkameraden, er hätte eine Handfeuerwaffe in seinem Spind, doch die anschließende Suche erweist sich als negativ. Die Liste setzt sich endlos fort …«
»Curtin.«
»Und mit Vornamen?«
»Das ist seltsam«, entfuhr es Diana. »Genau wie du. Nur anders geschrieben: G-E-O-«
»Geoffrey Curtin«, sagte Jeffrey langsam. »Könnte das …«
»Hier ist noch der Bericht eines Schulpsychologen, der nahelegt, ihn in eine psychologische Behandlung zu schicken, und die Empfehlung, ihn einer ganzen Reihe von Tests zu unterziehen. Hier steht auch, dass seine Eltern jede Form von psychologischen Untersuchungen abgelehnt haben …«
Jeffrey drehte sich mit Schwung auf seinem Bürostuhl um und beugte sich zu seiner Mutter hinüber. »Wie schreibt sich der Nachname?«
»C-U-R-T-I-N.«
»Stehen da die Namen der Eltern drin?«
Diana nickte. »Ja. Der Vater heißt … Moment, muss hier irgendwo sein. Ja: Peter. Die Mutter Caril Ann. Aber sie schreibt sich I-L. Das ist eine ungewöhnliche Schreibweise für den Namen.«
Jeffrey stand auf und trat neben seine Mutter. Er starrte auf die Datei im Monitor, während sie nebenan auf Papier erschien. Er nickte langsam. »Das stimmt«, stimmte er bedächtig zu. »Die Schreibweise habe ich, so weit ich mich entsinne, erst ein einziges Mal gesehen.«
»Wo?«
»Bei Caril Ann Fugate. Der jungen Frau, die 1958 Charles Starkweather auf seiner Mordorgie quer durch Nebraska begleitete. Elf Tote.«
Diana sah ihren Sohn erschrocken an.
»Und Curtin«, nahm er den Faden wieder auf, immer noch auf der Hut wie ein Tier, das die Nase in eine unerwartete Böe hält und eine gefährliche Witterung aufnimmt, »Na ja, das ist die amerikanisierte Form des deutschen Namens Kürten.«
»Und hat das etwas zu bedeuten?«
Wieder nickte Jeffrey. »Düsseldorf in Deutschland. Um die letzte Jahrhundertwende. Peter Kürten. Der Schlächter von Düsseldorf. Kindermörder. Perverser. Vergewaltiger. Gnadenlos. In diesem berühmten Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder geht es um ihn.«
Jeffrey atmete langsam aus. »Hallo, Vater«, sagte er. »Hallo, Stiefmutter und Halbbruder.«