6. KAPITEL
New Washington
Der westliche Himmel besaß einen metallischen Schimmer, wie auf Hochglanz polierter Stahl – eine unendliche, kalte, klare Weite. Für einen Moment legte er zum Schutz die Hand über die Augen.
»Man gewöhnt sich dran«, versicherte Robert Martin in beiläufigem Ton. »Um diese Jahreszeit hat man hier draußen manchmal das Gefühl, als ob einen Scheinwerfer blendeten. Man blinzelt ständig zum Horizont.«
Jeffrey Clayton antwortete nicht sofort, sondern ließ stumm den Blick über die Phalanx moderner Bürogebäude schweifen, die sich links und rechts in einigem Abstand von dem breiten Highway aneinanderreihten. Sie waren alle verschieden und doch gleich: großzügig angelegte Rasenflächen mit Baumgruppen dazwischen; leuchtend blaue Teiche und Wasserbecken, in denen sich der Himmel spiegelte, vor soliden Bauten, die mehr von den Geldern kündeten, die in sie geflossen waren, als von der schöpferischen Kraft der Architekten – eine Verschmelzung von Funktion und Kunst, die wenig Zweifel daran ließ, was den Vorrang hatte.
Je länger er die städtische Umgebung betrachtete, desto deutlicher fiel ihm ins Auge, wie neu alles war. Wie wohlgeformt, geordnet und ausgewogen. Alles war sauber. Er sah die Logos einer großen Firma nach der anderen. Kommunikationswesen, Unterhaltung, Industrie. Eine eindrucksvolle Fortune-500-Parade. Wer in diesem Land viel Geld verdient, dachte er, ist hier vertreten.
»Wie heißt diese Straße?«, fragte er.
»Freedom Boulevard«, erwiderte Agent Martin.
Jeffrey konnte sich angesichts der Ironie des Namens ein verhaltenes Schmunzeln nicht verkneifen. Es herrschte nicht viel Verkehr, und sie fuhren in einem stetigen, gemächlichen Tempo. Er vertiefte sich weiter in seine Umgebung und fand, dass dieser neue Glanz etwas Steriles hatte.
»War das nicht mal alles Wüste?«, überlegte er laut.
»Ja«, bestätigte Martin. »Im Wesentlichen Buschgras, ausgetrocknete Flussläufe und Steppenläufer. Noch vor einem Jahrzehnt gab es hier eine Menge Dreck, Sand und Wind. Stau einen Fluss, leite Wasser in neue Kanäle, umschiffe ein paar Umweltgesetze – und alles blüht und gedeiht. Die Technologie ist teuer, aber wie Sie sich denken können, war das nicht der entscheidende Faktor.«
Jeffrey hielt das für eine interessante Idee: Man ersetze eine Art von Natur durch eine andere. Man schaffe eine idealisierte Unternehmervision davon, wie die Welt aussehen sollte, und stülpe sie der ungeordneten, etwas enttäuschenden realen Welt über. Ein Land innerhalb eines Landes. Nicht ganz unwirklich, aber gewiss auch nicht authentisch.
Er konnte nicht sagen, weshalb ihm der Gedanke zu schaffen machte.
»Drehen Sie uns den Wasserhahn ab, und in weiteren zehn Jahren haben Sie hier eine Geisterstadt«, meinte Martin.
»Aber es dreht niemand den Wasserhahn ab.«
»Wer war hier? Ich meine, bevor …«
»Hier, in New Washington? Da war nichts. Jedenfalls nicht viel. Ein paar hundert Quadratmeilen mit so gut wie nichts. Klapperschlangen, Krustenechsen und Bussarde. Früher mal war ein Teil des Bodens in staatlichem Besitz, ein anderer Teil war ein altes Indianerreservat, das annektiert worden ist, und wieder ein Teil wurde enteignet. Hat ein paar große Rancher verschnupft, kann man für den ganzen Staat sagen. Leute, die in den ausgewiesenen Baugebieten wohnten, wurden entschädigt und umgesiedelt, bevor die Bulldozer kamen. So wie jedes Mal im Lauf der Geschichte, wenn diese Nation sich ausgedehnt hat; ein paar Leute holen sich eine goldene Nase, andere werden vertrieben und die letzten beißen die Hunde, nur an einem anderen Ort. Nicht anders als, sagen wir, in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Der einzige Unterschied ist vielleicht, dass wir uns diesmal nach innen ausgedehnt haben und nicht nach außen auf unerforschtes Gelände; diesmal auf ein Gebiet, für das sich kaum jemand interessierte. Jetzt interessiert es alle, weil sie sehen, was man daraus machen kann. Und was wir noch machen werden. Das ist ein riesiges Territorium, wir haben noch viel Platz, besonders im Norden, Richtung Bitterroot Range. Da ist noch jede Menge Raum.«
»Besteht denn die Notwendigkeit dafür?«
Der Detective zuckte die Achseln. »Jedes Territorium ist auf Wachstum angelegt. Besonders wenn es um Sicherheit geht. Es gibt immer das Bedürfnis nach Ausdehnung. Und es gibt immer Leute, die ein Stück von der ursprünglichen Vision Amerikas für sich haben wollen.«
Clayton verstummte wieder und ließ Martin fahren.
Sie hatten noch nicht über den Zweck seines Besuchs im Einundfünfzigsten Bundesstaat gesprochen – kein einziges Mal während des langen Flugs nach Westen, über die mittleren Bundesstaaten, über die Rockys, das Rückgrat des Kontinents, bis zur Landung in jener Gegend, die einmal der isolierte nördliche Teil von Nevada gewesen war.
Während sie schweigend über die Straßen fuhren, stand Jeffrey plötzlich eine unangenehme Erinnerung vor Augen.
Die ordentliche Reihe der Gebäude verschwamm vor seinem Blick und wich einer harten Stadtlandschaft aus Beton – einem Ort, der früher einmal übermäßigen Reichtum und Erfolg gekannt hatte, dann aber wie so vieles im letzten Jahrzehnt unwiederbringlich verkommen und verfallen war. Galveston, Texas, kaum sechs Jahre zuvor. Ein Lagerhaus. Die Tür stand sperrangelweit offen und klapperte im unablässigen, durchdringenden Wind, der über das lehmig braune Wasser im Golf von Mexiko heranwehte. In den Erdgeschossfenstern hingen die Splitter der eingeschlagenen Scheiben. Am Morgen hatte es geregnet, und das trübe Licht von der Straße warf groteske, schlangenförmige Schatten an die Wände.
Wieso hast du nicht gewartet?, fragte er sich auf einmal. Eine vertraute Frage, die diese Erinnerung noch jedes Mal begleitet hatte, wenn sie sich ungebeten in sein Bewusstsein drängte oder in seine Träume schlich.
Es gab keinen Grund zur Eile. Hättest du gewartet, wäre früher oder später Verstärkung eingetroffen. Ein SWAT-Team mit Nachtsichtgeräten und schweren Waffen, kugelsicherer Kleidung und militärischer Ausbildung. Genügend Polizisten, die das Warenhaus umstellt hätten. Megaphone. Ein Helikopter mit Suchscheinwerfern über dem Dach. Es war vollkommen unnötig, dass du mit den beiden Detectives da reingegangen bist, bevor Verstärkung eingetroffen war.
Aber sie wollten es so, beantwortete er seine eigene Frage. Sie waren mit ihrer Geduld am Ende. Die Jagd war lang und frustrierend gewesen, sie spürten, dass sie kurz vor dem Finale standen, und er allein wusste, wie schwierig es sein würde, an die Jagdbeute heranzukommen, die sich auf eigenem Terrain verschanzte.
Es gab eine Kindergeschichte. Rudyard Kiplings Erzählung vom Mungo, der einer Kobra in ihr Loch folgt. Sie enthält eine Warnung: Fechte deine Kämpfe auf eigenem Gelände aus und nicht auf feindlichem Boden. Wenn du kannst. Das Problem ist, dachte er, dass man es oft nicht kann.
Er hatte es in jener Nacht gewusst und nichts gesagt, obwohl bereits Hilfe unterwegs war. Er fragte sich, wieso, auch wenn er den wahren Grund kannte. In all seinen Studien über Mörder und ihre Morde hatte er noch keinen in jenem strahlenden Moment der uneingeschränkten Macht gesehen: das Opfer vollkommen unter Kontrolle und gänzlich darauf konzentriert, ihm den Tod zu bringen. Das hatte er aus unmittelbarer Nähe miterleben wollen, diesen königlichen Moment, in dem Verstand und Wahn des Mörders in einem einzigen Akt der Brutalität und Gewissenlosigkeit verschmolzen.
Er hatte zu viele Bilder gesehen. Er hatte Hunderte Augenzeugenberichte auf Band aufgezeichnet. Er hatte Dutzende Tatorte gesehen. Doch all diese stückweisen Informationen waren immer einen Schritt von dem eigentlichen Akt entfernt. Er war nie da gewesen, wenn es tatsächlich passierte, hatte die Magie des Wahnsinns nie mit Händen greifen können. Und diese Triebkraft – Neugier konnte er es nicht nennen, denn er wusste, dass es viel tiefer ging, stärker war und in seinem Innern rumorte – hatte den Ausschlag dafür gegeben, dass er seinen Mund gehalten und nichts dagegen unternommen hatte, als die beiden Beamten der städtischen Polizei ihre Waffen zogen und kaum einen Meter vor ihm behutsam durch die Tür zum Lagerhaus geschlüpft waren. Ihre Vorsicht währte allerdings nicht lange, denn als sie den ersten schrillen Entsetzensschrei irgendwo aus den dunklen, düsteren Hallen hörten, waren sie schneller gelaufen und unvorsichtig geworden.
Es war alles ein Fehler. Leichtsinn. Ein Fehlurteil.
Wir hätten warten sollen, dachte er, egal, was dort drinnen mit jemandem geschah. Und wir hätten nie diesen Lärm machen dürfen, als wir in die Domäne dieses Mannes eindrangen, in seine Höhle, in der er zu Hause war, wo er jeden Winkel, jeden Schatten, jedes lose Brett im Boden kannte.
Nie wieder, sagte er sich mit Nachdruck.
Sein Atem beschleunigte sich. Die Konsequenz ihrer Fehleinschätzung war eine in grellen Farben flackernde Erinnerung, die ihm immer wieder durch den Schädel pulsierte: Einer der Polizisten tot, der andere blind, eine siebzehnjährige Prostituierte am Leben, aber nur noch so gerade eben und zwei fellos für immer gezeichnet. Er selbst mehrfach verwundet, wenn auch nicht verkrüppelt – zumindest nicht so, dass man es sah.
Und der Mörder, der bei seiner Verhaftung spuckte und lachte, ohne dass er über das jähe Ende seines mörderischen Unternehmens sonderlich verärgert schien. Er wirkte eher, als wäre ihm die Störung ausgerechnet im Moment größter Befriedigung einfach etwas lästig. Er war ein kleiner Mann, ein Albino mit weißem Haar, roten Augen und einem verkniffenen Gesicht, das an ein Frettchen erinnerte. Er war jung, fast im selben Alter wie Clayton, mit drahtiger Muskulatur und dem riesigen rotgrünen Tattoo eines fliegenden Adlers auf der teigig weißen Brust.
Und all das Töten in jener Nacht hatte ihm große Freude bereitet.
Jeffrey verbannte die Vision des Killers aus seinem Gedächtnis, weigerte sich, den Singsang in dessen Tonfall heraufzubeschwören, als er inmitten all der pulsierenden Lichter der Streifenwagen weggeführt wurde.
»Ich werde dich nicht vergessen«, hatte er gerufen, als Jeffrey in einen Krankenwagen geschoben wurde.
Er ist weg, dachte Clayton. In Texas im Todestrakt.
Geh da nie wieder hin. Geh nie wieder in so ein Lagerhaus. Niemals.
Er schielte kurz zu Agent Martin hinüber. Weiß er, dass ich mich deshalb für Anonymität entschieden habe?, fragte er sich. Wieso ich das, worum er mich gebeten hat, nicht mehr mache?
»Da wären wir«, erklärte Martin plötzlich. »Trautes Heim. Oder zumindest mein Arbeitsplatz.«
Was Jeffrey sah, war ein großes Gebäude, unverkennbar eine Behörde. Etwas funktioneller, etwas weniger durchgestaltet als die anderen Büros, an denen sie vorbeigekommen waren. Etwas weniger elegant in seiner Erscheinung, das heißt, nicht schäbiger, sondern nur wuchtiger, so wie ein großer Bruder, der über den Spielplatz der jüngeren Kinder läuft. Es bestand aus unverwüstlichem grauem Beton, mit den scharfen Kanten eines Kubus und einer Gleichförmigkeit, dass ihm der Verdacht kam, die Menschen, die darin arbeiteten, seien wahrscheinlich genauso rigide und einfallslos wie der Bau selbst.
Martin fuhr mit Schwung auf den Parkplatz neben seiner Dienststelle. Er bremste und sagte unvermittelt: »He, Clayton, sehen Sie den Mann da vorne?«
Jeffrey blickte auf einen Mann in einem unscheinbaren blauen Anzug mit einer Aktentasche in der Hand, der allein zwischen den Reihen der modernen Autos entlanglief.
»Beobachten Sie ihn einen Moment lang, und Sie werden etwas lernen«, fügte der Agent hinzu.
Jeffrey sah, wie der Mann an einem kleinen Kombi stehen blieb. Er beobachtete, wie er sein Jackett auszog und es zusammen mit der Aktentasche auf den Rücksitz warf. Er ließ sich einen Moment Zeit, um die Ärmel seines weißen Hemdes aufzukrempeln und die Krawatte zu lockern, bevor er sich hinters Lenkrad setzte. Der Wagen fuhr rückwärts hinaus und verschwand. Martin bog in die Parklücke ein.
»Was haben Sie gesehen?«, fragte der Detective.
»Ich habe einen Mann auf dem Weg zu einem Termin gesehen. Oder vielleicht nach Hause, weil er eine Erkältung hat. Weiter nichts.«
Martin lächelte. »Sie müssen lernen, richtig hinzuschauen, Professor. Ich hätte Sie für einen scharfsichtigeren Beobachter gehalten. Wie ist er in seinen Wagen gestiegen?«
»Er lief hin und stieg ein. Was ist daran so ungewöhnlich?«
»Haben Sie beobachtet, wie er die Tür aufschließt?«
Jeffrey schüttelte den Kopf. »Nein. Vermutlich hat er eins von diesen Funkschlössern. Wie sie so ziemlich jeder hat …«
»Aber Sie haben nicht gesehen, wie er ein Infrarotlicht an den Wagen hielt, oder?«
»Nein.«
»Hätte Ihnen kaum entgehen können, nicht wahr?«
»Nein.«
»Weil der Wagen nicht abgeschlossen war. Darum geht es, Professor. Der Wagen war nicht abgeschlossen, weil das nicht nötig war. Weil alles, was er darin ließ, sicher war, weil niemand auf diesen Parkplatz kommen und etwas stehlen konnte. Kein jugendlicher Dieb mit einer Knarre und einer Drogensucht würde hinter einem anderen Auto hervorspringen und seine Brieftasche verlangen. Und wissen Sie was? Keine Überwachungskameras. Kein Sicherheitsdienst, der hier patrouilliert. Keine Dobermänner oder elektronischen Bewegungsmelder oder Wärmesensoren. Der Platz ist sicher, weil er es einfach ist. Sicher, weil niemand daran denken würde, sich etwas zu nehmen, was ihm nicht gehört. Sicher, weil es eben hier ist.«
Der Detective machte den Motor aus.
»Und ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt.«
In der Eingangshalle des Gebäudes stand auf einem großen Schild:
WILLKOMMEN IN NEW WASHINGTON
DIE ÖRTLICHEN VERORDNUNGEN SIND
JEDERZEIT IN KRAFT
AUF VERSTÖSSE GEGEN DAS AUSWEISGESETZ
STEHEN FREIHEITSSTRAFEN
RAUCHEN VERBOTEN
WIR WÜNSCHEN EINEN GUTEN TAG
Jeffrey blickte zu Agent Martin hinüber. »Örtliche Verordnungen?«
»Ist ’ne ziemlich lange Liste. Ich besorg Ihnen ein Exemplar. Darum geht es ja im Grunde.«
»Was ist das für ein Ausweisgesetz? Was verstehen Sie darunter?«
Martin lächelte. »Sie verstoßen in diesem Moment gegen das Ausweisgesetz. Das gehört zu unserem Sicherheitspaket. Der Zutritt zu unserem angehenden Staat wird streng kontrolliert, genauso wie zu einem anderen Land oder einem Privatsitz. Sie brauchen eine Genehmigung, um reinzukommen. Um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, müssen Sie durch die Passkontrolle. Aber das geht schon in Ordnung. Sie sind mein Gast. Und sobald Sie die Genehmigung haben, können Sie ungehindert im ganzen Staat umherreisen.«
Jeffrey entdeckte ein Schild mit der Aufschrift EINWANDERUNG und blickte einen Flur entlang zu einem großen Raum mit vielen Schreibtischen, die jeweils mit einem Büroangestellten an einem Computerbildschirm besetzt waren. Er blieb stehen und sah den Leuten für einen Moment bei der Arbeit zu, dann musste er sich beeilen, um mit Martin Schritt zu halten, der in forschem Tempo einen angrenzenden Flur entlangmarschierte, über dem SICHERHEITSBEHÖRDEN stand.
Ein drittes Schild trug den Vermerk TAGESSTÄTTE. Ihre Sohlen patschten geräuschvoll auf den hochglanzpolierten Terrazzoboden und hallten von den Wänden wider.
Nach einer Weile betraten sie einen weiteren großen Raum, nicht gar so groß wie der der EINWANDERUNG, aber immer noch beachtlich. Der Raum schimmerte durch und durch weiß und sauber, und die fluoreszierenden Lichter an der Decke gingen in das allgegenwärtige Grün der Computerbildschirme über. Es gab nirgends Fenster, und das leise Surren der Klimaanlage mischte sich in das gedämpfte Stimmengewirr hinter der Schalldämmung und den Glastrennwänden. So hätte er sich eher das Büro eines Wirtschaftsunternehmens vorgestellt und nicht ein Polizeirevier, nicht einmal ein ultramodernes. Hier war nichts von dem Dreck der Kriminalität zu spüren, der die Luft einer gewöhnlichen Polizeidienststelle verschmutzte. Nichts von der aufgestauten Wut, kein lauernder Wahn, keine Tobsucht, keine Zwangsmaßnahmen. Keine zerbrochenen Stühle oder verkratzten Schreibtischplatten – Spuren, die sonst Verhaftete aus Protest gegen die Handschellen hinterlassen. Niemand wurde laut oder vulgär. Nur die Synkopen der Tastaturen und das übliche stetige Hintergrundgeräusch effizienter Arbeit.
Martin blieb an einem Schreibtisch stehen, an dem ihn eine junge Frau in adretter weißer Bluse und dunkler Hose begrüßte. Eine kleine Vase mit einer einzelnen gelben Blume stand auf der Ecke.
»Soso, Detective, endlich zurück. Wir haben Sie schon vermisst.«
Agent Martin lachte und erwiderte: »Aber klar! Klingeln Sie mal durch und geben dem Chef Bescheid, dass ich da bin?«
»Wie ich sehe, mit dem berühmten Professor.« Die Sekretärin sah zu Jeffrey auf. »Ich habe ein bisschen Formularkram für Sie, Professor. Zunächst mal wegen eines provisorischen Passes und Ihre persönlichen Daten. Und dann ein paar Dokumente, die Sie bei Gelegenheit lesen und unterzeichnen müssten.«
Sie reichte ihm eine Mappe.
»Willkommen in New Washington«, sagte sie. »Wir sind alle sicher, dass Sie uns helfen können …«
Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sie sich zu Agent Martin umdrehte und mit einem scheuen Lächeln hinzufügte: »… bei dem Problem, mit dem der Detective offenbar nicht allein fertig wird und das er keinem verrät.«
Jeffrey warf einen Blick auf die Dokumentenmappe und meinte: »Nun ja, Agent Martin ist optimistischer als ich, aber ich weiß natürlich auch mehr über …«
Er wurde von dem klobigen Detective unterbrochen: »Wir werden drinnen erwartet. Kommen Sie.«
Er packte Clayton am Arm und führte ihn von dem Schreibtisch der Sekretärin weg zur Tür eines Büros. Dabei zog er Clayton dicht an sich heran und zischte ihm leise zu: »Niemand, verstanden! Niemand weiß davon! Halten Sie den Mund!«
In dem Büro saßen zwei Männer hinter einem lackierten Rosenholztisch. Davor warteten zwei Ledersessel. Im Unterschied zu dem glatten, zweckdienlichen Eindruck, den der Hauptraum machte, versprühte dieses Büro einen eher antiken, opulenten Charme. An den Wänden standen Eichenregale, gefüllt mit juristischen Texten, und den Boden bedeckte ein Orientteppich. Eine Wand zierte ein grünes Ledersofa unterhalb einer amerikanischen Flagge und der des geplanten Einundfünfzigsten Staates. Eine andere war voller gerahmter Fotos, doch Clayton hatte nicht die Zeit, sie sich genauer anzusehen, auch wenn er auf einem den Präsidenten der Vereinigten Staaten erkannte, der aus einer Behörde wohl nicht wegzudenken war.
Ein großer, schilfrohrdünner Mann mit Glatze saß in der Mitte hinter dem Schreibtisch. Der Mann neben ihm war kleiner und kräftiger gebaut, dabei älter und wirkte mit seinem eckigen Kinn sowie dem schiefen Gesicht wie ein ehemaliger Boxer. Der Kahlkopf lud Jeffrey und Agent Martin ein, in den beiden Sesseln Platz zu nehmen. Zur Rechten des Professors öffnete sich eine weitere Tür, und ein dritter Mann trat ein. Er schien jünger zu sein als Jeffrey und trug einen teuren blauen Anzug mit Nadelstreifen. Er setzte sich auf das Sofa und sagte nur: »Legen Sie los.«
Der Kahle lehnte sich mit einer glatten, raubtierhaften Bewegung vor. Wie ein Fischadler auf einem nackten Ast, der Nagetiere im Gras beäugt, nahm er Jeffrey in den Blick.
»Professor, ich bin Agent Martins Vorgesetzter bei der Staatssicherheit. Der Mann zu meiner Rechten ist ebenfalls ein Beamter der Sicherheit. Der Herr auf der Couch ist ein Regierungsvertreter des Westlichen Territoriums.«
Köpfe nickten, doch keine Hand streckte sich ihm zum Gruß entgegen.
Der untersetzte Mann an der Seite des Schreibtischs nahm kein Blatt vor den Mund: »Fürs Protokoll sei an dieser Stelle noch einmal festgehalten, dass ich dagegen bin, den Professor hierher zu bestellen. Ich protestiere dagegen, dass er in welcher Weise auch immer in diesen Fall eingeschaltet wird.«
»Das hatten wir schon«, winkte der Kahle ab. »Der Einwand wurde zur Kenntnis genommen. Ihre Auffassung wird in den Schlussbemerkungen zu dem Fall und in den Entscheidungsprotokollen Niederschlag finden.«
Der Mann signalisierte mit einem Schnauben seine Zustimmung.
»Ich kann gerne wieder gehen«, erklärte Jeffrey. »Auf der Stelle, wenn Sie wollen. Ich habe nicht die geringste Lust zu bleiben.«
Der Kahle ignorierte die Bemerkung. »Agent Martin hat Sie vermutlich über die Präliminarien in Kenntnis gesetzt?«
»Haben Sie auch Namen?«, fragte Jeffrey. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Namen tun nichts zur Sache«, verkündete der junge Mann und wechselte die Stellung auf dem Sofa, so dass das Leder knirschte. »Sämtliche Aufzeichnungen dieser Sitzung unterstehen strengster Kontrolle. Ihre bloße Anwesenheit im Territorium unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe.«
»Vielleicht bin ich aber der Meinung, dass Namen etwas zur Sache tun«, widersprach Jeffrey trotzig. Er warf einen kurzen Blick zu Agent Martin neben sich, doch der klobige Mann hatte sich in seinen Sessel vergraben und ließ sich nicht unter die Schädeldecke schauen.
Der Kahle lächelte. »In Ordnung, Professor. Wenn Sie darauf bestehen, dann bin ich Tinkers, er ist Evers und der Mann drüben auf dem Sofa ist Chance.«
»Sehr witzig«, meinte Jeffrey. »Und ich bin Babe Ruth. Oder Ty Cobb.«
»Wäre Ihnen Smith oder Jones vielleicht lieber und, sagen wir, Gardner?«
Jeffrey erwiderte nichts.
»Vielleicht«, fuhr der Kahle fort, »nennen wir uns Manson, Starkweather und Bundy? Das klingt schon fast wie eine Anwaltskanzlei, meinen Sie nicht? Passt auch besser zu Ihrem Arbeitsgebiet, finden Sie nicht auch?«
Jeffrey zuckte die Achseln. »Meinetwegen, Mr. Manson, wie Sie wünschen.«
Der Kahle nickte und grinste. »Gut, dann also Manson. Und jetzt lassen Sie mich bitte versuchen, diese Unterhaltung etwas einfacher zu gestalten, Professor. Oder zumindest reibungsloser. Zunächst einmal der finanzielle Rahmen für Ihren Besuch, der für Sie sicher von Interesse ist.«
»Ich höre.«
»Also, sollten Ihre Ermittlungen Informationen erbringen, aus denen andere wiederum Beweismaterial gewinnen können, das schließlich zu einer Verhaftung führt, werden wir Ihnen eine Viertelmillion Dollar zahlen. Sollten Sie tatsächlich unsere Zielperson identifizieren und ausfindig machen, dann zahlen wir Ihnen eine Million Dollar. Beide Summen oder irgendeine Zwischensumme, die wir für Ihren jeweiligen Beitrag zur Lösung unseres Problems für angemessen halten, ist steuerfrei und wird bar ausgezahlt. Dafür müssen Sie Ihrerseits versprechen, dass keinerlei Informationen, die Sie erlangen, kein Eindruck, den Sie sich machen, keine Erinnerung an Ihren Besuch hier je durch physische oder elektronische Mittel aufgezeichnet werden und dass Sie nicht das Geringste über Ihren Aufenthalt und seinen Zweck jemals an Dritte weitergeben oder in irgendeiner Weise publizieren. Keine Zeitungsinterviews. Kein Buchvertrag. Keine akademischen Abhandlungen, selbst wenn sie nur innerhalb der Vollzugsbehörden kursieren. Ich will damit Folgendes sagen: Die Ereignisse, die Sie hergebracht haben, und alles, was sich ab heute daraus ergibt, existieren offiziell nicht, und für diese absolute Geheimhaltung werden Sie reichlich entschädigt.«
Jeffrey sog langsam die Luft durch die zusammengepressten Zahnreihen ein. »Offenbar haben Sie wirklich ein Problem«, sagte er bedächtig.
»Professor Clayton, ist die Sache abgemacht?«
»Welche Hilfe bekomme ich? Wie sieht es mit Zugang …«
»Agent Martin ist Ihr Partner. Er wird Ihnen Zugang zu sämtlichen Aufzeichnungen, Dokumenten, Örtlichkeiten, Zeugen verschaffen – was immer Sie benötigen. Er wird sich um alle Ausgaben kümmern, für Unterkunft und Fahrzeug sorgen. Hier geht es nur um ein einziges Ziel, und das hat Vorrang vor allem anderen, besonders vor finanziellen Erwägungen.«
»Wenn Sie sagen, wir bezahlen Sie, wen genau habe ich mir darunter vorzustellen?«
»Es geht dabei um Bargeld aus dem frei verfügbaren Fonds des Gouverneurs.«
»Es muss einen Haken geben. Wo liegt der Haken, Mr. Manson?«
»Es gibt keinen Haken, das heißt, da ist nichts, das wir nicht offenlegen, Professor«, erklärte der Glatzkopf. »Wir stehen unter beträchtlichem Druck, diese Ermittlungen zu einem schnellen und befriedigenden Abschluss zu bringen. Sie sind ja nicht dumm – zwei Sicherheitsbeamte und ein Politiker sollten Ihnen sagen, dass hier viel auf dem Spiel steht. Daher unsere Großzügigkeit. Aber auch unsere Ungeduld. Zeit, Professor. Zeit ist von entscheidender Bedeutung.«
»Wir brauchen Antworten, und wir brauchen sie schnell«, warf der junge Regierungsvertreter ein.
Jeffrey schüttelte den Kopf. »Sie sind Starkweather, richtig? Haben Sie eine Freundin? Denn falls Sie eine haben, sollten Sie sie von jetzt an Caril Ann nennen. Also, was ich bereits dem Detective gesagt habe, will ich gerne vor Ihnen wiederholen: Diese Fälle eignen sich nicht für simple Erklärungen oder schnelle Lösungen.«
»Aber in Texas waren Ihre Nachforschungen außerordentlich erfolgreich. Wie war das möglich? Besonders angesichts des so dramatischen Abschlusses.«
Jeffrey fragte sich, ob in der Frage des Mannes Sarkasmus mitschwang. Er ignorierte es einfach. »Wir wussten, in welchen Gegenden die Prostituierten gewöhnlich zu finden waren, auf die es unser Mörder abgesehen hatte. Also haben wir uns ohne großes Tamtam darangemacht, sämtliche Mädchen auf dem Straßenstrich zu verhaften – nichts Aufregendes, das die Presse irritiert hätte, nur typische Samstagabend-Razzien von der Sitte. Aber statt sie einzubuchten, haben wir sie zu unseren Helfern gemacht. Wir haben einen beträchtlichen Prozentsatz der Mädchen mit kleinen elektronischen Ortungsgeräten ausgestattet. Sie waren winzig, mit geringer Reichweite, und wurden mit einem einzigen Knopf aktiviert. Wir ließen sie von den Frauen in ihre Kleidung einnähen. Die Idee dahinter war, dass unser Mann früher oder später eine dieser Frauen erwischen würde und dass sie es schaffte, den Sendeknopf zu drücken. Wir haben die Sender rund um die Uhr überwacht.«
»Und das hat funktioniert?«, fragte der Untersetzte begierig. »Mehr oder weniger ja, Mr. Bundy. Es gab eine Menge Falschmeldungen, womit wir gerechnet hatten. Und dann wurden drei Frauen getötet, obwohl sie die Vorrichtung trugen, bevor es endlich einer gelang, den Knopf zu aktivieren. Sie war jünger als die anderen, und unsere Zielperson wird sich von ihr weniger bedroht gefühlt haben, denn ausnahmsweise hatte er sich Zeit damit gelassen, sie zu fesseln, so dass sie die Gelegenheit hatte, uns das Signal zu senden. Und da er es nicht gemerkt hatte, ist er nicht geflohen. Wir waren zwar gerade noch rechtzeitig da, um ihr das Leben zu retten, aber das war wirklich in letzter Sekunde. Ein durchwachsenes Ergebnis, würde ich sagen.«
Der wohlbeleibte Bundy unterbrach ihn: »Aber offensiv. Das gefällt mir. Sie haben etwas unternommen. Kreative Schritte. Das sollten wir auch. Etwas in der Art. Eine Falle. Das fände ich gut. Eine Falle.«
Der junge Mann sprach ebenfalls schnell: »Bin ganz Ihrer Meinung. Allerdings müssten Schritte dieser Art erst von uns dreien genehmigt werden, Agent Martin. Sie verstehen?«
»Ja.«
»Ich möchte, dass es da keinerlei Zweifel gibt. Jeder Aspekt dieses Falls ist von politischer Tragweite. Im Zweifel müssen wir uns lieber für ein Zuviel an Kontrolle und Geheimhaltung entscheiden, als etwas zu riskieren, notfalls auf Kosten des Problems.«
Wieder schmunzelte Jeffrey. »Mr. Starkweather, Mr. Bundy. Bitte bedenken Sie, dass die Wahrscheinlichkeit, den Mann zu identifizieren, der Ihnen Ihr politisches Problem beschert, minimal ist. Noch geringer schätze ich die Chance ein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir ihm eine Falle stellen können. Es sei denn, Sie wollten, dass ich jede junge Frau innerhalb der Grenzen Ihres Staates verdrahte, nachdem ich erst einmal einen allgemeinen Alarm auslöse.«
»Nein, nein, nein …«, beeilte sich Bundy.
Manson lehnte sich vor und sprach in leisem, verschwörerischem Ton. »Nein, Professor, ganz eindeutig wäre die allgemeine Panik, die wir damit auslösen würden, nicht in unserem Interesse.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, dann fuhr er fort: »Aber, Professor, Agent Martin hat uns zu verstehen gegeben, dass Sie zu unserer schwer fassbaren Zielperson in einer besonderen Beziehung stehen, die es erleichtern wird, sie aufzuspüren. Das stimmt doch, nicht wahr?«
»Vielleicht«, erwiderte Jeffrey viel zu schnell für so ein ausweichendes Wort.
Der Kahle nickte und lehnte sich langsam zurück. »Vielleicht«, wiederholte er und zog eine Braue hoch. Er rieb sich die Hände, als würde er sie waschen. »Nun, so oder so, Professor, ist das Geld auf dem Tisch. Sind wir uns einig?«
»Habe ich eine Wahl, Mr. Manson?«
Der Schreibtischstuhl unter dem Kahlen quietschte, als er sich einen Moment darauf drehte.
»Das ist eine interessante Frage, Professor Clayton. Faszinierend. Eine Frage von philosophischer Bedeutung. Psychologischer Tragweite. Haben Sie eine Wahl? Gehen wir ihr doch einmal nach: finanziell natürlich nicht. Unser Angebot ist äußerst großzügig. Auch wenn es Ihnen nicht sagenhaften Reichtum beschert, so ist es doch beträchtlich mehr, als Sie jemals verdienen könnten, indem Sie in überfüllten Hörsälen psychotisch gelangweilte Studenten unterrichten. Aber emotional? Angesichts dessen, was Sie wissen – und was Sie vermuten – und was möglich ist, tja, ich weiß nicht. Könnten Sie sich einfach entschließen, diesen Aspekt ohne Antworten beiseitezulassen? Würden Sie sich nicht lebenslänglich in ein Gefängnis unbefriedigter Neugier begeben? Dann hat das Ganze natürlich auch noch eine ganz praktische Seite. Glauben Sie, uns läge daran, Sie mir nichts, dir nichts wieder ziehen zu lassen, ohne dass Sie uns geholfen haben, nachdem Agent Martin Sie nun schon mal hergebracht hat und nachdem er uns davon überzeugt hat, dass Sie der einzige Mensch im ganzen Land seien, der wirklich in der Lage wäre, unser Problem zu lösen? Würden wir einfach die Achseln zucken und Sie hier rausmarschieren lassen?«
Diese letzte Frage hing in der Luft.
»Wir leben in einem freien Land«, platzte Jeffrey heraus.
»Tun wir das wirklich?«, fragte Manson zurück.
Wieder lehnte er sich in derselben raubtierartigen Weise vor, die Jeffrey schon einmal beobachtet hatte. Ihm kam der Gedanke, dass der Kahlkopf, steckte man ihn in dunkle Gewänder mit Kapuze, sich in Stil und Erscheinung für eine Hauptrolle in der spanischen Inquisition empfohlen hätte.
»Ist denn überhaupt irgendjemand wirklich frei, Professor? Ist irgendjemand in diesem Raum wirklich frei, da wir doch jetzt um diese Quelle des Bösen in unserem Gemeinwesen wissen? Macht uns dieses Wissen nicht zu Gefangenen des Bösen?«
Jeffrey antwortete nicht.
»Sie werfen interessante Fragen auf, Professor. Natürlich hatte ich von einem Mann Ihrer akademischen Reputation auch nichts anderes erwartet. Aber leider bleibt uns nicht die Zeit, solch hochgeistige Themen zu erörtern. Vielleicht können wir uns bei anderer, zwangloserer Gelegenheit einmal darüber austauschen. Im Moment steht Dringlicheres an. Ich frage Sie also noch einmal: Sind wir uns einig?«
Jeffrey holte tief Luft und nickte.
»Bitte, Professor«, sagte Manson in schneidendem Ton. »Sprechen Sie laut und deutlich, fürs Protokoll.«
»Ja.«
»Ich hatte nichts anderes erwartet«, erklärte der Kahle. Er deutete zur Tür, um anzuzeigen, dass die Sitzung beendet sei.