16. KAPITEL
Der Mann, der die Lüge verbarg
Als sie die Stimme ihres Sohnes am Telefon hörte, durchfuhren Diana Clayton gleichzeitig Angst- und Freudenschauer. Wie jede andere Mutter freute sie sich, von ihrem allzu fernen Kind zu hören. Die Angst war komplizierter. Sie merkte, dass alte, lang verdrängte Befürchtungen in ihrem Innern wie Samen platzten, um aufzukeimen. Diese Angst wurzelte in der Erkenntnis, dass ihrem Leben, so wie es all die Jahre verlaufen war, ein Fehler anhaftete und dass ihnen eine große Veränderung bevorstand.
»Mutter?«, fragte Jeffrey.
»Jeffrey«, seufzte sie, »Gott sei Dank. Ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Ich hab ständig Nachrichten bei dir im Büro hinterlassen und auch auf deinem Anrufbeantworter. Hast du sie denn nicht abgehört?«
»Nein, keine einzige.«
Jeffrey ließ die seltsame Tatsache in sein Bewusstsein sinken und kam dann zu dem Schluss, dass dies für die Effizienz der Sicherheitskräfte des Einundfünfzigsten Staates sprach. Er verband das Telefon mit dem Computer, und Sekunden später erschien das Gesicht seiner Mutter vor ihm auf dem Bildschirm. Er fand, dass sie ausgezehrt und abgespannt wirkte. Ihm wurde bewusst, dass sie seine Reaktion sehen konnte, denn sie sagte: »Ich habe abgenommen. Ist unvermeidlich. Sonst geht’s mir gut.«
Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Du siehst gut aus.« Beide ließen es bei der kleinen Lüge bewenden.
»Hast du große Schmerzen? Was sagen die Ärzte?«
»Ach, zum Teufel mit den Ärzten. Die haben keine Ahnung«, erwiderte Diana. »Was macht es schon, wenn’s ein bisschen zwackt? Es ist nicht schlimmer als damals, wo ich mir das Bein gebrochen habe. Als ich von dem verdammten Dach gefallen bin. Du warst vierzehn, weißt du noch?«
Er wusste es noch. Das Dach hatte ein Leck bekommen, und sie war mit einem Eimer Teer hinaufgeklettert, um es zu reparieren, war ausgerutscht und heruntergefallen. Sie war nur ein einziges Stockwerk tief gefallen, doch es hätte schlimmer enden können als mit einem Bruch und blauen Flecken. Obwohl es bis zu seinem Führerschein noch zwei Jahre waren, hatte er sie in die Notaufnahme im Krankenhaus gefahren.
»Natürlich erinnere ich mich. Weißt du noch, wie der Arzt geguckt hat, nachdem er dir den Gips angelegt hat und dich gefragt hat, wie du nach Hause kommst, und ich die Autoschlüssel in der Hand hielt?«
Mutter und Sohn lachten bei der gemeinsamen Erinnerung. »Wahrscheinlich hat er gedacht, wir schaffen es nicht mal um den nächsten Block, bis wir einen Unfall bauen und wieder bei ihm landen.«
Diana Clayton lächelte und nickte. »Du warst schon immer ein guter Fahrer«, meinte sie.
Jeffrey schüttelte den Kopf. »Sicher und verlässlich. Der personifizierte Langweiler. Und nicht so gut wie Susan. Die kann wirklich mit Maschinen umgehen.«
»Passt zu ihr.«
Diana nickte wieder. »Du hast recht. Ihre Geduld wird ständig allzu sehr auf die Probe gestellt. Sie muss immer umsichtig sein, bedächtig und genau. Ich denke, das geht ihr gründlich auf die Nerven. Deshalb gibt sie ab und zu ein bisschen Gas. Ist mal was anderes.«
Jeffrey sagte nichts. Er betrachtete das Gesicht seiner Mutter auf dem Monitor. Ihm wurde klar, dass es falsch gewesen war, ihr nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Es herrschte eine Weile Schweigen zwischen ihnen, dann sagte er: »Ich glaube, ich habe ein Problem. Wir haben ein Problem.«
Diana runzelte die Stirn. Sie holte tief Luft und sprach aus, was sie gehofft hatte, nie sagen zu müssen: »Er ist nicht gestorben. Und er hat uns gefunden.«
Jeffrey nickte. »Hat er …«, fing er an.
Seine Mutter unterbrach ihn. »Er war hier. Im Haus, während ich schlief. Er ist Susan gefolgt und hat ihr Wortspiele und Rätsel geschickt. Sie hat ihm auf die gleiche Weise geantwortet. Ich weiß nicht, was er will, aber er spielt mit uns Katz und Maus …«
Sie zögerte und fügte hinzu: »Ich habe Angst. Deine Schwester ist robuster als ich. Aber vielleicht hat sie auch ein bisschen Angst. Sie weiß es noch nicht. Ich meine, am Anfang hab ich noch gehofft, es wäre jemand anders. Ich konnte es einfach nicht glauben, nach all den Jahren. Aber jetzt bin ich sicher, dass er es ist …«
Sie sprach nicht weiter, sondern starrte auf das Bild ihres Sohnes.
»Woher weißt du es?«, fragte sie plötzlich. Sie sprach abgehackt, ein wenig schrill. »Ich dachte, es beträfe nur mich. Ich dachte … ich meine, was … hat er sich auch bei dir gemeldet?«
Jeffrey nickte langsam. »Ja.«
»Aber wie?«
»Er hat mehrere Verbrechen begangen, und ich habe mich verpflichtet, bei den Ermittlungen zu helfen. Ich hab erst auch nicht geglaubt, dass er es ist. Genau wie du. Es kam mir so vor, als hätte ich mich all die Jahre an eine Lüge klammern dürfen.«
»Was für Verbrechen?«
»Solche, über die du nie sprechen wolltest.«
Diana schloss für einen Moment die Augen, als könnte sie so das Bild aus ihrem Kopf verbannen, das nun in ihr Gestalt annahm.
»Und jetzt soll ich ihn für die hiesige Polizei finden«, fuhr ihr Sohn fort. »Aber statt dass ich ihm auf die Spur komme, sieht es so aus, als hätte er mich gefunden.«
»Er hat dich gefunden. Oh mein Gott. Bist du in Sicherheit? Bist du zu Hause?«
»Nein, ich bin nicht zu Hause. Ich bin im tiefen Westen.«
»Wo?«
»Im Einundfünfzigsten Staat. Ich bin in New Washington. Da begeht er seine Verbrechen.«
»Aber ich dachte …«
»Ja, ich weiß. Das soll es hier eigentlich nicht geben. Deshalb hat man mich angeheuert. Jedenfalls dachte ich das, als ich herkam. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«
»Jeffrey, was willst du damit sagen?«
Ihr Sohn zögerte, bevor er antwortete: »Ich glaube«, begann er und wog jedes Wort bedächtig ab, da ihnen keine logischen Fakten, sondern eher ein Gefühl zugrunde lag, »dass er mich hergebracht hat. Dass alles, was er getan hat, darauf abzielte, mich hier direkt zu ihm zu führen. Dass er absichtlich so getötet hat, damit die hiesige Polizei mich holt. Ich fühle mich wie eine Figur in einem Spiel, dessen Regeln ich gerade erst zu verstehen beginne.«
Diana hielt für einige Sekunden die Luft an, dann ließ sie den Atem mit einem leisen Pfeifen entweichen.
»Er spielt Tod«, sagte sie unvermittelt.
Hinter sich hörte sie einen Schlüssel im Haustürschloss, kurze Zeit später Schritte und schließlich die Stimme ihrer Tochter: »Mutter!«
»Deine Schwester kommt nach Hause«, erklärte Diana. »Früher als sonst.«
Susan betrat die Küche und sah augenblicklich das Bild ihres Bruders auf dem Bildschirm. Wie immer durchzuckte sie eine Mischung aus widerstreitenden Gefühlen.
»Hallo, Jeffrey«, begrüßte sie ihn.
»Hallo, Susan. Alles in Ordnung bei dir?«
»Eher nicht«, antwortete sie.
»Was ist?«, fragte Diana.
»Er ist da. Schon wieder. Er hat mit mir Verbindung aufgenommen. Der Mann, der die Botschaften schickt …«
»Das ist nicht irgendein Mann«, unterbrach sie Diana in scharfem Ton. Ihre Tochter sah sie erstaunt an. »Ich weiß, wer es ist.«
»Dann …«
»Es ist nicht irgendein Mann«, wiederholte die Mutter. »War es nie. Es ist dein Vater.«
Alle drei verfielen in Schweigen. Susan sackte schwer auf einen Stuhl am Küchentisch nieder und nickte, während ihr Atem so flach wurde wie bei einem Feuerwehrmann, der durch den Rauch einer brennenden Wohnung kriecht.
»Du hast es gewusst und nichts gesagt?«, entfuhr es ihr. Wut zog sich wie ein Gebirgskamm am Abgrund ihrer Worte entlang. »Du hast vermutet, er könnte es sein, und es für besser gehalten, mir nichts zu sagen?«
Diana standen die Tränen in den Augen. »Ich war mir nicht sicher. Ich wusste es nicht definitiv. Ich wollte nicht wie ein kleines Kind wegen eines Geists um Hilfe rufen. Ich war so fest davon überzeugt, er wäre tot. Ich dachte, wir wären vor ihm sicher.«
»Und jetzt ist er es nicht und wir sind es nicht«, erwiderte Susan bitter. »Vermutlich sind wir es nie gewesen.«
»Die Frage ist doch«, warf Jeffrey ein, »was er eigentlich will? Wieso findet er uns gerade jetzt? Wieso hat er nicht einfach weitergemacht …«
»Ich weiß, was er will«, unterbrach ihn Susan. »Er hat es mir gesagt. Genauer gesagt, nicht er selbst. Und auch nicht explizit, aber …«
»Was?«
»Er will wiederhaben, was ihm gestohlen wurde.«
»Er will was?«
»Was ihm gestohlen wurde. Das war seine letzte Botschaft an uns.«
Erneut trat Schweigen ein, während alle über den Satz nachdachten.
Jeffrey reagierte als Erster: »Aber was zum Teufel, ich meine, was genau wurde ihm gestohlen?«
Diana war bleich geworden. Sie versuchte, das Beben in ihrer Stimme unter Kontrolle zu bekommen: »Das ist nicht schwer zu erraten. Was ihm gestohlen wurde? Du und deine Schwester. Und wer war der Dieb? Ich. Was habe ich ihm genommen? Ein Leben. Jedenfalls ein Leben, so wie er es entworfen hatte. Und deshalb sah er sich gezwungen, ein neues zu entwerfen.«
»Was hat das deiner Meinung nach zu bedeuten?«, fragte Susan.
»Ich würde vermuten«, sagte Diana leise, »Rache.«
»Sei nicht albern. Rache, die sich auch gegen Jeffrey und mich richtet? Was haben wir denn getan …«
»Nein, das leuchtet wirklich nicht ein«, unterbrach sie ihr Bruder. »Aber hinsichtlich Mutter schon. Wahrscheinlich ist sie in großer Gefahr. Wahrscheinlich sind wir das alle drei, auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Gründen.«
»Ich will zurück, was mir gestohlen wurde«, wiederholte Susan ruhig die Botschaft. »Jeffrey, du hast recht. Seine Beziehung, falls man es so nennen kann, ist zu jedem von uns eine andere. Ich meine, Mutter ist für ihn etwas anderes als du und dann wieder ich. Für jeden von uns ein eigener Plan.«
Sie legte eine Pause ein, sah auf und stellte fest, dass ihr Bruder zustimmend nickte. »Man könnte es vielleicht so sehen«, fuhr sie fort. »Stellen wir uns mal vor, wir wären alle Teil eines Puzzles – wenn wir richtig zusammengesetzt werden, ergibt es ein fertiges Bild. Ich denke, wir stehen vor dem Problem, rechtzeitig herauszufinden, was für ein Bild das ist und wie alles zusammenpasst …«
Sie holte tief Luft.
»… bevor er es für uns zusammensetzt.«
Jeffrey rieb sich mit der Hand über die Stirn und lächelte. »Susan, erinnere mich dran, dass ich nie mit dir Karten spiele. Oder Schach. Oder auch nur Dame. Ich glaube, du hast absolut recht.«
Diana hatte sich die Tränen aus den Augen gewischt. In gefasstem Ton wiederholte sie: »Er spielt den Tod. Das ist sein Spiel. Und wir sind die Spielfiguren.«
Allen dreien war klar, dass sie die Wahrheit sagte.
Jeffrey erhob unwillkürlich ein wenig die Stimme; er vermutete, dass er wie in seinen Seminaren klang, wenn er den Studenten Fragen stellte. »Ich denke, es bringt herzlich wenig, sich wieder verstecken zu wollen«, erklärte er nachdenklich. »Vielleicht können wir ihm einen Strich durch die Rechnung machen, indem wir uns trennen, jeder geht in eine andere Richtung …«
»Garantiert nicht«, meinte Susan trocken.
»Susan hat recht«, stimmte Diana zu und wandte sich zum Bildschirm. »Nein«, sagte sie, »ich glaube, das würde nicht funktionieren, selbst wenn wir es einrichten könnten. Wir müssen etwas anderes machen. Etwas, das ich wahrscheinlich schon vor fünfundzwanzig Jahren hätte tun sollen.«
»Und was?«, fragte Susan.
»Ihn in seinem eigenen Spiel schlagen.«
Susan setzte ein bitter-süffisantes Lächeln auf, das von eiserner Entschlossenheit zeugte. »Klingt vernünftig. In Ordnung. Wenn wir uns also nicht verstecken, wo wollen wir ihn dann stellen? Oben in New Jersey?«
Wieder herrschte Stille.
»Jeffrey, du bist der Experte in solchen Fragen.« Susan wandte sich dem Bildschirm zu.
Jeffrey zögerte. »Seinen Vater zu fassen ist nicht dasselbe, wie einen Mörder zu stellen. Selbst wenn er beides in einem ist. Wir sollten uns entscheiden, was von beidem wir wollen. Unserem Vater entgegentreten oder einem Mörder.«
Die Frauen antworteten nicht. Er wartete eine Sekunde, dann fügte er im Brustton der Überzeugung hinzu: »Grendels Höhle.«
Diana sah ihn verständnislos an. »Könntet ihr mir das vielleicht erklären …« Susans Gesicht dagegen verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Sie klatschte bescheiden, ein wenig spöttisch Beifall.
»Er meint, Mutter, dass man, wenn man das Monster vernichten will, warten muss, bis es aus seiner Höhle kriecht, um es dann zu packen, und man darf es nicht mehr loslassen, egal was passiert, selbst wenn es einen in seine eigene Welt zerrt, weil der Kampf nämlich da beginnt und endet.«
Für ein paar Sekunden schwiegen die drei, dann hob Susan zaghaft die Hand, wie ein Schulkind, das die Antwort nicht ganz sicher weiß, aber auch nicht die Chance verpassen will, aufgerufen zu werden.
»Ich hab nur noch eine Frage«, meinte sie, und ihre Stimme verriet, dass ihre Zuversicht ein wenig ins Schwanken geraten war. »Wir drei finden ihn also, bevor er uns findet. Wir müssen ihm einen Schritt voraus sein, nehme ich an. Dann stellen wir ihn. Ob den Mörder oder den Vater. Und was genau bezwecken wir? Ich meine, was machen wir, wenn wir mit ihm zusammentreffen?«
Darauf hatte noch keiner von ihnen eine Antwort.
Susan und Diana entschieden sich dafür, am nächsten Morgen in Miami den ersten Flieger nach Westen zu nehmen. In der Zwischenzeit ließ sich Jeffrey von seiner Mutter auf elektronischem Wege den Brief schicken, den sie vor so vielen Jahren von dem Anwalt bekommen hatte, ebenso den Nachruf auf ihren Mann im Mitteilungsblatt der St. Thomas More Academy. Er versprach ihnen, dafür zu sorgen, dass jemand sie am Flughafen New Washington abholte, und dass er sich um ihre Unterbringung kümmern würde. Diese Aufgaben delegierte er augenblicklich an Agent Martin.
»Meinetwegen«, erklärte sich der Detective bereit. »Was haben Sie vor, wenn ich damit fertig bin, Ihre Sekretärin zu spielen?«
»Ich werde einen Tag weg sein. Vielleicht auch zwei. Sie sorgen dafür, dass meine Mutter und meine Schwester in Sicherheit sind. Unter gar keinen Umständen darf ihre Ankunft an die Öffentlichkeit dringen. Sie werden unter falschem Namen einreisen, und Sie werden die Pseudonyme durch die Kontrollen Ihrer grandiosen Passbehörde schleusen, ohne dass es auf irgendeinem Computerbildschirm auch nur eine Sekunde blinkt oder dass irgendeine Beamtendrohne einen einzigen Rülpser darüber verliert. Das betrifft auch das Ausstellen provisorischer Pässe. Keine Computereinträge. Nicht einen. Dieses ganze verdammte System ist durchlässig, und ich will nicht, dass unsere Zielperson die Ankunft von Mutter und Tochter mitbekommt. Er würde sie an ihrem Alter, ihrer Herkunft, was weiß ich woran noch erkennen, und er wäre im Vorteil, bevor wir auch nur die leiseste Chance hätten, uns einen Schlachtplan zurechtzulegen.«
Der Detective brummte etwas, das nach Zustimmung klang. Nicht eben glücklich, aber eindeutig der gleichen Meinung. Jeffrey nahm an, dass Robert Martin wahrscheinlich nur deshalb den Mund hielt, weil er dachte, drei Lockvögel seien besser als einer, wenn es darum ging, ihre Jagdbeute aufzubringen. Und die Vorstellung eines Schlachtplans sagte ihm wahrscheinlich ebenfalls zu.
»Meine Schwester wird bewaffnet sein. Gut bewaffnet. Auch das sollte keinen Ärger machen.«
»Ein Mädel so recht nach meinem Geschmack.«
»Das glaube ich nicht.«
»Und Sie, Professor, wo wollen Sie hin?«
»Auf eine empfindsame Reise.«
»Leise Musik bei Mondenschein? Gitarrengeklimper im Hintergrund? Und wo mag das wohl sein?«
»Ich muss nach Hause«, erklärte Jeffrey. »Nicht für lang, aber ich muss hin.«
»Sie werden nicht in dieses Drecksloch zurückgehen, das sich Universität schimpft«, erwiderte Martin schroff. »Das ist gegen unsere Abmachung. Sie bleiben für die gesamte Dauer der Ermittlungen hier, Professor.«
Jeffrey reagierte ruhig, aber säuerlich. »Ich bin hier nicht zu Hause. Ich arbeite hier nur. Ich muss noch mal zurück.«
»Wie auch immer«, seufzte Martin und gab sich desinteressiert, »Sie sollten einen Freund mitnehmen.« Damit griff der Detective in eine Schreibtischschublade und zog eine Neun-Millimeter-Halbautomatik heraus, die er Jeffrey grinsend hinwarf.
Auf dem Nachtflug Richtung Osten fand er ein paar Stunden Schlaf, auch wenn er beim Sinkflug über dem Internationalen Flughafen von Newark aus einer Reihe von Albträumen erwachte, die ihn hartnäckig verfolgten. Es war kurz nach Sonnenaufgang, und es herrschte die Öde des nordöstlichen Winters, die sich während der nächsten Wochen halten würde. Über die luftverschmutzte Stadt hatte sich ein dichter, grauer Dunstschleier gelegt und schluckte die ersten Sonnenstrahlen, die versuchten, bis zur Erde durchzudringen. Von seinem Fenster aus erschien Jeffrey die Welt wie eine einzige kompakte Masse aus Beton und Asphalt, von Stahl und Ziegelmauern eingefasst, mit rostigem Maschen- und Stacheldraht bewehrt.
Als das Flugzeug über dem nördlichen Stadtgebiet kreiste, konnte er die Narben der Unruhen sehen – verkohlte Häuserblocks, die nach und nach verfielen. Aus der Luft waren die Linien, an denen sich Nationalgarde und Polizei formiert hatten, um der Flut der Brandstifter und Plünderer Einhalt zu gebieten, ebenso gut zu erkennen wie die Viertel, die man dem Verfall überließ. Als die Turbinen gedrosselt wurden und das Fahrgestell auf dem Boden aufsetzte, ertappte er sich dabei, wie er sich nach der offenen Weite und den sauberen Stadtanlagen des Einundfünfzigsten Staates sehnte. Er schlug sich den Gedanken aus dem Kopf und rieb sich die Augen, um den Halbschlaf abzuschütteln, dann bereitete er sich auf die Kälte vor, die ihn erwartete.
Es herrschte dichter, stockender Verkehr, als er mit seinem Leihwagen den Flughafen verließ. Der Stau setzte sich bis zur Schnellstraße und noch weitere zwanzig Meilen fort, so dass Jeffrey, als er endlich die Hauptstadt, Trenton, erreichte, sich nahtlos in die morgendliche Rushhour einfädeln konnte.
Er nahm die Ausfahrt Perry Street, die an dem quadratischen Gebäude aus Schlackenstein und Glas der Trenton Times vorbeiführte. Die Seite des wuchtigen alten Baus war von schwarzen Rußstreifen verunstaltet, besonders in der Nähe der Laderampen, vor denen zerbeulte blaugelbe Lieferwagen in einer Schlange warteten, um die Morgenausgabe abzuholen. Ein halbes Dutzend Fahrer hatte sich um ein Feuer in einem alten Blechfass geschart und wartete auf das Zeichen zum Beladen. Er wendete und fuhr ein paar Blocks näher an das Capitol heran, bis er das goldene, kuppelförmige Dach im Morgenlicht glänzen sah. Auf halbem Weg wurde er an einer Straßensperre aus Sandsäcken und Stacheldraht durchgewinkt, die eine Gegend städtischer Verwüstung und ausgebrannter, verbretterter Ruinen von den schmucken Reihenhäusern trennte, die im Rahmen des Stadtsanierungsprogramms wieder aufgebaut wurden. Die Polizeipräsenz war etwas gelockert, aber allenthalben spürbar, um sicherzustellen, dass die Wogen der Frustration nicht in die Straßen schwappten, in die Gelder investiert worden waren, oder gar bis zum Capitol. Jeffrey fand einen Parkplatz und lief zu Fuß weiter.
Die Anwaltskanzlei war kaum einen Häuserblock von den Regierungsgebäuden in einem altmodischen Brownstone-Haus untergebracht, das sich seine ursprüngliche, betont elegante Fassade erhalten hatte. An der Eingangsschleuse öffnete ihm ein mürrischer und gelangweilt wirkender Wachmann die Türen.
»Haben Sie einen Termin?«, fragte er und blickte auf sein Klemmbrett.
»Ich will zu Mr. Smith«, erwiderte Jeffrey.
»Einen Termin?«, beharrte der Wachmann.
»Ja«, log er. »Jeffrey Clayton, neun Uhr.«
Der Wachmann suchte auf seinem Blatt. »Steht hier nicht«, stellte er fest und zog augenblicklich eine schwerkalibrige Handfeuerwaffe, die er auf den Professor richtete. Jeffrey ignorierte die Drohung.
»Das muss ein Irrtum sein«, sagte er.
»Uns passieren keine Irrtümer«, erklärte der Mann. »Sie gehen jetzt besser.«
»Wie wäre es, wenn Sie Mr. Smiths Sekretärin anrufen würden? Dazu sind Sie doch sicher bereit?«
»Wieso sollte ich? Sie stehen nicht auf der Liste.«
Jeffrey lächelte. Langsam griff er in seine Jacke und zog seinen befristeten Pass von der Staatssicherheit im Einundfünfzigsten Bundesstaat hervor. Er ging davon aus, dass der Mann angesichts des Abzeichens und des goldenen Adlers nicht auf die Gültigkeit achten würde.
»Sie wären gut beraten, meiner Bitte nachzukommen, denn wenn Sie es nicht tun, kehre ich mit einer Verfügung, einem Fahndungsteam und einer Spezialeinheit zurück, und wir walzen das Büro Ihres Chefs platt; früher oder später wird ihm dann aufgehen, welcher Vollidiot an der Rezeption ihm die Suppe eingebrockt hat. Reicht das als Grund?«
Der Wachmann griff zum Telefon und sagte: »Hab hier ’n Bullen, der Mr. Smith sprechen will, obwohl er keinen Termin hat. Woll’n Sie runterkommen und mit dem Mann reden?«
Er legte auf und erklärte: »Die Sekretärin kommt sofort.« Er richtete weiterhin seine Waffe auf Jeffreys Brust. »Waffe dabei, SS-Mann?«
Als Jeffrey den Kopf schüttelte, da er seine Pistole im Handschuhfach gelassen hatte, forderte der Wachmann ihn mit einer stummen Geste auf, durch den Metall detektor zu treten. »Dann schauen wir mal«, meinte er. Als Jeffrey kein Signal auslöste, wirkte er enttäuscht. »Vielleicht haben Sie ja eine von diesen neuen Hightech-Plastik-Pistolen dabei?«, fragte er, doch bevor Jeffrey antworten konnte, kam eine Frau aus einem der Büros.
Sie war jung, adrett und professionell, in einem bis zum Hals geschlossenen, eng sitzenden Herrenhemd, was Jeffrey in einem Anflug von spöttischem Humor zu der Spekulation verleitete, dass sie wahrscheinlich mit dem Anwalt schlief, der seine fade, auf Countryclubs versessene Ehefrau mit ihr betrog. Die konservative, zurückhaltende Kleidung diente wahrscheinlich dazu, ihre eigentliche Aufgabe zu verdecken. Er schmunzelte über seine Phantasie, glaubte jedoch nicht, dass er sich irrte.
»Mister?«
»Clayton. Jeffrey Clayton.«
Der Wachmann reichte ihr den Ausweis des Einundfünfzigsten Bundesstaates.
»Und in welcher Angelegenheit haben Sie die schöne neue Welt im Wilden Westen verlassen und eine so weite Reise auf sich genommen?«, fragte sie in beißend sarkastischem Ton.
»Mr. Smith hat vor einigen Jahren einen Mann vertreten, gegen den derzeit in unserem Territorium eine Großfahndung läuft.«
»Alle Angelegenheiten zwischen Mr. Smith und seinen Klienten sind streng vertraulich.«
Jeffrey lächelte. »Selbstverständlich.«
»Darum glaube ich kaum, dass er Ihnen helfen kann.« Sie reichte ihm seinen Ausweis zurück.
»Wie Sie meinen«, entgegnete Jeffrey. »Andererseits hätte ich vermutet, dass ein Anwalt diese Entscheidung lieber selbst trifft. Wenn Sie allerdings glauben, dass er es vorzieht, seinen Namen ohne Vorwarnung auf einer Anklageschrift oder in einer Schlagzeile der hiesigen Zeitung zu entdecken, nun ja, das liegt bei Ihnen.«
Irgendwie genoss Jeffrey die Situation. Bluffen war normalerweise nicht sein Stil.
Die Sekretärin starrte ihn eindringlich an, als hoffte sie, an seinen Mundwinkeln oder seinem Kinn abzulesen, ob er es ernst meinte oder nicht. »Folgen Sie mir«, gab sie schließlich nach. »Ich sehe mal, ob er zwei Minuten erübrigen kann.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und sagte über die Schulter hinweg: »Das sind hundertzwanzig Sekunden. Nicht mehr.«
Sie führte Jeffrey in ein Vorzimmer mit teurem, unbequemem viktorianischem Mobiliar. Auf dem Boden lag ein großer handgeknüpfter Orientteppich. In der Ecke befand sich eine antike Standuhr, die nicht richtig ging, dafür aber laut tickte. Die Sekretärin deutete auf ein Sofa mit steiler Rückenlehne und suchte hinter einem Schreibtisch räumlich wie symbolisch Distanz zu Jeffrey. Sie nahm ein Telefon und sprach schnell in die Muschel, indem sie die Hand davorlegte, damit er sie nicht verstand. Nach einer Weile öffnete sich eine große Holztür, und der Anwalt trat ein. Er war spindeldürr mit einem grauen Haarschopf, der zu einem Pferdeschwanz gebunden über den Kragen seines maßgeschneiderten blauen Hemdes fiel. Die handgenähte Nadelstreifenhose wurde von Lederträgern gehalten. Seine italienischen Schuhe waren spiegelblank poliert. Die Hand, die er Jeffrey reichte, war knochig, groß und kräftig.
»Und welchen Ärger wollen Sie mir bereiten, Mr. Clayton?«, fragte der Anwalt zwischen zusammengepressten Lippen.
»Das kommt natürlich ganz drauf an«, erwiderte Jeffrey.
»Auf was?«
»Was Sie getan haben.«
Der Anwalt lächelte. »Dann hab ich nichts zu befürchten. Schießen Sie los, Mr. Clayton.«
Jeffrey reichte ihm den Brief, den er an Diana geschickt hatte. »Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Der Anwalt las das Schriftstück langsam. »Kaum. Ist sehr lange her. Ganz vage kann ich mich entsinnen … ein schrecklicher Autounfall, so wie ich es hier geschrieben habe. Bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen. Tragische Todesfälle …«
»Er ist nicht gestorben.«
Der Anwalt zögerte, bevor er sagte: »Steht hier aber anders.«
»Er ist nicht gestorben. Schon gar nicht bei einem Autounfall. Erst recht nicht in selbstmörderischer Absicht.«
Der Anwalt zuckte die Achseln. »Ich wünschte, ich könnte mich erinnern. Das ist höchst seltsam. Sie meinen, der Mann ist nicht gestorben, obwohl ich auf seiner Beerdigung war? Muss ich jedenfalls gewesen sein, weil ich es hier erwähne. Glauben Sie vielleicht, ich habe die Gewohnheit, zu vorgetäuschten Begräbnissen zu gehen?«
»Dieser Mann, wie Sie ihn nennen, war mein Vater.«
Der Anwalt zog eine dünne graue Augenbraue hoch. »Tatsächlich? Trotzdem ist es wohl kein Verbrechen, jung zu sterben, auch wenn das die meisten Kinder denken mögen.«
»Das stimmt. Aber was er tatsächlich getan hat, fällt unter diese Kategorie.«
»Mord.«
Wieder schwieg der Anwalt eine Weile. »Ein Toter, der in einen Mord verwickelt ist. Wie faszinierend.«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen mit Informationen dienen kann, Mr. Clayton. Jeder mündliche oder schriftliche Wortwechsel zwischen Ihrem verstorbenen Vater und mir unterliegt der Schweigepflicht. Möglicherweise erlischt die mit seinem Tod. Darüber lässt sich füglich streiten. Falls er, wie Sie behaupten, nun plötzlich doch am Leben ist, dann hat sie natürlich volle Gültigkeit, selbst nach all den Jahren. Sehr alte Geschichte, das Ganze. Ich möchte sehr bezweifeln, dass ich überhaupt noch die Akte besitze. Meine Kanzlei ist heute vollkommen anders und bedeutend größer als zu der Zeit, da dieser Brief an Ihre Mutter herausging. Deshalb denke ich, Sie unterliegen einem Irrtum, jedenfalls kann ich Ihnen nicht helfen. Guten Tag, Mr. Clayton, und viel Glück. Joyce, führen Sie den Herrn bitte hinaus.«
Dies schien die adrette Sekretärin mit dem größten Vergnügen zu tun.
Das Gelände der St Thomas More Academy war von einem drei bis vier Meter hohen schmiedeeisernen Zaun eingefasst – ein reines Zierelement, hätte es nicht Warnhinweise gegeben, dass der Zaun unter Strom stand. Jeffrey vermutete, dass er noch einmal ein bis zwei Meter tief in die Erde reichte. Am Eingangstor kam ihm ein Sicherheitsmann entgegen und geleitete ihn zur Akademie. Sie liefen zwischen massiven Bauten aus rotem Klinker eine Allee entlang. Im Frühling, dachte Jeffrey, bedeckte wahrscheinlich dichtes Grün die Wände der Studentenwohnheime und Übungsräume, während jetzt, da es auf den Winter zuging, die braunen Stengel des Weins wie unzählige Fangarme die Steine hochkletterten. Von den Eingangsstufen des Verwaltungsgebäudes aus konnte man die weite Fläche der stumpfgrünen Sportplätze sehen, auf denen vom reichlichen Gebrauch an vielen Stellen die nackte Erde durchkam. Der Mann vom Geleitschutz trug einen blauen Blazer und eine rote Schulkrawatte, und unter seiner Jacke erkannte Jeffrey die Umrisse einer Automatik. Er war mürrisch und wortkarg, und als die Kirchenglocke das Ende einer Stunde einläutete, schob er Jeffrey durch eine breite Flügeltür aus Glas. Dahinter spien die Übungsräume Studenten aus, die mit einem Schlag die verlassenen Gänge verstopften.
Die Assistentin des Direktors war eine ältere Frau mit einer Hornbrille auf der Nasenspitze und einem Helm aus toupiertem, blauem Haar. Sie versprühte Freundlichkeit und Effizienz, und Jeffrey kam unwillkürlich der Gedanke, dass in einer Welt der Zerstörung die alten Lehranstalten sich am langsamsten veränderten. Er konnte nicht sagen, ob das gut oder schlecht war.
»Professor Jeffrey Mitchell, du liebe Güte, ich glaube, den Namen habe ich seit Jahren nicht mehr gehört. Was sag ich, seit Jahrzehnten. Und Sie sagen, er war Ihr Vater? Du liebe Zeit, ich kann mich nicht einmal entsinnen, dass er verheiratet war.«
»Das war er. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der sich an seinen Tod erinnern kann. Leider habe ich ihn nie gekannt. Nicht wirklich. Sehr frühe Scheidung.«
»Verstehe«, meinte die Frau. »Das ist leider allzu oft der Fall. Und jetzt wollen Sie …«
»Nur ein paar Lücken in meinem eigenen Leben schließen«, erklärte Jeffrey. »Es tut mir leid, so unangemeldet hier hereinzuplatzen.«
Die Frau sah ihn mehr oder weniger genauso an wie einen Studenten, der wegen einer Grippe eine Klausur verpasst hatte. Verständnisvoll, aber nicht unbedingt mit Anteilnahme.
»Ich selbst kann mich nur vage erinnern«, überlegte sie. »Ich sehe ihn als einen sehr vielversprechenden jungen Mann vor mir. Scharfer Intellekt. Geschichte hat er, glaube ich, unterrichtet?«
»Ja, so viel ich weiß.«
»Leider sind nur wenige von uns übrig geblieben, die sich noch an diese Zeit erinnern könnten. Und Ihr Vater war nur ein paar Jahre hier, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Wir waren nur wenige Wochen gemeinsam hier tätig, und ich habe ihn kaum kennengelernt, bevor er seinen Dienst quittierte. Ich war in der Verwaltung, während er zum Lehrkörper gehörte. Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, selbst an einem College wie diesem …«
»Aber …« Jeffrey entging ein kurzes Zögern in ihrem Tonfall nicht.
»Ich denke, Sie sollten sich mit dem alten Mr. Maynard unterhalten. Er ist praktisch im Ruhestand, aber er unterrichtet immer noch ein paar Stunden amerikanische Geschichte. Ich meine, mich zu entsinnen, dass er in der Zeit Ihres Vaters Institutsleiter war. Das war er mehr als dreißig Jahre lang. Er könnte etwas über ihn wissen.«
Der Geschichtsprofessor saß an einem Schreibtisch und blickte aus einem Fenster im zweiten Stock, das gegenüber einigen Sportplätzen lag, als Jeffrey an die Tür klopfte und den kleinen Übungsraum betrat. Maynard war ein alter Mann mit kurz geschnittenem grauem Haar, einem melierten Bart und einer mehrfach gebrochenen, verunstalteten Boxernase. Er hatte etwas von einem Gnom und drehte sich wie ein Kind auf dem Stuhl eines Erwachsenen herum, als Jeffrey sich ihm näherte. Als er sah, dass sein Besucher kein Student war, spielte ein zartes, verlegenes Lächeln um seinen Mund, ein schüchterner Ausdruck, der zu seinem Bulldoggengesicht in seltsamem Widerspruch stand.
»Wissen Sie, manchmal kann ich zu den Sportplätzen da draußen hinüberschauen und mich an bestimmte Spiele erinnern. Ich sehe die Spieler vor mir, als wäre es gestern gewesen. Alt zu werden ist schrecklich. Die Erinnerungen ersetzen die Realität. Sie sind ein bescheidener Ersatz. Und …« Er blickte Jeffrey eindringlich an. »Sie kommen mir bekannt vor, aber nur vage. Gewöhnlich kann ich mich an alle meine ehemaligen Studenten erinnern, aber ich weiß nicht recht, wo ich Sie hinstecken soll.«
»Ich war kein Student von Ihnen.«
»Nicht? Und wie kann ich Ihnen dann helfen?«
»Ich heiße Jeffrey Clayton. Ich benötige einige Informationen …«
»Ah, sehr gut«, meinte der Lehrer und nickte. »Das ist gut. Es gibt nur noch viel zu wenige …«
»Ich verstehe nicht ganz?«
»Leute, die auf der Suche nach Informationen sind. Heutzutage akzeptieren die Menschen einfach, was man ihnen erzählt. Besonders junge Menschen. Als ob Wissen um des Wissens willen ein antiquiertes, nutzloses Unterfangen wäre. Sie wollen nur wissen, was ihnen bei den standardisierten Prüfungen hilft. Ihnen Zugang zu einer der renommierten Unis verschafft. Einen gut bezahlten Job, in dem sie nicht viel arbeiten müssen. Geld, Erfolg, ein großes Haus in einer sicheren Gegend, ein teurer Wagen und anderer Luxus. Niemand will mehr lernen, weil Lernen eine berauschende Angelegenheit ist. Aber Sie sind vielleicht anders, junger Mann.«
Jeffrey schmunzelte und zuckte die Achseln. »Ich habe Wissen eigentlich noch nie an Erfolg geknüpft.«
»Trotzdem kommen Sie auf der Suche nach Informationen?«
»Über einen Mann, den Sie einmal kannten.«
»Und der wäre?«
»Jeffrey Mitchell. Ehemaliger Kollege hier an Ihrem Institut.«
Maynard wippte auf seinem Stuhl und bohrte den Blick in seinen Besucher. »Das ist allerdings höchst seltsam«, stellte er fest. »Aber nicht gänzlich unerwartet. Selbst nach so vielen Jahren.«
»Erinnern Sie sich an ihn?«
»Allerdings.« Er starrte Jeffrey weiter an. »Nach einer Weile fragte er: »Sie sind, nehme ich an, mit Mr. Mitchell verwandt?«
»Ja, er war mein Vater.«
»Ach so, hätte ich mir eigentlich denken können. Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen, selbst die Statur. Er war groß und dünn, genau wie Sie. Drahtig und athletisch. Ein Mann mit starker Kondition, geistig wie physisch. Spielen Sie auch Geige? Nicht? Schade. Er war ziemlich begabt. Also, Sohn des Mannes, den ich einmal kannte, wenn auch nicht allzu gut, was möchten Sie von mir wissen?«
»Er ist gestorben …«
»Soweit ich weiß. Soweit ich gelesen habe.«
»In Wahrheit ist er damals nicht gestorben.«
»Aha, interessant. Und lebt er noch?«
»Ja.«
»Und Sie?«
»Ich habe ihn seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich war neun Jahre alt. Ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her.«
»Und wie ein Waisenkind oder besser gesagt, ein Kind, das unter Tränen zur Adoption freigegeben wurde, haben Sie sich auf die Suche nach dem Mann begeben, der Sie im Stich gelassen hat?«
»Im Stich gelassen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber irgendwie schon.«
Der Geschichtslehrer verdrehte die Augen, schwang sich auf seinem Stuhl hin und her, warf erneut einen Blick aus dem Fenster über die Sportanlagen und wandte sich wieder Jeffrey zu.
»Junger Mann, ich kann Ihnen von Ihrem Vorhaben nur abraten.«
Jeffrey stand vor dem Schreibtisch und zögerte einen Moment, bevor er fragte: »Und wieso?«
»Erhoffen Sie sich von der Information irgendeinen Nutzen? Wollen Sie damit eine Lücke in Ihrem Leben füllen?«
Das traf zwar, was er hoffte, nicht den Nagel auf den Kopf, war aber auch nicht ganz falsch. Jeffrey überlegte, dass es eigentlich klüger gewesen wäre, wenn er sich vorher klargemacht hätte, was genau er wissen wollte. Doch statt damit herauszuplatzen, wiederholte er: »Erinnern Sie sich an ihn?«
»Selbstverständlich. Er hat auf mich einen unvergesslichen Eindruck gemacht.«
»Und welchen?«
»Er war ein gefährlicher Mann.«
Bei dieser Antwort verstummte Jeffrey einen Moment, bevor er nachhakte: »Inwiefern?«
»Er war ein höchst ungewöhnlicher Historiker.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Die meisten von uns sind von den Wechselfällen der Geschichte fasziniert. Wieso dies oder jenes passiert ist. Es ist ein Spiel, wissen Sie, als ob man eine Landkarte durch Papier abpausen wollte, das nicht dünn genug ist.«
»Ja, zumindest war das mein Eindruck …«
»Und?«
Der ältere Mann überlegte, dann zuckte er die Achseln. »Er liebte die Geschichte, weil – das ist nur meine persönliche Ansicht, das dürfen Sie nicht vergessen –, weil er sie benutzen wollte. Für seine eigenen Zwecke.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Die Geschichte ist oft eine Zusammenstellung der Fehler, die Menschen begangen haben. Ich hatte das Gefühl, als lechzte Ihr Vater danach, immer mehr darüber zu erfahren, weil er selbst diese Fehler vermeiden wollte.«
»Verstehe …«, fing Jeffrey an.
»Nein, das glaube ich nicht. Ihr Vater hat europäische Geschichte unterrichtet, aber das war nicht sein eigentliches Gebiet.«
»Sondern?«
Der kleine Mann lächelte wieder. »Nur eine Meinung. Ein Gefühl. Wofür ich keine Beweise habe.« Er schwieg und seufzte. »Ich werde alt. Nur noch ein Seminar. Postgraduierte. Die mögen meinen Stil nicht mehr. Sind brüsk. Angriffslustig. Provokativ. Ziehen Theorien in Zweifel. Rütteln an Konventionen. Das ist das Problem, wenn man Historiker ist, wissen Sie? Man hat für die moderne Welt nicht viel übrig. Man sehnt sich nach den alten Zeiten.«
»Sie sagten gerade, ›sein eigentliches Gebiet‹.«
»Was wissen Sie über Ihren Vater, Mr. Clayton?«
»Was ich weiß, gefällt mir nicht.«
»Das haben Sie schön gesagt. Was ich jetzt sage, mag hart klingen, Mr. Clayton, aber ich war hoch erfreut, als Ihr Vater mir erklärte, er wolle gehen. Und nicht, weil er kein guter Lehrer gewesen wäre, denn das war er. Wahrscheinlich einer der besten, die ich je kennengelernt habe. Und beliebt. Aber wir hatten schon eine Studentin verloren. Eine arme junge Frau, die vom Campus entführt und äußerst brutal ermordet worden war. Ich wollte nicht, dass das noch einer zustößt.«
»Sie meinen, er hatte damit zu tun?«
»Was wissen Sie, Mr. Clayton?«
»Ich weiß, dass die Polizei ihn vernommen hat.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Die Polizei!«, schnaubte er. »Die hatten keine Ahnung, wonach sie suchen sollten. Ein Historiker weiß es besser. Er weiß, dass alle Ereignisse ein Zusammenspiel vieler Faktoren sind, dass Kopf und Herz, Politik, wirtschaftliche Aspekte und auch der Zufall, alle unwägbaren Kräfte dieser Welt eine Rolle spielen. Ist Ihnen das klar, Mr. Clayton?«
»Für mein Fachgebiet trifft das sicher zu.«
»Und was ist Ihr Fachgebiet, wenn ich fragen darf?«, wollte der alte Mann wissen, während er sich die gebrochene Nase rieb.
»Ich bin Professor für kriminelle Verhaltensstörungen, an der Universität von Massachusetts.«
»Ach, wie interessant. Demnach sind Sie Spezialist …«
»Ich habe mich spezialisiert auf Tötungsdelikte.«
Der alte Professor lächelte. »Genau wie Ihr Vater.«
Jeffrey lehnte sich in einer stummen fragenden Geste vor. Der Historiker wippte auf seinem Stuhl.
»Eigentlich hat es mich gewundert«, fuhr der Ältere fort, »dass im Lauf der Jahre niemand gekommen ist, um nach Jeffrey Mitchell zu fragen. Und nach so langer Zeit habe ich dann beinahe selbst an diesen berühmten Autounfall geglaubt und daran, dass die Welt von einer kleinen, aber tödlichen Kugel verschont geblieben war. Das ist ein Klischee. Ich sollte mir eigentlich keine Klischees erlauben, selbst jetzt, da ich alt bin und mich nicht mehr so nützlich wie früher machen kann. Ein Historiker sollte grundsätzlich zweifeln. Der einfachen Antwort misstrauen. Der Vorstellung, dass der Zufall der Welt je etwas Gutes beschert hätte. Denn das kommt nur selten vor. Man sollte alles in Frage stellen. Denn in der Geschichte stößt man nur zu einer Wahrheit vor, wenn man gesunde Zweifel mit einer Prise Skepsis würzt …«
»Mein Vater …«
»Wenn Sie mehr über den Tod erfahren wollten, über das Töten, über Folter, über all die Gelegenheiten, bei denen die dunklere Seite der menschlichen Natur ausbricht, dann war er Ihr Mann. Er war ein wandelndes Lexikon des Bösen: das Autodafé, die Inquisition, Vlad der Pfähler, die Christen in den Katakomben, Tamerlan der Eroberer, die Ketzerverbrennungen im Hundertjährigen Krieg. Darin war er überaus beschlagen. Welchen Teil der Frauenleber hat Jack the Ripper mit seiner berühmten Herausforderung an die Polizei geschickt? Ihr Vater wusste so etwas. Billy the Kids Lieblingswaffe? Ein Colt Kaliber vierundvierzig – nicht so viel anders als der Charter Arms Bulldog Kaliber vierundvierzig, den Berkowitz, der Son of Sam, benutzte. Die genaue Formel für Zyklon B? Das konnte Ihnen Ihr Vater ebenfalls sagen, und auch die Temperatur der Öfen in Auschwitz. Wie viele Männer an der Somme in den ersten Minuten nach dem Zeichen zum Angriff draufgingen? Er wusste es. Ethnische Säuberungen und serbische Todeslager? Tutsis und Hutus in Ruanda? Er konnte sämtliche Details zu diesen Abscheulichkeiten aus dem Ärmel schütteln. Er wusste, wie viele Peitschenschläge einen Mann töteten, der in den zaristischen Gulags des vorrevolutionären Russland bestraft werden sollte, und er wusste, welchen Bruchteil einer Sekunde das Fallbeil der Guillotine brauchte, und er hätte mit einem kleinen Lächeln hinzugefügt, dass Monsieur Guillotin, der Erfinder der Vorrichtung, den französischen Behörden überzeugend und arglistig einredete, dass die bemitleidenswerten Opfer der Höllenmaschine ›nicht mehr als ein leichtes Kitzeln im Nacken‹ spüren würden. Das alles und mehr konnten Sie von ihm erfahren.«
Der alte Mann hüstelte. »Wenn Sie etwas über Ihren Vater wissen wollen, dann müssen Sie so viel wie möglich über den Tod in Erfahrung bringen.«
Jeffrey wedelte ein wenig mit der Hand, als wolle er den Geruch einer Erinnerung abwehren. »Er hat Ihnen Angst gemacht?«
»Natürlich. Einmal hat er mir gegenüber behauptet, wenn die Geschichte eines deutlich mache, dann die Leichtigkeit, mit der man töten könne.«
»Haben Sie das der Polizei erzählt?«
Der Geschichtslehrer schüttelte den Kopf. »Ihnen was erzählt? Dass ihr Tatverdächtiger sich offenbar bestens mit Leben und Sterben so ziemlich jedes größeren oder kleineren Mörders auskannte, den die moderne Welt zu bieten hatte? Was hätte das bewiesen?«
»Vielleicht wäre es eine nützliche Erkenntnis gewesen.«
»Das Mädchen wurde ermordet. Eine Reihe von Leuten, darunter auch Ihr Vater, wurden vernommen. Aber er war nicht der Einzige. Ein paar andere Lehrer, ein Hausmeister, ein Angestellter vom Küchenpersonal und der Trainer der Jugendmannschaft der Lacrosse-Spielerinnen wurden ebenfalls verhört. Genau wie die anderen ließen sie ihn ohne Anklage laufen, da sie keine Beweise gegen ihn hatten. Nur Verdachtsmomente. Kurz darauf kündigte er seine Stelle. Und dann wieder ein paar Wochen später die überraschende Nachricht von seinem Tod. Angeblichen Tod, wie Sie sagen. Dennoch eine Nachricht. Ein kleiner Schock. Ein unerwartetes Ereignis. Vielleicht von einigem Interesse, weil der Zeitpunkt so ungewöhnlich war. Aber es wurden kaum Fragen gestellt und noch weniger Antworten gefunden. Das Leben ging weiter. In Institutionen wie diesen hier ist das normal. Egal, was in der Welt passiert, das Leben an einer Lehranstalt wie dieser geht einfach weiter wie zuvor und in alle Zukunft.«
Jeffrey sah zwischen dem College und dem Staat, für den er arbeitete, einige Gemeinsamkeiten. Beide glaubten, sie könnten – jeweils auf ihre Art – den Rest der Welt draußen halten. Beide hatten dieselben Probleme damit, die Illusion aufrechtzuerhalten.
»Erinnern Sie sich zufällig, was er gesagt hat? Als er kündigte?«
Der alte Mr. Maynard nickte und beugte sich vor. »Ich habe ihn zweimal getroffen, und an beide Gelegenheiten kann ich mich nach all den Jahren ganz genau erinnern. Das gehört sich für einen Historiker auch so, Mr. Clayton. Sie müssen sich wie ein Journalist den Blick fürs Detail bewahren.«
»Und?«
»Wir sind uns zweimal begegnet. Das erste Mal kurz nach dem Verhör durch die Polizei. Ich bin Ihrem Vater zufällig in einem Tante-Emma-Laden über den Weg gelaufen. Wir haben beide ein paar Einkäufe gemacht. Der ist immer noch da, die Straße rauf, nicht weit vom Gelände der Akademie. Zigaretten, Zeitungen, Milch, Wasser und Lebensmittel, die gelinde gesagt ungenießbar sind …«
»Ja.«
»Er hat ein paar Witze gemacht. Zuerst über die staatliche Lotterie, dann über die Polizei. Er schien sich nichts aus der Sache zu machen. Wissen Sie, Mr. Clayton, dass Ihr Vater eine lässige Nonchalance besaß? Hinter dieser lockeren Art hat er viel von sich versteckt. Auf jeden Fall hat er damit seine Ader für Präzision kaschiert. Er hatte etwas von einem Naturwissenschaftler, denke ich. Er konnte amüsant, dann wieder schüchtern sein, aber unter der Fassade kalt und berechnend. Sind Sie auch so, Mr. Clayton?«
Jeffrey antwortete nicht.
»Er war ein höchst beängstigender Mann. Er konnte aalglatt sein, und er hatte etwas Lauerndes an sich, wie ein gefräßiger Hai. Ich entsinne mich, wie es mir bei einer Unterhaltung eines Abends kalt den Rücken herunterlief. Ich kam mir vor, als spräche ich mit einem Fuchs an der Tür zum Hühnerstall, der mir versichert, es gäbe keinen Grund zur Sorge. Eine Woche später dann erschien er plötzlich in meinem Büro. Völlig unerwartet. Ohne viel Federlesens erklärte er mir, er werde uns in der kommenden Woche verlassen. Keine wirkliche Erklärung, nur, dass er eine Erbschaft gemacht hätte. Ich erkundigte mich nach dem Verhör, aber er lachte nur und meinte, da sei nichts weiter. Ich fragte ihn, was er vorhätte, und er sagte – und daran erinnere ich mich genau –, er sagte, es gäbe Menschen, die er finden müsse. Diese Worte habe ich noch genau im Ohr. Menschen, die er finden müsse. Er hatte das Auge eines Jägers. Ich versuchte, mehr aus ihm herauszubekommen, doch er machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür hinaus. Als ich später nach ihm gesucht habe, war er schon auf und davon. Hatte seine Schließfächer und Bücherregale leergeräumt. Ich rief bei ihm zu Hause an, doch das Telefon war schon abgeschaltet. Vielleicht ein, zwei Tage später bin ich bei ihm daheim vorbeigefahren, aber das Haus stand leer, und es prangte ein Verkaufsschild vor dem Eingang. Mit einem Wort, er war verschwunden. Das hatte ich kaum verdaut, als ich die Nachricht von seinem Tod erhielt.«
»Wann war das?«
»Na ja, ich weiß noch, dass wir uns glücklich schätzen konnten, denn es war nur noch eine Woche bis zu den Weihnachtsferien, und wir mussten nur ein paar von seinen Unterrichtsstunden überbrücken. Wir waren gerade dabei, einen Ersatz zu suchen, als wir von dem Autounfall hörten. Am Silvesterabend. Alkohol und überhöhte Geschwindigkeit. Nicht allzu ungewöhnlich, leider Gottes. In der Nacht hatte es die ganze Ostküste entlang gefrierenden Nieselregen gegeben und entsprechend viele Unfälle, darunter den Ihres Vaters. Jedenfalls wurde es uns so mitgeteilt.«
»Wissen Sie zufällig noch, wie Sie davon erfuhren?«
»Ah, eine ausgezeichnete Frage. Durch einen Anwalt vielleicht? In diesem Punkt kann ich mich nicht mehr so gut erinnern, wie ich es eigentlich sollte.«
Jeffrey nickte. Das leuchtete ein. Er wusste auch, welcher Anwalt angerufen hatte.
»Und das Begräbnis?«
»Also, das war merkwürdig. Niemand, den ich kannte, hatte irgendetwas über Zeit, Ort und dergleichen erfahren, also ging keiner hin. Das könnten Sie vielleicht im Mikrofilmarchiv der Trenton Times nachprüfen.«
»Das werde ich tun. Können Sie sich sonst noch an etwas erinnern, das mir möglicherweise weiterhelfen würde?«
Der alte Historiker lächelte trocken. »Aber, mein armer Mr. Clayton, ich bezweifle sehr, dass ich Ihnen irgendetwas erzählt habe, das Ihnen weiterhelfen könnte. Viel, das Sie verstören muss. Einiges, von dem Sie Alpträume bekommen könnten. Ganz bestimmt einiges, das Ihnen heute, morgen und wahrscheinlich noch lange Zeit zu schaffen machen wird. Aber helfen? Nein, ich glaube kaum, dass Wissen dieser Art irgendjemandem hilft. Schon gar nicht einem Kind. Nein, es wäre viel klüger von Ihnen gewesen – und besser für Sie außerdem –, diese Fragen nie zu stellen. Es mag zwar selten sein, aber zuweilen ist dieses weiße Feld, dieses Nichtwissen der Wahrheit vorzuziehen.«
»Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Jeffrey kalt, »aber ich hatte keine Wahl.«
Jeffrey stieg der beißende Geruch von Rauch in die Nase, ohne dass er hätte sagen können, woher. Der Himmel verschwand selbst mitten am Tage hinter einer Glocke aus graubraunem Smog und Dunst, und was immer gerade brannte, trug zur Trostlosigkeit bei.
Ein paar Blocks von dem Haus entfernt, in dem er die ersten neun Jahre seines Lebens verbracht hatte, hielt er an der Hauptstraße jener Kleinstadt an, die vor so vielen Jahren wegen eines einzigen Verbrechens in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Schlagzeilen gekommen war. Als Student hatte er einige Zeit in einer Unibibliothek verbracht und sich durch Dutzende Bücher über Kidnapping gelesen, um irgendwo auf Bilder seiner Heimatstadt aus jener Zeit zu stoßen. Jahrzehnte zuvor war es ein ausgesprochen ruhiges Fleckchen Erde gewesen, ein Ort für Bauerngehöfte und ein beschauliches Leben, ein Mikrokosmos der friedlichen, traditionellen Welt des kleinstädtischen Amerika, was vermutlich den weltberühmten Piloten überhaupt erst für Hopewell eingenommen hatte. Für ihn war es ein vermeintlicher Zufluchtsort, ohne ihn von den großen politischen Strömungen zu isolieren, in die er eingetaucht war. Der Flieger war ein ungewöhnlicher Mann, vom Rampenlicht, das ihm seine Atlantiküberquerung beschert hatte, offenbar sowohl verstört wie angezogen.
Natürlich änderte sich alles von einer Sekunde auf die andere, als die ganze Welt die Entführung des Babys verfolgte. Die Presse, die über den Fall berichtete, fiel über den Ort herein, und der Schauprozess gegen den des Verbrechens beschuldigten Mann, der nur ein Stück die Straße hinunter in Flemington stattfand, das alles brachte für den Ort in den folgenden Jahren unwiderrufliche Veränderungen, und Hopewell wurde zum Synonym für einen einzigen Akt des Bösen. Es war wie eine wasserfeste Farbe, die an Hopewell haftenblieb, egal, wie idyllisch es erschien. Außerdem hatte sich über die Jahre auch der Charakter der Stadt verändert. Die Farmer verkauften ihr Land an Bauunternehmer; die wiederum parzellierten es, um darauf Luxusunterkünfte für die Geschäftsleute aus Philadelphia und New York zu errichten, die der Großstadt zu entkommen hofften, indem sie aufs Land zogen – aber auch nicht zu weit weg. Der Ort litt unter seiner Nähe zu beiden Städten. Es gibt nicht viel, dachte Jeffrey, das sich auf ländliche Gegenden so verheerend auswirkt wie eine günstige Lage.
Sein eigenes Zuhause war älter gewesen, ein umgebautes Relikt aus der Zeit der Kindsentführung, auch wenn es in einer Nebenstraße unweit des Zentrums lag, das Anwesen des Fliegers dagegen einige Meilen weiter draußen. Er erinnerte sich, dass ihr Haus groß und geräumig gewesen war, voller dunkler Winkel und überraschender Lichteinfälle. Er hatte ein Zimmer im ersten Stock bewohnt, zur Straße hinaus und mit einem halbkreisförmigen Grundriss. Er versuchte, sich das Zimmer ins Gedächtnis zu rufen. Woran er sich erinnern konnte, war sein Bett, ein Bücherregal und das Fossil eines prähistorischen Krustentiers, das er an einem Flussbett in der Nähe gefunden hatte. Bei ihrem übereilten Aufbruch hatte er nicht daran gedacht, es mitzunehmen. Jahrelang hatte er den Verlust bereut. Der Stein hatte sich faszinierend kalt angefühlt, und er hatte es immer genossen, mit den Fingern darüberzustreichen, so als könnte das Fossil unter seiner Hand plötzlich zu neuem Leben erwachen.
Er ließ den Motor an und rief sich in Erinnerung, dass er zu keinem anderen Zweck gekommen war, als Informationen einzuholen. Diese Reise zu dem Haus, das sie fluchtartig verlassen hatten, war nichts weiter als ein Vorstoß ins Ungewisse.
Er fuhr seine Straße entlang und wehrte eine Flut der Erinnerungen ab.
Als er anhielt, schärfte er sich noch einmal ein: Du hast nichts Unrechtes getan – eine seltsame Botschaft, das räumte er ein. Dann erst wagte er, aufzuschauen und das Haus zu betrachten.
Fünfundzwanzig Jahre sind ein seltsamer Filter. Dasselbe gilt für den Unterschied zwischen einem Alter von neun und vierunddreißig. Das Haus erschien ihm kleiner und trotz des schwachen Sonnenlichts, das sich durch den grauen Himmel kämpfte, heller. Freundlicher als erwartet. Es war gestrichen worden. Während er sich an den schiefergrauen Farbton der Schindelverkleidung erinnern konnte, mit schwarzen Läden an den Fenstern, setzte sich jetzt Weiß von den grünen Läden ab. Er entsann sich einer großen Eiche, die im Vorgarten gestanden und ihren Schatten über die Hausfront geworfen hatte, doch sie war verschwunden.
Er stieg aus und entdeckte einen Mann, der vornübergebeugt neben den Eingangsstufen mit dem Rechen ein Beet bearbeitete. Nicht weit von ihm stand ein Schild: ZU VERKAUFEN. Beim Zuschlagen der Wagentür drehte der Mann den Kopf halb um und griff nach etwas – wahrscheinlich nach einer Waffe, vermutete der Professor, auch wenn er sie nicht auf sich gerichtet sah. Jeffrey ging langsam auf ihn zu.
Der Mann schien etwa Mitte vierzig zu sein, stämmig und mit ein paar Pfunden zu viel um die Körpermitte. Er trug eine Jeans mit Bügelfalten und eine altmodische Bomberjacke mit Pelzkragen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, als der Professor näher kam.
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Jeffrey. »Ich hab hier als Kind für kurze Zeit gewohnt und dachte, da ich gerade auf der Durchfahrt war, ich schau mal am alten Haus vorbei.«
Der Mann nickte und schien beruhigt, dass der Fremde keine Bedrohung war. »Wollen Sie’s kaufen? Ich mach Ihnen einen guten Preis.«
Jeffrey schüttelte den Kopf.
»Sie haben hier gewohnt? Wann denn?«
»Vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Und Sie?«
»Nee, so lang nicht. Wir haben es vor drei Jahren von einem Ehepaar gekauft, das zwei, vielleicht drei Jahre drin wohnte. Die haben es auch wieder von anderen Leuten, die nur kurz drin waren. Hat schon oft den Besitzer gewechselt.«
»Tatsächlich? Können Sie mir sagen, wieso?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Pech, würde ich denken.«
Jeffrey sah ihn mit einem fragenden Blick an.
Der Mann zuckte wieder die Achseln. »Um die Wahrheit zu sagen, hat niemand, den ich kenne, hier je Glück gehabt. Ich bin gerade versetzt worden. Nach Scheiß-Omaha. Gott. Muss die Kinder, die Frau, den blöden Hund und die Katze entwurzeln, um irgendwo in die Pampa zu ziehen.«
»Tut mir leid.«
»Der Kerl vor mir bekam Krebs. Familie davor, die hatten ein Kind, das von einem Auto überfahren wurde, direkt da vorne. Hab gehört, dass sich irgendwer sogar an einen Mord erinnert, der in dem Haus passiert sein soll, aber, na ja, nichts Genaues weiß man nicht, und ich hab sogar in den alten Zeitungen nachgesehen, aber nix gefunden. Das Haus bringt einfach Pech. Wenigstens ham sie mich nicht gefeuert. Das wäre nun echt Pech gewesen.«
Jeffrey sah den Mann nachdenklich an. »Ein Mord?«
»Oder so was in der Art. Wer weiß? Wie gesagt, niemand weiß irgendwas Konkretes. Wollen Sie sich mal umsehen?«
»Vielleicht einen Moment.«
»Ist wahrscheinlich drei-, viermal renoviert worden, seit Sie hier gewohnt haben.«
»Das ist anzunehmen.«
Der Mann führte Jeffrey durch die Eingangstür in eine kleine Diele und von da aus im Schnelldurchgang in die Küche mit später angebautem Speisezimmer, das Wohnzimmer und einen kleinen Raum, der, wie Jeffrey sich erinnerte, das Arbeitszimmer seines Vaters gewesen war, während dort jetzt eine Stereoanlage und ein über die ganze Wand reichender Fernseher untergebracht waren. Er merkte, dass sein Kopf schnell und mit mathematischer Präzision arbeitete, um eine Gleichung aufzustellen, die er aus seinem tiefsten Innern hervorholen musste. Es wirkte alles sauberer, als er es in Erinnerung hatte. Heller.
»Meine Frau«, erklärte der Mann, »ist von uns beiden diejenige mit der Liebe zur modernen Kunst und den Pastellbildern an den Wänden. Welches war Ihr Zimmer?«
»Oben rechts. Rundes Zimmer.«
»Ah, mein Arbeitszimmer. Hab ’ne Reihe Regale eingebaut und meinen Computer drin. Wollen Sie’s sehen?«
Jeffrey durchzuckte eine plötzliche Erinnerung, wie er sich in seinem Zimmer versteckte und das Gesicht ins Kissen drückte. Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, lehnte er ab. »Nicht nötig, ist nicht so wichtig.«
»Wie Sie wollen«, meinte der Hauseigentümer. »Verdammt, ich mach ständig Führungen mit den Maklern und ihren Klienten, ich hab die Masche inzwischen ganz gut drauf.« Der Mann lächelte und wollte Jeffrey schon wieder nach draußen begleiten. »Mensch, muss für Sie seltsam sein, nach all den Jahren, wo es ganz anders aussieht und so.«
»Ein bisschen komisch schon. Es kommt mir kleiner vor, als ich es in Erinnerung habe.«
»Das ist nur natürlich. Sie waren damals selbst kleiner.«
Jeffrey nickte.
»Also, ich schätze, der einzige Raum, der noch genauso wie damals ist, das ist der im Keller. Den haben die Leute einfach nicht bemerkt.«
»Wie bitte?«
»Dieser komische kleine Raum im Keller, am Brenner vorbei. Ich wette, die meisten Eigentümer haben überhaupt nicht davon gewusst. Wir haben es auch erst mitgekriegt, weil wir ’nen Kammerjäger dahatten, und der hat es gemerkt, indem er an die Wände klopfte. Man kann die Tür kaum sehen. Oder, besser gesagt, als er das entdeckt hat, war gar keine Tür da. Das Zimmer war mit Spachtelmasse und Gips versiegelt. Als der Typ ordentlich dagegengehauen hat, klang es hohl, und wir beide wurden neugierig und haben es aufgestemmt.«
»Wie ein Geheimzimmer?«, fragte Jeffrey.
Der Mann breitete die Arme aus. »Keine Ahnung. Früher vielleicht mal. Wie eine Art Versteck. Muss lange her sein. Wollen Sie mal gucken?«
Jeffrey nickte.
»Okay. Nicht allzu sauber da unten, macht Ihnen hoffentlich nix aus.«
Hinter der Treppe befand sich eine kleine Tür, die, wie Jeffrey sich erinnerte, in den Keller hinabführte. Er konnte sich nicht entsinnen, da unten viel Zeit verbracht zu haben. Staubig, dunkel und für einen Neunjährigen keineswegs einladend. Er blieb auf dem oberen Treppenabsatz stehen, während der Eigentümer mit polternden Schritten nach unten ging. Da war noch etwas, erinnerte er sich. Eine entlegene Erinnerung zuckte ihm durch den Kopf: von ferne die leisen Klänge einer Violine, verborgen wie der Raum.
»Ist das der einzige Zugang?«, fragte er.
»Nein, es gibt noch einen von draußen, von der Seite. Eine Tür und ein Schacht, so wie die Leute früher an ihre Kohlenvorräte kamen. Natürlich ist der schon lange verschwunden.«
Der Mann drückte auf einen Lichtschalter, und Jeffrey sah einen Stapel Kisten und Kartons sowie ein altes Schaukelpferd. »Ist für nichts anderes mehr zu gebrauchen, nur noch Gerümpel«, seufzte der Mann.
»Wo ist die Tür?«
»Da drüben. Hinter dem Ölbrenner ausgerechnet.«
Jeffrey musste sich an dem Brenner vorbeiwinden, der im selben Moment mit einem dumpfen Geräusch ansprang. Die Tür, die der Mann erwähnt hatte, war eine Sperrholzplatte, die eine quadratische Öffnung in der Wand abdeckte und vom Boden bis auf Jeffreys Augenhöhe reichte.
»Hab dieses alte Holz drangemacht«, berichtete der Mann. »Wie gesagt, da war mal Spachtelmasse, sah aus wie ’ne Wand. Kein Mensch wär auf die Idee gekommen, dass es da ’n Zimmer gibt. War jahrelang zugekleistert. Vielleicht ursprünglich mal ’n Kohlenkeller, den man umgebaut hat. Gibt’s in vielen alten Häusern. Werden genauso wie die Kohlenminen dichtgemacht.«
Jeffrey schob das Brett zur Seite und beugte sich hinunter. Der Eigentümer schnappte sich eine Taschenlampe, die auf dem Sicherungskasten stand, und reichte sie Jeffrey. Im Eingang hingen Spinnweben, die der Professor beiseitewischte, bevor er sich bückte und den Raum betrat.
Der Verschlag war etwa zwei mal drei Meter groß, mit einer zwei Meter vierzig hohen Decke, an der eine Schalldämmung in doppelter Dicke angebracht war. In der Mitte der Decke befand sich eine einzige, leere Lampenfassung. Keine Fenster. Es roch muffig wie in einer Gruft. Die Luft erinnerte an eine Krypta. Die Wände waren mit einer dicken Schicht Hochglanzweiß lackiert, in dem sich der Lichtstrahl der Taschenlampe spiegelte. Der Boden bestand aus grauem Zement.
Der Raum war leer.
»Sehen Sie?«, fragte der Hauseigentümer. »Wozu zum Teufel soll das gut sein? Nicht mal als Lagerraum. Zu mühsam, reinund rauszukommen. Vielleicht mal ein Weinkeller? Möglich wär’s. Auf jeden Fall kalt genug. Aber ich weiß nicht. Irgendwer hat ihn früher mal für irgendwas benutzt. Können Sie sich dran erinnern? Verflucht, hat was von einer Zelle im Alcatraz, nur dass sie da bestimmt ein Fenster zum Rausgucken haben.«
Jeffrey ließ den Lichtstrahl langsam über die Wände wandern. Drei waren leer. An einer befand sich jeweils kurz vor der Kante je ein kleiner Metallring, beide mit einem Durchmesser von vielleicht sieben Zentimetern.
Er richtete die Lampe auf die Ringe.
»Haben Sie eine Ahnung, wozu die Dinger dienen könnten?«, wandte er sich an den Hausbesitzer. »Wissen Sie, wer sie dort angebracht hat?«
»Ja, die hab ich zum ersten Mal gesehen, als ich und der Kammerjäger den Raum entdeckten. Nicht den leisesten Schimmer, Mann. Fällt Ihnen dazu was ein?«
Ihm fiel durchaus etwas ein, doch er sprach es nicht aus. Er wusste sogar ganz genau, wozu sie dienten. Wenn jemand an diesen Ringen angekettet wurde, dann hing er vor der weißen Wand wie ein Schnee-Engel. Jeffrey ging näher heran und strich mit dem Finger über die glatte weiße Farbe neben den Ringen. Er fragte sich, ob er wohl Einschnitte und Rillen in der verspachtelten Bretterwand finden würde, die anschließend übermalt worden waren. Kerben, die Fingernägel vielleicht aus Verzweiflung und Panik hinterlassen würden. Er glaubte nicht, dass die Farbe einer professionellen Untersuchung durch einen Forensiker standhalten würde; zweifellos würden sich mikroskopisch kleine Partikel eines Opfers darin befinden, das hier zurückgelassen worden war. Doch vor fünfundzwanzig Jahren hatte Agent Martin nicht genügend Beweismaterial zusammentragen können, um selbst vom verständnisvollsten Richter einen Durchsuchungsbefehl zu erwirken. Jahrzehnte später entdeckte der Kammerjäger den Raum bei seiner Suche nach einer Ungezieferseuche, ohne zu ahnen, dass er eine Verseuchung ganz anderen Ausmaßes aufgedeckt hatte.
Jeffrey hätte nicht sagen können, ob die Staatspolizei New Jersey auch nur halb so clever gewesen wäre. Er bezweifelte es. Er glaubte nicht, dass sie auch nur die geringste Vorstellung hatte, wonach sie suchte.
Jeffrey ging in die Hocke und strich mit dem Finger über den kalten Zementboden. In diesem Licht konnte er keine Flecken erkennen. Der ganze Raum hätte voller Blut und anderer Rückstände des Todes sein müssen. Jeffrey beantwortete sich die Frage selbst: Plastikfolie. In jedem Haushaltswarengeschäft zu bekommen. Auf jeder Mülldeponie leicht zu entsorgen. Er schnüffelte angestrengt, ob noch irgendein verräterischer Geruch nach Reinigungsmitteln in der Luft hing, doch nichts hatte die Jahrzehnte überdauert.
Er drehte sich langsam um und ließ den winzigen Raum auf sich wirken. Nicht viel dran, dachte er. Dann wurde ihm klar, dass es nicht anders zu erwarten gewesen war.
Während er dort kniete, erinnerte er sich an die Stimme seines Vaters, wie er ihm an irgendeinem ruhigen, spannungsgeladenen Abend am Esstisch sagte, er solle sein Gedeck mit zum Küchenbecken nehmen, es unter den Wasserhahn halten und in den Geschirrspüler stecken. Immer schön sauber machen, wenn du fertig bist. Die Mahnung, die alle Kinder von ihren Eltern bekommen.
Für seinen Vater bedeutete die Botschaft allerdings viel mehr. Der Professor stand auf. Das, was er gesehen hatte, ließ keine Rückschlüsse darauf zu, ob der winzige Raum Zeuge nur eines Horrorszenarios geworden war oder von hundert. Er vermutete Ersteres, ohne Letzteres ausschließen zu können.
Ihm kam plötzlich eine Idee, und er wusste den Namen des Mannes, der ihm – abgesehen von seinem Vater – diese Frage vielleicht beantworten konnte.
Beim Verlassen der Folterkammer überkam Jeffrey plötzlich eine eisige Kälte, wie kurz vor einem Anfall von Schüttelfrost, dann ein Krampf in der Magengegend wie der Vorbote von Brechreiz.
Ihm wurde klar, dass er in einem sehr kleinen Raum viel dazugelernt hatte, und er hasste sich aus tiefstem Herzen dafür, dass er es bis ins letzte Detail verstehen konnte.
Das Archiv der Trenton Times hatte wenig Ähnlichkeit mit dem modernen, computerisierten Büro der New Washington Post. Es war in einem beengten Nebenzimmer notdürftig untergebracht, nicht allzu weit von dem höhlenartigen Raum mit niedriger Decke voller Stahlschreibtische und wackeliger Stühle, in dem die Redaktion arbeitete. Nur eine entfernte Wand verfügte über Fenster, deren Scheiben allerdings unter einer dicken Schicht von grauem Schmutz verschwanden und für ein dauerhaftes abendliches Dämmerlicht sorgten. Das Archiv war vollgestellt mit Aktenschränken aus Metall und zusätzlich mit zwei älteren Computermodellen und einem Mikrofilmgerät ausgestattet. Ein junger Mann, dessen Wangen von einem schweren Aknebefall gezeichnet waren, legte, ohne ein Wort zu verlieren, den uralten Film für Jeffrey ein.
Der Professor las den Artikel der Zeitung über den Mord an der jungen Frau an der St. Thomas More Academy und fand genau, womit er gerechnet hatte: reißerische Details über die Entdeckung der Leiche im Wald, allerdings ohne Erkenntnisse, die das Team der Spurensuche zusammengetragen hatte. Es folgten die obligatorischen Zitate der Polizisten, darunter auch des jungen Detective Martin, über die Vernehmungen einiger Tatverdächtiger sowie eine Reihe vielversprechender Spuren, denen jetzt nachgegangen werde – der übliche Euphemismus, wenn die Polizei auf der Stelle trat. Der Name seines Vaters kam nicht vor. Es folgte ein dürftiges Porträt des Opfers in der Art einer Schülerzeitung sowie die ganz und gar vorhersagbaren Bemerkungen ihrer Mitstudenten, sie sei ein stilles Mädchen gewesen, das niemand besonders gut kannte, aber offenbar freundlich, ein Mensch, der eigentlich keine Feinde haben konnte – als ob der Mann, der sie ausgesucht hatte, einen speziellen Hass auf sie gehegt hätte. Der Hass, dem sie zum Opfer gefallen war, war viel grundlegenderer Art.
Als Nächstes suchte Jeffrey nach einem Bericht über den Autounfall. Der Professor hatte den Eindruck, dass die Trenton Times eine Art Zwitterstellung einnahm: einerseits gerade groß genug, um sich ernsthaft mit dem Weltgeschehen zu befassen, und auch ganz gewiss wichtig genug, um ein kritisches Auge auf die bundesstaatlichen Geschäfte zu werfen, die einen Häuserblock entfernt im Capitol ausgeheckt wurden, andererseits aber nicht bedeutsam genug, um einen Autounfall zu übergehen, bei dem ein Mitbürger der Stadt gestorben war, besonders, da ein spektakuläres Feuer hinzukam.
Er durchsuchte die Seiten der Zeitung gründlich, ohne ein Wort zu entdecken. Schließlich fand er in der Ausgabe drei Tage nach Silvester in der Rubrik Nachrufe einen einzigen, kleinen Eintrag:
Jeffrey Mitchell, 37, ehemaliger Geschichtsprofessor an der St. Thomas More Academy in Lawrenceville, verstarb unerwartet am ersten Januar. Mr. Mitchell saß nach Auskunft der Polizei am Steuer eines Autos, das in Havre de Grace, Maryland, mit einem anderen Fahrzeug kollidierte. Die Beisetzung findet im engsten Familienkreis im Bestattungsinstitut O’Malley Brothers, Aberdeen, Maryland, statt.
Er las den Nachruf mehrmals. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sein Vater in der Silvesternacht in einer kleinen Stadt im ländlichen Maryland zu suchen hatte. Havre de Grace. Sicherer Hafen. Das machte ihn stutzig. Er versuchte, sich in einen überlasteten Redaktionschef hineinzuversetzen, dessen halber Mitarbeiterstab die Feiertage daheim im Kreis der Familie verbringen wollte. Normalerweise würde man erwarten, dass der Redakteur beim Anblick dieses Nachrufs eine Story witterte. Aber wäre er auch bereit, jemanden hundert Meilen nach Süden zu schicken, um einer vagen Möglichkeit nachzugehen? Vielleicht nicht. Vielleicht würde das einfach durchs Raster rutschen.
Jeffrey überflog die nachfolgenden Ausgaben auf der Suche nach weiteren Berichten, fand jedoch keine. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ den Apparat vor sich hin surren. Er war entmutigt und fürchtete, nach Maryland fahren zu müssen, um dort ein Bestattungsinstitut zu suchen, das es schon lange nicht mehr gab, oder auch einen Polizeibericht, der wahrscheinlich ebenfalls unwiederbringlich verschwunden war.
Sicherer Hafen. Er bezweifelte, dass die Stadt über eine eigene Zeitung verfügte, von der er sich Informationen erhoffen konnte. Aberdeen war größer und hatte wohl ein eigenes Blatt, doch er hatte keine Ahnung, wie viel Hilfe er sich von dort erhoffen durfte. Er leckte sich über die trockenen Lippen und dachte an den Mann, der ein paar Häuserblocks entfernt in seiner vornehmen Kanzlei saß und seine Fragen beantworten konnte.
Er wollte gerade das Mikrofilmgerät ausschalten, als sein Blick die Seite streifte, die er auf dem Monitor hatte. Unten rechts befand sich im Regionalteil ein kurzer Artikel, der ihm ins Auge sprang. Die Überschrift lautete: LOTTO-JACKPOT VON ANWALT EINGEFORDERT.
Er stellte die Schärfe ein und las die unschätzbaren wenigen Absätze:
Die anonyme Gewinnerin des drittgrößten
Jackpots, den die bundesstaatliche Lotterie je zu vergeben hatte,
hat sich gemeldet und den in Trenton ansässigen Anwalt H. Kenneth
Smith zur Lottozentrale entsendet, um ihre 32,4 Millionen Dollar
einzufordern.
Smith präsentierte der Gesellschaft einen unterschriebenen und
notariell beglaubigten Schein; dies war der erste Gewinn seit sechs
Wochen, in denen sich der Jackpot angesammelt hatte. Mr. Smith
erklärte den Reportern, die Gewinnerin wolle unbedingt anonym
bleiben. Die Vertreter der Lotteriegesellschaft unterliegen in
Bezug auf die Gewinner der gesetzlichen Schweigepflicht, von der sie nur der Betreffende
selbst entbinden kann.
Der Preis, den die glückliche Gewinnerin einstreicht, ist ein
jährlicher Scheck in Höhe von 1,3 Millionen Dollar über zwanzig
Jahre hinweg, nach allen steuerlichen Abzügen. Anwalt Smith lehnte
es ab, sich zur Person der Gewinnerin zu äußern, über die er nur
bemerkte, sie sei noch jung und schätze ihre Privatsphäre; sie
befürchte, von skrupellosen Heiratsschwindlern und anderen
Betrügern belagert zu werden.
Die Vertreter der Lotteriegesellschaft schätzten den nächsten
Jackpot auf zwei Millionen Dollar.
Jeffrey beugte sich vor, um den Mikrofilm besser lesen zu können, und dachte: Da haben wir’s. Er grinste bei dem Gedanken, wie leicht dem Anwalt die Lüge über die Lippen gekommen sein musste – ein weibliches Pronomen zu benutzen, als er es ablehnte, den Gewinner beim Namen zu nennen. Ein kleiner, harmloser Betrug, der Glaubwürdigkeit suggerierte. Was für Lügen gab es noch? Den Unfall außerhalb der Stadt. Ein Bestattungsinstitut, das es vermutlich nie gegeben hatte. Jeffrey war sich einigermaßen sicher, in der Mischung aus Lügenmärchen einige Wahrheiten zu entdecken; das Wesentliche war ihm allerdings jetzt schon klar: Das Ganze hatte den Zweck, aus dem Leben des Jeffrey Mitchell zu schlüpfen und ein neues Leben zu beginnen – das Leben desselben Menschen, aber mit neuem Namen und neuer Identität, mit mehr als genug finanziellen Mitteln, um nach freiem Belieben einer alten, bösen Begierde zu frönen. Jeffrey erinnerte sich an die Worte des Geschichtsprofessors: Er sagte, er hätte eine Erbschaft gemacht … Eine Erbschaft der ganz besonderen Art.
Jeffrey wusste nicht, wie viele Menschen von der Hand seines Vaters gestorben waren, doch die Ironie, dass jeder Mord, den er begangen hatte, vom Bundesstaat New Jersey gefördert worden war, entging ihm nicht.
Bei diesem Gedanken musste der Sohn des Mörders laut lachen, so dass der pockennarbige Angestellte in seine Richtung schaute. »He!«, rief er, als Jeffrey aufstand und aus dem Archiv marschierte, ohne den Apparat auszuschalten. Er wollte noch einmal versuchen, den Anwalt zur Rede zu stellen, aber diesmal musste er sich mehr Nachdruck verschaffen.
In der Straße, in der die Kanzlei lag, standen ein paar vernachlässigte Ulmen, in deren kahlen Zweigen sich die Dunkelheit fing. Eine gelbe Natriumdampflaterne surrte kurz, als sie durch eine Schaltuhr eingeschaltet wurde und in der Mitte des Häuserblocks diffuses Licht aussandte. Die Reihe der Brownstone-Häuser mit ihren Büros hüllte sich immer mehr in abendliches Dunkel, als die Angestellten in Trauben aus den Türen drängten. Mehr als einmal beobachtete Jeffrey, wie Wachleute mit Automatikwaffen vor der Brust ihre Schutzbefohlenen die Straße entlang eskortierten. Jeffrey musste an Hütehunde denken, die eine Schafherde vorantreiben.
Er saß in seinem Leihwagen und hatte einen Finger an die Neun-Millimeter-Pistole gelegt. Er schätzte, dass der Anwalt nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Er hoffte, dass der arrogante Mann allein herauskommen würde, auch wenn er sich nicht ganz auf diese Möglichkeit verließ. H. Kenneth Smith, Esq., hätte es nicht so weit gebracht, hätte er zu Leichtsinn geneigt.
Jeffrey empfand eine Mischung aus Angst und Erregung, wenn er daran dachte, dass der bevorstehende Schritt ihn seinem Vater ein gutes Stück näher bringen würde.
Er hatte nicht lange gebraucht, um die abendlichen Gewohnheiten des Anwalts zu entdecken. Ein kurzer schneller Rundgang durch das Viertel zwischen Capitol und Kanzlei hatte ihn zu dem einzigen Parkplatz geführt, auf dem vornehmlich neue und teure Luxusautos standen und ein großes Schild verkündete: NUR MONATSMIETEN. NICHT FÜR DEN TAGESVERKEHR. Es gab keinen Wächter, dafür aber einen drei bis vier Meter hohen Zaun mit Natodraht am oberen Rand. Der Zugang zu diesem Parkplatz erfolgte über eine einzige Fahrbahn durch ein Schiebetor, das von einer elektronischen Kamera gesteuert wurde. Außerdem gab es im Zaun eine schmale Eingangstür. Diese öffnete sich mit Hilfe eines Infrarotschlüssels.
Jeffrey ging davon aus, dass der Anwalt sein Fahrzeug dort abstellte. Der Trick bestand nun darin, den Mann an einer Stelle abzufangen, an der er wehrlos war, und es kostete Jeffrey einige Mühe, diese Stelle ausfindig zu machen. Zu den Pflichten des stämmigen Wachmanns gehörte es zweifellos auch, darauf zu achten, dass sein Arbeitgeber jeweils sicher hinters Lenkrad kam. Jeffrey traute dem Mann zu, dass er nicht zögern würde, auf jeden zu schießen, der eine Bedrohung darstellte – besonders auf dem Weg zwischen Büro und Parkplatz. War er erst einmal im Innern des umzäunten Platzes, konnte er ihn nicht mehr fassen. Jeffrey machte die Pistole feuerbereit und kam zu dem Schluss, dass er den Anwalt auf der Straße abfangen musste, kurz bevor er den Parkplatz erreichte. An dieser Stelle würde er sich auf das konzentrieren, was vor ihm lag, und vielleicht nicht mitbekommen, wenn sich hinter ihm etwas bewegte. Ihm war klar, dass der Plan nicht unbedingt genial war, aber auf die Schnelle fand sich nichts Besseres.
Kam es hart auf hart, würde er den Wachmann so behandeln, wie es Agent Martin getan hätte: wie ein lästiges Hindernis auf dem Weg zu den Informationen, die er brauchte. Er war sich nicht ganz sicher, ob er es wirklich fertigbringen würde, den Mann zu erschießen, doch er war auf die Kooperation des Anwalts angewiesen, und die hatte wahrscheinlich ihren Preis.
Außer dass er rein theoretisch beschloss, notfalls von seiner Waffe Gebrauch zu machen, besaß er keinen konkreten Plan. Das bedrückte ihn und trug nicht wenig zu der Mischung aus Aufregung und Zorn bei, die sich in ihm zusammenbraute.
Es wurde immer dunkler; kaum einen Häuserblock entfernt jaulten bereits die ersten Polizeisirenen auf, da sah er, wie der Sicherheitsmann vor der Eingangsschleuse erschien und ein wachsames Auge in beide Richtungen der Straße warf. Kaum drehte sich der Mann wieder um, stieg Jeffrey aus dem Wagen und huschte in den Schatten am Rande des Bürgersteigs. Er hatte noch nicht lange im Schutz der parkenden Autos, eines Baums und der Dunkelheit gewartet, die Pistole schussbereit in der Rechten, als er den Anwalt, den Bodyguard und die Sekretärin aus dem Gebäude kommen sah. Es war ein frostiger Abend; alle drei hatten unter ihren Mänteln die Schultern eingezogen und liefen zügig gegen den Wind, der immer heftiger wurde und Papier über den Bürgersteig wirbelte. Jeffrey bedankte sich bei der Kälte; sie verleitete die drei dazu, möglichst schnell zu laufen und nicht auf das zu achten, was in ihrem Rücken geschah.
Mit dem Parkplatz lag er richtig. Das Trio schritt forsch durch die Dunkelheit, ohne zu merken, dass ihnen jemand auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig folgte. Er mahnte sich zur Geduld; er musste immer ein Stück hinter ihnen bleiben, damit sie ihn nicht entdeckten, wenn sie einmal kurz zur Seite blickten. Dann wieder beschleunigte er seine Schritte, da er fürchtete, ihnen zu viel Vorsprung zu lassen. Für einen Moment dachte er daran, dass Agent Martin vermutlich ganz genau gewusst hätte, welchen Abstand er halten musste, gerade genug, um nicht bemerkt zu werden, dabei aber ausreichend nah, damit er im entscheidenden Moment schnell aufschließen konnte.
Auch sein Vater hätte wahrscheinlich die richtige Technik gekannt.
Als der Anwalt und sein kleines Gefolge sich dem Parkplatz näherten, sah Jeffrey, wo ihre Fahrzeuge standen: die letzten drei Autos, hübsch ordentlich in Reih und Glied. Das erste war ein Geländewagen mit Allradantrieb, dicken Reifen und einem Überrollbügel aus Chrom, der im Scheinwerferlicht des Platzes blitzte. Daneben stand eine bescheidenere Limousine und auf dem hintersten Platz ein luxuriöser Importwagen aus Europa.
Jeffrey überquerte hinter ihnen die Straße, immer im Schatten der Laternen. Seine Waffe hatte er entsichert. Er hörte seine kurzen, keuchenden Atemzüge und sah die Kondenswolken vor seinem Mund. Er packte seine Waffe fester und spürte, wie sich alle seine Muskeln spannten. Die Mischung aus Angst und Erregung hätte er vielleicht prickelnd gefunden, hätte er sich nicht gänzlich auf die drei Menschen konzentrieren müssen, die einen halben Häuserblock vor ihm liefen. Er beschleunigte wieder seine Schritte und verkürzte den Abstand.
Die Stimme neben ihm kam unerwartet. »Hey, Mann, wozu die Eile?«
Jeffrey wirbelte so schnell herum, dass er fast gestolpert wäre. In ein und derselben Bewegung hob er die Pistole und zielte. »Wer sind Sie?«, platzte er heraus, als er eine Gestalt sah, die fast mit dem Schatten verschmolz.
Nach kurzem Zögern kam die Antwort: »Niemand, Mann, niemand.«
»Nichts, Mann.«
Ein Afroamerikaner in dunkler Hose und schwarzer Lederjacke, die ihm wie eine zweite Haut anlag, trat aus dem Versteck im Schatten der Laternen. Er hielt die Hände hoch. »Schon gut, schon gut«, sagte der Mann.
»Von wegen«, erwiderte Jeffrey und richtete die Waffe auf die Brust des Mannes. »Wo ist deine Knarre? Oder dein Messer? Was wolltest du benutzen?«
Der Mann machte einen Schritt zurück. »Keine Ahnung, wovon Sie reden, Mann.« Doch er grinste, als machte ihm die Lüge Spaß. Jeffrey sah dem Mann fest in die Augen, der weiter die Hände hochhielt, dabei jedoch rückwärts weiterging. »Heute Nacht haben Sie Glück gehabt, Boss«, erklärte der Mann in einem leicht singenden Tonfall, als wollte er die Pointe eines Witzes besonders betonen. »Heute gehen Sie nicht drauf, Boss, aber morgen und übermorgen sollten Sie darauf achten, wo Sie lang laufen. Heute haben Sie noch mal Schwein gehabt, können den nächsten Morgen erleben.« Der Mann lachte, griff langsam in die Lederjacke, zog ein großes Springmesser heraus und ließ es aufschnappen. Wieder grinste er und machte eine schneidende Bewegung in der Luft. Dann drehte er sich blitzschnell um und ging davon wie ein Mann, der wusste, dass sich für eine verpasste Gelegenheit jede Menge neue boten.
Jeffrey zielte weiter auf seinen Rücken, bemerkte aber, wie seine eigene Hand zitterte. Er erinnerte sich, dass er gezögert und somit tatsächlich Glück gehabt hatte, da Zögern den Tod bedeuten konnte. Er atmete einmal tief aus, und als er sah, dass der Mann in der Nacht verschwunden war, drehte er sich wieder zu dem Anwalt, der Sekretärin und dem Wachmann um.
Sie waren verschwunden, und Jeffrey rannte los, während er die wertvollen Sekunden verfluchte, die er verloren hatte. Er war vielleicht noch dreißig Meter vom Parkplatz entfernt, als er sah, wie die Scheinwerfer aller drei Fahrzeuge gleichzeitig eingeschaltet wurden.
Er lief langsamer und duckte sich in einen Schatten, ohne jedoch stehen zu bleiben. Er ließ die Waffe sinken und atmete bewusst langsam, um sein Herzklopfen zu beruhigen. Er zog die Schultern hoch und drückte das Kinn in die Brust. Er wollte weder erkannt werden noch unnötig Aufmerksamkeit auf sich lenken, indem er sich versteckte. Er beschloss, an dem Platz vorbeizugehen, und tröstete sich wie der Straßenräuber damit, dass sich morgen eine andere Gelegenheit bieten würde.
Während er noch dastand, kam der Truck des Wachmanns langsam mit brummendem Motor in Fahrt. Als er auf die Kontaktschiene rumpelte und damit das automatische Schiebetor öffnete, blieb er einen Moment stehen. Dann fuhr der Geländewagen hinaus, hielt am Rand des Bürgersteigs noch einmal an und fuhr schließlich mit quietschenden Reifen auf die Straße. Jeffrey erwartete, dass die anderen beiden Fahrzeuge in kurzem Abstand folgen würden, doch das taten sie nicht. Vielmehr erloschen die Lichter am Wagen der Sekretärin abrupt. Kurz darauf stieg sie aus. Ihr prüfender Blick wanderte nach links und rechts die Straße entlang, dann lief sie rasch zur Beifahrerseite des Anwaltsautos. Die Tür ging auf, und sie schlüpfte hinein.
Im selben Moment sprang Jeffrey, angetrieben von einem Drang, den er nie für möglich gehalten hätte, am Schiebetor vorbei auf den Parkplatz. Er presste sich mit dem Rücken an eine Ziegelwand und konnte nicht sagen, ob er gesehen worden war.
Er atmete mit einem langen Pfeifton aus.
Im Anwaltsauto konnte er die Umrisse zweier eng aneinandergeschmiegter Gestalten erkennen.
Er sah seine Chance und sprintete hinüber, froh, dass seine Muskeln auf die plötzliche Herausforderung zuverlässig reagierten. Wie ein Schnellläufer bewegte er die Arme mit und war an der Seite des Wagens, bevor der Anwalt und seine Sekretärin sich aus ihrem langen Kuss gelöst hatten. Im Bruchteil einer Sekunde wurden sie sich seiner Gegenwart bewusst und wichen entsetzt zurück; im nächsten Moment hatte er die Scheibe auf der Fahrerseite mit dem Kolben seiner Pistole eingeschlagen, so dass die Scherben über die beiden Liebenden flogen.
Die Frau schrie, der Anwalt brüllte irgendetwas Unverständliches und griff nach dem Schalthebel.
»Finger weg«, befahl Jeffrey.
Die Hand des Anwalts schwebte über dem Knauf, dann zog er sie zurück. Seine Stimme war vor Überraschung schrill und zittrig. »Was wollen Sie?«, fragte er. Die Sekretärin war vor dem Lauf von Jeffreys Pistole zurückgewichen, als könnte sich jeder Zentimeter Abstand als lebensrettend erweisen. »Was wollen Sie?«, wiederholte der Anwalt – in flehentlichem Ton.
»Was ich will?«, erwiderte Jeffrey bedächtig. »Was ich will?« Er spürte, wie ihm das Adrenalin in den Ohren pochte. Die Angst, die er in dem vorhin noch so arroganten Gesicht des Anwalts sah, und die Panik der adretten Sekretärin waren berauschend. In diesem Moment hatte er das Gefühl, sein Leben besser als je zuvor unter Kontrolle zu haben. »Was ich will, hätten Sie mir heute Morgen wesentlich einfacher und wesentlich höflicher geben können«, gab er kalt zurück.
Wie er schon vermutet hatte, verbarg sich im Eingangsbereich zum Anwaltsbüro noch eine zweite, versteckte Alarmanlage hinter der Holzvertäfelung. Er fühlte den Draht des Sensors direkt unter einem feinen Grat im Anstrich. Das musste ein stiller Alarm sein, nahm Jeffrey an, der entweder zur Polizeistation Trenton oder, falls die nicht zuverlässig war, zu irgendeinem Sicherheitsdienst führte.
Er wandte sich an die Sekretärin und den Anwalt. »Abschalten«, verlangte er.
»Ich weiß nicht, wie«, sagte die Sekretärin.
Jeffrey schüttelte den Kopf. Er betrachtete ruhig die Pistole in seiner Hand, als wollte er sehen, ob sie eine Halluzination war. »Sind Sie verrückt«, fragte er. »Meinen Sie, ich benutze die hier nicht?«
»Nein«, entgegnete der Anwalt. »Sie scheinen ein vernünftiger Mann zu sein, Mr. Clayton. Sie arbeiten für eine staatliche Behörde. Die würden sicherlich die Stirn runzeln, wenn Sie von der Waffe Gebrauch machen würden, um einen Durchsuchungsbefehl zu erzwingen.«
Der Anwalt und die Sekretärin standen an der Wand und hielten die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Der Professor beobachtete, wie sie verstohlene Blicke wechselten. Der Überraschungseffekt verpuffte.
Sie fassten sich langsam und begannen, mit der Situation klarzukommen.
»Ziehen Sie sich bitte aus«, wies er sie an.
»Was?«
»Genau, wie ich es sage. Ziehen Sie Ihre Kleider aus. Jetzt.«
Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, richtete er die Pistole auf die Sekretärin.
»Ich werde unter gar keinen Umständen …«
Jeffrey hielt die Hand hoch, um den Mann zum Schweigen zu bringen. »Ich bitte Sie, Mr. Smith, das ist mehr oder weniger das, was Sie ohnehin gerade tun wollten, als ich Sie so unangenehm unterbrochen habe. Wir ändern nur die Umstände und den Schauplatz. Und verderben vielleicht auch ein bisschen den Spaß an der Sache.«
»Das mache ich nicht.«
»Oh doch, Sie werden, oder ich puste Ihrer Sekretärin ein Loch in den Fuß. Es wird sie zum Krüppel machen und unglaublich schmerzhaft sein. Aber es bringt sie nicht um.«
»Das machen Sie nicht.«
»Soso, ein Zweifler.« Er trat vor. »Ich hasse es, wenn man meine Aufrichtigkeit in Frage stellt.« Er zielte, hielt inne und sah der Sekretärin in die verängstigten Augen. »Oder wäre es Ihnen vielleicht lieber, wenn ich seinen Fuß nehme? Für mich bleibt sich das eigentlich gleich …«
»Nehmen Sie seinen«, beeilte sie sich.
»Oder vielleicht beide?«
»Nein, seinen.«
»Warten Sie!« Der Anwalt blickte verzweifelt in den Lauf der Pistole. »Meinetwegen«, gab er nach. Er fing an, seine Krawatte zu lockern. Die Sekretärin zögerte, dann begann sie, ihr Hemd aufzuknöpfen. Beide hörten auf, als sie an ihre Unterwäsche kamen. »Das sollte genügen«, meinte der Anwalt. »Wenn Sie wirklich nur Informationen brauchen, dann müssen Sie uns nicht die Würde nehmen.«
»Würde? Sie haben Angst, Ihre Würde zu verlieren? Sie machen Witze. Und wie«, entgegnete Jeffrey. »Nackt fühlt man sich seltsam ausgeliefert, nicht wahr? Wenn man nackt ist, neigt man viel weniger dazu, Schwierigkeiten zu machen. Oder Risiken einzugehen. Das ist simpelste Psychologie, Mr. Smith. Und ich habe Ihnen bereits gesagt, wer mein Vater ist, also würde ich annehmen, dass ich, selbst wenn ich nur halb so viel von der Psychologie der Dominanz verstehe wie er, doch eine ganze Menge begreife.«
Jeffrey schwieg, während die Sekretärin und der Anwalt ihre restlichen Kleider auf den Boden fallen ließen.
»Gut«, sagte er. »Und jetzt noch einmal. Wie kann ich den Alarm ausschalten?«
Die Sekretärin hatte unwillkürlich eine Hand sinken lassen, um ihre Scham zu bedecken, während sie die andere hinter dem Kopf ließ. »Hinter dem Gemälde an der Wand ist ein Schalter«, erklärte sie grimmig und starrte erst Jeffrey, dann ihren Liebhaber an.
»Schon besser«, lobte Jeffrey mit einem Grinsen.
Die Sekretärin brauchte nur wenige Minuten, um die richtige Akte in einem handgeschnitzten Eichenschrank in einer Ecke des Anwaltsbüros zu finden. Sie trug sie quer durchs Zimmer, tappte mit den Füßen über den Teppich und zog sich auf einen Stuhl an der Wand zurück, wo sie ihr Bestes tat, sich zu einem kleinen Ball zusammenzurollen, um ihre Nacktheit zu verbergen. Der Anwalt griff nach den Schriftstücken, wobei der Ledersessel unter seiner Haut quietschte. Er schien sich weniger unbehaglich zu fühlen als die junge Frau, als hätte er sich mit der Nacktheit abgefunden. Er klappte die Akte auf, und Jeffrey sah zu seiner Enttäuschung, dass sie äußerst dünn war.
»Ich habe ihn nicht gut gekannt«, berichtete Smith. »Wir haben uns nur ein-, zweimal getroffen. Danach vielleicht im Lauf der Jahre ein, zwei Anrufe, nicht mehr. In den letzten fünf Jahren nichts. Aber das ist ja auch verständlich …«
»Wieso?«
»Weil der Staat vor fünf Jahren aufgehört hat, den Lotteriegewinn auszuzahlen. Er hatte seinen Gewinn erschöpft. Na ja, wohl nicht direkt erschöpft. Ich weiß nicht, wie er sein Geld angelegt hat. Aber ich vermute, klug. Ihr Vater machte auf mich den Eindruck eines sehr umsichtigen, selbstbeherrschten Mannes. Er hatte einen Plan, und den führte er bis ins kleinste Detail aus.«
»Was für einen Plan?«
»Ich habe die Zahlungen entgegengenommen. Dann habe ich das Geld, abzüglich meines Honorars, auf ein Konto meines Klienten eingezahlt – das entsprechend der anwaltlichen Schweigepflicht vor allzu neugierigen Augen geschützt ist –, von wo aus es auf eine Reihe karibischer Offshore-Banken verteilt wurde. Was danach damit passierte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wurde es dann, nach einer äußerst geringen Überweisungsgebühr, auf ein anderes Konto Ihres Vaters unter einem erfundenen Namen oder einer Scheinfirma wieder in die USA geschleust, doch an diesem Punkt konnte es niemand mehr zu der ursprünglichen Quelle zurückverfolgen. Ich habe nichts weiter getan, als den Stein ins Rollen zu bringen. Wo er liegen blieb, kann ich nicht sagen.«
»Sie wurden dafür großzügig bezahlt?«
»Wenn Sie jung sind, fast ohne eigene Mittel, und ein Mann kommt daher und sagt Ihnen, ich zahle Ihnen hunderttausend Dollar im Jahr für Banküberweisungen, die eine Stunde Arbeit kosten …« Der Anwalt zuckte mit den nackten Schultern »Na ja, es war ein gutes Geschäft.«
»Da war noch etwas. Sein Tod.«
»Sein Tod fand ausschließlich auf dem Papier statt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es gab keinen Autounfall. Nur einen Unfallbericht. Es gab Versicherungsansprüche. Es wurde eine Einäscherung bezahlt. Zeitungen, sein ehemaliges College informiert – so viel wie möglich, um etwas zu dokumentieren, das nicht stattgefunden hat. Die Kopien finden Sie in der Akte. Aber es gab keinen Tod.«
»Und das haben Sie für ihn gemacht?«
Der Anwalt zuckte die Achseln. »Er sagte, er wollte von vorn anfangen.«
»Geht das etwas genauer?«
»Er hat nie explizit erklärt, dass er seine Identität wechseln wolle. Und ich war klug genug, ihn nie direkt zu fragen, auch wenn jeder Vollidiot gesehen hätte, dass es darum ging. Wissen Sie, ich habe ein bisschen über ihn recherchiert, er hatte kein Vorstrafenregister, weder bei der örtlichen Polizei noch in der nationalen Datei. Jedenfalls hab ich nichts gefunden. Also sagen Sie mir, Mr. Clayton, was sollte ich machen? Das Geld ablehnen? Ein Mann, der in seinem Beruf angesehen ist, möchte, obwohl weder kriminelle noch gesellschaftliche Gründe dafür vorliegen, ein Leben hinter sich lassen und irgendwo anders ein neues beginnen. Dafür ist er bereit, einen fantastischen Preis zu zahlen. Wer bin ich denn, mich ihm in den Weg zu stellen?«
»Haben Sie ihn nicht gefragt?«
»Bei meinem kurzen Treffen mit Ihrem Vater habe ich den Eindruck gewonnen, dass es nicht meine Aufgabe sein sollte, seine Motive zu hinterfragen. Als er eine Exfrau erwähnte und den Brief für sie hinterließ, habe ich das Thema angeschnitten, aber er wurde ungehalten und hat mich aufgefordert, einfach nur zu tun, wofür ich bezahlt würde, und mit diesem Arrangement konnte ich gut leben.«
Der Anwalt deutete mit einer Geste auf den Raum. »Das Geld von Ihrem Vater hat dabei geholfen, das hier aufzubauen. Es war mein Startkapital. Ich stehe in seiner Schuld.«
»Kann ich dem, was er heute ist, auf die Spur kommen?«
»Unmöglich.« Der Anwalt schüttelte den Kopf.
»Wieso?«
»Weil es kein schmutziges Geld war! Er hat sauberes Geld gewaschen! Weil er nicht das Geld zu schützen hatte, sondern sich selbst! Sehen Sie nicht den Unterschied?«
»Aber das Finanzamt hat doch sicher …«
»Ich hab die Steuern gezahlt. Die staatlichen und bundesstaatlichen. Von deren Warte gab es nichts zu verfolgen. Und auch nicht von meiner Kanzlei aus. Wo das Geld letztlich landete und wie es irgendwo weit weg von hier verwendet wurde, zu welchem Zweck und mit welchem Ziel, darüber kann ich nicht einmal spekulieren. Das letzte Mal, dass ich von Ihrem Vater gehört habe, ist zwanzig Jahre her. Abgesehen von dem, was ich Ihnen schon beschrieben habe, war das die einzige Gelegenheit, dass er mich um etwas gebeten hat.«
»Und das wäre?«
»Er hat mich ersucht, für ihn nach West Virginia zu reisen, ins dortige Staatsgefängnis. Ich sollte jemanden bei einer Anhörung zur vorzeitigen Haftentlassung vertreten. Das habe ich auch getan, mit Erfolg.«
»Dieser Jemand, hat der auch einen Namen?«
»Elizabeth Wilson. Aber die kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Wieso nicht?«
»Sie ist tot.«
»Wie das?«
»Ein halbes Jahr nach ihrer Entlassung hat sie sich in der kleinen hinterwäldlerischen Stadt, in der sie lebte, in einer Bar betrunken und sich von irgendwelchen fragwürdigen Subjekten aufreißen lassen. Ein paar von ihren Kleidern wurden im Wald gefunden. Blutverschmiert. Höschen, glaube ich. Ich weiß nicht, weshalb Ihr Vater der Frau helfen wollte, jedenfalls hat es nichts genützt.«
Der Anwalt schien seine Nacktheit vergessen zu haben. Er stand auf, lief um den Schreibtisch herum und stieß, um das Gesagte zu unterstreichen, mit dem Finger in die Luft.
»Ich hab ihn manchmal beneidet«, erklärte Smith. »Er war der einzige wahrhaft freie Mann, den ich je gekannt habe. Er konnte machen, was er wollte. Sich aufbauen, was er wollte. Der Mensch sein, der er sein wollte. Er konnte einfach sagen: Hier bin ich, was kostet die Welt?«
»Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, in was für einer Welt er lebte?«
Der Anwalt blieb mitten im Zimmer stehen. »Nein«, antwortete er.
»Ein Alptraum«, erwiderte Jeffrey.
Der Anwalt schwieg. Sein Blick fiel auf die Pistole in Jeffreys Hand.
»Und?«, fragte er langsam. »Wie der Vater, so der Sohn?«