2. KAPITEL
Ein Problem, das sich nicht
von selbst löst

 

Er lief langsam über den Campus und hatte keinen Blick für die Studententrauben, die sich auf den Pfaden drängten, während ihn frostige Gedanken und schwarze Panik aus fremdartigen Schichten seines Bewusstseins verstörten.

Hinter dem kühlen Herbstnachmittag lauerte schon der Abend, und zwischen den nackten Zweigen der letzten Eichen, die über das Universitätsgelände verstreut waren, schlich sich bereits die Dunkelheit ein. Durch Jeffrey Claytons Wollmantel drang eine kurze, kalte Böe, und er zitterte. Er hob für einen Moment den Kopf und blickte nach Westen, wo der schmale Strich eines purpurroten Horizonts die fernen Hügel in Falten legte. Der Himmel selbst schien zu einem Dutzend verschiedener Schattierungen eines schwachen Graus zu verschwimmen, die alle mit Nachdruck erklärten, dass der Winter nahte. Wenn die glühenden Farben des Herbstes längst verblasst waren und der erste Schnee nicht mehr lange auf sich warten ließ – das war in seinen Augen die schlimmste Jahreszeit in New England. Wie ein lebensmüder alter Mann zog sich die Welt in ihr Schneckenhaus zurück. Die uralten, brüchigen Knochen, die bei jedem Schritt knirschten, taugten nur noch, um sich von einem Tag zum nächsten zu schleppen, während sich bereits der erste Frost des Todes meldete.

Etwa fünfzig Meter entfernt, vor der Kennedy Hall, einem der vielen trostlosen Zementgebäude, denen die alten efeubewachsenen Klinkerbauten gewichen waren, kam es zu einem Handgemenge, und wütende Stimmen wehten mit der kalten Brise herüber. Jeffrey kauerte sich hinter einen Baumstamm. Nicht sinnvoll, sich von einer verirrten Kugel erwischen zu lassen. Er horchte, konnte jedoch nicht herausfinden, worum sich die Auseinandersetzung drehte; er hörte nur einen Schwall von Obszönitäten, die wie tote Blätter in einem Sturm hin und her gewedelt wurden.

Er sah, wie zwei Campus-Polizisten auf den Kampf zueilten. Sie trugen Schutzkleidung am ganzen Körper, und ihre schweren, stahlverstärkten Stiefel klangen auf den geteerten Wegen wie Hufe. Hinter den undurchsichtigen Schutzvisieren ihrer Helme konnte er ihre Augen nicht sehen. Aus einer anderen Richtung näherten sich zwei weitere Beamte. Im Laufschritt lösten sie die Bewegungsmelder der Straßenlaternen aus, in deren gelbem Licht ihre gezückten Waffen glitzerten. Die Campus-Polizei patrouillierte grundsätzlich nur noch paarweise, seit im vergangenen Jahr Mitglieder einer Studentenverbindung einen Mann in ihre Gewalt gebracht hatten, der allein und undercover an einem Drogenfall gearbeitet hatte. Sie hatten ihn in einen Keller geschleppt, nackt ausgezogen und sich an seinem bewusstlosen Körper in erniedrigender Weise vergangen, um ihn schließlich in Brand zu stecken. Zu viel Alkohol, zu viele Drogen, ein wenig Kerosin und das völlige Fehlen eines Gewissens.

Der Mann starb, und das Haus der Studentenverbindung brannte nieder. Obwohl auf dem Campus fast jeder wusste, wer die Tat begangen hatte, kamen die drei verantwortlichen Studenten nie vor Gericht, da das meiste Beweismaterial in den Flammen aufgegangen war. Inzwischen war nur noch einer von ihnen am Leben. Einer war noch vor dem Abschlussexamen in einem der vielstöckigen Studentenwohnheime bei einem mysteriösen Vorfall zu Tode gekommen. Er war einundzwanzig Stockwerke tief einen Fahrstuhlschacht hinuntergestürzt. Der Zweite hatte eine Nacht im August auf Cape Cod nicht überlebt, als er mit seinem Sportwagen in einem Preiselbeersumpf gelandet und ertrunken war.

Wie Jeffrey erfahren hatte, war wohl ein zweites Fahrzeug im Spiel gewesen, das sich mit dem Sportcoupé eine rasante Verfolgungsjagd geliefert hatte. Die zuständige Dienststelle der Staatspolizei hatte dagegen offiziell erklärt, es habe sich um den Unfall eines einzigen Wagens gehandelt. Natürlich gehörte der Wachdienst auf dem Campus zur Staatspolizei.

Der dritte Student, so hatte er gehört, war zu seinem letzten Jahr an die Uni zurückgekehrt; er verließ sein Zimmer nicht mehr und war dabei, langsam, aber sicher den Verstand zu verlieren oder auch zu verhungern, während er sich im Wohnheim verschanzte.

Inzwischen hatten sich die vier Polizisten in die Menge gedrängt. Einer schwang in großem Bogen einen Schlagstock aus Graphit. Links von ihm klirrte splitterndes Glas, dann folgte ein kreischender Schmerzensschrei. Als Jeffrey hinter dem Baum hervortrat, hatte sich die Menge bereits zerstreut, einige der Studenten liefen eilig davon. Die vier Polizisten standen breitbeinig über zwei jungen Männern, die in Handschellen zu Boden gedrückt wurden. Einer der Jugendlichen bäumte sich auf und spuckte auf die Cops, was ihm einen Tritt in den Brustkorb einbrachte. Der Junge schrie auf, so dass es von den Gebäuden rund um den Campus widerhallte.

Erst jetzt bemerkte der Professor eine Gruppe junger Frauen, die der Auseinandersetzung aus dem Fenster im zweiten Stock des Instituts für Rassenkonfliktforschung zugesehen hatten. Sie schienen den Vorfall amüsant zu finden, denn hinter der kugelsicheren Scheibe lachten sie und zeigten mit dem Finger auf das Geschehen. Sein Blick wanderte zum Erdgeschoss des Seminargebäudes, das in völligem Dunkel lag. Das war auf dem Campus bei nahezu allen Bauten die Regel. Es galt als zu schwierig und zu teuer, die Büros und Übungsräume im Parterre in Schuss zu halten. Zu viele Einbrüche, zu viel Vandalismus. Folglich hatte man sämtliche ebenerdigen Räume den Graffiti und zerbrochenen Fensterscheiben überlassen. Auf den Treppen nach oben waren Sicherheitsschleusen eingerichtet, die dabei halfen, die meisten Waffen aus den Hörsälen und Übungsräumen fernzuhalten. In jüngster Zeit war allerdings das Problem aufgetaucht, dass einige Studenten in den verlassenen Erdgeschosstrakten, jeweils unter den Räumen, in denen eine Klausur anstand, Feuer legten. Jetzt, in der Prüfungsphase, experimentierte der Wachdienst damit, in den leer stehenden Bereichen abgerichtete Hunde loszulassen. Die Tiere jaulten viel, so dass sich die Studenten bei den Klausuren schwer konzentrieren konnten, während ansonsten die Rechnung aber aufzugehen schien.

Die Ordnungshüter hatten die beiden Verhafteten aufgehoben und kamen auf Jeffrey zu. Er sah, dass sich ihre Köpfe unablässig in alle Richtungen drehten, um die Dächer im Auge zu behalten.

Scharfschützen, dachte er und horchte, ob Hubschrauber im Anflug waren, um zusätzlich Schutz zu bieten.

Er hätte sich nicht gewundert, wenn Schüsse gefallen wären, doch die blieben aus. Das überraschte ihn; man schätzte, dass über die Hälfte der fünfundzwanzigtausend Studenten an der Universität die meiste Zeit Waffen bei sich trugen, und ein netter kleiner Schuss, wenn sich zufällig ein Campus-Polizist als Zielscheibe bot, galt so wie ein Jahrhundert zuvor die Pep-Rally vor dem Sportereignis als eine Art Initiationsritus. Im Lauf einer durchschnittlichen Samstagnacht kümmerte sich der Studentische Gesundheitsdienst neben dem üblichen Zustrom infolge von Schlägereien, Vergewaltigungen und Messerstechereien gewöhnlich um die Verletzungen eines halben Dutzends Schießereien, die sich irgendwo zufällig ergaben. Alles in allem jedoch, das wusste Jeffrey, war die Statistik nicht alarmierend, sondern hielt sich im Normalbereich. Er musste daran denken, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass die Universität in einer kleinen, vorwiegend ländlichen Collegestadt lag. An den großen, städtischen Lehranstalten waren die Zahlen viel schlimmer. Dort war man seines Lebens nicht sicher.

Er zeigte sich auf dem Gehweg, und einer der Polizisten drehte sich in seine Richtung.

»He, Professor, wie geht’s?«

»Danke, mir geht’s gut. Gibt es Probleme?«

»Die beiden hier? Nee. Wirtschaftsstudenten. Meinen, die Welt gehörte jetzt schon ihnen. Eine Nacht hinter Gittern bringt sie wieder zur Vernunft. Ein paar Schläge auf den Hinterkopf sollen bekanntlich das Denkvermögen fördern.« Der Freund und Helfer zog mit einem Ruck die Arme des Teenagers hoch, und der Junge fluchte vor Schmerz. Kaum ein Campus-Wachmann hatte die Collegebank gedrückt. Die meisten entstammten dem neuen staatlichen Berufsschulsystem und hatten für die Studenten, unter denen sie lebten, nur Verachtung übrig.

»Gut. Niemand verletzt?«

»Diesmal nicht. He, Professor, sind Sie allein?«

Jeffrey nickte.

Der Polizist zögerte. Er und sein Partner hatten einen der Kampfhähne in festem Griff zwischen sich, so dass sie ihn halb über den Gehweg schleiften. Der Wachmann schüttelte den Kopf.

»Sollten nicht allein rumlaufen, schon gar nicht gegen Abend, Professor. Wissen Sie doch. Sie sollten beim Begleitschutz anrufen und sich jemand schicken lassen, der Sie zum Parkplatz bringt. Sind Sie bewaffnet?«

Jeffrey klopfte mit der flachen Hand auf seine halbautomatische Pistole, die in seinem Gürtel steckte.

»Okay«, sagte der Polizist zögerlich. »Aber lassen Sie sich gesagt sein, Professor, Sie haben an Ihrer Jacke Knöpfe und Reißverschluss zugemacht. Es wäre besser, Sie kämen schnell an Ihre Pistole ran, statt dass Sie sich erst halb ausziehen müssen, bevor Sie auch nur einen Schuss abfeuern können. Hol mich der Teufel, wenn nicht der erste bekiffte Grünschnabel mit ’nem Sturmgewehr, der sauer auf Sie ist, längst Schweizer Käse aus Ihnen gemacht hat, bevor Sie die Waffe gezogen haben …«

Beide Beamten lachten, und Jeffrey nickte lächelnd.

»Keine schöne Art, seinen Hut zu nehmen. Kleiner Snack für einen Psychopathen, nehme ich an, ein bisschen Senf, ein bisschen Schweizer Käse. Klingt doch eigentlich gar nicht so schlecht.«

Die Cops lachten immer noch. »Okay, Professor, passen Sie auf sich auf. Haben nämlich keine Lust, Sie in ’nen Leichensack zu packen. Und wechseln Sie immer wieder die Route.«

»Hört mal, Jungs«, erwiderte Jeffrey und öffnete die Arme weit, »für wie dämlich haltet ihr mich?«

Die Polizisten nickten, auch wenn er vermutete, dass sie jeden, der an der Uni lehrte, grundsätzlich für dämlich hielten. Mit einem weiteren Ruck an den Armen ihres Gefangenen setzten sie ihren Weg über das Gelände fort. Der Junge brüllte, sein Vater werde sie wegen Gewaltanwendung verklagen, doch seine Schreie und Beschwerden verhallten im frühen Abendwind.

Jeffrey sah ihnen hinterher, bis sie im Innenhof verschwanden. Ihr Weg war vom gelblichen Schein der Straßenlaternen ausgeleuchtet, die helle Kreise in die rasch einsetzende Dunkelheit schnitten. Er zögerte einen Moment, dann lief er zügig weiter. Er ignorierte ein Auto, das auf einem der ungesicherten Parkplätze, von einer Brandbombe entzündet, lichterloh brannte. Wenig später trat eine studentische Prostituierte aus dem Schatten und bot ihm Sex im Tausch gegen Seminarbescheinigungen an; er wies sie ab und hastete weiter, während seine Gedanken um die Aktentasche und den Überbringer kreisten, der zu wissen schien, wer er war.

 

Seine Eigentumswohnung lag einige Häuserblocks vom Campus entfernt in einer eher ruhigen Nebenstraße, die ursprünglich zu Wohnungszwecken für die Universitätsangehörigen errichtet worden war. Sie bestand aus älteren Holzrahmenhäusern mit weißen Schindeln und hatte einen gewissen viktorianischen Flair dank der breiten, überdachten Hauseingänge und der Fensterscheiben mit Facettenschliff. Noch vor einem Jahrzehnt waren die Häuser wegen ihres nostalgischen Charmes und ihres jahrhundertealten Erbes heiß begehrt gewesen. Doch wie fast alles Alte in der Kommune hatten praktische Erwägungen ihren Wert gemindert; sie waren bei Einbrechern beliebt – wegen ihrer zurückgesetzten Lage im Schatten von Bäumen und Büschen sowie wegen der veralteten Verkabelung, die sich für pyroelektrische Alarmanlagen nicht eignete, waren sie wenig sicher. Seine eigene Wohnung verfügte wenigstens über eine ältere Videoüberwachung.

Aus Gewohnheit war dies das Erste, was er bei seiner Heimkehr überprüfte. Beim schnellen Zurückspulen des Videos überzeugte er sich davon, dass die einzigen Besucher an diesem Tag der hiesige Briefträger – wie immer in Begleitung seines Kampfhundes – war, dem wenig später zwei junge Frauen mit Skimasken folgten. Offensichtlich auf der Suche nach schneller Beute hatten sie seinen Türknauf ausprobiert, sich dann allerdings von der Elektroschockanlage abschrecken lassen, die er persönlich eingebaut hatte. Nicht stark genug, um jemanden umzubringen, doch immerhin so kräftig, dass jeder, der die Hände um den Griff legte, sich fühlen musste, als hätte ihm jemand mit voller Wucht einen Klinkerstein auf den Arm geschleudert. Er sah, wie eine der Frauen zu Boden ging und vor Wut und Schmerz aufheulte, was ihn mit einer Woge der Befriedigung erfüllte. Er hatte die Vorrichtung selbst erfunden, und sie stützte sich auf die Kenntnis der menschlichen Natur. Jeder, der irgendwo einbrechen möchte, wird es unweigerlich zuerst mit der Tür versuchen, nur um sicherzugehen, dass tatsächlich abgeschlossen war. Seine war es natürlich nicht. Stattdessen stand sie unter siebenhundertfünfzig Volt Strom. Er bereitete den Videorekorder wieder zur Aufnahme vor.

Er wusste, dass er am Ende eines langen Tages Hunger haben sollte, hatte er aber nicht. Er ließ langsam und laut die Luft aus seinen Lungen entweichen und ging in die kleine Küche, wo er eine Flasche finnischen Wodka im Tiefkühlfach fand. Er goss sich ein Glas ein, nahm ein paar kleine Schluck und genoss es, wie die Flüssigkeit ihm bitter und kalt die Kehle hinunterrann. Dann betrat er sein Wohnzimmer und warf sich in einen Ledersessel. Er sah, dass auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht auf ihn wartete, und wusste ebenso gut, dass er sie ignorieren würde. Er streckte die Hand danach aus und hielt inne. Stattdessen nahm er noch einen Schluck aus seinem Glas und lehnte sich zurück.

Hopewell.

Ich war erst neun Jahre alt.

Nein, nicht nur das.

Ich war neun und hatte Angst.

Was weiß man mit neun Jahren?, fragte er sich plötzlich. Wieder atmete er langsam aus, dann kannte er die Antwort. Man weiß nichts und gleichzeitig alles.

Jeffrey Clayton fühlte sich, als triebe ihm jemand eine Nadel in die Stirn. Nicht einmal der Alkohol konnte den pochenden Schmerz überdecken.

Es war eine Nacht wie diese, vielleicht nicht ganz so kalt, und es lag Regen in der Luft. Er dachte: Ich erinnere mich an den Regen, denn als wir gingen, spuckte er mir ins Gesicht, als hätte ich was Unrechtes getan. Der Regen schien all die wütenden Worte zu verschlucken, und er stand – nach so viel Gebrüll endlich stumm – in der Tür und sah uns hinterher.

Was sagte er noch gleich?

Jeffrey entsann sich wieder: »Ich brauche euch. Dich und die Kinder …«

Und ihre Antwort: »Nein, das tust du nicht. Du hast ja dich.«

Und er hatte erwidert: »Ihr seid alle ein Teil von mir …«

Dann hatte er die Hand seiner Mutter gefühlt, die ihn ins Auto schob und auf den Rücksitz drückte. Er wusste noch, dass sie seine kleine Schwester auf dem Arm trug, die weinte; sie hatten nicht genügend Zeit gehabt, mehr zu packen als ihren kleinen Rucksack, nur ein paar Kleider zum Wechseln. Sie hat uns in den Wagen geworfen, dachte er, und gesagt: »Blickt nicht zurück. Seht ihn nicht an«, und dann fuhren wir los.

Er hatte seine Mutter vor Augen. Das war die Nacht, in der sie alt geworden war, und die Erinnerung machte ihm Angst. Er sagte sich, er hätte keinen Grund zur Sorge.

Wir sind von zu Hause weggegangen, weiter nichts.

Sie hatten einen Streit. Einen von vielen. Schlimmer als sonst, aber nur, weil es der letzte war. Ich habe mich in meinem Zimmer versteckt und versucht, nicht hinzuhören. Worüber haben sie sich gestritten? Ich weiß es nicht. Ich hab sie nie gefragt. Ich hab es nie erfahren. Nur dass es diesmal das Ende war, und das wusste ich. Wir sind in den Wagen gestiegen und losgefahren. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Nicht ein einziges Mal.

Er nahm noch einen langen Schluck.

Na und? Eine traurige Geschichte, aber nicht ungewöhnlich. Eine zerrüttete Beziehung. Frau und Kinder gehen, bevor bleibender Schaden entsteht. Sie war tapfer. Sie hat das Richtige getan. Ihn hinter sich gelassen. Einen Schlussstrich ge zogen. Neu angefangen, an einem Ort, wo er keinem von uns weh tun konnte. Gar nicht so ungewöhnlich. Richtet natürlich psychischen Schaden an, das weiß ich durch meine eigenen Studien und dank meiner eigenen Therapie. Aber irgendwann hat man es überwunden, alles überwunden.

Ich bin kein seelischer Krüppel.

Er sah sich in seiner Wohnung um. In der Ecke stand ein Schreibtisch, auf dem sich Papiere häuften. Ein Computer. Viele Bücher, wahllos in ein Regal gezwängt. Zweckmäßiges Mobiliar, nichts, dem man nachtrauern würde oder das sich nicht leicht ersetzen ließe, falls es gestohlen würde. An einer Wand hingen ein paar seiner Auszeichnungen und Diplome. Hier und da Reproduktionen von Klassikern der modernen Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, darunter Warhols Suppendose und Hockneys Blumen. Sie brachten ein paar Farbtupfer ins Zimmer. Außerdem hatte er einige Kinoplakate aufgehängt – sie verbreiteten ein Gefühl von Action, das er mochte, da er sein eigenes Leben oft zu geruhsam fand und ganz gewiss zu trist; aber er wusste nicht recht, wie er das ändern sollte.

Wie kommt es also, dass du in Panik gerätst, nur weil ein Fremder die Nacht erwähnt, in der du als Kind von zu Hause wegmusstest?

Er wiederholte noch einmal: Ich habe nichts Unrechtes getan. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Sie hatte gesagt: »Wir gehen …«, und das haben wir gemacht. Dann kam ein neues Leben, in sicherer Entfernung von Hopewell.

Er lächelte. Wir sind nach Südflorida gegangen. Genau wie die Flüchtlinge, die aus Kuba und Haiti dort stranden. Aus einer ähnlichen Diktatur geflohen. Ein guter Ort, um zu verschwinden. Wir kannten keinen Menschen. Hatten keine Angehörigen. Keine Freunde. Keinerlei Beziehungen. Keinen Beruf. Keine Schule. Es gab keinen einzigen der üblichen Gründe, um an einen bestimmten Ort zu ziehen. Keiner kannte uns, und wir kannten keinen.

Wieder fielen ihm die Worte seiner Mutter ein. Einmal – vielleicht einen Monat später? – sagte sie, hier würde er sie niemals suchen. Sie war ein Kind aus dem Norden und hasste die Hitze. Hasste den Sommer, besonders die drückende Schwüle der Südstaaten. Sie bekam davon Nesselausschlag und Asthmaanfälle, so dass sie schon bei der leisesten Anstrengung keuchte. Deshalb erzählte sie ihm und seiner kleinen Schwester: »Darauf, dass ich nach Süden gegangen bin, kommt er nie. Er wird glauben, ich wollte nach Kanada. Ich hab ständig von Kanada geredet …« Und das musste als Erklärung genügen.

Er dachte an Hopewell. Ein Städtchen auf dem Lande, inmitten von Bauernhöfen – daran konnte er sich noch erinnern. Es grenzte an Princeton, das sich früher einmal einer ehrwürdigen Uni hatte rühmen können, bis um die Jahrtausendwende die Rassenunruhen in Newark außer Kontrolle geraten waren – als hätte man fünfzig Meilen den Highway hinunter ein Streichholz an die Lunte gehalten, so dass in der traditionsreichen Lehranstalt das Pulverfass explodierte und nach Brand und Plünderungen wenig übrig blieb. Außerdem kannte man den Namen der Stadt als Schauplatz einer berühmten Entführung, Jahre, bevor er geboren worden war.

Aber wir sind weggegangen, rief er sich ins Gedächtnis. Und nie zurückgekehrt.

Er leerte das Glas Wodka in einem Zug. Mit einem Mal packte ihn eine trotzige Wut. Wir sind nie zurückgekehrt, wiederholte er drei-, viermal. Also verpiss dich, Agent Martin.

Ihm war nach einem zweiten Glas. Er fand es nicht gut, doch dann dachte er: Wieso eigentlich nicht? Diesmal goss er sich allerdings nur ein halbes ein und zwang sich, es in kleinen Schlucken zu trinken. Er beugte sich nach unten, fand das Telefon auf dem Boden und wählte zügig die Nummer seiner Schwester in Florida.

Das Telefon klingelte einmal, und er legte auf. Er rief sie nicht gerne an, wenn es nichts zu besprechen gab, und ihm wurde bewusst, dass er vorerst nichts als Fragen hatte.

Er lehnte sich zurück und stellte sich das kleine Haus vor, in dem sie einmal alle daheim gewesen waren. Es ist gerade Ebbe, dachte er, ich bin mir sicher. Das Wasser geht zurück, und man kann von der Küste aus hundert, nein, zweihundert Meter weit laufen und nach dem Lärmen des Leopardenrochens horchen, der in einem der Kanäle ungestüm in die Höhe springt, um mit einem lauten Klatschen im azurblauen Wasser zu landen. Das wäre schön. Noch einmal in den Upper Keys zu sein und im seichten Meer zu waten. Vielleicht ragte plötzlich irgendwo die Schwanzflosse einer Meeräsche aus den Wellen, in der sich das letzte Tageslicht spiegelte. Oder auch die Finne eines Hais, der durchs flache Gewässer glitt, um leichte Beute zu machen.

Susan kannte die besten Stellen, und sie bekamen immer etwas an die Angel.

Als Kinder hatten Bruder und Schwester zusammen Stunden beim Fischen verbracht. Jetzt, wurde ihm bewusst, ging sie alleine.

Er schwelgte einen Moment in der Erinnerung an die sanfte, warme Dünung um die Beine, doch als er die Augen öffnete, sah er nichts weiter als die Aktentasche des Agenten, die er achtlos vor sich auf den Boden geworfen hatte.

Er hob sie auf und wollte sie quer durchs Zimmer schleudern, als er jedoch mit dem Arm ausholte, hielt er mitten in der Bewegung inne.

Er überlegte: Was du da in der Hand hältst, ist nur ein weiterer Alptraum. Wäre schließlich nicht der erste, den du in dein Leben lässt. Was macht schon einer mehr oder weniger? Jeffrey Clayton lehnte sich wieder zurück, seufzte einmal tief und öffnete die billige Metallschnalle, mit der die Tasche verschlossen war.

 

Er zog drei braune Umschläge heraus, warf rasch einen Blick in alle drei und sah, dass jeder mehr oder weniger dasselbe enthielt und auch mehr oder weniger das, was er erwartet hatte; Tatortfotos, gekürzte Polizeiprotokolle sowie einen Autopsiebericht für jedes der drei Opfer. So fängt es immer an, dachte er. Ein Polizist mit ein paar Fotos, der glaubt, ich brauchte nur diese Bilder zu sehen und – Abrakadabra – ich weiß, wer der Mörder ist. Er seufzte laut, öffnete jedes Dossier und breitete den Inhalt auf dem Boden aus.

Kaum kamen die Fotos ans Licht, wusste er, weshalb der Fall Agent Martin zu schaffen machte. Drei verschiedene tote Mädchen, alle, nahm er an, zwischen dreizehn und fünfzehn, alle mit ähnlichen klaffenden Schnittwunden am nackten Körper, alle post mortem in ähnliche Stellungen gebracht. Ein Rasiermesser?, war sein erster Gedanke. Ein Jagdmesser vielleicht? Jedes Mädchen lag mit dem Gesicht nach oben nackt auf der Erde, die Arme seitlich ausgestreckt. In dieser Stellung ließen sich Kinder gewöhnlich in Neuschnee fallen, um den Abdruck eines Engels zu formen. Er entsann sich, wie er selbst als Kind solche Figuren gezaubert hatte, bevor sie nach Süden zogen. Er schüttelte den Kopf. Eindeutig religiöse Symbolik, stellte er fest. Es war, als seien sie gekreuzigt worden, und das stimmte auf eine abstruse Art wohl auch. Er warf einen weiteren flüchtigen Blick auf die Bilder und sah, dass jedem Opfer der rechte Zeigefinger abgetrennt worden war. Er hatte den Verdacht, dass ihnen noch ein anderes Körperteil fehlte oder auch eine Strähne Haar. »Du verzichtest bestimmt nicht auf ein Souvenir«, sagte er laut zu dem Mörder, der in seinem Kopf unerbittlich Kontur annahm, so als säße er auf dem Sessel ihm gegenüber, erst schemenhaft, dann beinahe mit Händen zu greifen.

Er warf einen Blick auf die jeweilige Umgebung, in der die Leichen lagen. In einem Fall schien es ein Wald zu sein, und das junge Mädchen ruhte auf einer flachen felsigen Fläche. Die zweite sah nach Morast aus, mit dicht verschlungenen Kletten- und Rankenpflanzen. Nicht weit von einem Fluss, dachte Jeffrey. Im dritten Fall war es schwer zu sagen; wieder schien es sich um eine ländliche Gegend zu handeln, doch das Verbrechen hatte offensichtlich Anfang Winter stattgefunden; rund um die Leiche lag hier und da frischer Schnee, der nur teilweise weggeschmolzen war. Auf der Suche nach Blut sah er sich diese Partien genauer an, fand jedoch kaum Spuren. »Du hast sie also erst in deinen Wagen gepackt, nachdem du sie getötet hast, was?« Er schüttelte den Kopf. Das stellte natürlich ein Problem dar. Es war immer leichter, einen Leichenfundort auszuwerten, wenn er zugleich der Tatort war. Leichen, die weggeschafft worden waren, stellten die Ermittler grundsätzlich vor Probleme.

In Gedanken versunken stand er auf und kehrte in die Küche zurück, wo er sich noch ein Glas Wodka eingoss. Wieder nahm er einen langen Zug und nickte, als er das angenehm leichte Gefühl im Kopf spürte. Mit einem Schlag war ihm bewusst, dass seine Kopfschmerzen verflogen waren, und er kehrte zu dem Beweismaterial auf dem Boden des kleinen Wohnzimmers zurück.

Er führte weiter Selbstgespräche in einer Art Singsang, so wie ein Kind, das allein in einem Zimmer spielt: »Autopsie, Autopsie, Autopsie. Wette zwanzig Mäuse, dass die Mädels allesamt post mortem vergewaltigt wurden und dass du nicht ejakuliert hast, mein Freund, hab ich recht?«

Er fand die drei Berichte und blätterte sie durch, bis er den Vermerk des Pathologen hatte, nach dem er suchte.

»Ich gewinne«, stellte er laut fest. »Zwanzig Mäuse, zwei Zehner, zwanzig Piepen, Kinderspiel. Volltreffer, wie immer.«

Er nahm noch einen Drink.

»Falls du ejakuliert hast, dann, als du sie getötet hast, richtig? Denn da gehst du richtig ab, das ist der Moment für dich. Der Lichtmoment? Eine gewaltige Explosion, die hinter deinen Augen aufbrandet, bis in die letzten Winkel deines Hirns, deiner Seele? Eine Art Verzückung, ganz und gar unglaublich, dass du von Ehrfurcht ergriffen bist?«

Er nickte. Er sah sich im Zimmer um, deutete auf einen leeren Sessel und sprach, als hätte der Mörder gerade den Raum betreten: »Willst du dich nicht setzen? Mach’s dir bequem!« In Gedanken formulierte er eine Personenbeschreibung. Nicht allzu jung, dachte er. Irgendwie unauffällig. Weiß. Wirkt nicht bedrohlich. Vielleicht eher wie ein Schlappschwanz oder Trottel. Auf jeden Fall ein Eigenbrötler.

Er musste lachen, als sich der Mörder, der ihm gegenübersaß, Stück für Stück zusammenfügte, denn er beschrieb nicht nur einen typischen Serienmörder, sondern auch sich selbst. Er unterhielt sich weiter mit dem gespenstischen Besucher, und seine Stimme nahm einen sarkastischen, etwas müden Tonfall an.

»Weißt du was, Kumpel? Ich kenne dich. Ich kenne dich sogar gut, hab dich schon ein Dutzend Mal, was sag ich, hundertmal gesehen. Ich hab dich vor Gericht gesehen. Ich hab dich in deiner Gefängniszelle befragt. Ich hab eine ganze Latte an wissenschaftlichen Untersuchungen mit dir angestellt, deine Größe, dein Gewicht, deinen Appetit taxiert. Von Rorschach- und Minnesota-Multiphasen- bis zu IQ- und Blutdruck-Tests – das ganze Programm. Ich hab dir Blut abgezapft und deine DNA analysiert. Verdammt, ich war sogar nach deiner Exekution bei deiner Autopsie dabei und hab Gewebeproben von deinem Hirn unter dem Mikroskop gehabt. Ich kenne dich wie meine Hosentasche. Du hältst dich für einmalig und allmächtig, aber, tut mir leid, mein Junge, das bist du nicht. Du hast dieselben gottverdammten Neigungen und Perver sionen wie tausend andere von deinem Schlag. Es gibt tausend Fallstudien, die dich beschreiben. Du geisterst durch beliebte Unterhaltungsromane. In der einen oder anderen Form läufst du schon seit Jahrhunderten herum. Falls du dich wirklich für was Besonderes hältst und dir einbildest, du hättest dämonische Kräfte, dann liegst du verdammt daneben. Du bist ein Klischee. So banal wie ein Schnupfen im Winter. Das hörst du nicht gerne, stimmt’s? Da meldet sich diese wütende Stimme in dir und fängt an zu geifern und alle möglichen Forderungen auszuspucken. Hab ich recht? Am liebsten würdest du rausmarschieren und den Mond anheulen und dir vielleicht das nächste Mädchen greifen, nur um mir zu beweisen, dass ich mich irre, hm? Aber soll ich dir was sagen, Junge? In Wahrheit ist das einzig Besondere an dir, dass sie dich bis jetzt noch nicht geschnappt haben und dass die Aussichten für dich nicht schlecht sind, noch eine Weile auf freiem Fuß zu bleiben. Und zwar nicht, weil du so wahnsinnig schlau bist, wie du bestimmt denkst, sondern weil niemand die verfluchte Zeit oder Lust hat, dich zu jagen; weil sie Besseres zu tun haben, als Perverslingen hinterherzulaufen, auch wenn ich beim besten Wil len nicht sagen kann, was sie unter was Besserem verstehen. Jedenfalls ist das meistens der Grund. Sie lassen dich in Ruhe, weil es niemanden besonders interessiert. Du bist einfach nicht die riesengroße Nummer, für die du dich hältst …«

Er seufzte, kramte in der Mappe nach der Nummer, die laut Agent Martin dort irgendwo notiert war, und fand sie tatsächlich auf einem Zettel. Er warf noch einmal einen kurzen Blick auf die Fotos und die Unterlagen, um ganz sicherzugehen, dass er nicht irgendetwas Aufschlussreiches übersehen hatte, das ins Auge sprang. Er trank noch einen Schluck Wodka und ärgerte sich darüber, dass ihn bei den indirekten Drohungen des Polizisten eine böse Vorahnung und eine diffuse Angst gepackt hatten.

Wer ich wirklich bin?

Er seufzte seine Antwort: Ich bin, der ich bin.

Ein Experte für schreckliche Todesarten.

Mit der Hand, in der er das Glas hielt, winkte er in Richtung der drei Akten zu seinen Füßen müde ab.

»Vorhersehbar«, sagte er laut. »Ganz und gar vorhersehbar. Und vermutlich gleichzeitig ganz und gar unmöglich. Nichts weiter als noch so ein kranker, anonymer Killer. Das wollen Sie sicher nicht hören, oder, Herr Polizist?«

Er lächelte und griff nach dem Telefon.

 

Agent Martin meldete sich beim zweiten Klingeln. »Clayton?«

»Ja.«

»Gut. Sie haben keine Zeit vergeudet. Haben Sie an Ihrem Telefon eine Videoverbindung?«

»Ja.«

»Gut, dann schalten Sie das verdammte Ding ein, damit ich Ihr Gesicht sehen kann.«

Jeffrey Clayton folgte der Aufforderung und knipste den Videomonitor an, stöpselte das Telefon ein und setzte sich gegenüber der Kamera in einen Sessel. »So besser?«

Auf dem Bildschirm erschien augenblicklich in perfekter Bildschärfe der Agent. Er saß auf der Ecke eines Betts in einem der Hotels im Zentrum der Stadt. Er hatte noch die Krawatte um, doch sein Jackett hing über einem Stuhl. Er trug außerdem seine Seitenwaffe.

»Also, was können Sie mir sagen?«

»Ein bisschen. Wahrscheinlich Dinge, die Sie schon wissen. Ich hab erst einen ersten flüchtigen Blick auf die Fotos und Dokumente geworfen.«

»Was sehen Sie, Professor?«

»Augenscheinlich derselbe Mann. Ziemlich offensichtlich schwingt in der Symbolik, wie er die Leichen plaziert hat, Religiöses mit. Was halten Sie von einem ehemaligen Priester? Einem früheren Messdiener vielleicht? Etwas in dieser Richtung.«

»Daran habe ich auch gedacht.«

Jeffrey kam noch eine Idee. »Oder ein Kunsthistoriker oder sonst jemand, der mit sakraler Kunst zu tun hat. Wissen Sie, die Maler der Renaissance haben ihre Christusfiguren fast immer in genau dieser Pose dargestellt. Womöglich ein Maler, der Stimmen hört? Das wäre noch eine Möglichkeit.«

»Interessant.«

»Sehen Sie, Detective, sobald Sie den religiösen Ansatz hereinbringen, verfolgen Sie jeweils eine ganz spezifische Richtung. Oft ist man allerdings gut beraten, eher indirekt vorzugehen. Oder beides zusammenzudenken. Der ehemalige Messdiener, der als Erwachsener Kunsthistoriker wurde. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?«

»Ja, das leuchtet ein.«

Ein Gedanke blitzte auf, und er platzte heraus: »Ein Lehrer. Vielleicht ist es ein Lehrer.«

»Wieso?«

»Priester stehen eher auf junge Männer, und wir haben es mit Frauen zu tun. Vielleicht irgendetwas, das mir vertraut vorkommt, weiß auch nicht, flog mich gerade an.«

»Interessant«, wiederholte der Detective nach einer kurzen Pause, in der er die neuen Gesichtspunkte sondierte. »Ein Lehrer, sagen Sie?«

»Ja, nur so ein Gedanke. Was Konkreteres kann ich erst sagen, wenn ich mehr gesehen habe.«

»Fahren Sie fort.«

»Viel mehr habe ich noch nicht. Das Fehlen von Indizien für sexuellen Verkehr trotz sexueller Aktivität bestärkt mich in der Annahme, dass Religion unser Ansatzpunkt ist. Religion bringt allerlei Schuldkomplexe mit sich, und das ist vielleicht der Grund dafür, dass Ihr Mann es nicht zu Ende bringen kann. Es sei denn, er hätte es bereits zu einem früheren Zeitpunkt getan – was ich durchaus vermute.«

»Unser Mann.«

»Nein, das glaube ich nicht.«

Der Agent schüttelte den Kopf. »Was haben Sie noch gesehen?«

»Er ist ein Souvenirjäger. Er hat bestimmt die Finger in einem Glas aufgehoben, immer in seiner Nähe, um seine Triumphe in der Erinnerung wiederaufleben zu lassen.«

»Ja, das denke ich auch.«

»Was hat er sonst noch abgeschnitten?«

»Wie?«

»Was noch, Agent Martin? Den Zeigefinger und was noch?«

»Sie sind schlau. Hab mit der Frage gerechnet. Ich sag’s Ihnen später.«

Jeffrey seufzte. »Nicht nötig. Ich will’s gar nicht wissen.« Er zögerte, bevor er fortfuhr: »Es waren Haare, nicht wahr? Eine Strähne vom Kopf und dann auch noch Schamhaar, stimmt’s?«

Agent Martin verzog das Gesicht. »Beides richtig.«

»Aber er hat sie nicht verstümmelt, oder? Keine Schnittwunden an den Genitalien? Alles nur am Rumpf?«

»Ja, wieder richtig.«

»Das ist ein ungewöhnliches Verhaltensmuster. Nicht völlig unbekannt, aber ein bisschen außer der Reihe. Eine seltsame Art, seine Wut rauszulassen.«

»Das interessiert Sie?«, fragte der Agent.

»Nein«, erwiderte Jeffrey barsch. »Das interessiert mich nicht. Jedenfalls ist Ihr großes Problem, dass jedes Opfer offenbar woanders getötet und anschließend zu der Stelle geschafft wurde, an der es irgendwann gefunden werden musste. Folglich müssen Sie das Transportmittel finden. In den Berichten hab ich nichts über Fasern oder sonstiges sichergestelltes Material gefunden, das Rückschlüsse auf das Fahrzeug zulassen würde, in dem die Mädchen transportiert wurden. Vielleicht hat der Kerl sie in ein Gummituch gewickelt. Oder er hat seinen Kofferraum mit einer Plastikplane ausgeschlagen. Drüben in Kalifornien gab es mal einen Mann, der das getan hat.«

»Ich erinnere mich an den Fall. Ich glaube, Sie haben recht. Was noch?«

»Auf den ersten Blick erscheint der Typ wie viele andere Mörder.«

»Auf den ersten Blick!«

»Na ja, Sie haben vermutlich einiges mehr an Informationen, die Sie für sich behalten haben. Mir ist aufgefallen, dass die Autopsieprotokolle und die Polizeiberichte ziemlich dürftig waren. Zum Beispiel legt das Fehlen der typischen Verteidigungswunden nahe, dass das Opfer bewusstlos war, als es missbraucht und ermordet wurde. Das ist ein zentrales Detail. Wie hat er sie bewusstlos gemacht? Ich finde keinen Vermerk, dass es ein Kopftrauma gab. Und auch andere Dinge, ich meine, es fehlt eine Identifizierung der jungen Frauen, jeder Hinweis auf Ort und Zeit der Verbrechen und auf die anschließenden Ermittlungen. Nicht mal eine Liste mit befragten Tatverdächtigen.«

»Nein. Sie haben recht, die habe ich Ihnen vorenthalten.«

»Nun ja, das war’s dann auch mehr oder weniger. Tut mir leid, wenn ich nicht viel weiterhelfen konnte. Sie haben sich den weiten Weg gemacht, um letztlich nur Dinge zu erfahren, die Sie bereits wussten.«

»Sie stellen nicht die richtigen Fragen, Professor.«

»Ich habe keine Fragen, Agent Martin. Ich sehe, Sie haben ein Problem, und zwar eins, das sich nicht von selbst löst. Aber das war’s, tut mir leid.«

»Der Groschen ist noch nicht gefallen, Professor, oder?«

»Welcher Groschen?«

»Dann will ich Ihnen mal ein paar von den Informationen geben, die in Ihren Unterlagen fehlen. Der dritte Fall – sehen Sie die Kennzeichnung auf der Mappe? Der rote Reiter?«

»Das Mädchen, das Sie auf dem Felsen gefunden haben? Ja.«

»Also, die Leiche dieses Mädchens wurde vor etwa vier Wochen an einer Stelle innerhalb des Westlichen Territoriums entdeckt. Verstehen Sie, was das heißt?«

»Innerhalb des Territoriums? Dann lebte sie in unserem angehenden Einundfünfzigsten Bundesstaat?«

»Genau«, erwiderte der Agent. Sein Tonfall war schneidend und wütend.

Jeffrey lehnte sich zurück und ließ sich durch den Kopf gehen, was er gerade erfahren hatte. »Ich dachte, das dürfte nie passieren. Ich dachte, der Einundfünfzigste Bundesstaat soll von Kriminalität frei sein?«

»Ja, verdammt noch mal«, fluchte der Agent bitter, »ist er eigentlich auch.«

»So etwas passt da nicht hin«, fuhr Jeffrey fort. »Ich meine, der ganze Sinn und Zweck der Sache besteht schließlich darin, dass solche Dinge dort nicht passieren. Sehe ich das richtig, Detective? Schon gar nicht Verbrechen wie diese hier.«

Wieder schien Martin sich nur mit Mühe beherrschen zu können. »Sie haben recht«, bestätigte er. »Das ist in der Tat der einzige Gründungszweck. Das entscheidende Argument, weshalb er als eigenständiger Bundesstaat überhaupt in Erwägung gezogen wird. Ein Ort der Freiheit. Wo man ein normales Leben ohne Angst führen kann. So wie in den guten alten Zeiten.«

»Ein Ort, an dem man seine Freiheit aufgibt, um frei zu sein.«

»Ich hätte es sicher anders formuliert«, erwiderte Agent Martin, »aber im Wesentlichen läuft es darauf hinaus.«

Jeffrey nickte, als ihm allmählich das ganze Ausmaß des Dilemmas klar wurde, dem sich Agent Martin gegenübersah.

»Demnach haben Sie ein doppeltes Problem – ein kriminologisches und ein politisches.«

»Jetzt hat’s bei Ihnen klick gemacht, Professor.«

Jeffrey empfand für den groben Klotz von einem Polizisten einen Hauch von Mitleid, das jedoch, wie er deutlich erkannte, wohl vor allem vom Wodka rührte. »Nun ja, ich schätze, ich verstehe, wie dringlich die Sache für Sie ist. Steht diese Kongressabstimmung nicht wenige Tage vor dem Wahltag an? Das sind nicht mal mehr drei Wochen! Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass diese Art von Verbrechen nicht im Handumdrehen aufzuklären sind. Das schafft man allenfalls mit einer guten Portion Glück – wenn Sie vielleicht einen Zeugen finden und eine Personenbeschreibung bekommen oder was weiß ich. Normalerweise werden solche Fälle – wenn überhaupt, Detective, ich betone, wenn überhaupt – mehr oder weniger durch Zufall gelöst, und zwar Monate später. Deshalb …« Er nahm noch einen Schluck Wodka und hielt inne.

»Deshalb was?«, fragte Martin in scharfem Ton.

»Deshalb möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken.«

Die Augen des Agenten verengten sich zu schmalen Schlitzen und starrten den Professor durch den Monitor unerbittlich an. Seine Stimme blieb ausdruckslos und ließ nicht die Spur von Nervosität erkennen.

»Tun Sie aber, Professor.« Martin deutete durch den Monitor auf ihn. »Weshalb, das möchte ich Ihnen lieber persönlich erklären.«

»Hören Sie, ich habe mir Ihre Akten angesehen«, unterbrach ihn Jeffrey. »Ich bin jetzt zu Hause. Für heute Abend habe ich genug getan.«

»Das ist keine Bitte. Überlegen Sie nur für einen Moment, welchen Ärger ich Ihnen machen könnte. Zum Beispiel beim Finanzamt. Bei anderen Polizeidienststellen. Bei Ihrer ach so hehren Universität. Lassen Sie einfach zwei Minuten Ihrer Phantasie freien Lauf. Ist das angekommen? Gut. Und jetzt nennen Sie mir einen sicheren Ort, an dem wir uns ungestört treffen können. Ich habe keine Ahnung, wer dieses Videogespräch vielleicht überwacht oder wer Ihre Leitung anzapfen mag. Vermutlich haben ein paar von Ihren findigeren Studenten bei Ihnen eine Wanze versteckt, in der Hoffnung, ein paar Insider-Informationen für ihre Klausuren zu erfahren oder irgendetwas, womit sie Sie erpressen können. Aber ich will mich mit Ihnen treffen, und zwar jetzt. Ich sag’s noch einmal – wir haben nicht viel Zeit.«

 

Jeffrey zog sich dunkle Kleidung an und huschte im Zentrum des Collegestädtchens zwischen dem Neonlicht der Läden und Restaurants vorsichtig von Schatten zu Schatten. Vor Antonios Pizzeria stand die übliche Menschenschlange und wartete auf Einlass; er sah, wie der Wachmann das Gewehr schwang, um unter den hungrigen Studenten für Ordnung zu sorgen. Eine andere Menschentraube kam gerade aus dem Kino in der Pleasant Street, in dem der neueste Streifen eines Genres lief, dass die Jugendlichen Geporn nannten, eine Wortschöpfung, welche die beiden zentralen Themen der meisten Filmplots zusammenfasste – Gewalt und Pornographie.

Er drückte sich flach an die Klinkerwand eines Videogeschäfts, als eine Kohorte wilder Halbwüchsiger ihn überholte. Die Jugendlichen marschierten in militärischem Gleichschritt und brachen ab und zu in einen monotonen Sprechgesang mit wechselnden Stimmen aus. Zwölf Kinder liefen in Formation hinter einem schlaksigen, pickelübersäten Anführer, der seiner Umgebung mit einem bösartigen Blick signalisierte, dass mit dem Schlimmsten rechnen musste, wer es wagte, sie anzustarren. Sie trugen alle die gleichen Jacken mit dem Logo eines Profi-Basketball-Teams, dazu Strickmützen und Hightech-Sportschuhe. Der Jüngste, vermutlich erst neun oder zehn, bildete die Nachhut. Seine kurzen Beine, die sich verzweifelt abmühten, mit dem Anführer Schritt zu halten, wären für den Professor ein komischer Anblick gewesen, hätte er nicht gewusst, wie gefährlich die Gang sein konnte. In regelmäßigen Abständen drehte sich der Picklige um, lief rückwärts weiter und rief den anderen zu: »Wer sind wir?«

Ohne zu zögern kam die Antwort in schrillem Chor: »Wir sind die Hauptstraßen-Hunde!«

»Und was gehört uns?«

»Uns gehört die Straße!«

Dann klatschten sie alle dreimal in die Hände, so dass es wie Schusssalven durchs Geschäftszentrum dröhnte.

Selbst die Studenten vor dem Italiener gingen den Kids aus dem Weg und teilten sich vor der marschierenden Gruppe wie eine Welle vor dem Bug. Der Wachmann der Pizzeria richtete sein Gewehr auf den Anführer, der dafür nur ein Lachen und eine obszöne Geste übrig hatte. Jeffrey sah, dass ein Streifenwagen der städtischen Polizei die Jungen aus sicherer Entfernung beschattete. Alle fürchten die Kinder, dachte er. Mehr als irgendjemanden sonst. Gegen Serienmörder, Vergewaltiger, Diebe und tollwütige Tiere kann man einfache Maßnahmen ergreifen; gegen Pocken, Grippe und Typhus kann man sich impfen lassen – aber es ist schwer, sich vor den Massen vernachlässigter Kinder zu schützen, die für die Welt, der sie ausgeliefert sind, nichts als Hass übrig haben. Er fragte sich, ob die Politiker, die das Abtreibungsrecht aufgehoben hatten, je die Kinder-Gangs auf den Straßen zu sehen bekamen und sich einen Moment lang fragten, wie es dazu kam.

Jeffrey hastete aus dem Schutz des Schattens und überquerte hinter der Streife den Fahrweg. Er sah, wie sich einer der Polizisten ruckartig umdrehte, als sähe er in seiner Gestalt, die hinter ihnen auftauchte, eine Bedrohung, dann gaben sie ein wenig Gas und fuhren langsam davon. Er lavierte sich zwischen den Laternen hindurch in Richtung Stadtbücherei.

Er überlegte: Was weiß ich über den Einundfünfzigsten Bundesstaat? Nicht viel, räumte er ein, und das Wenige, was ihm bekannt war, bereitete ihm ein ungutes Gefühl, auch wenn er nicht präzise hätte sagen können, warum.

Vor etwas mehr als zehn Jahren hatten ungefähr zwei Dutzend der größten Aktiengesellschaften der Vereinigten Staaten angefangen, in sechs, sieben westlichen Bundesstaaten große Flächen Land aus nationalstaatlichem Besitz aufzukaufen. Auch von den einzelnen Bundesstaaten hatten sie Grund erworben oder, besser gesagt, deren Abtretung erwirkt. Die Idee war simpel und fußte letztlich auf einem Konzept, das die Disney Corporation in den neunziger Jahren mitten in Florida entwickelt hatte: noch einmal von vorne anfangen, kleine und große Städte sowie ländliche Gemeinden mit allem, was dazugehört, einschließlich Wohnungen und Schulen, aus dem Nichts erschaffen und dabei zugleich die alten Ideale eines längst vergangenen Amerikas wiederaufleben lassen. Ursprünglich sollten diese firmeneigenen Welten den Menschen, die für die Unternehmen arbeiteten, einen sicheren Lebensraum bieten. Doch diese neue Variante besaß große Anziehungskraft. Mehr als einmal hatte Jeffrey Clayton sich die Fernsehwerbung für den Einundfünfzigsten Bundesstaat angeschaut. Er wurde in den rosigsten Farben als ein sicherer Hort voller Wärme beschrieben, in dem noch die alten Werte galten. Vor fünf, sechs Jahre hatte man begonnen, das Gelände als gesondertes Gebiet zu kennzeichnen, das Westliche Territorium – ganz ähnlich wie bei Alaska und Hawaii ein halbes Jahrhundert früher der erste Schritt zur Bildung eines neuen Bundesstaates. Neu und ganz anders.

Es hatte ihn überrascht, dass so viele der angrenzenden Staaten Land abtraten – allerdings waren Geld und ähnliche Anreize überzeugende Argumente, und Grenzen waren nun einmal flexibel.

Und so hatte sich die Landkarte der Vereinigten Staaten verändert.

An manchen Straßen priesen Reklametafeln das Leben in dem neuen Gebilde. Natürlich auch Websites im Internet mit etwas mehr Informationen. Per Computer konnte man schon einmal virtuell durch das Gemeinwesen reisen, einschließlich dreidimensionaler Fahrten durch Stadt und Natur.

Selbstverständlich hatte das Projekt seinen Preis.

Viele ärmere Familien wurden entwurzelt – obgleich einige unverhofft zu Geld kamen, wenn sie feststellten, dass ihr Grundbesitz innerhalb der neu geschaffenen Grenzen lag. Es hatte auch ein paar Widerspenstige gegeben wie zum Beispiel Bürgerwehren, Waldschrate und Naturapostel, doch selbst die hatte man irgendwann herumgekriegt, sei es durch amtliche Verordnungen oder durch Bestechung. Viele von diesen Leuten hatten sich nach Nordidaho und Montana zurückgezogen, wo sie nun über genügend Platz und politischen Einfluss verfügten.

Der Einundfünfzigste Bundesstaat dagegen war zu einem Zufluchtsort ganz anderer Art geworden.

Man musste schon etwas springenlassen, zahlte hohe Steuern und satte Immobilienpreise.

Viel bedenklicher waren jedoch die Gesetze im Einundfünfzigsten Bundesstaat mit ihren tiefen Eingriffen in die Privatsphäre der Bewohner, der Kontrolle über Ein- und Ausreise sowie der Beschneidung bürgerlicher Rechte. Es ging nicht nur darum, dass der Erste Zusatzartikel eingeschränkt wurde. Freiwillig wohlgemerkt. Auch der Vierte und der Sechste erfuhren eine Neuauslegung.

Nicht mein Ding, war Jeffreys Fazit. Dabei konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, woher diese Abneigung kam.

Er zog sich die Jacke enger um die Schultern und eilte die Straße entlang. Du weißt herzlich wenig über diese neue Welt, dachte er. Dann wurde ihm klar: Du bist soeben im Begriff, einiges dazu zu lernen.

Für einen Augenblick fragte er sich, welcher Menschentyp wohl auf einen solchen Kuhhandel einging, wie ihn das Territorium verlangte: Freiheit gegen Schutz.

Was man tatsächlich im Gegenzug bekam, war ein verlockendes Versprechen: Sicherheit. Garantierte Sicherheit. Absolute Sicherheit.

Das Amerika eines Norman Rockwell.

Das Amerika der fünfziger Jahre unter Eisenhower.

Ein längst vergessenes Amerika.

Und genau da lag Agent Martins Dilemma.

Er klemmte sich die Ledermappe mit den drei Verbrechen fester unter den Arm und dachte: Das ist ein altes Problem. Das älteste Problem. Was passiert, wenn es den Fuchs in den Hühnerstall treibt?

Er schmunzelte. Dann ist die Hölle los.

 

In der Vorhalle der Bücherei lebten mehrere Obdachlose. Sie erkannten ihn beim Eintreten und grüßten ihn laut.

»He, Professor! Auch mal wieder zu Besuch?«, fragte eine Frau. An der Stelle, an der ihre Schneidezähne sein sollten, klaffte eine Lücke. Sie ließ ihrer Begrüßung schallendes Gelächter folgen.

»Nee. Muss nur ein bisschen forschen.«

»Bald brauchst du nix mehr zu forschen. Wenn du so weitermachst, bist du so tot wie die Leute, über die du forschen tust. Dann weißt du ’s genau, was, Professorchen?« Wieder lachte sie herzhaft und versetzte einem älteren Mann neben ihr einen Rippenstoß. Der schüttelte sich, dass seine lumpigen, dreckstarrenden Kleider raschelten wie welkes Laub.

»Der Professor studiert keine Toten, du alte Hexe«, erklärte der Mann. »Er beschäftigt sich mit den Leuten, die sie um die Ecke bringen. Hab ich recht?«

»Stimmt«, bestätigte Jeffrey.

»Ach so«, meinte die Frau und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Dann brauch er gar nicht selbst tot zu sein. Muss nur ein-, zweimal irgendwen um die Ecke bringen. Studieren Sie das, Professor? Wie man einen um die Ecke bringt?« Jeffrey fand die Logik der alten Frau so schwach wie ihre Stimme. Statt einer Antwort fischte er einen Zwanzig-Dollar-Schein aus der Tasche.

»Hier«, sagte er. »Die Schlange vor Antonio’s war nicht allzu lang. Holt euch eine Pizza.« Er ließ ihr den Schein in den Schoß fallen. Sie schnappte mit ihrer Klauenhand danach.

»Dafür kriegen wir nur ’ne kleine Pizza«, beschwerte sie sich in einer Aufwallung von Zorn. »Mit nur einem Belag. Ich mag Salami und er lieber Pilze.« Sie knuffte ihren Nachbarn energisch.

»Tut mir leid«, erwiderte Jeffrey, »mehr kann ich nicht für euch tun.«

Die alte Frau brach schlagartig in eine Mischung aus schrillem Geschrei und Kichern aus. »Dann eben keine Pilze«, gackerte sie.

»Ich mag aber lieber Pilze«, jammerte der Mann mit Tränen in den Augen. Jeffrey drehte sich um und bahnte sich seinen Weg durch mehrere Schwingtüren aus Stahl zum Eingangskontrollpunkt der Bibliothek, einer Trennwand aus Panzerglas. Die Bibliothekarin, die dahinter saß, winkte ihm lächelnd zu, und er übergab ihr seine Waffe. Sie deutete auf ein Nebenzimmer und sagte: »Ihr Freund wartet schon da drinnen auf Sie.« Ihre Stimme klang durch die metallene Sprechanlage fern und fremd. »Ihr gut bewaffneter Freund«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu. »Hat ihm nicht gepasst, sein Arsenal abzuliefern.«

»Er ist Polizist«, erklärte Jeffrey.

»Na ja, jetzt ist er ein unbewaffneter Polizist. Keine Waffen in der Bibliothek. Nur Bücher.« Sie war älter als Clayton, und er schätzte, dass sie ihre Freizeit irgendwo dort hinten zwischen den Wälzern verbrachte und romantische Geschichten über die guten alten Zeiten verschlang. »Früher gab es mal mehr Bücher als Pistolen«, stellte sie mehr für sich selbst fest. Sie sah auf. »Stimmt’s, Professor?«

»Ist lange her«, erwiderte er.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Trotzdem sind Ideen immer noch gefährlicher als Waffen. Dauert nur ein bisschen länger.«

Er lächelte und nickte. Die Frau wandte sich wieder ihren Überwachungsmonitoren zu, während sie gleichzeitig neue Titel in einen Computer eingab. Jeffrey durchschritt den Metalldetektor und trat in den Zeitschriftenraum der Bibliothek. Dort wartete der Agent allein, versunken in einem unbequem tiefen Ledersessel. Er rappelte sich hoch, um Clayton zu begrüßen. »Ich gebe nicht gerne meine Waffen ab, selbst wenn wir von Bildung umgeben sind«, murrte er und verzog süßsäuerlich das Gesicht.

»Das hat mir die Dame an der Tür schon erzählt.«

»Die überzeugt mich nicht, die hat eine Uzi im Schulterhalfter.«

»Da ist was dran«, räumte Jeffrey ein. Dann schob er das Lederköfferchen mit den drei Akten zu Agent Martin hinüber. »Da haben Sie Ihre Dossiers. Wie gesagt, weiß ich nicht recht, wie ich Ihnen helfen soll, solange ich nicht sämtliche Informationen zu jedem dieser Morde habe.«

Der Agent reagierte nicht darauf, sondern sagte: »Ich hab heute mit dem Dekan des Psychologischen Instituts gesprochen. Er hat sich damit einverstanden erklärt, Sie wegen eines Notfalls zu beurlauben. Ich habe Ihnen die Namen der Professoren aufgeschrieben, die Ihre Lehrverpflichtungen für Sie übernehmen. Ich dachte, Sie wollen vielleicht mit ihnen reden, bevor wir uns auf den Weg machen.«

Jeffrey fiel die Kinnlade herunter. Für einen Moment stotterte er, als er protestierte: »Einen Scheißdreck werde ich tun! Ich gehe nirgendwohin. Wer gibt Ihnen das Recht, sich mit irgendjemandem in Verbindung zu setzen oder irgendetwas für mich zu regeln? Ich habe Ihnen klipp und klar gesagt, dass ich Ihnen nicht helfen will. Das war auch so gemeint.«

Der Agent überhörte Jeffrey geflissentlich und sagte: »Ich war mir nicht sicher, was ich mit diesen Freundinnen machen sollte. Könnte mir denken, dass Sie zuerst mit ihnen reden wollen. Irgendeine plausible Lüge auftischen, denn dass irgendjemand erfährt, woran Sie in Wahrheit arbeiten, ist das Letzte, was ich brauchen kann. Ihr Institutsleiter glaubt, Sie wollten nach Old Washington. Lassen wir ihn einfach in dem Glauben, einverstanden?«

»Sie können mich mal«, unterbrach ihn Jeffrey wütend. »Ich bin raus aus der Sache.«

Agent Martin hatte nur ein müdes Lächeln für ihn übrig. »Ich glaube zwar nicht, dass wir Freunde werden«, meinte er, »aber ich denke zumindest, dass Sie ein paar meiner hervorstechenden Eigenschaften, wenn schon nicht bewundern, dann doch zumindest schätzen werden – allerdings räume ich gerne ein, dass Sie dazu bis jetzt noch wenig Anlass hatten. Nein, ich glaube nicht, dass wir Freunde werden, aber das muss ja auch nicht sein, Professor, oder? Darum geht es bei dem Ganzen nicht.«

Jeffrey schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie Ihre verdammten Akten. Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

Der Professor war drauf und dran, sich umzudrehen, da packte ihn der Agent am Arm. Martin war ein kräftiger Mann, und sein eiserner Griff schien zu sagen, er sei zu weitaus mehr imstande, als Jeffreys Muskeln zusammenzudrücken, und der Schmerz, den er ihm jetzt zufügte, sei lediglich dem derzeitigen Stand der Dinge angemessen. Jeffrey versuchte, sich loszureißen, konnte es aber nicht. Agent Martin zog ihn näher an sich heran und zischte ihm ins Gesicht.

»Schluss mit den Diskussionen, Professor. Hören wir auf, uns zu streiten. Sie werden ganz einfach tun, was ich Ihnen sage, denn ich glaube, Sie sind in diesem Scheißland der einzige Mensch, von dem ich kriegen kann, was ich brauche. Also werde ich Sie nicht länger bitten, sondern Ihnen sagen, wo ’s langgeht. Und jetzt hören Sie mir erst mal gut zu. Haben Sie verstanden, Professor?«

Die Drohung ätzte sich in Jeffreys Haut wie ein Sonnenbrand an einem heißen Sommertag. Er riss sich zusammen und rang um Fassung.

»Na schön«, gab er zögerlich nach. »Dann erzählen Sie mir alles, was ich Ihrer Meinung nach wissen muss.«

Der Agent trat zurück und deutete auf einen Lesetisch neben seinem Sessel. Jeffrey ging an ihm vorbei und zog sich einen Stuhl heran. Er setzte sich und sagte kurz angebunden: »Schießen Sie los.«

Martin ließ sich ihm gegenüber auf einem Stuhl mit Holzlehne nieder, öffnete die Aktentasche und zog die drei Mappen heraus. Er warf Jeffrey einen finsteren Blick zu und schob dem Professor den ersten Schnellhefter hin.

»Das ist der laufende Fall«, erklärte er in bitterem Ton. »Geht abends nach dem Babysitten bei einer Nachbarsfamilie heim. Zwei Wochen später entdeckt man ihre Leiche.«

»Fahren Sie fort.«

»Nein, lassen wir die erst mal beiseite. Sehen Sie dieses Mädchen?« Er schob Jeffrey das zweite Dossier hin. »Die schon mal gesehen, Professor?«

Jeffrey starrte auf die junge Frau. Woher soll ich die kennen?, überlegte er. »Nein«, antwortete er.

»Vielleicht sagt Ihnen der Name etwas.«

Der Mann atmete schwer, als müsse er einen gewaltigen Ärger unter Kontrolle halten, der sich in seinem Innern zusammenbraute. Er nahm einen Stift und schrieb den Namen Martha Thomas auf die Mappe. »Klingelt’s jetzt bei Ihnen, Professor? Vor sieben Jahren. In Ihrem ersten Jahr hier an dieser ehrwürdigen höheren Bildungsanstalt. Fällt der Groschen?«

Jeffrey nickte. Es durchfuhr ihn eiskalt. »Ja, selbstverständlich, den Namen habe ich nicht vergessen. Sie war im ersten Semester, in einer meiner Einführungsvorlesungen. Eine von zweihundertfünfzig. Wintersemester. Sie war nur eine Woche da, dann ist sie verschwunden. Sie hat nur eine einzige Vorlesung besucht. Ich weiß nicht mal, ob ich ihr je persönlich begegnet bin. Ein Gespräch oder so hat es jedenfalls nicht gegeben. Das ist alles. Drei Wochen später wurde sie nicht weit von hier in einem Wald gefunden. Sie ging gerne wandern, soweit ich mich entsinne. Die Polizei vermutete, dass sie dabei entführt wurde. Keine Verhaftungen. Ich kann mich nicht einmal erinnern, befragt worden zu sein.«

»Und Sie haben nicht Ihre Hilfe angeboten, als eine Ihrer eigenen Studentinnen ermordet wurde?«

»Doch. Die örtliche Polizei hat mein Angebot ausgeschlagen. Ich hatte eben noch nicht den Ruf, den ich heute genieße. Habe nie auch nur die Unterlagen zum Fundort zu Gesicht bekommen. Ich wusste nicht, dass sie das Opfer eines Serienkillers war.«

»Die Idioten vor Ort auch nicht«, entgegnete Martin sarkastisch. »Das Mädchen wurde ausgeweidet und wie eine Art religiöses Zeichen auf den Boden gelegt, einer der Finger abgetrennt und … und diese Dumpfbacken hatten nicht den leisesten Schimmer, womit sie es zu tun hatten.«

»Heutzutage häufen sich die Morde. Ein Ermittler von der Mordkommission muss Prioritäten setzen, um zu entscheiden, welche Fälle er verfolgt und welche ihm lösbar erscheinen.«

»Das weiß ich auch, Professor, deswegen waren sie trotzdem Idioten.«

Jeffrey lehnte sich zurück. »Demnach wurde eine junge Frau, die für ganz kurze Zeit eine Studentin von mir war, vor sieben Jahren auf dieselbe Art ermordet wie die Opfer Ihres derzeitigen Falls. Ich kann immer noch nicht sehen, wieso das meine Mitarbeit erfordert.«

Agent Martin schob die dritte Akte über den Tisch, direkt in Jeffreys rechte Hand.

»Dieser Fall ist alt«, erklärte Martin langsam »Sehr alt und kalt. Schnee von gestern, Professor.«

»Was wollen Sie mir damit sagen?«

»Das FBI hat alle diese Morde penibel erfasst«, fuhr Martin fort. »In ihrer umfangreichen Falldatei, dem Violent Criminals Apprehension Program, kurz VICAP genannt. Man kann so die ungelösten Fälle miteinander abgleichen und interessante Querverweise sowie Verbindungen finden. Darunter auch die Körperstellung der Leichen. Und die Zeigefinger. So was rauszufiltern ist für eine Computerdrohne, die Fälle speichert, ein Kinderspiel, meinen Sie nicht? Meistens hat das FBI oder sonst wer herzlich wenig von all diesen Auswertungen, aber hier und da spuckt so ein Programm interessante Kombinationen aus. Das wissen Sie natürlich alles, nicht wahr, Professor?«

»Ich bin mit den Verfahrensweisen bei Serienmorden vertraut. Schließlich gibt es das schon seit ein paar Jahrzehnten.«

Agent Martin hatte sich erhoben und lief eine Weile im Zimmer auf und ab, bis er sich schließlich wieder in den großen Ledersessel warf und Jeffrey Clayton über den Tisch hinweg musterte.

»Auf diese Weise bin ich auf die Querverbindung gestoßen. Dieser letzte Mord, soll ich Ihnen sagen, wann der passiert ist? Vor über fünfundzwanzig Jahren, verflucht noch mal. Ich meine, in der Steinzeit, richtig, Professor?«

»Drei Morde in einem Vierteljahrhundert sind ein ungewöhnliches Verhaltensmuster.«

Der Agent sackte schwer zurück und starrte einen Moment zur Decke, bevor er den Kopf senkte und Clayton fixierte.

»Das können Sie verdammt noch mal laut sagen«, bekräftigte er, »aber, Prof, dieser letzte da, der ist nun wirklich interessant.«

»In wiefern?«

»Hinsichtlich von Ort und Zeit und hinsichtlich eines der Tatverdächtigen, die damals von der Staatspolizei verhört wurden. Man hat den Mistkerl nie festgenommen – er war nur einer von einem halben Dutzend möglichen Tätern, die man in die Mangel genommen hat – aber sein Name und das Befragungsprotokoll waren in der alten Akte. Hätte ebenso gut die Nadel im Heuhaufen suchen können, aber ich hab’s gefunden.«

»Was war daran so interessant?«, hakte Jeffrey nach.

Agent Martin wollte erneut aufstehen, überlegte es sich aber anders. Mit einem Ruck beugte er sich vor, so dass sein mächtiger Oberkörper über seine Knie ragte, und zischte leise wie ein Verschwörer, jedoch in heftigem, mühsam beherrschtem Ton:

»Interessant? Ich will Ihnen sagen, was so interessant war, Professor. Dass die Leiche dieser jungen Frau in Mercer County, New Jersey, entdeckt wurde, ganz in der Nähe einer kleinen Stadt namens Hopewell, und zwar etwa drei Tage nachdem Sie, Ihre Mutter und Ihre kleine Schwester für immer von zu Hause weggegangen waren … und dass der Mann, den die Polizei ein paar Tage, nachdem dieses Mädchen verschwunden war und nachdem Sie und Ihre Familie sich verzogen hatten, so erfolglos verhört hat, Ihr gottverdammter Vater war.«

Jeffrey antwortete nicht. Ihm wurde heiß, als stünde der Raum, in dem er saß, urplötzlich in Flammen. Seine Kehle fühlte sich trocken an, ihm drehte sich der Kopf. Er hielt sich an der Tischkante fest, während ihm der Gedanke durch den Schädel hallte: Du hast es gewusst, nicht wahr? Du hast es die ganze Zeit gewusst, all die Jahre. Du hast gewusst, dass eines Tages jemand zu dir kommen würde, um dir zu sagen, was du gerade erfahren hast.

Er hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, als schnürten ihm die Worte des Agenten die Kehle zu.

Der Polizist sah dies alles durch seine zusammengekniffenen Augen, die den Professor unablässig musterten.

»Also«, meinte er ruhig, »fangen wir an. Ich sagte Ihnen ja, uns bleibt nicht viel Zeit.«

»Wieso?«, brachte Jeffrey atemlos heraus.

»Weil vor weniger als achtundvierzig Stunden noch ein Mädchen im Westlichen Territorium verschwunden ist. Während wir hier reden, sitzen in einem Büro, das Sicherheit und Behaglichkeit verströmt, verdammt noch mal, ein Mann und eine Frau sowie ein kleiner Bruder und eine ältere Schwester, die versuchen, das Unfassbare zu verstehen. Eine Erklärung für etwas zu bekommen, das unerklärlich ist. Und zwar nachdem man ihnen gesagt hat, dass ihnen genau das zugestoßen ist, was ihnen nie und nimmer hätte zustoßen sollen.«

Agent Martin verzog das Gesicht, als würde ihm bei dem bloßen Gedanken übel.

»Sie, Professor, Sie werden mir dabei helfen, Ihren Vater zu finden.«