9. KAPITEL
Das gefundene Mädchen

 

Die beiden Männer machten sich auf den Weg zu dem felsigen Vorgebirge, in dem vor einigen Monaten die Leiche der jungen Frau Nummer drei gefunden worden war, Richtung Norden durch den Einundfünfzigsten Bundesstaat. Jeffrey Clayton lauschte auf das rhythmische Klopfen der Reifen, wenn sie über die Sensoren in der geteerten Straße rollten. Sie fuhren schnell, obwohl ihre Geschwindigkeit ebenso wie ihre Route auf einer fernen, computergesteuerten Karte des gesamten bundesstaatlichen Straßennetzes registriert war. Doch niemand griff ein. Agent Martin hatte bei ihrer Abfahrt dem Hauptquartier einen speziellen Code durchgegeben, und so schwebte kein Hubschrauber der Staatssicherheit auf sie herab, um sie zur Einhaltung der strengstens kontrollierten Geschwindigkeitsbegrenzung aufzufordern.

In regelmäßigen Abständen rasten sie an den Ausfahrten zu bewohnten Gebieten vorbei. Diese neuen Ortschaften beschworen mit Namen wie Victory, Success und Happy Valley eine aggressive Aufbruchstimmung oder aber mit Wind River und Deer Run die Vorstellung von einem sauberen Leben an der frischen Luft, entworfen von einem Planer am Reißbrett. Die jeweilige Abzweigung zu diesen Wohngegenden wurde mit einem eigenen Schild in unterschiedlichen Farben angekündigt. Irgendwann fragte Clayton nach dem Grund.

»Ganz einfach«, erwiderte Agent Martin. »Andere Farbe steht für eine andere Häuserkategorie. Der Staat verfügt über vier Kategorien: gelb für Stadthäuser und Eigentumswohnungen; braun für Eigenheime mit drei oder vier Zimmern; grün für fünf bis sechs Zimmer und blau für größere Anwesen. Geht alles auf ein Siedlungskonzept zurück, das Disney für eine ihrer ersten privaten Städte außerhalb von Orlando ausgeheckt hat – nur ein Stück weiter gedacht.«

Clayton tippte auf einen roten Aufkleber, der das Seitenfenster zierte. »Rot?«, fragte er.

»Das bedeutet ›Freier Zutritt zu allen Bereichen‹.«

Sie kamen an einem grünen Schild vorbei, das auf eine Ortschaft namens Fox Glen verwies. Clayton deutete in die Richtung und sagte: »Zeigen Sie es mir.«

Der Detective brummte etwas und schwenkte scharf in die Ausfahrt ein. »Gute Wahl«, meinte er geheimnisvoll.

Fast augenblicklich waren sie mitten in einer Trabantensiedlung mit großzügigen, von Fichten aufgelockerten Rasenflächen. Durch die Zweige sickerte die Sonne und funkelte hier und da auf der Kühlerhaube eines hochglanzpolierten Autos auf, das in der Einfahrt stand – eine Parade neuester Modelle. In dem Sprühfilm über den Sprinkleranlagen der Gärten bildeten sich kleine Regenbögen. Die geräumigen Häuser verfügten je über vier- bis achttausend Quadratmeter Land und waren von der unscheinbaren Anwohnerstraße ein gutes Stück zurückgesetzt. Mehr als eines war mit einem abgeschirmten Swimmingpool versehen.

Clayton stellte fest, dass bei den Eigenheimen mehrere Architekturrichtungen vertreten waren; er sah Häuser im Kolonialstil, Ranchs und Fincas. Die Häuser waren alle weiß, grau oder beige gestrichen oder mit einer farblosen Lasur versehen, welche die Maserung des Holzes an den Schindelwänden akzentuierte. Dabei gab es innerhalb eines Designs kleinere Varia tionen – ein Innenhof, eine abgeschirmte Veranda oder Rundbogenfenster –, so dass ein Wohnkomplex einheitlich, aber nicht monoton erschien; ähnlich, aber nicht gleich. Oder, dachte er, einmalig, aber nicht sehr, was natürlich ein Widerspruch in sich war, aber die Sache traf. Die Gestaltung dieser Siedlung hielt eine subtile Balance zwischen individuellen Details und dem gleichförmigen Ganzen. Er fragte sich, ob dasselbe auf die Bewohner zutraf.

Es herrschten milde Temperaturen; es war Mittagszeit, und es würde noch ein wenig wärmer werden. Die Wohngegend war ruhig. Zwar beaufsichtigte hier und da eine Frau geduldig kleine Kinder beim Spielen auf den Klettergerüsten und Schaukeln an der Seite der Häuser, doch die Straßen waren menschenleer. Clayton suchte nach Anzeichen von Verfall oder Gerümpel, doch alles schien zu neu. Wenige Häuser blöcke entfernt entdeckte er zwei Frauen in leuchtend bunten Joggingoutfits, die langsam hinter glitzernden Stahlrohr buggys liefen, in denen ihre Babys saßen. Sie waren beide jung, vielleicht in seinem Alter, auch wenn er sich augenblicklich älter fühlte. Die Frauen winkten, als sich ihre Wege kreuz ten.

Noch etwas fiel ihm auf: keine Sicherheitszäune.

»Nicht schlecht, wie?«, fragte der Agent.

»Kann man wohl sagen«, räumte Clayton ein. »Sieht schön aus. Gibt es Vorschriften zu den Häusertypen?«

»Selbstverständlich. Bestimmungen zur Farbe. Zum Stil; Festlegungen, was man jeweils bauen kann und was nicht. Alle möglichen Vorschriften, nur dass man sie anders nennt. Sie heißen Vertragsklauseln, und jeder unterzeichnet ein entsprechendes Abkommen, bevor er hierher zieht.«

»Und niemand hat etwas dagegen?«

Der Detective schüttelte den Kopf. »Niemand hat etwas dagegen.«

»Nehmen wir mal an, Sie besäßen eine wertvolle Kunstsammlung, für die Sie Luftdrucksensoren und Alarmanlagen brauchen. Könnten Sie so was installieren lassen?«

»Ja. Vielleicht. Allerdings müsste jedes System staatlich registriert, inspiziert und genehmigt werden. Jeder vereidigte Sachverständige könnte den Papierkram erledigen. Das gehört dazu.«

Martin drosselte das Tempo und hielt vor einem großen Haus in modernem Stil. Allerdings stand es offensichtlich leer; neben der Einfahrt hing ein Schild mit der Aufschrift FOR SALE. Der Rasen stand ein wenig höher als bei den angrenzenden Häusern im Block, und die Randbepflanzungen waren nicht gestutzt. Das Ganze erinnerte den Professor an einen schlaksigen Jungen, der insgesamt präsentabel wirkte, aber ungekämmt und unrasiert war, als sei er in der Nacht davor nach ein paar nicht erlaubten Bierchen zu spät ins Bett gekommen.

»Hier hat Janet Cross gewohnt«, berichtete der Detective ruhig und deutete auf die Akten, die Clayton im Schoß hielt.

»Sie war ein Einzelkind. Die Familie ist schließlich ausgezogen, vor vielleicht zwei, drei Wochen.«

»Und wohin?«

»Minneapolis, hab ich gehört. Dahin zurück, wo sie herkamen. Sie hatten dort Verwandte.«

»Und die Nachbarn? Was dachten die über den Fall?«

Agent Martin fuhr wieder auf die Straße. »Wer weiß?«, erwiderte er nach einer Weile.

Clayton hatte die nächste Frage auf der Zunge, doch er beherrschte sich. Er warf einen Seitenblick auf den Polizisten, der geradeaus auf die Straße starrte. Eine seltsame Antwort, dachte der Professor. Die Nachbarn hätten gründlich befragt werden müssen. Hatten sie etwas gesehen? Etwas gehört? War ihnen in den Tagen vor der Entführung der jungen Frau irgendjemand aufgefallen, der sich im Viertel herumtrieb? Und danach? Hatten sie sich nicht bei der Polizei beschwert? Hatten sie keine Nachbarschaftsverbände zur Verbrechensbekämpfung gebildet, Versammlungen abgehalten und Schutzpatrouillen eingesetzt? Hatten sie nicht auf zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen bestanden und Überwachungskameras vorgeschlagen? In einer Sekunde fielen ihm mindestens ein halbes Dutzend Reaktionen ein, die für dieses Mittelstandsmilieu nach einem Verbrechen typisch gewesen wären. Sie mochten fruchtlos sein, doch immerhin Reaktionen.

Er atmete langsam aus und fragte stattdessen: »Wie genau ist sie verschwunden?«

»Auf dem Heimweg nach dem Babysitten bei Leuten keine drei Häuserblocks von hier entfernt. Gerade noch nahe genug, um sich nicht abholen zu lassen. Und auch noch früh genug. Das Paar, das sie engagiert hatte, hatte für ein frühes Abendessen einen Tisch reserviert und war anschließend in die Acht-Uhr-Vorstellung irgendeines Films gegangen. Sie kamen nach Hause, zahlten ein paar Dollars, schon war sie zur Tür hinaus und wurde nach elf nicht mehr gesehen.«

»Fahren Sie zu dem Haus rüber, wo sie gearbeitet hat«, bat Jeffrey; Martin nickte und brummte etwas.

Clayton lehnte sich zurück und ließ seiner Einbildungskraft freien Lauf. Er starrte die stille Vorstadtstraße hinunter, und es fiel ihm nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Gegend in Dunkelheit gehüllt wurde. Hatte in der fraglichen Nacht der Mond geschienen? Er nahm sich vor, es herauszufinden. Die Baumgruppen würden Schatten werfen und kein Licht vom Himmel durchlassen. Es gab nur wenige Straßenlaternen – und die waren vollkommen anders als die starken Natriumdampflampen, die fast im ganzen übrigen Land dunkle Winkel ausleuchteten. Dafür bestand hier keine Notwendigkeit, und die Hausbesitzer würden sich wohl eher beschweren, wenn solche Helligkeit durch ihre Fenster drang.

Clayton begriff. Wer an diesen Mythos von Sicherheit glaubte, dem würde es nicht gefallen, dass ihn jede Nacht grelle Lampen daran erinnerten, dass er sich irren könnte.

Er versuchte weiter, sich den entscheidenden Moment vorzustellen. Sie ging also lange nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause; vielleicht ein bisschen schneller als sonst, da sogar hier die Nacht ein wenig beängstigend sein mochte und sie – selbst wenn sie glaubte, keinen Grund zur Sorge zu haben – immerhin alleine war. Sie lief zügig und drückte sich, während sie auf das leise Klatschen ihrer Turnschuhe auf dem Bürgersteig lauschte, ihre Schulbücher fest an die Brust, wie ein Porträt von der Hand Norman Rockwells. Und was dann? Ein Wagen, der sich ihr ohne Licht langsam von hinten näherte? Eine Stimme aus einem der schattigen Winkel? Lauerte er ihr wie ein nachtaktives Raubtier auf?

Diese Frage konnte er beantworten: Ja.

Clayton notierte im Kopf: Der Überfall musste schnell vor sich gegangen sein. Unerwartet und geräuschlos. Vollkommen überraschend, denn ein Schrei hätte alles verdorben. Wie also konnte er das angestellt haben?

War die Nacht einfach perfekt zum Jagen gewesen? War Nummer drei zufällig oder durch die Macht des Schicksals zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder war sie das Opfer, das er sich schon vorher ausgesucht und ausgekundschaftet hatte? Dann hätte er nur noch geduldig auf diese Nacht, die ideale Gelegenheit warten müssen.

Clayton nickte. Ein interessanter Unterschied. Der eine Typus eines Jägers schleicht heimlich durch den Wald und sucht. Der andere geht in Deckung und lauert seinem Opfer auf, von dem er weiß, dass es vorbeikommen muss. Finde die Antwort!

Bei gewaltsamen Todesfällen gibt es immer eine Verkettung von Ursache und Wirkung. Eine Agenda. Bestimmte Regeln, die bestimmte Reaktionen auslösen, die sich alle zusammen wie in einer teuflischen mathematischen Gleichung zu Mord addieren.

Was war es diesmal? Jeffrey Clayton schwirrte der Kopf vor Fragen, und nicht auf alle wollte er wirklich eine Antwort wissen.

Sie hatten das Ende des Blocks erreicht und waren in eine zweite Wohnstraße eingebogen, die nach etwa einer halben Meile als Sackgasse endete. Während der Detective um die Bepflanzung des kleinen Kreisels fuhr, deutete er auf ein Haus, das ein wenig weiter zurückgesetzt war als die meisten anderen. Das nächste Haus in dieser Sackgasse stand außerdem ein Stück weiter entfernt, und seine Einfahrt war vom Wendekreis durch eine dicht gewachsene Hecke getrennt. Ein drittes Haus hinter der Grenzlinie lag ebenfalls Richtung Straße statt Kreisel, am oberen Ende einer kleinen Böschung, hinter zwei großen Fichten.

»Halten Sie an«, verlangte Clayton abrupt.

Martin sah ihn verwundert an, dann trat er auf die Bremse.

Clayton stieg aus und lief ein paar Schritte, um sich jedes Haus anzusehen und die Entfernungen abzuschätzen.

Der Detective kurbelte sein Fenster herunter. »Was ist?«, fragte er.

»Genau hier«, erklärte Clayton. Er spürte, wie es ihm feuchtkalt den Rücken hinunterlief.

»Hier?«

»Hier hat er gewartet.«

»Woher wissen Sie das?«, wollte Martin wissen.

Clayton deutete kurz auf die drei Häuser. »Ist nicht einsehbar, von keinem der drei Häuser. Es ist wie ein blinder Fleck. Keine Straßenlaterne. Wagen ohne Licht, nach Einbruch der Dunkelheit. Einfach nur parken und warten.«

Der Detective stieg ebenfalls aus und sah sich um. Er lief ein paar Schritte, machte kehrt, starrte wieder auf die Stelle, an der Clayton wartete, und kam zurück. Er runzelte die Stirn, sah sich noch einmal die Winkel an, welche die Häuser zueinander bildeten, und verlängerte im Kopf die Linien ihrer Seiten wände. Wenig später nickte er und pfiff durch die Zähne.

»Stimmt wahrscheinlich, Professor. Nicht schlecht, wirklich nicht schlecht. Diese Häuser sind von hier aus alle verdeckt. Gerade mal dreißig Meter weiter die Straße entlang, und das Mädchen wäre auf dem Bürgersteig von beiden Seiten aus zu sehen gewesen. Und außerdem näher an den Häusern, so dass Schreie leichter zu hören gewesen wären. Falls sie geschrien hat. Falls sie schreien konnte.« Der Detective schwieg und ließ den Blick erneut über die Umgebung schweifen. »Nein, Sie haben vermutlich recht, Professor. Weiß auch nicht, wieso ich das nicht selbst gesehen habe. Kompliment.«

»Hat es nach ihrem Verschwinden eine Durchsuchung gegeben? Ich meine, hier in der näheren Umgebung?«

»Natürlich. Aber Sie müssen wissen, erst als ich ihre Leiche sah, habe ich begriffen, womit wir es zu tun haben. Und bis es so weit war …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Clayton nickte und stieg wieder ein. Er spähte noch einmal in alle Richtungen und versuchte, den Ansturm von Fragen in den Griff zu bekommen. Die Auftraggeber der Babysitterin mussten mit dem Auto nach Hause gekommen sein. Wie hatte er es vermeiden können, von deren Scheinwerfern erfasst zu werden? Ganz einfach. Er kam erst nach ihnen. Woher wusste er, dass sie zu Fuß nach Hause laufen würde, statt sich abholen zu lassen? Weil er sie schon vorher gesehen hatte. Woher wusste er, dass nicht auch Nachbarn kommen oder gehen würden? Weil er auch deren Tagesablauf kannte.

Clayton holte tief Luft und bescheinigte sich, es sei nicht weiter besorgniserregend, wenn er eine ruhige Wohnstraße in einer Vorstadt entlangfuhr und mit einem Schlag die beste Stelle fand, an der ein Mörder seinem Opfer auflauern konnte. Er sagte sich, es sei schließlich nötig, das Viertel mit den Augen des Mörders zu sehen, da sie sonst keine Chance hätten, den Mann zu finden – mithin sei diese Fähigkeit etwas Lobenswertes und nicht Furchterregendes. Natürlich wusste er, dass das gelogen war. Dennoch klammerte er sich an diese Version, da er über andere Erklärungen nicht nachdenken wollte.

 

Sie fuhren ein paar Minuten, bis sie das gehobene Baugebiet hinter sich hatten. Er stellte fest, dass rund um den Wohnkomplex eine schwarze Schlackenbahn zum Joggen führte, die durch andere Sportanlagen wie Tennisplätze, ein Basketballfeld sowie einen gut besuchten Kinderspielplatz vervollständigt wurde. Nicht weit von den Kindern saßen ein paar Frauen auf Bänken und plauderten, während sie ihre Kleinen nur so weit im Blick behielten, wie es die sichere Umgebung verlangte. Auf der Fahrt am Park vorbei sahen sie, dass die schmaleren Häuser auf der anderen Seite dichter und in einer Reihe sowie näher am Bürgersteig standen. Die Straßenschilder waren plötzlich braun.

»Jetzt sind wir in Echo Woods«, erklärte Martin. »Ein braunes Baugebiet, Mittelschicht, aber das andere Ende des Spektrums. Unmittelbar am Stadtrand.«

Aus dem kleinen Vorstadtviertel kamen sie auf einen breiten Boulevard mit niedrigen Einkaufszentren zu beiden Seiten. Ihr Design war dem Südwesten entlehnt, mit roten Ziegeldächern und hellbeige verputzten Wänden, was selbst für den großen Lebensmittelladen galt, der sich in der Mitte der Mall über fast einen ganzen Häuserblock erstreckte. Clayton fing an, die Namen der Läden zu lesen und stellte fest, dass auch sie in Gruppen geordnet waren: gehobene Modeboutiquen sowie Geschäfte für technische Geräte am einen Ende der Einkaufsstraße und Discount- sowie Haushaltswarenläden am anderen Ende. Restaurants, Pizzerien und Fastfoodketten verteilten sich über das ganze Zentrum.

»So viel zu den Einkaufsgelegenheiten«, meinte der Detective. »Willkommen in Evergreen. Vorstadt von New Washington.« Das Zentrum der Kleinstadt verströmte beinahe so etwas wie ein New-England-Flair. Beherrscht wurde es von einem weitläufigen Platz mit saftig grüner Rasenfläche. Vom blauen westlichen Himmel zeichnete sich der weiße Turm einer episkopalen Kirche ab und rechts daneben ein zweiter mit einem Kreuz an der Spitze: eine Methodistenkirche. Am anderen Ende des Rasens stand die Synagoge den Kirchen gegenüber, und der Davidstern funkelte selbstbewusst auf ihrem Dach. Alle diese Gotteshäuser waren modern und kaum der traditionellen Formensprache verpflichtet. Nicht weit davon entfernt sah er ein Gebäudetrio, jedes mit weißen Schindelwänden. Eins davon war als STADTVERWALTUNG kenntlich gemacht. Auf dem nächsten stand STAATSSICHERHEIT, NEBENSTELLE 6. Und auf dem dritten: COMPUTER-CENTER.

Ein kleineres Schild deutete auf eine Nebenstraße, in der die Bezirksschule EVERGREEN und das GESUNDHEITSZENTRUM lagen.

Agent Martin nickte und fuhr am Rand des begrünten Platzes rechts heran. An einem Ende entdeckte Clayton sogar eine Statue – einen Soldaten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in heroischer Pose, der sich über zwei alte, schwarz gestrichene Kanonen erhob. Er fragte sich, ob die Stadt vielleicht einen fiktionalen Helden eingeführt hatte, den sie feiern konnte.

»Sehen Sie, Professor? Alles, was das Herz begehrt. Gut durchorganisiert und da, wo man es braucht. Haben Sie sich einen Eindruck verschafft?«

»Ich denke schon.«

»In jeder Gemeinde mindestens drei Gotteshäuser. Die Konfessionen variieren selbstverständlich. Könnten genauso gut Mormonen sein. Katholiken, meinetwegen auch Muslime, Herrgott noch mal. Aber immer drei. Eine Kirche ist zu ausschließlich, zwei brächten Rivalität. Drei – das ist Vielfalt. Und gerade so viel, dass die Gemeinden intakt bleiben und nicht zersplittern, Sie verstehen, was ich meine. Eine ethnische Mischung, die Stärke verleiht und nicht spaltet. Genauso, wie die Städte geplant werden. Jede ökonomische Gruppe ist vertreten – und in der Innenstadt oder der Shoppingmall kommen sie in Tuchfühlung miteinander. Wir können auf dem Weg aus der Stadt an den größeren Anwesen vorbeifahren, wenn Sie mögen. Rechnen Sie außerdem einen Gebäudekomplex dazu, der vom Kindergarten bis zur Highschool alles unter einem Dach vereint, außerdem eine Kombination aus Fitnessclub und Mini-Krankenhaus – was will man mehr?«

»Computercenter?«

»Jedes Haus ist an ein Netz aus Glasfaserkabeln angeschlossen. Wenn Sie wollen, können Sie Ihre Einkäufe, Ihre Stimme für die Stadtratswahl, Ihre Steuererklärung von zu Hause aus abgeben, und Rezepte austauschen, Aktien verkaufen – was weiß ich. Elektronische Post verschicken, Ihre Musikstunden vereinbaren – alles ist irgendwo auf einer städtischen Anzeigetafel vermerkt. Mann, Lehrer können ihre Hausaufgaben über Computer stellen, und die Kids können sie auf demselben Weg einreichen. Heutzutage ist alles verbunden. Die Bücherei, der Lebensmittelladen, der Trainingsplan der Basketballmannschaft der Highschool und die Ballettvorführungen. Eben alles.«

»Und die Staatssicherheit kann den gesamten elektronischen Verkehr überwachen?«

Martin zögerte mit seiner Antwort. »Selbstverständlich. Aber wir posaunen das nicht heraus. Die Leute sind sich dessen bewusst, aber nach ein, zwei Jahren vergessen sie es. Oder es ist ihnen egal. Wahrscheinlich ist es Mr. und Mrs. Smith oder Jones schnurzpiepegal, dass die Staatssicherheit sämtliche Einladungen zu ihren Dinnerpartys mitlesen kann und ihre Bestellungen beim Cateringservice überwacht. Es macht ihnen nicht mal was aus, dass wir wissen, wann sie ihren Scheck für die alkoholischen Getränke oder ihre Blumenarrangements ausgestellt haben. Außerdem können wir sagen, ob der Scheck gedeckt ist oder nicht.«

»Ich weiß nicht«, zweifelte Clayton. Ihm fehlten die Worte. Seine eigene Welt schien davonzudriften wie der letzte Traum vor dem Erwachen. Auf einmal fiel es ihm schwer, sich daran zu erinnern, wie die Universität aussah oder wie seine Wohnung roch. Das Einzige, was ihm lebhaft vor Augen stand, war diese diffuse Angst. Kälte, Angst und Dreck. Aber selbst das schien so weit weg. Der Detective wendete, und für einen Moment fühlte sich Clayton von einem gleißenden Sonnenstrahl geblendet. Er hob die Hand, um die Augen zu schützen, und blinzelte geradeaus. Er brauchte eine Weile, bevor er wieder sehen konnte.

»Wollten Sie nun an ein paar von den Anwesen vorbeifahren? Sie liegen am äußeren Rand der Stadt. Aber sie sind ein bisschen abseits. Normalerweise mit ungefähr vier Hektar oder noch mehr Land versehen. Mehr Privatsphäre. Das ist so ziemlich der einzige Vorteil der obersten Einkommensklasse. Man ist mehr für sich. Andererseits haben wir festgestellt, dass ein paar von den reichsten Leuten die grünen Wohngegenden lieber mögen, die eher der oberen Mittelschicht entsprechen. Sie richten sich gern am Rand eines Golfplatzes ein oder in der Nähe des Freizeitcenters. Schon seltsam, oder? Na, jedenfalls, wollen Sie nun eine Wohngegend mit den Villen anschauen? Sie sind von der Straße aus schwerer zu erkennen, aber man bekommt trotzdem eine ungefähre Vorstellung.«

»Greift man da auch auf dieselben Grundmuster wie bei den anderen Siedlungen zurück?«

»Nein, die sind alle nach den Vorstellungen der Bauherren entworfen. Aber da die Zahl der Architekten und der Bauunternehmer durch staatliche Lizenzvergabe beschränkt ist, gibt es ein paar Ähnlichkeiten.«

Jeffrey hatte eine Idee, doch er behielt sie für sich und deutete auf die Zufahrt zur Schnellstraße zurück. »Ich möchte sehen, wo die Leiche gefunden wurde«, sagte er.

Martin brummte etwas und steuerte die Einfahrt an.

»Und Sie, Detective? Sind Sie braun? Gelb? Grün oder blau? Wo hat ein Cop seinen Platz in diesem Schema?«

»Gelb«, erwiderte der Agent zögerlich. »Ein Stadthaus direkt außerhalb des Zentrums von New Washington, damit ich keine endlosen Anfahrtswege habe. Schon lange keine Frau mehr. Wir haben uns vor einem Dutzend Jahren getrennt. Gütlich alles in allem, jedenfalls einigermaßen unproblematisch, soweit das möglich ist. In der Zeit, bevor ich hierherkam. Sie lebt jetzt in Seattle. Ein Kind ist am College. Das andere arbeitet schon. Beide erwachsen. Brauchen ihren alten Herrn nur noch selten. Bekomme sie beide nicht oft zu Gesicht. Na ja, ich lebe also allein.«

Clayton nickte, was dem Gebot der Höflichkeit zu entsprechen schien.

»Ist hier natürlich ungewöhnlich.«

»Wie meinen Sie das?«

»Der Staat hat’s nicht so mit alleinstehenden erwachsenen Männern. Der Staat preist die Familie als Ideal. Alleinstehende Männer machen meist nur Ärger. Mit ein paar wenigen müssen wir uns abfinden – mit Leuten in meiner Situation zum Beispiel, und egal, wie viele Erhebungen wir im Vorfeld der Immigration anstellen, gibt es immer noch ein paar Scheidungen, auch wenn wir bei einem Zehntel des nationalen Durchschnitts liegen. Trotzdem, grundsätzlich nein. Um reinzukommen und drinnen zu bleiben, brauchen Sie eine Familie. Einzelgänger haben keine Chance. Single-Bars können Sie hier mit der Lupe suchen. Praktisch gleich null.«

Jeffrey nickte wieder, diesmal allerdings, weil ihm etwas eingefallen war. Er machte schon den Mund auf, biss sich dann aber auf die Lippen und beschloss, den Gedanken für sich zu behalten. Er dachte: Es gibt eine Menge Dinge, die ich noch nicht weiß, aber einiges wird mir allmählich klar.

Als der Detective aufs Gas trat, lehnte er sich zurück. Das Vorgebirge schien jetzt schon deutlich näher; grün und braun erhob es sich über die flache Ebene und wirkte ein wenig dunkler als der Rest der Welt. Zuerst glaubte Jeffrey, die Berge seien nicht mehr weit. Im Westen, fiel ihm allerdings ein, täuscht man sich leicht hinsichtlich der Entfernungen. Meist sind die Dinge weiter weg, als man denkt. Dasselbe, musste er denken, gilt, wenn man einen Mord untersucht.

Am frühen Nachmittag erreichten sie die Gegend, in der die Leiche Nummer drei gefunden worden war. Seit mehr als einer Stunde waren sie an keiner bewohnten Gegend mehr vorbeigekommen, und die Highway-Schilder warnten sie, dass es keine hundert Meilen mehr von der neu gezogenen Grenze nach Südoregon waren. Es war ein rauher, dichtbewaldeter Landstrich und geradezu unheimlich still. Nur wenige Fahrzeuge kreuzten ihren Weg. Clayton beschlich das Gefühl, dass es sie an einen der unwirtlicheren Orte der Welt verschlagen hatte, einen Ort der Stille und Einsamkeit. Es gab hier nur wenig Bautätigkeit, eine Leere, die nicht leicht zu füllen sein würde. Die Berge, denen sie sich näherten, wirkten unzugänglich, granitgrau und schroff, mit dauerhaftem Schnee auf den Gipfeln.

»Hat nicht viel zu bieten, diese Gegend«, meinte Clayton.

»Wilde Natur«, pflichtete Martin bei. »Nicht für immer natürlich, aber bis jetzt schon.« Er legte eine Pause ein, dann fügte er hinzu: »Es gibt ein paar psychologische Studien und einige noch nicht ganz ausgewertete Befragungen, wonach die Menschen sich in der wilden Natur durchaus wohl fühlen und sie begrüßen, solange sich ihre Ausdehnung in Grenzen hält. Wir erklären bestimmte Gegenden zu staatlich geschützten Wäldern und Campingplätzen und überlassen sie dann mehr oder weniger sich selbst. Macht die Naturfreaks glücklich. Die Baugebiete rücken im Lauf der Zeit immer näher heran. Das wird hier auch passieren. In fünf Jahren. Vielleicht auch zehn.« Er machte eine ausladende Bewegung mit dem rechten Arm. »Da vorne beginnt der Holzfällerweg. Nur dass da natürlich nix mehr abgeholzt wird. Die Schlacht haben die Grünen gewonnen. Allerdings hält der Staat die Straße für Camper in Schuss. Tolle Gegend zum Angeln und Jagen hier oben. Und in annehmbarer Entfernung. Drei Stunden Fahrt von New Washington. Noch weniger von New Boston und New Denver aus. Hier soll eine völlig neue Geschäftsidee umgesetzt werden. Wie man hört, will man hier draußen rustikale Hütten bauen und Läden für Jagdbedarf und alles, was man zum Fliegenfischen braucht. Offenbar kann man eine Menge Geld verdienen, wenn man die Natur ein bisschen durchorganisiert.«

»So wurde sie gefunden, oder? Von zwei Anglern?«

Der Detective nickte. »Zwei Versicherungsmakler, die sich einen Tag freigenommen hatten, um wilde Regenbogenforellen zu angeln. Haben mehr gefunden, als sie dachten.«

Sie verließen den Highway, und plötzlich hüpfte und holperte der Wagen wie ein kleines Boot in einer kleinen Bucht mit Wellengang. Hinter ihnen wirbelte eine Staubwolke auf, und Steine prasselten wie Schüsse gegen den Unterboden des Autos. Vom Schütteln und Schaukeln wurden die Männer schweigsam. So fuhren sie vielleicht eine Viertelstunde weiter. Clayton wollte gerade fragen, wie weit es noch sei, als der Detective in eine kleine Ausweichbucht fuhr und stehen blieb.

»Die Leute lieben das«, wunderte sich Martin. »Ich kann’s nicht ausstehen, aber die Leute lieben das. Ich hätte die verdammte Straße geteert, aber die Psychologen sagen, dass viele dieses Gerumpel mit einem Hauch Abenteuer verbinden. Gibt ihnen das Gefühl, dass die dreißig Riesen, die sie für ihren Geländewagen mit Vierradantrieb hingeblättert haben, die Sache wert gewesen ist.«

Clayton stieg aus und entdeckte augenblicklich einen schmalen Trampelpfad, der durch Gebüsch und Baumgruppen führte. An der Stelle, an der der Pfad auf die Bucht traf, befand sich eine braune Plakette aus Holz und eine in Plastikfolie eingeschweißte Karte.

»Wir sind gleich da«, erklärte der Detective.

»Hier wurde sie gefunden?«

»Nein. Weiter drinnen. Vielleicht eine Meile. Vielleicht nicht ganz.«

Der Pfad zwischen den Bäumen war zu einer ordentlichen Schneise geschlagen worden und leicht begehbar. Er war gerade breit genug, dass zwei Männer nebeneinander gehen konnten. Sie liefen auf einem Bett aus braunen Nadeln. Gelegentlich hörten sie das leise Rascheln eines aufgeschreckten Eichhörnchens. Zwei Amseln protestierten lautstark und dissonant gegen die Eindringlinge, die sich auf ihrem Weg miteinander unterhielten.

Der Detective blieb plötzlich stehen. Im Schatten war es kühl, doch der schwere Mann schwitzte. »Hören Sie«, forderte er den Professor auf.

Clayton hielt ebenfalls an, konnte jedoch nur fernes Wasserrauschen hören.

»Der Fluss ist etwa fünfzig Meter von hier entfernt. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie begeistert die beiden gewesen sein müssen. Es ist zwar kein mühsamer Weg bis dahin, aber sie trugen hohe Wasserstiefel und schleppten ihre Angeln und Rucksäcke und all das Zeug. Und es war ziemlich warm, weit über zwanzig Grad. Man muss es mal von ihrer Warte aus sehen. Also sind sie ziemlich schnell gelaufen, um es hinter sich zu bringen, und haben wahrscheinlich unterwegs nicht viel auf die Umgebung geachtet.«

Der Detective deutete nach vorn, und Clayton ging voraus.

»Janet Cross«, murmelte Martin, der ihm auf den Fersen folgte. »So hieß das Mädchen.«

Mit jedem Schritt wurde das Rauschen lauter. Clayton trat durch eine letzte Gruppe von Bäumen und stand mit einem Mal an einer Uferböschung, knapp zwei Meter oberhalb der Stelle, wo das Wasser durch die Felsen und Gesteinsbrocken einer Stromschnelle toste. Der Fluss schien lebendig und geschmeidig. Es war schnelles Wasser, das wie ein wütender Gedanke mit Wucht durch eine schmale Felsspalte schoss. Die Sonne prallte an der Oberfläche ab und tauchte sie in ein Dutzend verschiedener Blaugrüntöne, gesprenkelt mit weißem Schaum.

Martin stand neben ihm.

»Blue Ribbon, das blaue Band der Extraklasse, nennen es die Angler. Hier wimmelt’s fast überall von Forellen. Nicht leicht an die Angel zu kriegen, hab ich mir sagen lassen, weil sie blitzschnell durchs Wasser zucken. Und wenn man von einem dieser Felsen abrutscht, na ja, das könnte hier draußen so richtig Probleme geben. Aber trotzdem eine tolle Stelle.«

»Die Leiche?«

»Die Leiche. Ja. Janet. Nettes Mädchen. Es sind immer nette Mädchen, nicht wahr, Professor? Einser-Schülerin. Wollte an die Uni. Außerdem sportlich, hab ich gehört. Wollte sich mit der frühkindlichen Entwicklung befassen.« Der Detective hob langsam den Arm und wies auf einen großen, flachen Felsen am Rande des Flusses. »Da drüben.«

Der Stein war mindestens drei Meter breit – wie eine Tischplatte, die sich in ihrer Richtung ein wenig nach unten bog. Jeffrey musste unwillkürlich denken, dass die Leiche wie in einem Bilderrahmen oder Passepartout gewirkt haben musste – wie eine kostbare Trophäe.

»Die beiden Angler – Gott, zuerst dachten sie, das Mädchen sonnte sich nackt. Nur der erste Eindruck, wissen Sie, denn da lag sie nun mal, ausgestreckt – wie haben wir es noch genannt? – gekreuzigt. Jedenfalls haben sie gerufen, keine Reaktion, also watet einer von ihnen raus und springt auf den Stein, den Rest wissen Sie ja.«

Martin schüttelte den Kopf. »Sie hat wohl die Augen offen gehabt. Sie waren von Vögeln herausgepickt. Aber sonst keine weitere Beeinträchtigung der Leiche durch Tiere. Außerdem minimale Verwesung; bis die Jungs sie fanden, hat sie vielleicht vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden dort gelegen. Glaube kaum, dass die dort noch viel angeln werden.«

Jeffrey senkte den Blick und stellte fest, dass an der Stelle, an der die Leiche entdeckt worden war, der Fels ganz nahe ans Ufer reichte und in einem Kiesbett ruhte, über dem das seichte Wasser nur dreißig Zentimeter tief war. Der Brocken ragte über einen Tümpel, an dessen Kopfende zwei größere Felsen die Wucht des brausenden Wassers hemmten und den wilderen Strom ans andere Ufer drängten, so dass das Wasser hinter der Steinplatte langsamer floss.

Er hatte nicht viel Ahnung vom Süßwasserfischen, konnte sich aber gut denken, dass der Fels ein beliebtes Anglerziel war. Von seinem hinteren Rand aus konnte man die Rute leicht über den Tümpel auswerfen. Dem Mann, der die Leiche an dieser Stelle abgelegt hatte, musste das aufgefallen sein.

»Als Sie die Umgebung untersucht haben …«

»Alles felsig. Fels und Wasser. Keine Fußabdrücke. Außerdem hatte es in der Nacht davor ein bisschen geregnet. Kein einziges Faserstück, das in irgendwelchen Dornen hängen geblieben wäre. Wir haben alles durchforstet, bis zum Parkplatz runter, buchstäblich durchkämmt. Auch Reifenspuren Fehlanzeige. Wir haben nichts weiter als eine Leiche, genau hier, als wäre sie vom Himmel gefallen.«

Martin starrte über den Fluss zu der Stelle. »Ich gehörte zu dem ersten Team, das hier eintraf, deshalb weiß ich mit Sicherheit, dass der Fundort unberührt war.«

Er schüttelte den Kopf. Seine Stimme war flach und ausdruckslos.

»Schon mal was gesehen, das Sie an einen Alptraum erinnert? Nicht irgendeinen Traum, den Sie mal hatten, oder eine Fantasievorstellung. Nicht mal eine von diesen seltsamen Déjàvu-Situationen, die jeder von uns schon mal hatte. Nein, ich stand genau hier, und ich fühlte mich in einen früheren Albtraum zurückversetzt, von dem ich gehofft hatte, er wäre längst abgehakt. Ich sah ihre ausgebreiteten Arme und ihre Beine übereinander gelegt und kein Blut oder sonstige Anzeichen für einen Kampf. Im selben Moment, noch während ich Luft holte, wusste ich, dass wir da absolut nichts finden würden, das uns weiterhelfen konnte. Und als ich rüberging, wusste ich auch, dass ihr ein Finger fehlte … und genau da, Professor, genau in dem Moment wusste ich, wer das gewesen ist.«

Die Stimme des Detective ging im Brausen der Wassermassen unter.

Jeffrey traute seiner eigenen Stimme nicht und war klug genug, sich eine besserwisserische Antwort zu verkneifen. Er sah, wie Martin auf den flachen Felsen starrte, und er wusste, dass der Detective das Mädchen vor seinem geistigen Auge dort so deutlich liegen sah wie an dem Tag, als sie gefunden wurde.

»Er wollte, dass sie gefunden wird«, sagte Clayton.

»Der Gedanke kam mir auch«, erwiderte Martin langsam.

»Aber wieso hier?«

»Gute Frage. Er muss einen Grund gehabt haben.«

»In der Wildnis, andererseits nicht wirklich verborgen. Hier draußen hätte er eine Stelle finden können, an der sie nie entdeckt worden wäre. Oder erst zu einem Zeitpunkt, an dem von ihr nur noch Skelettreste übrig geblieben wären. Gott, er hätte sie in den Fluss werfen können – aus forensischer Sicht wäre das noch plausibler gewesen –, wenn es ihm darum gegangen wäre, jede verräterische Beziehung zwischen ihm und seinem Opfer auszumerzen. Stattdessen hat er sie hierher geschleppt, eine ganz schöne Wuchterei, egal, wie stark er sein mag und wie klein sie war. Nur um uns ihre Leiche auf dem Silbertablett zu servieren.«

»Vermutlich ist er um einiges stärker, als er äußerlich scheint«, überlegte Jeffrey. »Was hat sie gewogen – um die fünfundfünfzig Kilo?«

»Sie war zart gebaut. Dünn und zart. Fünfundfünfzig ist eher zu hoch gegriffen.«

Jeffrey dachte laut: »Er hat sie diesen Pfad entlang eine Meile weit getragen und sie dann dort abgelegt, weil er wollte, dass sie genau so gefunden würde. Er wollte sie nicht einfach nur loswerden. Das war eine Botschaft.«

Martin nickte. »Den Eindruck hatte ich auch. Aber es wäre nicht allzu klug gewesen, das laut zu sagen. Politisch klug, meine ich.« Er verschränkte die Arme und starrte auf den flachen Fels mit den Wasserstrudeln an seinen Rändern.

Jeffrey stimmte der Einschätzung des Detective zu. Ihm kam der Ausspruch eines berühmten Politikers in Massachusetts in den Sinn, wonach Politik immer eine lokale Angelegenheit ist, und er fragte sich, ob dasselbe wohl für Mord galt. Er fing an, den Fundort innerlich zu sondieren und zu speichern, zu addieren und zu subtrahieren, um herauszufinden, was er über einen Mann zu sagen hatte, der eine Leiche eine Meile weit durch den leeren Wald trägt, nur um sie auf einem Podest zu arrangieren, wo sie binnen ein, zwei Tagen gefunden werden würde.

Auch wenn er es nicht aussprach, dachte er doch: Ein sorgfältiger Mann. Ein Mann, der plant und seine Pläne dann präzise und selbstbewusst in die Tat umsetzt. Ein Mann, der ganz genau weiß, welche Wirkung er erzielt. Ein Mann, der sich in der akribischen Ermittlerarbeit ebenso gut auskennt wie in der Forensik, denn er weiß, dass er nichts von seiner Person beim Opfer zurücklassen darf. Er hinterlässt ein Statement und keine Spuren.

Weiterhin im Stillen fügte er hinzu: Ein gefährlicher Mann.

»Die beiden, die sie gefunden haben … was hatten die für einen Eindruck?«

»Wir haben ihnen gesagt, es wäre Selbstmord. Das Ganze hat sie ziemlich mitgenommen.«

In dem Moment ertönte der Pieper am Gürtel des Detective. Inmitten von Bäumen und plätscherndem Wasser klang das Geräusch wie von einem anderen Stern. Martin starrte mit einem seltsamen Blick darauf, als könne er nicht so leicht aus seinen Erinnerungen auftauchen. Dann schaltete er das Gerät aus und zog mit ein und derselben Handbewegung ein Mobiltelefon aus seiner Jacketttasche. Er tippte rasch eine Nummer ein, wies sich rasch aus, und hörte dann aufmerksam zu. Er nickte.

»In Ordnung«, erklärte er. »Schon unterwegs. Anderthalb Stunden, schätze ich.« Er ließ das Telefon zuschnappen. »Zeit, aufzubrechen«, meinte er. »Sie haben unsere Ausreißerin gefunden.«

Jeffrey sah, dass die Brandnarben an der Kehle des Detective rot geworden waren. »Wo?«, fragte er.

»Werden Sie gleich sehen.«

»Und?«

Martin zuckte in einer bitteren Geste die Achseln. »Ich sag doch, sie haben sie gefunden. Ich hab nicht behauptet, sie wär zur Tür hereinspaziert und den wütenden, doch überglücklichen Eltern in die Arme gefallen.«

Er drehte sich um und machte sich zügig auf den Weg zurück zum Parkplatz, wo ihr Auto stand. Clayton hastete hinterher und hörte, wie das Wasserrauschen hinter ihm allmählich leiser wurde.

 

Der Professor sah die Scheinwerfer mindestens eine Meile im Voraus. Ihr grelles Licht schlug Schneisen in die Dunkelheit. Er kurbelte die Scheibe herunter und hörte den beharrlichen Missklang von Generatoren, der die Nacht erfüllte. Sie waren schnell gefahren und hatten ein wüstenartiges Gelände durchquert, um im Westen das Grenzgebiet nach Kalifornien zu erreichen. Während der ganzen Fahrt sprach der Detective kaum ein Wort – bis auf die kurze Bemerkung, dass sie erneut in eine noch wenig entwickelte Gegend des neuen Staates fuhren. Die Topographie hatte sich allerdings geändert; statt felsiger Berge und endloser Wälder empfing sie flaches Buschland. Es war eine Gegend im Westen, die Schriftsteller beflügelt hätte, dachte Clayton. Für sein ungeübtes Ostküstenauge schien es allerdings, als wäre Gott bei der Erschaffung der Erde ein Weilchen nicht ganz bei der Sache gewesen, während er dieses Terrain formte.

Einige hundert Meter von den Generatoren und Scheinwerfern entfernt befand sich eine einsame Straßensperre. Ein Mann von der Staatssicherheit in der Uniform eines Verkehrspolizisten, der neben einer Reihe orangefarbener Leitbaken und einigen Lichtsignalen stand, winkte sie zunächst an die Seite, und als er den roten Aufkleber in der Windschutzscheibe sah, gleich weiter.

Agent Martin hielt trotzdem an. Er kurbelte sein Fenster herunter und fragte: »Was sagen Sie den Leuten?«

Der Polizist nickte, legte zum Gruß die Hand an die Krempe seines Uniformhuts und antwortete: »Ein Rohrbruch einer Hauptwasserleitung hat die Straße überschwemmt. Wir dirigieren den Verkehr großräumig bis zur Route 60 um. Zum Glück waren es bis jetzt erst ungefähr ein Dutzend Fahrzeuge.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Zwei Landvermesser. Sind noch da.«

»Wohnen sie im Bundesstaat oder sind es Gastarbeiter?«

»Gastarbeiter.«

Martin nickte und fuhr weiter. »Halten Sie den Mund«, wies er Clayton an. »Ich meine, wenn ich bitten darf. Sie können Fragen stellen, wenn’s sein muss, Ihre Arbeit machen. Aber verhalten Sie sich unauffällig. Ich möchte nicht, dass irgendjemand fragt, wer Sie sind. Falls es doch jemand tut, werde ich einfach sagen, Sie seien ein Spezialist. Die Beschreibung stellt die meisten zufrieden, auch wenn sie im Grunde nicht allzu viel besagt.«

Jeffrey antwortete nicht. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, und wenig später hielt der Detective hinter zwei weiß glänzenden Transportern, die jeweils nur mit dem Logo der Staatssicherheit gekennzeichnet waren. Jeffrey warf einen Blick auf die Lkw und erkannte sofort, worum es sich dabei handelte: zwei Teams der Spurensicherung. In einem Bundesstaat allerdings, in dem nach offizieller Lesart keine Verbrechen passierten, gaben sie sich natürlich nicht als solche zu erkennen.

Er musste schmunzeln. Ein bisschen scheinheilig, zweifellos, doch dafür hatte er Verständnis. Er war sich ziemlich sicher, dass es im Einundfünfzigsten Bundesstaat mehr davon gab, als er bis jetzt mitbekommen hatte. Er stieg aus. Die Nacht war ein wenig kalt, und er schlug den Kragen seiner Jacke hoch.

Ein weiterer Verkehrspolizist machte ihnen Zeichen. »Da lang, vierhundert Meter weiter«, erklärte er und deutete auf die Stelle mit den Lichtern.

Martin marschierte zielstrebig los, und Clayton ging in Laufschritt über, um mitzuhalten.

Die Reihen starker Bogenlampen schnitten einen Lichtschacht in die Dunkelheit. Jeffrey sah augenblicklich, dass innerhalb des ausgeleuchteten Terrains verschiedene Teams arbeiteten. Er zählte allein drei Gruppen, die den Sand- und Felsboden nach Fasern, Fußabdrücken, Reifenspuren oder anderen Indizien absuchten, um die Fährte des Mannes aufzunehmen, der vor ihnen hier lang gekommen war. Ein Weilchen sah er ihnen zu wie ein Trainer, der mögliche Neuzugänge für seine Mannschaft taxierte. Sie waren zu schnell. Es fehlte ihnen an Geduld. Und vermutlich auch an Erfahrung. Falls es etwas gab, das man leicht übersehen konnte, dann würde es ihnen entgehen. Er drehte sich um und entdeckte ein weiteres Team, das sich um die Leiche scharte und ihm zunächst den Blick darauf verstellte. Diese Gruppe drängte sich auf einem kleinen, staubigen Plateau. Ein Mann, der trotz der frischen Luft nur ein Hemd trug, beugte sich über das Mädchen, und seine weißen Latexhandschuhe glühten auf wie Geisterhände, wenn sich das Licht der Scheinwerfer darin fing. Jeffrey ging davon aus, dass dies der Gerichtsmediziner war.

Er schloss sich Detective Martin an, der das nähere Umfeld inspizierte. Ein einziger bitterer Gedanke blitzte in ihm auf: Ich hätte damit rechnen müssen. Vielleicht habe ich sogar damit gerechnet.

Im Laufen schüttelte er den Kopf. Sie werden nichts finden, sagte er stumm.

Die Agenten der Staatssicherheit machten Platz, um die beiden Männer durchzulassen, und Clayton erhaschte im selben Moment den ersten Blick auf die Leiche, als dem Detective eine kurze, kernige Obszönität entfuhr.

Das junge Mädchen war nackt. Sie war auf einer weitläufigen, schottergedeckten Fläche zurückgelassen worden. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, die Arme vor sich ausgestreckt, die Knie unter dem Körper angewinkelt. Ihre Körperstellung erinnerte Jeffrey daran, wie Muslime sich zu Boden werfen, wenn sie gen Mekka beten. Ihm fiel auf, dass sie tatsächlich nach Osten ausgerichtet lag.

Er schaute genauer hin und sah, dass ihr auf dem entblößten Rücken etwas in die Haut eingeritzt war. Post mortem, erkannte er; rund um die Schnitte war kein Blut. Überhaupt gab es wenig Blut, lediglich einen kleinen dunklen Fleck, der sich unter der Brust des Mädchens gesammelt hatte, ein Todesrückstand und, wie er wusste, lediglich der letzte Ausfluss ihrer Schändung. Sie war an einem anderen Ort getötet und dann hierher geschafft worden.

Er warf einen Blick auf ihre Hände und sah, dass ihr der Zeigefinger der linken Hand fehlte – nicht der rechten wie bei den anderen Opfern, sondern der linken. Unwillkürlich zog er die Augenbrauen hoch. Er konnte nicht auf Anhieb sagen, welcher Schaden der Leiche sonst noch zugefügt worden war. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen; es war unter ihren ausgestreckten Armen in den Schotter gedrückt.

Unterwerfung, dachte er. Martin deutete auf den Rumpf des Mädchens und fragte einen der Forensiker: »Die Todesursache? Woran ist sie gestorben?«

Der Mann beugte sich herunter und zeigte auf eine kleine rote Stelle an der Schädelbasis, wo ihr langes, dunkelblondes Haar blutverfilzt war.

»Einschusswunde«, erklärte der Mann. »Werden sehen, wo sie auf der anderen Seite rausgekommen ist. Sieht ziemlich groß aus. Jedenfalls groß genug. Wahrscheinlich neun Millimeter. Vielleicht Kaliber .357. Sobald wir sie umdrehen, wissen wir mehr. Vielleicht steckt die Kugel noch.«

Jeffrey starrte erneut auf die eingeritzte Figur auf ihrem Rücken und erkannte, was es war. Wegen der starken Lampen war ihm warm, ja heiß. Er wäre am liebsten ins Dunkel getreten, wo es kühler war und er das Gefühl hatte, Luft zu bekommen. Er entfernte sich ein Stück von der Leiche, dann sah er sich wieder zu den Männern um, die dort in der Runde standen. Er ging in die Hocke, berührte den sandigen Boden und rieb etwas davon zwischen den Fingern. Als er den Kopf hob, sah er Martin herüberkommen.

»Nicht unser Mann, gottverdammt«, fluchte der Detective. »Jesus, was für eine Schweinerei. Muss wohl ein Freund gewesen sein oder auch der Nachbar, auf dessen Kinder sie aufgepasst hat, oder ein Perverser an ihrer Schule, der Sport unterrichtet oder als Hausmeister arbeitet und irgendwie durch die Maschen der Einwanderungskontrollen geschlüpft ist, gottverdammt, oder sonst wer, aber nicht unser Mann. Scheiße! So was darf nicht passieren! Nicht hier. Jemand hat hier ordentlich Scheiße gebaut.«

Jeffrey lehnte sich rücklings gegen einen großen Stein. »Wieso meinen Sie, es sei nicht unser Mann?«, wollte er wissen.

Martin starrte ihn einen Moment lang düster an, dann antwortete er: »Verflucht, Professor, haben Sie keine Augen im Kopf? Die Körperstellung ist anders. Die Todesursache, Erschießen, ebenfalls anders. Etwas, das in ihren Rücken geschnitten ist, wieder anders. Und ihr gottverdammter Finger. An der falschen Hand. Bei den anderen drei war es die rechte, hier ist es links.«

»Aber woanders getötet und dann hierhergebracht. Was haben die Landvermesser gerade gemacht, als sie sie fanden?« Martin zog für einen Moment die Stirn in Falten, dann berichtete er: »Erste Vermessungen für eine neue Stadt. Das war ihr erster Tag hier oben. Sie waren seit heute Morgen dran, wollten gerade Feierabend machen und beschlossen, noch ein paar Grundstücke durchzugehen, als sie auf die Leiche stießen. Der eine hat sie durch den Sucher entdeckt. Und?«

»Irgendwo gibt es einen Zeitplan, richtig? Oder irgendetwas, aus dem hervorging, dass die Männer früher oder später hier sein würden, ja?«

»Sicher. Es stand in der Zeitung. Immer eine Schlagzeile wert, wenn eine neue Stadt in Planung geht. Außerdem kommt es in die elektronischen Anzeigetafeln.«

»Wissen Sie, was das ist, das auf ihrem Rücken?«, fragte Clayton.

»Keine Ahnung. Irgendeine geometrische Form.«

»Ein Pentagramm.«

»Na schön, ein Pentagramm. Und?«

»Wird gewöhnlich mit Satan und Satanskult assoziiert.«

»Mensch, Sie haben recht. Glauben Sie, dass wir einen verrückten Hexenkult haben, der hier draußen sein Unwesen treibt? Typen, die nackt den Mond anbeten, es alle miteinander treiben und sich darüber austauschen, wie sie Hühnern und Katzen den Kopf abhacken? So ’nen Schwachsinn, wie sie ihn in Südkalifornien haben? Mehr will ich gar nicht wissen.«

»Nein. Auch wenn der Mörder möglicherweise, nein, höchst wahrscheinlich davon ausgehen wird, dass Sie es mit so etwas in Verbindung bringen. Etwas, das Sie viel Zeit und Energie kosten wird, um es zu überprüfen. Sehr viel Zeit und sehr viel Energie.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Professor?«

Jeffrey zögerte und starrte in den Himmel. Er blinzelte in die endlose blauschwarze, sternenübersäte Weite. Ich sollte mich mit Astronomie befassen, dachte er. Wäre schön zu wissen, wo Orion ist und wo Kassiopeia und all die anderen Sternbilder. Dann könnte ich nachts in den Himmel schauen und hätte das Gefühl, ich würde mich auskennen, als herrschte eine Ordnung im All.

Er senkte den Blick und sah den Detective an. »Es ist unser Mann«, sagte Jeffrey. »Er ist allerdings clever.«

»Überzeugen Sie mich.«

»Die anderen waren Engel, sie hatten die Augen geöffnet, sozusagen auf Gott gerichtet und die Arme weit ausgebreitet, um ihn zu begrüßen. Diese hier hat das Zeichen Satans auf dem Rücken, und sie betet mit dem Gesicht zur Erde. Ihr Finger fehlt links. Die Linke ist die Hand des Teufels, die Rechte die des Himmels. Jedenfalls in einigen Traditionen. Er hat lediglich ein paar Dinge herumgedreht. Es ist im Prinzip dasselbe, nur ins Gegenteil gewendet. Himmel und Hölle. Ist das nicht die Dichotomie, mit der wir ständig kämpfen? Ist das nicht genau das, was Sie hier im Moment zu vermeiden suchen?«

Martin schnaubte verächtlich. »Klingt nach einer Menge religiösem Kokolores«, gab er zurück. »Sozioreligiöser Quark. Dann sagen Sie mir doch bitte schön auch, weshalb er es diesmal mit ’ner Pistole und nicht mit dem Messer gemacht hat?«

»Weil nicht das Töten als solches ihm den Kick verschafft«, erklärte Jeffrey kalt. »Ich glaube, es ist ihm ziemlich egal, mit welcher Waffe er die jungen Frauen umbringt. Es geht ihm um den ganzen Akt. Das Kind zu stehlen und es zu besitzen, physisch, emotional und psychologisch, und sie anschließend an eine Stelle zu bringen, an der sie gefunden werden muss. Reizt es etwa einen Maler, ein Bild zu malen und es dann niemandem zu zeigen? Oder einen Autor, ein Buch zu schreiben und es dann keinem Menschen zum Lesen zu geben?«

Noch eine Frage kam ihm in den Sinn: Wie kann man in die Geschichte eingehen, wenn so viele andere im Laufe so vieler Jahrhunderte mehr oder weniger auf dieselbe Weise in die Annalen eingegangen sind?

»Woher wollen Sie das wissen?«, wiederholte Martin mit Nachdruck seine Frage. »Wie können Sie so sicher sein?«

Ich weiß es eben, sagte Jeffrey langsam in Gedanken.

Detective Martin blieb er eine Antwort schuldig.

 

Es war nach Mitternacht, als Martin Clayton mit den üblichen spätabendlichen Floskeln vor dem Gebäude der Bundesstaatsregierung absetzte: »Schlafen Sie erst mal ’ne Runde, morgen früh legen wir los.« Dann fuhr Martin weiter und ließ den Professor vor dem Betonklotz stehen. Die umliegenden Gebäude, die als Firmensitze dienten, waren über Nacht alle geschlossen und bis auf die eine oder andere Beleuchtung eines Logos dunkel. Die Parkplätze waren verwaist; aus der Ferne schimmerten die Lichter von New Washington herüber, doch selbst dieses Zeichen menschlicher Gegenwart ging in der Stille unter, die den Professor einhüllte. Er zog einmal heftig die Schultern hoch – teils gegen die Kälte, die ihm schon den ganzen Abend zugesetzt hatte, vor allem aber gegen das Gefühl der Isolation, das ihn überwältigte.

Er kehrte der Dunkelheit den Rücken und marschierte zügig durch die Tür des Regierungsgebäudes. In der Mitte der Eingangshalle befand sich eine Loge des Wachdienstes, die von einem einzigen Beamten in Uniform besetzt war. Sein Gesicht wurde hinter dem großen Schreibtisch vom bleichen Schimmer eines kleinen Fernsehmonitors erleuchtet. Er winkte Clayton zu.

»Spät geworden, wie?«, rief er, ohne eine Antwort zu erwarten. »Woll’n Sie hier bitte unterschreiben?«

»Wer gewinnt?«, fragte Jeffrey. Das Formular, das der Mann ihm reichte, war leer. Keine anderen Besucher nach Büroschluss. Auf dem Blatt würde nur sein Name stehen.

»Gleichstand«, antwortete der Mann. Er verriet ihm nicht, wer gegen wen spielte, sondern wandte sich, nachdem er das Klemmbrett wieder an sich genommen hatte, erneut dem Bildschirm zu.

Jeffrey überlegte einen Moment, ob er sich mit dem Mann ein wenig unterhalten sollte, taxierte dann aber den Grad seiner Erschöpfung und kam zu dem Schluss, dass er – egal wie einsam er sich fühlte – lieber ein paar Stunden schlafen sollte, als die Meinung des Wachmanns über Sport, Dienst und das Leben im Allgemeinen zu erfahren. Er schlurfte zum Fahrstuhl, stieg auf dem Geschoss mit seinem Büro aus und ging langsam den leeren Flur entlang, in dem seine Schritte widerhallten.

Er legte die Hand auf das elektronische Sicherheitsschloss, und die Tür sprang mit einem dumpfen Klicken auf. Jeffrey trat ein, um sofort in das angrenzende Schlafzimmer weiterzugehen und nach allem, was er an diesem Tag gesehen und gehört hatte und was er zu wissen glaubte, einen klaren Kopf zu bekommen. Er nahm sich vor, vieles davon schriftlich festzuhalten; es war wichtig, seine Beobachtungen und Überlegungen in einer Art Tagebuch zu notieren, so dass er, wenn sie genügend Material in Händen hatten, um damit vor Gericht gehen zu können, seine gesamte Arbeit schwarz auf weiß vor sich hatte. Außerdem, so fiel ihm ein, musste er ein paar ergänzende Informationen auf die Tafel schreiben. Er dachte an die zwei Spalten, die er angefangen hatte, und auf dem Weg zum Bett spähte er noch einmal über die Schulter zu seiner Tafel.

Er blieb ruckartig stehen.

Er sackte mit dem Rücken an die Wand und schnappte nach Luft.

Er schaute in alle Richtungen, um zu sehen, ob etwas fehlte, dann starrte er erneut die Kreidetafel an. Das muss irgendein dummer Zufall sein, dachte er. Vielleicht eine Putzkolonne. Bestimmt gibt es irgendeine simple Erklärung dafür.

Doch außer der naheliegenden fiel ihm keine ein.

Jeffrey pfiff langsam durch die Zähne. Nichts ist sicher, gestand er sich ein.

Er blieb mehrere Minuten lang stehen und betrachtete die leere Hälfte der Tafel. Die Rubrik Falls uns der Mörder nicht bekannt ist war ausgewischt.

Langsam und behutsam, als tappte er durch einen dunklen Raum und versuchte, nicht zu stolpern, näherte er sich der Tafel. Er nahm ein Stück Kreide zur Hand und kämpfte gegen den Tumult in seinem Kopf an, während er sorgfältig jedes Wort ersetzte, das gelöscht worden war, und dabei nur einen klaren Gedanken fassen konnte: Außer dir und mir muss niemand erfahren, dass du hier gewesen bist.