14. KAPITEL
Eine interessante historische Figur
Ein weiteres Mal führte Agent Martin Clayton durch das nüchterne Labyrinth der Bürokabinen im Hauptquartier der Staatssicherheit des Einundfünfzigsten Bundesstaats. Ihr Erscheinen sorgte für einigen Wirbel; die Leute, die an ihren Schreibtischen saßen und telefonierten oder auf ihre Monitore blickten, hielten in dem, was sie gerade machten, inne und sahen den beiden Männern hinterher, so dass sie eine Woge plötzlicher Stille begleitete. Jeffrey vermutete, dass der Fehlschlag ihrer Razzia in dem leeren Haus sich schon herumgesprochen hatte. Vielleicht hatten die Leute auch inzwischen erfahren, weshalb er wirklich im neuen Staat war, was ihn, wenn schon nicht gerade zu einer Berühmtheit, so doch zumindest interessant machte. Er spürte die Augen in seinem Rücken.
Die Sekretärin, die den Eingang zur Direktorensuite bewachte, sagte nichts, sondern winkte sie durch.
Wie beim letzten Mal saß Martins Vorgesetzter hinter seinem Schreibtisch und wiegte sich leicht auf seinem Stuhl. Er hatte die Ellbogen auf die glänzende Holzfläche gestützt, die Fingerspitzen zusammengelegt und den Oberkörper vorgebeugt, was ihm auch diesmal ein raubtierartiges Erscheinungsbild verlieh. Rechts von Jeffrey saßen auf dem Sofa die beiden anderen Männer ihres ersten Treffens: der ältere, kahlköpfige Mann, beim letzten Mal Bundy genannt, der seine Krawatte gelockert hatte und dessen Anzug ein wenig zerknittert wirkte, als hätte er auf der Couch geschlafen; und der wie aus dem Ei gepellte jüngere Mann aus dem Büro des Gouverneurs, dem Jeffrey den Spitznamen Starkweather verpasst hatte. Der Jüngere wich seinem Blick aus, als er hereinkam.
»Guten Morgen, Professor«, begrüßte ihn der Direktor.
»Guten Morgen, Mr. Manson«, erwiderte Jeffrey.
»Hatten Sie schon einen Kaffee? Etwas zu essen?«
»Danke, alles bestens«, lehnte Jeffrey ab.
»Gut, dann können wir also gleich zur Sache kommen.« Manson wies auf die beiden Stühle, die vor dem breiten Mahagonischreibtisch standen, und lud sie wie beim letzten Mal mit einer stummen Geste ein, Platz zu nehmen. Jeffrey legte sich auf dem Schoß ein paar Papiere und Notizen zurecht, dann sah er den Direktor an.
»Ich bin froh, dass Sie heute Morgen herkommen konnten, um uns hinsichtlich Ihrer Fortschritte auf den neuesten Stand zu bringen«, begann Manson, um augenblicklich von Starkweather unterbrochen zu werden, der murmelte: »Oder auch mangelnden Fortschritte«, was ihm einen bösen Blick des Direktors einbrachte. Wie zuvor saß Agent Martin unerschütterlich auf seinem Stuhl und wartete auf eine Frage, bevor er den Mund aufmachte – der gesunde Selbsterhaltungstrieb eines erfahrenen Beamten.
»Oh, ich glaube, das ist nicht ganz fair, Mr. Starkweather«, wies ihn der Direktor zurecht. »Ich denke, der gute Professor weiß inzwischen wesentlich mehr als bei seiner Ankunft …«
Jeffrey nickte.
»Es geht für uns darum, wie wir uns die Kenntnisse des Professors am besten zunutze machen können. Wie können sie uns weiterhelfen? Welchen Vorteil ziehen wir daraus? Habe ich recht, Professor?«
»Ja«, erwiderte er.
»Und ich vermute, dass wir zumindest eine wichtige Klärung herbeigeführt haben, nicht wahr, Professor?«
Jeffrey zögerte, räusperte sich und nickte wieder. »Ja«, bestätigte er vorsichtig. »Es sieht so aus, als ob unsere Zielperson tatsächlich mit mir verwandt ist.« Das Wort Vater brachte er nicht über die Lippen, während Mr. Bundy da weniger Skrupel kannte:
»Der kranke Bastard, der uns den ganzen Laden durcheinanderbringt, ist also Ihr Vater!«
Jeffrey drehte sich halb zur Seite. »Einiges spricht dafür. Wenn es auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht auszuschließen ist, dass es sich um ein äußerst geschicktes Täuschungsmanöver handelt. Das heißt, jemand, der mit meinem Vater sehr vertraut war und Einzelheiten von ihm weiß, die er nur von ihm selbst haben konnte. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein solches Täuschungsmanöver handelt, äußerst gering.«
»Und außerdem, wozu sollte das jemand tun?«, fragte Manson. Er hatte eine beruhigende, gelassene Stimme, wie ein synthetisches Schmiermittel, die sich deutlich von der polternden und hektischen Sprechweise der anderen beiden Staatsvertreter abhob. Jeffrey schätzte, dass ein Mann mit solcher Selbstbeherrschung eine bemerkenswerte Persönlichkeit war. »Ich meine, wozu sollte jemand zu einer solchen Täuschung greifen? Welchen Zweck könnte er damit verfolgen? Nein, ich denke, wir können mit ziemlicher Sicherheit da von ausgehen, dass der Professor zumindest schon einmal die erste Aufgabe, die wir ihm anvertraut haben, gemeistert hat: Er hat korrekt den Urheber unserer Probleme ermittelt.«
Manson schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: »Meinen Glückwunsch, Professor.«
Jeffrey nickte, auch wenn ihm auf der Zunge lag, dass der Urheber ihrer Probleme umgekehrt ihn ausfindig gemacht hatte, womit sie wohl auch gerechnet haben müssten, nachdem sie seinen Namen und sein Bild so auffällig in der Zeitung positioniert hatten. Er verkniff sich die Bemerkung.
»Ich dachte, er ist hier, um den Hurensohn zu finden, damit wir ihn uns vornehmen können«, warf Starkweather ein. »Die Glückwünsche können warten, bis es so weit ist.«
Der zerknitterte Bundy beeilte sich, noch eins draufzusetzen: »Verstehen und Fortschritt sind nicht dasselbe. Mich interessiert nur, ob wir dem Mann so weit näher gekommen sind, dass wir ihn verhaften und uns um andere Dinge im Leben kümmern können. Eines ist wohl unbestreitbar, meine Herren: Je länger sich die Sache hinzieht, desto stärker ist unser aller Zukunft bedroht.«
»Sie meinen sicher Ihrer aller politische Zukunft?«, hakte Jeffrey mit einem sarkastischen Unterton nach. »Oder auch Ihre finanzielle Zukunft. Natürlich läuft beides vermutlich auf ein und dasselbe hinaus.«
Bundy rutschte auf dem Sofa umher und lehnte sich irritiert nach vorn, um etwas zu erwidern, als Manson die Hand hob. »Ich darf doch bitten, meine Herren, das hatten wir alles schon mindestens ein halbes Dutzend Mal.« Er wandte sich Clayton zu, während er zugleich einen altmodischen Brieföffner vom Schreibtisch nahm, ein schönes Stück mit geschnitztem Holzgriff, in dessen Klinge die Sonne aufblitzte. Manson drückte sich die scharfe Kante in die Hand, als wollte er testen, wie gut sie geschliffen war. »Wir konnten nie davon ausgehen, dass dies eine leichte Verhaftung wird, selbst mit der kompetenten Unterstützung des Professors. Und es wird auch schwierig bleiben, trotz allem, was wir inzwischen wissen. Selbst hier, wo uns das Gesetz so viele Vorteile verschafft. Doch immerhin sind wir in kürzester Zeit ein gutes Stück vorangekommen. Nicht wahr, Professor?«
»Ich denke, das ist korrekt.«
Manson lächelte und zuckte mit einem Blick auf die beiden anderen Männer die Achseln. »Diese Ermittlungen, Professor … können Sie sich an eine ähnliche Fahndung erinnern, an eine, die in die Geschichte eingegangen ist? Die in der Literatur über diese Art von Mördern vermerkt ist? Oder auch in einer der vielen FBI-Akten, mit denen Sie so vertraut sind?«
Jeffrey hüstelte und dachte angestrengt nach. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet, und er fühlte sich wie einer seiner Studenten, die aus heiterem Himmel mündlich abgefragt werden.
»Ich erkenne tatsächlich Elemente aus anderen Fällen wieder – berühmten Fällen. Angeblich hat sich Jack the Ripper an die Polizei und die Presse gewandt. David Berkowitz hat als »Son of Sam« Nachrichten geschickt. Ted Bundy – nicht bös gemeint, Mr. Bundy – besaß die Gabe eines Chamäleons, er konnte mit seiner Umgebung regelrecht verschmelzen, und erst als seine Zwänge überhandnahmen, konnte er verhaftet werden. Sicher würden mir noch andere einfallen …«
»Aber die Übereinstimmung würde sich auf einzelne Elemente beschränken, richtig?«, wollte Manson wissen. »Kommt Ihnen irgendein Fall von einem Mörder in den Sinn, der seine Identität preisgegeben hat – noch dazu gegenüber seinem eigenen Kind?«
»Ich wüsste kein einziges Beispiel, wo das Kind eines Mörders bei der Jagd nach ihm benutzt worden wäre, nein. Allerdings gibt es in der Geschichte einige … nun ja, Beziehungen, die zwischen dem Mörder und den polizeilichen Fahndern oder auch mit der Presse, die ihm zu Berühmtheit verhalf, entstanden sind …«
»Das ist aber nicht genau das, womit wir es zu tun haben, nicht wahr?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Und was schließen Sie daraus, Professor?«
»Eine ganze Menge. Eine Neigung zur Großspurigkeit. Ein gehöriger Egoismus. Vor allem aber sagt es mir, dass unsere Zielperson sich in ein vielschichtiges Gespinst aus Fehlinformationen hüllt, die dazu dienen, die Verbindung zwischen dem, was er einmal war, und dem, was er gegenwärtig ist, zu verschleiern. Und wenn ich sage, ist, dann meine ich nur seine derzeitige Identität, also seine berufliche Stellung, seinen Wohnsitz, sein äußeres Leben. Im Kern hat sich seine Persönlichkeit nicht geändert. Oder falls doch, dann zum Schlimmeren. Nach außen hin wird er sich verändert haben. In sozialer Hinsicht – ich meine, er ist nicht mehr der Geschichtslehrer, den ich mit neun Jahren kannte. Und auch physisch. Ich vermute, dass sich sein Erscheinungsbild verändert hat. Und er geht offenbar davon aus, dass das, was er bisher getan hat, nicht das geringste Risiko für ihn birgt, er muss sich ganz und gar sicher fühlen.«
Er überlegte und fügte dann hinzu: »Das Wort Arroganz drängt sich einem auf.«
»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?«, platzte Bundy heraus. »Dieser kranke Bastard mordet einfach so weiter, und wir sehen hilflos zu! Wenn das rauskommt, können wir einpacken! Die Leute werden den Staat scharenweise verlassen. Es wird wie der Goldrausch sein, nur in umgekehrter Richtung.«
Das Ganze dreht sich nur ums Geld, dachte Jeffrey. Sicherheit ist Geld. Welchen Preis bezahlen die Leute dafür, von zu Hause weggehen zu können, ohne die Alarmanlage einschalten oder auch nur die Türen abschließen zu müssen?
Stille senkte sich über den Raum, bis Jeffrey sagte: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute Ihnen noch lange abkaufen, ihre jugendlichen Kinder würden von Wölfen verschleppt.«
Starkweather schnaubte. »Sie werden glauben, was wir ihnen erzählen«, antwortete er trotzig.
»Oder von wilden Hunden angefallen. Beim Wandern ums Leben gekommen. Gehen Ihnen nicht allmählich die plausiblen Erklärungen aus? Oder die auch nur halbwegs plausiblen Erklärungen?«
Starkweather gab ihm nicht direkt eine Antwort, sondern sagte stattdessen: »Diese blödsinnigen Hundegeschichten sind mir immer auf den Geist gegangen.«
»Wie viele Tötungsdelikte hat es gegeben?«, fragte Jeffrey mit leiser Stimme. »Ich habe Hinweise auf über zwanzig gefunden. Wie viele sind es?«
»Wann haben Sie das gemacht?«, platzte Martin heraus. Clayton zuckte nur die Achseln.
Es herrschte wieder Schweigen im Raum.
Manson drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl hin und her und machte dabei ein leise quietschendes Geräusch, während er aus dem Fenster starrte und die Fragen im Raum stehen ließ. Jeffrey hörte, wie Martin ein Schimpfwort murmelte, und vermutete, dass es ihm galt.
»Wir wissen nicht genau, wie viele«, antwortete Manson schließlich, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Es könnten nur drei oder vier sein. Vielleicht auch zwanzig oder dreißig. Ist die Zahl denn wirklich so wichtig? Die Verbrechen passen nicht aufgrund aller Einzelheiten zusammen, sondern weil sich die Opfer und die Art, wie sie entführt wurden, ähneln. Sie sehen zweifellos, Professor, in was für einer einmaligen Situation wir uns befinden. Serienmörder erkennt man entweder an dem, was ihr Interesse weckt, oder an den Folgen ihrer Perversion. Dieses zweite Kriterium hat uns zu Ihnen geführt und zu unseren Schlussfolgerungen aus dem Auffinden der drei Leichen, die so übereinstimmend und provokativ mit gespreizten Gliedmaßen zurückgelassen wurden. Aber dann sind da noch all die anderen Vermissten, die auf so ähnliche Weise verschwunden sind. Wenn allerdings ihre Leichen wieder auftauchten, ich sage, wenn, dann waren sie sehr unterschiedlich … hergerichtet. Wie diese letzte, die Sie für das Werk desselben Mannes halten, während andere …« Ohne seinen Stuhl zu bewegen, warf er über die Schulter einen Blick auf Agent Martin. »… Ihnen nicht zustimmen können. Diese junge Frau verschwand auf ähnliche Weise, wurde dann aber in einer gebetsartigen Stellung gefunden. Ganz und gar unähnlich. Das lässt viele Fragen offen.«
Manson wandte sich wieder Jeffrey zu. »Das muss alles irgendwie Methode haben, Professor, aber Sie müssen sie uns erklären. Wir haben es mit Todesfällen und mit Vermissten zu tun, und wir alle wollen nur zu gerne glauben, dass ein und derselbe Mann dahintersteckt. Aber wo ist das Muster, das sie alle verbindet? Wenn wir das wüssten, könnten wir etwas unternehmen. Finden Sie das für uns heraus, Professor.«
Wieder herrschte Schweigen im Raum, das nach einer Weile von Bundy gebrochen wurde, der mutlos seufzte, bevor er sagte: »Dann ist also anzunehmen, dass seine letzte Identität – wie nennt er sich jetzt noch mal? – Gilbert Wray und seine Frau Joan Archer und die Kinder reine Fiktion ist? Und für uns völlig unbrauchbar? Das hat uns kein bisschen weitergebracht, hab ich recht?«
Bei dieser Frage fühlte sich Agent Martin angesprochen. Er berichtete in ungerührtem Polizistenton: »Nach der erfolglosen Razzia in dem Haus in Cottonwood haben wir uns mit der Einwanderungsbehörde kurzgeschlossen und festgestellt, dass viele der erforderlichen Dokumente für die Familie Wray entweder nicht auffindbar waren oder nicht existierten. Die vorläufigen Untersuchungen deuten darauf hin, dass diese Personen von einem unbekannten Terminal innerhalb des Staates in die Datenbanken eingeschleust wurden, um einen entsprechenden Polizeieinsatz an besagtem Ort auszulösen. Es besteht die Möglichkeit, dass unsere Zielperson diese Bürger erfunden und sie als eine Art Ablenkungsmanöver in die Computersysteme eingespeist hat. Das mag Tage oder auch Stunden vor unserem Eintreffen in Cottonwood geschehen sein. Diese und andere Informationen, die wir eingeholt haben …«, hier legte der Detective eine Kunstpause ein und warf Jeffrey einen kurzen Seitenblick zu, »… sprechen dafür, dass er über weitgehenden Zugang zum Computernetz der Staatssicherheit verfügt und unsere derzeitigen Passwörter genauestens kennt.«
Jeffrey dachte an seine erstaunte Reaktion, als er festgestellt hatte, dass die Tafel in seinem eigenen Büro ausgewischt war. »Ich denke, wir können mit einiger Sicherheit sagen, dass unsere Zielperson über genug Wissen verfügt, um fast jedes Sicherheitssystem zu umgehen, das derzeit im Bundesstaat im Einsatz ist«, erklärte er, ohne seine Aussage mit einem konkreten Beispiel zu untermauern. Er zeigte auf Mansons Schreibtisch. »Ich würde nicht davon ausgehen, dass die Papiere, die Sie da haben, vor ihm sicher sind, Mr. Manson. Vielleicht hat er bereits Ihre Schubladen durchwühlt.«
Manson nickte ernst.
»Verdammt«, entfuhr es Starkweather. »Ich hab’s gewusst. Ich hab’s die ganze Zeit gewusst.«
»Was gewusst?«, fragte Jeffrey den jungen Politiker.
Starkweather zog ärgerlich die Schultern hoch und sackte nach vorn. »Dass der Bastard einer von uns ist.«
Diese Bemerkung tauchte den Raum für einige Sekunden in Schweigen.
Jeffrey lagen ein, zwei Fragen auf der Zunge, doch er sprach sie nicht aus. Dafür merkte er sich die Äußerung von Starkweather sehr wohl.
Manson wippte in seinem Stuhl und pfiff leise durch die Zähne. »Was meinen Sie, Professor, wie unsere Zielperson auf diesen Namen gekommen ist? Gilbert D. Wray. Sagt Ihnen das was?«
»Wiederholten Sie das noch einmal«, forderte Jeffrey unvermittelt.
Manson antwortete nicht. Er lehnte sich nur erneut vor.
»Was ist?«, wollte Bundy wissen, als spräche er für Manson.
»Der Name, verdammt. Sagen Sie es noch mal, schnell.«
Der Verknitterte setzte sich auf dem Sofa zurecht. »Gilbert D. Wray. Wray …, gab’s nicht mal eine Schauspielerin, vor fast hundert Jahren, namens Kay Wray? Nein, Fay Wray. Ja. Die im ersten King Kong. Blond und berühmt für ihren Schrei, entsinne ich mich. Gibt es vielleicht eine andere Aussprache?«
Jeffrey lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er schüttelte den Kopf. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, meinte er und sah Manson dabei an. »Man sollte meinen, dass ich den Namen hätte wiedererkennen müssen, als ich ihn das erste Mal sah. Aber da hab ich ihn nicht laut ausgesprochen. Wie dumm von mir.«
»Wiedererkennen?«, wiederholte Manson. »Ich verstehe nicht.«
Jeffrey lächelte, auch wenn ihm hundeelend war. »Gilbert D. Wray. Sagen Sie es einmal mit leicht französischem Einschlag. Dann klingt es fast wie Gilles de Rais.«
»Wer ist das?«, fragte Bundy.
»Eine schillernde Figur aus der Geschichte«, antwortete Jeffrey.
»Ja«, bestätigte Manson.
»Und Joan D. Archer. Die Kinder Henry und Charles. Und sie kamen aus New Orleans hierher. Wie offensichtlich. Hätte mir gleich ins Auge springen müssen. Was für ein Idiot ich war.«
»Was hätte Ihnen ins Auge springen müssen?«
»Gilles de Rais war eine wichtige Figur im Frankreich des dreizehnten Jahrhunderts. Er wurde ein berühmter Heerführer im Kampf gegen die britischen Eroberer. Er war, wie die Geschichte uns lehrt, der maßgebliche Waffengefährte und einer der glühendsten Anhänger von Jeanne d’Arc. Oder, wie man sie auch nennt, der Jungfrau von Orleans. Und die kriegführenden Rivalen? Wie zwei streitende Kinder, Henry von England und der Dauphin, Charles von Frankreich.«
Wieder herrschte eine Weile Schweigen.
»Aber was hat das mit …«, setzte Starkweather an.
Jeffrey unterbrach ihn. »Gilles de Rais war nicht nur ein brillanter Militär und ein reicher Adliger obendrein, sondern auch einer der schrecklichsten Kindsmörder mit einer Opferbilanz, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Man nimmt an, dass er innerhalb der Mauern seines Schlosses mehr als vierhundert Kinder in sadistischen, sexuellen Ritualen hingeschlachtet hat, bevor er entlarvt und schließlich geköpft wurde. Ein faszinierender Mann. Eine Ausgeburt des Bösen, die hingebungsvoll und tapfer an der Seite einer Heiligen gekämpft hat.«
»Du lieber Himmel«, pfiff Bundy durch die Zähne. »Da hol mich doch der Teufel.«
»Gilles de Rais hat er sicher geholt«, meinte Jeffrey leise, »auch wenn er denen, die im Jenseits das Sagen haben, gewiss vor eine interessante Frage gestellt hat: Was macht man nun mit einem solchen Mann? Vielleicht gestattet man ihm einmal pro Jahrhundert einen Tag Urlaub von den ewigen Höllenqualen. Würde das einen Mann angemessen entlohnen, der mehr als einmal einer Heiligen das Leben gerettet hat?«
Niemand beantwortete diese Frage.
»Wie dem auch sei, was schließen Sie nun daraus, dass unsere Zielperson diesen Namen benutzt hat?«, fragte Starkweather ärgerlich.
Jeffrey überlegte. Er merkte, dass er das sichtliche Unbehagen des Politikers genoss. »Ich würde sagen, dass unsere Zielperson, das heißt, mein Vater, na ja … dass er sich für die moralischen und philosophischen Fragen interessiert, die das absolut Gute und das absolut Böse aufwerfen.«
Starkweather starrte Jeffrey enttäuscht und wütend an, entgegnete aber nichts.
Jeffrey dagegen nutzte die kurze entstandene Pause und sagte: »So wie ich.«
Ein paar Sekunden lang glaubte Jeffrey, mit dieser Bemerkung das Ende der Sitzung einzuläuten. Manson hatte das Kinn auf die Brust gedrückt und schien tief in Gedanken, auch wenn ihn das nicht daran hinderte, sich weiter mit der Schneide seines Brieföffners über die Handfläche zu streichen. Dann plötzlich schlug der Direktor der Staatssicherheit seine Waffe auf den Tisch, so dass es einen Knall wie von einer kleinen Pistole gab.
»Ich würde gerne einen Moment mit dem Professor unter vier Augen sprechen«, verkündete er.
Bundy wollte protestieren, überlegte es sich aber anders.
»Wie Sie wünschen«, meinte Starkweather. »Sie unterrichten uns wieder in ein paar Tagen über den Stand der Dinge, Professor?« Diese letzte Bemerkung war mindestens so sehr als Anordnung wie als Frage zu verstehen.
»Jederzeit«, erwiderte Jeffrey.
Starkweather erhob sich, machte Bundy ein Zeichen, der sich aus dem üppigen Sofa aufrappelte, und dem Mann des Gouverneursbüros zu einer Seitentür hinausfolgte.
Auch Agent Martin war aufgestanden. »Soll ich bleiben oder gehen?«, fragte er.
Manson wies auf die Tür. »Wir brauchen nur ein paar Minuten.«
Martin nickte. »Ich warte draußen.«
»Das wäre nett.«
Der Direktor schwieg, bis der Agent gegangen war, dann fuhr er leise und ruhig fort: »Einiges, was Sie gesagt haben, macht mir zu schaffen, Professor, vor allem aber einiges von dem, was ich zwischen den Zeilen heraushöre.«
»Inwiefern, Mr. Manson?«, erkundigte sich Jeffrey.
Der Direktor stand auf und trat ans Fenster. »Ich habe keine richtige Aussicht«, sagte er. »So sollte es nicht sein, und das hat mich schon immer gestört.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Die Aussicht«, wiederholte er und deutete mit dem rechten Arm aus dem Fenster. »Im Westen kann ich bis zu den Bergen sehen. Es ist eine reizvolle Landschaft, aber ich denke, es wäre mir lieber, Bauprojekte vor Augen zu haben. Etwas Neues, das entsteht. Kommen Sie, Professor.«
Jeffrey stand auf, trat um den Schreibtisch herum und stellte sich neben Manson. Der Direktor wirkte aus der Nähe kleiner. »Es ist sehr schön, nicht wahr? Panoramablick. Wie aus dem Bilderbuch, nicht wahr?«
»Das ist die Vergangenheit. Graue Vorzeit. Ich kann von hier aus Bäume sehen, die jahrhundertealt sind, Landmassen, die vor Äonen von Jahren entstanden sind. In einigen dieser Wälder gibt es Stellen, die noch nie ein Mensch betreten hat. Von meinem Schreibtisch aus habe ich einen Blick auf die Natur, so wie sie die Menschen vor Augen hatten, die sich als Erste quer durch unseren Kontinent gekämpft haben.«
»Ja, verstehe.«
Der Direktor tippte mit dem Finger auf die Fensterscheibe. »Was Sie da sehen, ist die Vergangenheit. Es ist auch die Zukunft.«
Er wandte sich um, deutete wieder auf Jeffreys Stuhl und setzte sich ebenfalls hin.
»Glauben Sie, Professor, dass Amerika irgendwie von seinem Weg abgekommen ist? Dass die Ideale, die unsere Vorfahren dieser Nation mit auf den Weg gegeben haben, irgendwie ausgehöhlt sind? Sich verflüchtigt haben? Immer mehr in Vergessenheit geraten?«
Jeffrey nickte. »Die Auffassung hört man immer öfter.«
»Da, wo Sie leben, in einem Amerika, das in Auflösung begriffen ist, herrscht Gewalt. Fehlt es an Respekt. An Familiensinn. Der Stolz auf die einstige Größe ist verlorengegangen, und das Streben nach künftiger Größe auch, nicht wahr?«
»Es wird unterrichtet. Es ist Teil der Geschichte.«
»Nun ja, probieren geht über studieren, wie man so sagt, Professor.«
»Sicher.«
»Professor, was meinen Sie, worum es uns mit dem Einundfünfzigsten Bundesstaat geht?«
Jeffrey schwieg.
»Früher einmal war Amerika ein Land voller Abenteuer. Es herrschten Zuversicht und Hoffnung. Amerika war ein Ort für Träumer und Leute mit Visionen. Heute ist es das nicht mehr.«
»Da würden Ihnen viele zustimmen.«
»Einigen von uns stellt sich somit die Frage, wie wir dafür sorgen können, dass unser drittes und viertes Jahrtausend genauso groß wird wie unsere ersten beiden – wie wir wieder dafür sorgen können, dass wir auf diese Nation stolz sein dürfen.«
»Manifest Destiny – die offenkundige Bestimmung, die Doktrin aus dem neunzehnten Jahrhundert.«
»Genau. Ich habe diesen Terminus seit meinen Schultagen nicht mehr gehört, aber genau das brauchen wir. Genau das müssen wir erneuern. Wir können das natürlich nicht einfach importieren, wie wir es früher einmal getan haben, als wir uns aus der ganzen Welt die Besten geholt und sie in den riesigen Schmelztiegel dieser Nation geworfen haben. Man kann dieses Bewusstsein von Größe nicht erwecken, indem man den Leuten mehr Freiheiten lässt, das haben wir ausprobiert, und das Einzige, was dabei herausgekommen ist, das sehen Sie ja – fortschreitender Sittenverfall. Früher einmal gab es Stolz und Hoffnung und eine nationale Identität. Wir waren geeint im Kampf gegen eine Welt des Krieges, aber das ist vorbei, weil die Waffen von heute zu groß und zu unpersönlich sind. Der Zweite Weltkrieg wurde noch von Menschen ausgefochten, die bereit waren, sich für ihre Ideale zu opfern. Wenn die modernen Arsenale den Krieg zu einer sterilen, anonymen Angelegenheit machen, bei der Computer und Techniker ferngesteuert Bomben über den Himmel jagen, was ist uns da geblieben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was bleibt, ist eine einzige Überzeugung, und die ist uns allen hier im Einundfünfzigsten Bundesstaat heilig. Es ist die Überzeugung, dass die Menschen ihre Werte und ihre Opferbereitschaft wiederentdecken, dass sie sich läutern, ihren Pioniergeist aufleben lassen werden, wenn man ihnen unverfälschtes Land zur Verfügung stellt und ihnen das verspricht, was diese Nation einmal war.«
Manson lehnte sich auf seinem Stuhl nach vorne und breitete die Arme weit aus. »Die Leute dürfen keine Angst haben, Professor. Angst macht alles kaputt. Die Männer und Frauen, die vor zweihundert Jahren da standen, wo wir jetzt stehen, und zu diesen selben Bergen hinübersahen, denselben Anblick vor sich hatten, die kannten die Herausforderung. Die kannten Mühsal und Entbehrungen. Und sie überwanden die Angst vor dem Unbekannten.«
»Das kann man wohl sagen«, pflichtete Jeffrey bei.
»Unsere Herausforderung heute besteht darin, die Angst vor dem Unbekannten zu überwinden.«
Manson schwieg und lehnte sich auf seinem Sessel zurück.
»Das ist also die Idee hinter der Gründung unseres Staates: Wir schaffen eine Welt für sich. Einen Staat im Staat. Wir schaffen Entfaltungsmöglichkeiten und Sicherheit. Wir nehmen das, was in dieser Nation einmal selbstverständlich war, und geben es den Leuten wieder. Und wissen Sie, was passieren wird?«
Jeffrey schüttelte den Kopf.
»Es wird wachsen. Sich ausdehnen. Unaufhaltsam.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass das, was wir hier schaffen, langsam, aber sicher auch das übrige Land erfassen wird. Es mag Generationen dauern – so wie beim ersten Mal auch. Aber früher oder später wird unsere Lebensart all den Schrecken und den moralischen Verfall, wie sie außerhalb unseres Staates herrschen, vernichten. Schon jetzt sehen wir, dass einige der Gemeinden in den Grenzgebieten ein paar von unseren Gesetzen und unseren Richtlinien übernehmen.«
»Und das wären?«
Manson zuckte die Achseln. »Eine Menge davon haben Sie schon gesehen. Wir beschneiden einige Rechte des Ersten Zusatzartikels. Religionsfreiheit haben wir. Freiheit der Rede – schon weniger. Und die Presse? Sie gehört uns. Wir schränken außerdem die Rechte aus dem Vierten Zusatzartikel ein. Das Recht auf Durchsuchung und Beschlagnahmung behalten wir uns vor. Wir beschneiden die Rechte aus dem Sechsten Zusatzartikel; Sie können nicht mehr darauf bauen, Verbrechen zu begehen und sich mit Hilfe eines Winkeladvokaten freizukaufen. Und wissen Sie was, Professor?«
»Ja?«
»Die Leute verzichten darauf, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Leute nehmen eine rechtlich nicht abgesicherte Durchsuchung in Kauf, wenn es dafür nicht nötig ist, vor dem Schlafengehen die Haustür abzuschließen. Und wir gehen jede Wette ein, dass es jenseits unserer Grenzen mehr Leute gibt wie uns. Und dass das, was wir haben, langsam, aber unaufhaltsam die übrige Nation erfassen wird.«
»Wie eine Infektion?«
»Eher wie ein Erwachen. Eine Nation, die aus einem langen Schlaf erwacht. Wir sind nur ein bisschen früher aufgestanden als die anderen.«
»Bei Ihnen klingt das wie etwas, das man sich nur wünschen kann.«
»Das ist es auch. Sagen Sie, Professor, wann haben Sie persönlich in Ihrem Leben je auf eine der verfassungsgemäßen Sicherheitsgarantien zurückgegriffen? Wann haben Sie je gesagt: ›Das ist der Moment, in dem ich von meinen Rechten aus dem Ersten Zusatzartikel Gebrauch mache‹?«
»Soweit ich mich entsinne, war ich noch nie darauf angewiesen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich sie nicht haben will, falls ich nicht doch einmal darauf zurückgreifen muss. Ich weiß nicht, wenn es darum geht, Grundrechte aufzugeben …«
»Wenn aber dieselben Rechte Sie versklaven, wären Sie dann nicht ohne sie besser dran?«
»Das ist eine schwierige Frage.«
»Aber die Menschen lassen sich doch jetzt schon quasi in Gefängnisse sperren. Sie leben in geschlossenen Siedlungen hinter gesicherten Schranken. Sie gehen nur noch bewaffnet auf die Straße. Die Gesellschaft besteht ja nur noch aus Mauern und Gefängnissen. Um das Böse draußen zu halten, müssen Sie sich drinnen verschanzen. Ist das Freiheit, Professor? Aber hier ist es anders. Wussten Sie übrigens, dass wir der einzige Bundesstaat mit einer erfolgreichen Gesetzgebung zum Besitz von Handfeuerwaffen sind? Hier hat kein angeblicher Jäger ein Sturmgewehr im Schrank. Wussten Sie, dass die National Rifle Association und die alten Lobbyisten in Washington uns dafür von Herzen hassen?«
»Nein.«
»Sehen Sie, wenn ich Ihnen erkläre, dass wir einige Grundrechte beschnitten haben, dann stehe ich in Ihren Augen automatisch rechts außen. Das Gegenteil stimmt. Ich lasse mich keinem politischen Flügel zuordnen, weil ich das, was nottut, von beiden Seiten des politischen Spektrums aus verfolgen kann. Hier im Einundfünfzigsten Bundesstaat hat der Zweite Zusatzartikel noch seine ursprüngliche Bedeutung – und wird nicht von irgendwelchen Lobbyisten mit tiefen Taschen zurechtgebogen, obwohl die Wirklichkeit gegen sie spricht. Und ich könnte viele andere Belege nennen, Professor. Es gibt zum Beispiel im Einundfünfzigsten Bundesstaat keine Gesetzgebung, die eine Frau in ihren Fortpflanzungsrechten beschneiden würde. Auch wenn das Thema heiß diskutiert wird. Folglich steht die Abtreibung unter staatlicher Kontrolle. Wir geben Richtlinien vor. Vernünftige Richt linien. Auf diese Weise verhindern wir, dass die Debatte aus ufert, und schützen außerdem die Ärzte, die den Eingriff durchführen.«
»Sie sind offenbar auch ein Philosoph, Mr. Manson.«
»Nein, ein Pragmatiker, Professor. Und ich glaube, die Zukunft wird mir recht geben.«
»Das ist nicht auszuschließen.«
Manson lächelte. »Und sehen Sie jetzt, was für eine Bedrohung Ihr Vater, der Mörder, ist?«
»Ich lasse mich gerne belehren«, erwiderte Jeffrey.
»Was er erreicht, ist höchst einfach: Er macht sich die Grundfesten dieses Staates zunutze, um seine Verbrechen zu begehen. Er gibt alles, wofür wir stehen, der Lächerlichkeit preis. Er lässt uns wie hilflose Heuchler dastehen. Er schlägt nicht nur bei diesen Kindern zu, sondern trifft den Kern unserer Ideale. Er benutzt uns gegen uns selbst. Es ist, als ob man eines Morgens aufsteht und in der Lunge unseres Staates ein Krebsgeschwür entdeckt.«
»Glauben Sie, ein einzelner Mann kann eine solche Bedrohung darstellen?«
»Tja, Professor, das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Das lehrt uns die Geschichte. So wie sie es auch Ihren Vater, den ehemaligen Historiker, gelehrt hat. Ein einziger Mann, der auf sich gestellt ist, mit einer verzerrten Vision und dem entschlossenen Willen, sie auch umzusetzen, kann Weltreiche in die Knie zwingen. In der gesamten Menschheitsgeschichte hat es immer wieder einsame Mörder und Attentäter gegeben, die den Lauf der Dinge verändert haben. Unsere eigene Geschichte ist voll von Booths, Oswalds und Sirhan Sirhans, deren Schüsse zusammen mit den Menschen auch Ideale getötet haben. Wir müssen Ihren Vater daran hindern, ein solcher Killer zu sein. Wenn wir ihm nicht Einhalt gebieten, wird er unsere Vision zerstören. Im Alleingang. Bis jetzt sind wir noch glimpflich davongekommen. Es ist uns gelungen, die Wahrheit über seine Taten geheim zu halten …«
»Ich dachte, die Wahrheit befreit die Menschen.«
Manson lächelte und schüttelte den Kopf. »Das ist eine bizarre und veraltete Auffassung. Die Wahrheit bringt nur noch mehr Unglück.«
»Und deshalb steht sie hier unter staatlicher Kontrolle?«
»Natürlich. Aber nicht im orwellschen Sinne, wir speisen die Masse nicht mit Fehlinformationen ab. Unsere Methode … wir gehen eher selektiv vor. Und natürlich reden die Leute trotzdem. Ein Gerücht kann weitaus schlimmere Folgen haben als jede Wahrheit. Bis jetzt konnten wir den Schaden, den Ihr Vater angerichtet hat, in Grenzen halten. Lange wird das nicht mehr funktionieren, selbst hier nicht, wo der Staat seine Geheimnisse besser unter Kontrolle hat als irgendwo sonst im Land. Aber wie gesagt, ich bin Pragmatiker. Kein Geheimnis ist jemals sicher, bis es tot und begraben ist. Bis es Geschichte ist.«
»Sicherheit ist eine prekäre Angelegenheit.«
Manson seufzte tief. »Ich habe diese Unterhaltung genossen, Professor. Leider werde ich anderweitig beansprucht, auch wenn nichts davon vergleichbar dringlich ist. Finden Sie Ihren Vater, Professor. Von Ihrem Erfolg hängt eine Menge ab.«
Jeffrey nickte. »Ich tue, was ich kann.«
»Nein, Professor, Sie müssen es schaffen. Um jeden Preis.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Jeffrey.
»Nein. Sie werden es schaffen. Ich weiß es, Professor.«
»Wie können Sie so sicher sein?«
»Weil hier von vielen Dingen die Rede ist, weil wir die Wahrheit und Intrigen Schicht um Schicht aufdecken, Professor, aber in einer Hinsicht bin ich mir absolut sicher.«
»Und das wäre?«
»Dass Väter und Söhne immer um ein und dieselbe Trophäe kämpfen. Das ist Ihr Kampf. Von Anfang an. Meiner ist ein wenig anders gelagert. Aber Ihrer … also, da geht es sozusagen um den Kern Ihres Seins, nicht wahr?«
Jeffrey spürte, dass er schwer atmete.
»Und der Zeitpunkt ist gekommen, hab ich recht? Hatten Sie gedacht, Sie könnten in alle Ewigkeit durchs Leben gehen, ohne sich Ihrem Vater zu stellen?«
Jeffrey hörte, dass seine Stimme rauh klang. »Ich war davon ausgegangen, das sei eine rein psychologische Angelegenheit. Der Kampf gegen die Erinnerung. Ich dachte, er wäre tot.«
»Und damit lagen Sie offenbar falsch, nicht wahr, Professor?«
»Es sieht danach aus, Mr. Manson.«
»Väter und Söhne«, fuhr Manson fort. Seine Stimme wirkte weich, mit einem leichten Singsang, als könne er letztlich allem, was er sagte, eine heitere Seite abgewinnen. »Sie sind immer Teil desselben Puzzles, als ob man zwei nicht ganz passende Teile in dieselbe Lücke zwängte. Oder als ob man an ein und demselben Gewebe von zwei Seiten zöge. Der Sohn versucht immer, sich vom Vater abzusetzen. Der Vater versucht, seinen Sohn in die Schranken zu verweisen.«
»Ich brauche vielleicht Hilfe«, platzte Jeffrey heraus.
»Hilfe? Wer könnte Ihnen in diesem elementarsten Kampf von Hilfe sein?«
»Zu dieser Maschinerie gehören noch zwei Teile, Mr. Manson. Meine Schwester und meine Mutter.«
Der Direktor lächelte. »Nur zu wahr«, gab er zu. »Auch wenn ich mir denken könnte, dass die beiden selbst genug zu kämpfen haben. Aber, Professor, tun Sie, was Sie tun müssen. Wenn Sie entsprechende Verstärkung brauchen, nur zu. Wir lassen Ihnen bei diesem Kampf uneingeschränkte, vollkommene Freiheit.«
Jeffrey wusste natürlich, dass diese letzte Bemerkung ganz und gar gelogen war.
Agent Martin fragte Jeffrey nicht, worüber er und der Direktor gesprochen hatten. Die beiden Männer trotteten schweigend Seite an Seite durchs Gebäude zu ihrem Büro, als ob beide über die bevorstehenden Aufgaben nachgrübelten. Als sie ihren Flur erreichten, trat eine Sekretärin mit einem braunen Umschlag aus dem Fahrstuhl. Sie bahnte sich vorsichtig ihren Weg zwischen ungefähr einem Dutzend Vierjährigen hindurch, die alle mit einem fluoreszierenden orangefarbenen Seil verbunden waren – eine Tagesstättengruppe auf dem Weg zum Spielplatz. Die junge Sekretärin lächelte, winkte den Kindern nach und kam dann zügig auf die beiden Männer zu.
»Das ist für Sie, Agent«, sagte sie knapp. »Prompt erledigt, wie immer bis gestern, zack, zack, Sie wissen schon. Ein paar interessante Details. Ich weiß nicht, ob es Ihnen bei Ihrem Fall weiterhilft, jedenfalls haben sie es im Labor schnell und erbarmungslos in die Mangel genommen.«
Sie reichte Detective Martin den Umschlag.
»Keine Ursache«, meinte sie, als er sich nicht bei ihr bedankte. Mit einem schnellen, prüfenden Blick auf Jeffrey machte sie kehrt und eilte zu den Fahrstühlen.
»Was ist das?«, wollte der Professor wissen, während er die Frau mit einem pneumatischen Zischen entschwinden sah.
»Vorläufiger Laborbericht zu dem tragbaren Computer, den wir in der Cottonwood Nummer dreizehn sichergestellt haben.« Der Detective riss den Umschlag auf. »Verflucht noch mal«, murmelte er.
»Ja?«
»Keine verwertbaren Fingerabdrücke. Keine Haarfasern. Wenn er das Ding mit schwitzenden Händen hochgenommen hätte, dann hätten wir vielleicht einen DNA-Abgleich aus den Rückständen gewinnen können. Fehlanzeige. Das verdammte Ding war sauber.«
»Er ist nicht dumm.«
»Sicher, ich weiß, hat er uns ja wissen lassen, schon vergessen?«
Jeffrey hatte es nicht vergessen. »Was noch?«
Martin ging den Bericht weiter durch. »Also«, sagte er wenig später, »hier ist was. Vielleicht ist Ihr alter Herr ja doch nicht der perfekte Mörder.«
»Was denn?«
»Er hat die Seriennummer des Apparats nicht entfernt. Die Jungs vom Labor konnten ein paar kleine Nachforschungen anstellen.«
»Und?«
»Na ja, die Artikelnummer des Dings passt zu den Computern, die der Hersteller an verschiedene Läden im Südosten versendet hat. Das ist schon mal was. Offenbar hat Ihr Alter nicht viel von deren Garantie gehalten und sich die nie elektronisch registrieren lassen.«
»Er hat gewusst, dass er den Laptop nicht allzu lange behalten würde.«
Agent Martin schüttelte den Kopf. »Hat wahrscheinlich auch noch bar bezahlt.«
»Davon ist sicher auszugehen.«
Martin rollte den Bericht zusammen und schlug sich damit ans Bein. »Wenn wir wenigstens eine Sache finden würden, nur eine einzige Sache, die Ihr alter Herr übersehen hat.«
Die beiden Männer waren an ihrem Büro angekommen und wollten gerade die Tür öffnen. Martin wickelte den Bericht noch einmal auf und starrte ihn an, während er den Schlüssel einsteckte. Er sah zu Jeffrey auf.
»Was glauben Sie, weshalb der Bastard bis nach Südflorida runter ist, um sich einen Laptop zu kaufen? Ich meine, er hätte auch wesentlich näher was finden können, und wir hätten die gleiche Mühe gehabt, es zurückzuverfolgen. Meinen Sie, er war da auf Urlaub? Oder geschäftlich? Wär’ immerhin etwas, hm?«
»Wo?«, fragte Jeffrey plötzlich.
»Südflorida. Dahin haben sie die Computer mit diesen Seriennummern geschickt. Jedenfalls laut Unterlagen der Firma. In der Gegend kommen etwa hundert Geschäfte in Frage, an die sie ihn geschickt haben könnten. Die meisten südlich von Miami. Homestead. Die oberen Keys. Wieso? Sagt Ihnen das was?«
Das tat es. Es konnte nur einen Grund geben, weshalb sein Vater in der Gegend einen Computer kaufen und dann mit voller Absicht vergessen sollte, die Seriennummer zu entfernen, die so auffällig in die Rückseite eingraviert war. Er wollte seinem Sohn etwas an die Hand geben, mit dessen Hilfe er herausfinden konnte, was er getan hatte. Nach all den Jahren hatte er sie also entdeckt. Der Vater, vor dem sie geflohen waren, den sie für tot gehalten hatten, dieser Vater hatte seinen Sohn zu sich geführt und hatte auch herausgefunden, wo seine frühere Frau und seine Tochter sich immer noch versteckten.
Jeffrey überfiel ganz plötzlich eine tiefe Verzweiflung, und er fragte sich, ob ihm noch irgendwelche Geheimnisse geblieben waren.
Er drängte sich an Martin vorbei, ignorierte die Fragen des Detectives und eilte zum Telefon, um seine Mutter anzurufen und sie zu warnen. Natürlich wusste er nicht, dass sie in der Küche des kleinen Hauses saß, in dem sie einmal dafür gebetet hatte, dass ihre Tochter und ihr Sohn noch mal von vorn anfangen könnten, und in dem sie sich all die Jahre sicher gefühlt hatten. Ebenso wenig konnte er wissen, dass sie in diesem Moment einem Handwerker dabei zusah, wie er sorgfältig Holz zurechtsägte und den zerbrochenen Türrahmen sowie den Schließriegel ersetzte, und dass seine Mutter verzweifelt versuchte, ihn genau vor dem zu warnen, was er ihr sagen wollte.