3. KAPITEL
Unsinnige Fragen
Jeffrey Clayton dröhnte der Kopf, und seine Wangen brannten, als hätte ihn jemand fest geschlagen.
»Das ist doch lächerlich«, brach es aus ihm heraus. »Sie sind doch verrückt.«
»Ja? Tatsächlich?«, fragte Agent Martin zurück. »Sehe ich so aus? Klinge ich so?«
Jeffrey atmete einmal tief ein und ließ die Luft mit einem Zischen ganz langsam zwischen den zusammengebissenen Zähnen entweichen. »Mein Vater«, erklärte er so besonnen wie möglich, um über den Strudel widerstreitender Gefühle ein wenig Herr zu werden, »mein Vater ist seit über zwanzig Jahren tot. Er hat Selbstmord begangen.«
»Aha. Sind Sie sich dessen sicher?«
»Ja.«
»Haben Sie seine Leiche gesehen?«
»Nein.«
»Waren Sie bei seiner Beerdigung?«
»Nein.«
»Haben Sie irgendeinen Polizeibericht oder die Bescheinigung eines Coroner gelesen?«
»Nein.«
»Und woher nehmen Sie dann die Sicherheit?«
Jeffrey schüttelte den Kopf. »Ich gebe nur wieder, was man mir gesagt hat und was ich geglaubt habe. Dass er gestorben ist. Nicht weit von unserem damaligen Haus in New Jersey. Wie und wo genau, weiß ich allerdings nicht mehr. So genau wollte ich es gar nicht wissen.«
»Klingt ja alles mächtig überzeugend«, versetzte Martin ruhig und verdrehte mit einem müden Lächeln die Augen.
Aus dem Grinsen des Polizisten sprach mehr Wut und Drohung als Sinn für Humor. Jeffrey machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, überlegte es sich aber anders.
Nach ein paar Sekunden zog Martin die Stirn in Falten und sagte: »Verstehe. Sie können sich nicht mehr erinnern, wo Ihr Vater gestorben ist oder auch wann. Oder wie. Ich meine, Selbstmord kann alles Mögliche heißen. Hat er sich erschossen? Erhängt? Ist er vor einen Zug gesprungen? Oder von einer Brücke? Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen? Oder vielleicht ein Video? Wie steht’s mit einem Testament? Wissen Sie alles nicht, was? Aber Sie sind ganz sicher, dass er gestorben ist, und zwar nicht an seinem Wohnort, aber auch nicht allzu weit davon weg. Würden Sie das als wissenschaftlich erwiesen bezeichnen?«, fragte er sarkastisch.
Der Professor ließ die Frage eine Weile im Raum stehen, bevor er sie beantwortete.
»Was ich weiß, das weiß ich aus einem einzigen Gespräch mit meiner Mutter. Sie hat mir gesagt, man hätte sie unterrichtet, er habe sich umgebracht, und über die Gründe wüsste sie nichts. Soweit ich mich entsinne, hat sie mir nicht gesagt, wie sie von seinem Tod erfahren hat, und ebenso wenig kann ich mich erinnern, sie danach gefragt zu haben. Wie dem auch sei, sie hatte keinen Grund, mich anzulügen und in die Irre zu führen. Wir haben nicht oft über meinen Vater gesprochen, folglich sah ich auch keinen Grund, den genauen Umständen nachzugehen. Ich machte einfach weiter, als wäre nichts gewesen, das heißt, ich widmete mich meinem Studium. Der Lehre. Meiner Doktorarbeit. Er spielte in meinem Leben keine wichtige Rolle mehr. Und zwar seit meiner frühen Kindheit. Ich kannte ihn nicht, und ich wusste auch nicht viel von ihm. Er war nur aufgrund eines einzigen Geschlechtsakts mein Vater und nicht, weil ich zu ihm in irgendeiner Beziehung stand. Als er starb, hat mich das nicht im Mindesten berührt. Es war, als erführe ich von irgendeinem entfernten Ereignis, das auf mein Leben praktisch keinen Einfluss hatte. Etwas, das irgendwo in einem anderen Teil der Welt passierte. Er war eine Chiffre, eine leere Hülle. Er existierte praktisch nicht. Eine vage Erinnerung. Ich trage nicht einmal seinen Namen.«
Agent Martin lehnte sich in dem riesigen Sessel zurück, der ihn trotz seiner beträchtlichen Körpermasse zu verschlucken schien. Er stützte sich auf und setzte sich bequem zurecht. »Verflucht noch mal«, murmelte er, »in dem Ding könnte man wohnen. Ist glatt noch Platz für eine Küche.« Er sah Jeffrey an.
»Nichts von alledem, was Sie da gerade gesagt haben, trifft auch nur annähernd die Wahrheit, hab ich recht, Professor?«, fragte er hemdsärmelig.
Jeffrey starrte sein Gegenüber an und versuchte, den Mann klarer zu sehen, so wie ein Landvermesser, der plötzlich den Werten nicht mehr traut, die seine Instrumente ermitteln, und der deshalb mit bloßem Auge entlang einer gedachten Linie selbst Maß nimmt. Bis dahin hatte er Martin nur flüchtig betrachtet und sich ein schemenhaftes Bild von ihm gemacht, doch jetzt schien es ratsam, seinen Eindruck zu überprüfen. Er bemerkte, dass die Brandnarben, die Hände und Hals des Detective entstellten, jedes Mal in gedämpftem Rot aufglühten, wenn der Mann seinen Ärger im Zaum halten musste, so dass sie seine Emotionen verrieten.
»Das heißt«, fuhr Martin leise fort, »eins vielleicht schon. Ich glaube Ihnen, dass Ihre Mutter Ihnen erzählt hat, er wäre gestorben, und vermutlich hat sie auch gesagt, er hätte Selbstmord begangen. Der Teil stimmt, nehme ich an. Ich meine, dass sie es gesagt hat.« Er hüstelte, als versuchte er, höflich zu sein, auch wenn es eher spöttisch klang. »Aber das war’s denn auch schon, was?«
Jeffrey schüttelte den Kopf, worüber Martin wieder grinsen musste. Offenbar lächelte der Detective umso häufiger, je wütender er wurde.
»Passiert doch alle Tage, nicht wahr, Professor? Herr Todesexperte. Serienmörder überkommt nicht selten eine solche Abscheu gegen die Widerwärtigkeit ihrer Morde, dass sie ihre eigene erbärmliche, diabolische Existenz nicht länger ertragen und aus dem Leben scheiden, so dass sie der Gesellschaft die Mühe ersparen, sie aufzutreiben und vor Gericht zu bringen. Richtig, Professor? Das ist gar nicht mal ungewöhnlich, stimmt’s?«
»Es kommt vor«, bestätigte Jeffrey schroff, »aber nicht oft. Die meisten Wiederholungstäter in unseren Studien kennen keine Reue. Nicht die Spur. Das gilt natürlich nicht für alle. Aber für die meisten.«
»Demnach hätten sie einen anderen Grund, einen dieser vergleichsweise seltenen Selbstmorde zu begehen?«
»Man kann eher sagen, sie haben sich mit dem Tod arrangiert, sie können damit leben – mit ihrem eigenen und dem anderer Menschen.«
Der Agent nickte und schien mit der Wirkung, die seine sarkastische Frage auslöste, recht zufrieden.
»Wie kommt es eigentlich«, fragte Jeffrey bedächtig, »dass Sie mich hier aufgestöbert haben? Wie kommt es, dass Sie mich mit dem Mann, der möglicherweise oder auch nicht vor über zwanzig Jahren ein Verbrechen begangen hat, in Verbindung bringen? Wie kommen Sie darauf, dass mein Vater, der in Wahrheit tot ist, irgendwie auf die Erde zurückgekehrt ist, um Ihr Tatverdächtiger bei diesem jüngsten Mord zu werden?«
Agent Martin lehnte den Kopf zurück. »Ganz vernünftige Frage«, meinte er.
»Ich bin auch ein vernünftiger Mann.«
»Das wage ich zu bezweifeln, Professor. Ich halte Sie für hochgradig unvernünftig. Kolossal unvernünftig. Aberwitzig unvernünftig. Das haben wir übrigens gemeinsam. Nur so kommt man durchs Leben, nicht wahr? Indem man unvernünftig ist. Jeder Atemzug in dieser beschaulichen, kleinen akademischen Welt ist unvernünftig, Professor. Denn wenn Sie vernünftig wären, dann wären Sie nicht das, was Sie sind. Dann wären Sie der Mann, von dem Sie befürchten, dass er in Ihnen steckt. Nicht anders als bei mir, wie gesagt. Trotzdem will ich gern versuchen, ein paar Ihrer Fragen zu beantworten.«
Wieder dachte Jeffrey, er sollte reagieren, er sollte voller Empörung alles weit von sich weisen, was der Detective behauptete, er sollte aufstehen und den Raum verlassen. Er tat nichts dergleichen.
»Bitte«, sagte er kalt.
Martin drehte sich zur Seite und bückte sich nach seiner Aktentasche. Er kramte in einigen Papieren und holte schließlich einen Stapel Polizeiberichte heraus. Diese blätterte er kurz durch, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Dann zog er eine Lesebrille mit halbmondförmigen Hornrandgläsern aus der Innentasche seines Jacketts, setzte sie sich auf und warf nur einen letzten Blick darüber auf den Professor, bevor er sich den Schriftstücken widmete.
»Macht mich alt, finden Sie nicht? Und ein bisschen distinguiert.« Der Detective lachte leise, als wollte er die Widersprüche in seinem Erscheinungsbild unterstreichen. »Das ist die Abschrift einer Befragung, die ein Kollege von der Staatspolizei New Jersey bei einem gewissen Mr. J. P. Mitchell durchgeführt hat. Sie kennen den Namen?«
»Ja, natürlich. So heißt – so hieß mein verstorbener Vater.«
Agent Martin schmunzelte. »Sicher. Also, der Detective geht erst mal fürs Protokoll die üblichen Angaben durch, sagt, um welchen Fall es sich handelt, nennt Datum, Uhrzeit und Ort … alles hübsch nach Vorschrift einschließlich der Belehrung über die Rechte. Er lässt sich Telefon- und Versicherungsnummer, Adresse und alles Mögliche geben, und Ihr alter Herr scheint nichts zu verschweigen …«
»Vielleicht hatte er dazu ja auch keinen Grund.«
Wieder grinste der Agent. »Sicher. Jetzt kommen wir zu der Stelle, an der der Detective in einigen Einzelheiten den Mord an dem Mädchen beschreibt und von Ihrem lieben alten Dad nur einen Haufen Unschuldsbeteuerungen zu hören bekommt.«
»Richtig. Ende der Geschichte.«
»Nicht ganz.«
Martin blätterte die Papiere noch einmal durch und zog schließlich drei Blätter aus der Mitte der Akte, die er Jeffrey hinschob. Der Professor warf einen Blick auf die Seitenzahlen: kurz unter hundert. Er rechnete überschlägig nach – zwei Seiten pro Minute – und stellte fest, dass zu diesem Zeitpunkt die Vernehmung seines Vaters schon fast eine Stunde gedauert haben musste. Er überflog den Text. Es handelte sich dabei offensichtlich um die Abschrift eines Stenographen; den reinen Fragen und Antworten war nichts hinzugefügt – keine Beschreibung der beiden Männer, die sich unterhielten, keine Angaben zu Tonfall und Habitus oder den nervlichen Zustand des Befragten. Er hätte gern gewusst, ob der Beamte gesessen oder gestanden hatte. Lief er vielleicht umher und umkreiste seinen Verdächtigen wie ein Raubvogel die Beute? Stand meinem Vater der Schweiß auf der Stirn oder leckte er sich vor jeder Antwort die Lippen? Schlug der Detective mit der Hand auf den Tisch? Beugte er sich bedrohlich über meinen Vater? Oder war er eiskalt, konzentriert und plazierte seine Fragen präzise wie Nadelstiche? Und mein Vater? Lehnte er sich mit einem leichten Grinsen zurück und parierte jeden Vorstoß mit dem Geschick eines Fechters, genoss er gar die wachsende Herausforderung als eine Art Spiel?
Jeffrey hatte einen kleinen Raum vor Augen, vermutlich mit einer einzigen Lampe an der Decke. Ein kleiner, kahler Raum mit nackten Wänden, moderner Schalldämmung und einer Wolke aus Zigarettenrauch über einem zweckdienlichen, quadratischen Tisch. Zwei einfache Stahlrohrstühle. Keine Handschellen, da der Mann nicht vorläufig festgenommen war. Ein Tonband auf dem Tisch, das geräuschlos Worte sammelte, Tonrollen, die sich gleichmäßig drehten, als warteten sie auf das Geständnis, zu dem es nie kam.
Was noch? Ein Spiegel an der Wand, der in Wahrheit ein Beobachtungsfenster war und den er als solches erkannt und ignoriert haben musste.
Jeffrey hielt abrupt in seinen Gedanken inne. Woher willst du das wissen? Woher willst du wissen, wie dein Vater an diesem Abend aussah, sich benahm und wie er klang?
Er bemerkte das leichte Zittern in der Hand, als er die Abschrift zu lesen begann. Als Erstes fiel ihm auf, dass der Beamte nicht namentlich genannt war.
F. Mr. Mitchell, Sie sagen, in der Nacht, als Emily Andrews verschwand, waren Sie zu Hause bei Ihrer Familie. Richtig?
A. Ja, das stimmt.
F. Kann Ihre Familie das bezeugen?
A. Ja, wenn Sie sie finden.
F. Sie leben nicht mehr zusammen?
A. Richtig. Meine Frau hat mich verlassen.
F. Wieso? Und wo ist sie hingegangen?
A. Das weiß ich nicht. Und was das Wieso betrifft, so kann diese Frage wohl nur meine Frau beantworten. Das wiederum könnte schwierig werden. Ich vermute, sie ist in den Norden gezogen. Vielleicht nach New England. Sie hat immer betont, dass sie das kältere Klima liebt. Seltsam, nicht wahr?
F. Demnach gibt es niemanden, der Ihr Alibi bestätigen kann?
A. Alibi ist ein Wort mit einer bestimmten Konnotation, nicht wahr, Detective? Und ich kann eigentlich nicht recht sehen, wieso ich ein Alibi brauchen sollte. Tatverdächtige brauchen ein Alibi. Bin ich ein Tatverdächtiger, Officer? Bitte korrigieren Sie mich, falls mir was entgangen ist, aber die einzige Verbindung, die Sie zwischen mir und dieser unglücklichen jungen Frau hergestellt haben, ist offenbar der Umstand, dass sie meinen Geschichtsunterricht besucht hat. In der fraglichen Nacht war ich zu Hause.
F. Jemand hat beobachtet, wie sie zu Ihnen ins Auto gestiegen ist.
A. Ich glaube, an dem Abend, an dem sie verschwand, war es dunkel und regnerisch. Sind Sie sicher, dass es mein Wagen war? Nein, hätte mich auch gewundert. Selbst wenn, was wäre verkehrt daran, eine Schülerin an einem kalten, unwirtlichen Abend ein Stück mit dem Auto mitzunehmen?
F. Dann bestätigen Sie also, dass sie an dem letzten Abend, an dem sie lebendig gesehen wurde, zu Ihnen ins Auto gestiegen ist?
A. Nein, das tue ich nicht. Ich sage nur, dass es nichts Ungewöhnliches ist, wenn irgendein Lehrer einen Schüler im Auto mitnimmt. An diesem fraglichen Abend. Oder auch jedem anderen Abend.
F. Ihre Frau hat Sie aus heiterem Himmel verlassen?
A. Wir drehen uns im Kreis, nicht wahr? Solche Dinge passieren nicht über Nacht, Detective. Wir hatten uns schon seit einiger Zeit entfremdet. Wir haben uns gestritten. Sie ist gegangen. Traurig, aber keine Seltenheit. Vielleicht passten wir einfach nicht zusammen. Wer weiß?
F. Und Ihre Kinder?
A. Wir haben zwei. Susan ist sieben und mein Sohn, er heißt nach mir Jeffrey, ist neun. Sie kommt zurück, Detective. Ist sie immer. Und falls nicht, dann muss ich sie eben finden. Habe ich ebenfalls immer. Und dann sind wir wieder alle zusammen. Wissen Sie, manchmal hat man dieses Gefühl, eine Art Schicksalsahnung vielleicht, dass man, egal wie schwierig oder entmutigend die Beziehung sein mag, absolut dazu bestimmt ist, zusammenzubleiben. Für immer. Unlösbar miteinander verbunden.
F. Dann hat sie Sie nicht zum ersten Mal verlassen?
A. Wir hatten auch vorher schon unsere Probleme. Ein-, zweimal haben wir uns vorübergehend getrennt. Ich werde sie finden. Es ist nett von Ihnen, so viel Anteilnahme an meiner familiären Situation zu zeigen.
F. Und wie wollen Sie sie finden, Mr. Mitchell?
A. Über ihre Familie. Ihre Freunde. Wie stellt man es an, jemanden zu finden, Detective? Niemand möchte wirklich richtig verschwinden. Niemand möchte sich in Luft auflösen. Jedenfalls niemand, der nicht kriminell ist. Man will einfach nur woanders hin und einen neuen Anfang machen. Also nimmt man früher oder später irgendwo einen Faden wieder auf, der einen mit seinem früheren Leben verbindet. Man schreibt einen Brief. Macht einen Anruf. Irgendwas. Wenn man jemanden sucht, braucht man nur das andere Ende des Fadens in Händen zu nehmen und auf diesen kleinen Ruck zu warten. Aber das wissen Sie selbst, Detective, nicht wahr?
F. Der Mädchenname Ihrer Frau?
A. Wilkes. Ihre Familie stammt aus Mystic, Connecticut. Ich kann Ihnen gerne ihre Sozialversicherungsnummer aufschreiben. Wollen Sie mir vielleicht die Suche abnehmen?
F. Wie erklären Sie es sich, dass ich in Ihrem Auto ein Paar Handschellen gefunden habe?
A. Verstehe. Jetzt eilen wir den Dingen ein bisschen voraus. Sie haben sie gefunden, weil Sie ohne richterliche Verfügung illegal mein Auto durchsucht haben. Dafür brauchen Sie einen Durchsuchungsbefehl.
F. Wozu dienten sie?
A. Ich bin ein Krimifan. Ich sammle Polizei-Utensilien.
F. Wie viele Geschichtslehrer haben Handschellen bei sich?
A. Keine Ahnung. Ein paar? Viele? Wenige? Verstößt es gegen das Gesetz, welche zu besitzen?
F. An Emily Andrews’ Leiche wurden Spuren festgestellt, die darauf hindeuten, dass sie mit Handschellen an den Gelenken gefesselt war.
A. Hindeuten ist ein schwaches Wort, finden Sie nicht, Detective? Ein überaus fadenscheiniger, dehnbarer, nichtssagender Begriff. Sie mag solche Spuren aufgewiesen haben, von meinen Handschellen stammen sie jedenfalls nicht.
F. Ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube, Sie lügen.
A. Dann steht es Ihnen ja frei, es mir zu beweisen. Aber das können Sie nicht, Detective, stimmt’s? Denn wenn Sie es könnten, würden wir nicht unser beider Zeit verschwenden, nicht wahr?
Die Antwort des Beamten stand nicht mehr auf den Seiten, die Jeffrey in Händen hielt. Einen Moment lang sah er nicht auf, obwohl er spürte, wie ihn Martins Blick durchbohrte. Er las ein paar Aussagen seines Vaters noch einmal und stellte fest, dass er nach all den Jahren die Worte auf dem Papier in der Stimme seines Vaters hören konnte und dass er im Geist seinen Vater gegenüber dem Polizisten sitzen sah, so wie er ihn zu Hause am Esstisch hatte sitzen sehen. Es war, als spulte in ruckelnden, zerkratzten Bildern ein uralter Amateurfilm vor seinen Augen ab, und er blickte abrupt auf, um Agent Martin die Seiten hinzuschieben.
Jeffrey zuckte die Achseln wie ein armer Schauspieler, der aufgrund einer Verwechslung mit dem berühmten Kollegen am anderen Ende der Bühne vom Scheinwerferlicht erfasst wird.
»Das sagt mir nicht allzu viel …«, log er.
»Ich denke doch.«
»Haben Sie noch mehr?«
»Und ob, aber es läuft aufs Gleiche hinaus. Ausweichend und haarspalterisch, aber selten provokant. Ihr Vater ist ein intelligenter Mann.«
»War.«
Der Agent schüttelte den Kopf. »Er war eindeutig der beste Verdächtige. Das Opfer wurde dabei gesehen, wie es in sein oder ein ähnliches Auto stieg, und unter dem Beifahrersitz wurden Blutspuren sichergestellt. Und diese Handschellen.«
»Und?«
»Das war’s mehr oder weniger. Der Detective wollte ihn verhaften lassen – war darauf versessen, ihn zu verhaften –, bis die Blutproben aus dem Labor zurückkamen. Nichts zu machen. Die Blutrückstände passten nicht zum Opfer. Die Handschellen waren von Geweberückständen gereinigt. Ich glaube, mit Dampf. Ihr Haus wurde durchsucht – mit interessanten, aber trotzdem negativen Ergebnissen. Die einzige Chance wäre ein Geständnis gewesen. Das war damals die übliche Verfahrensweise. Und der Detective hat sich erhebliche Mühe gegeben. Hat ihn fast vierundzwanzig Stunden in Gewahrsam gehalten. Aber am Ende schien Ihr Dad frischer und wacher zu sein als der Cop …«
»Wie meinen Sie das, mit den interessanten, aber trotzdem negativen Ergebnissen bei der Hausdurchsuchung?«
»Ich meine Pornographie. Von einer besonders bösartigen, gewalttätigen Art. Sexuelle Techniken, die man gewöhnlich mit Sadomaso und Folter verbindet. Eine umfangreiche Bibliothek über Mord, abartige sexuelle Neigungen und den Tod. Eine regelrechte Heimwerkerausrüstung für den Sexualstraftäter.«
Clayton schluckte schwer und merkte, wie seine Kehle austrocknete. »Das bedeutet noch lange nicht, dass er ein Mörder war.«
Agent Martin nickte. »Wie recht Sie haben, Professor. Nichts von alledem beweist, dass er ein Verbrechen begangen hat. Es beweist lediglich, dass er wusste, wie man es begehen kann. Diese Handschellen zum Beispiel. Auf eine seltsame Weise habe ich ihn fast bewundert. Offensichtlich hatte er sie zu irgendeinem Zeitpunkt dem Mädchen angelegt, und dann hatte er so viel Umsicht, sie in kochendes Wasser zu werfen, sobald er wieder zu Hause war. Es gibt nicht viele Mörder mit so viel Gespür fürs Detail. Das Fehlen von Geweberesten hat ihm bei den Verhören durch die Staatspolizei von New Jersey sogar geholfen. Die Tatsache, dass sie die Dinger nicht mit dem Verbrechen in Verbindung bringen konnten, hat seinem Selbstvertrauen Auftrieb gegeben.«
»Und die Kausalitätskette? Die Verbindung zu dem Mädchen?«
Agent Martin zuckte die Achseln. »Man hat ihm nie irgendetwas nachweisen können, das konkret genug war. Eine Schülerin, die einen Kurs bei ihm besuchte, genau, wie er sagt. Das Ganze lief im Grunde auf das Sprichwort hinaus: Was wie eine Ente watschelt und wie eine Ente quakt, das ist vermutlich auch eine Ente. Sie verstehen, was ich meine, Professor?«
Martin trommelte frustriert mit spitzen Fingern auf dem Leder des Sessels.
»Ganz offensichtlich hatte der verdammte Cop von Anfang an seinen Meister gefunden. Von der ersten bis zur letzten Seite hat er seine Befragung nach dem Lehrbuch gemacht. So wie er es in jedem Seminar und jedem Kurs gelernt hatte. Als Auftakt zu einem Geständnis.« Der Agent seufzte. »Das war eben das Problem in der damaligen Zeit. Das Verlesen der Rechte. Rechte von Kriminellen. Und die Polizei. Du liebe Güte! Dieser geschniegelte und gebügelte, bis obenhin zugeknöpfte Haufen Gentlemen mit Offiziersgehabe. Selbst in Zivil und undercover sahen sie noch aus, als gehörte ihr Arsch in diese hautengen Uniformen. Wenn der durchschnittliche Mörder von denen vernommen wird – ich meine, der Kerl, der seine Alte wegpustet, weil er sie mit ’nem anderen erwischt, oder der Trottel, der beim Ladenüberfall sofort um sich schießt –, das können Sie gleich vergessen. Das sprudelt von selbst, dieses ›ja, Sir‹, und ›nein, Sir‹, ›wenn Sie meinen, Sir‹ – wie ein Wasserhahn ohne Dichtung. Ein Spaziergang. Aber hier lief es anders. Der arme Trottel von einem Cop hatte gegen Ihren Alten einfach keine Chance. Ich meine, intellektuell. Keine Chance. Als er in das Vernehmungszimmer hineingegangen ist, hat er sich eingebildet, Ihr Alter würde ihm auf dem Tablett servieren, wie er es gemacht hat und warum und dann auch noch wo und was sie sonst noch alles wissen wollten, so wie jeder andere blöde Killer, den sie sich vorgeknöpft haben. Ha! Stattdessen haben sie sich im Kreis gedreht – Walzer im Two-Step-Takt.«
»Sieht ganz so aus«, erwiderte Jeffrey.
»Und das sagt uns etwas, richtig?«
»Sie neigen zu kryptischen Äußerungen, Agent Martin, und suggerieren damit, ich verfügte über ein Wissen oder über Kräfte und Intuition, die ich nie für mich in Anspruch nehmen würde. Ich bin nichts weiter als ein Professor an einer Universität und habe als ein Spezialgebiet den Wiederholungstäter. Das ist alles. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Na schön, es sagt uns, dass er nicht kleinzukriegen war, nicht wahr, Professor? Er hatte mehr Durchhaltevermögen als ein Detective, der auf Teufel komm raus seinen Fall abschließen wollte. Und es sagt uns, dass er clever war, und keine Angst hatte, was das Faszinierendste ist, denn ein Krimineller, der vor dem Arm des Gesetzes keine Angst hat, ist immer interessant, nicht wahr? Was es mir aber vor allem sagt, ist etwas anderes, etwas, das mir wirklich zu schaffen macht.«
»Das wäre?«
»Sie kennen doch diese Satellitenfotos, die diese Wetterfrösche beim Fernsehen so lieben? Auf denen Sie erkennen können, wie eine Sturmzelle an Intensität gewinnt, wie sie wächst und sich formiert, wie die Feuchtigkeit und der Wind sie zusammenballen, bevor es richtig losgeht?«
»Ja«, bestätigte Jeffrey und staunte über die lebhafte Vorstellungskraft des Mannes.
»Menschen können wie diese Sturmzellen sein. Nicht viele. Aber ein paar. Und ich denke, Ihr Vater war einer von ihnen. Einer, der von der Erregung des Augenblicks lebte. Mit jeder Frage, jeder Minute, die in diesem Vernehmungszimmer verstrich, ballte sich diese seltsame, gefährliche Kraft in ihm zusammen. Dieser Cop hat versucht, ein Geständnis aus ihm herauszukitzeln …« Martin legte eine Pause ein und holte Luft. »… aber er hat dazugelernt.«
Jeffrey ertappte sich dabei, wie er nickte. Ich sollte eigentlich in Panik sein, dachte er. Stattdessen empfand er eine einzig artige Kälte. Wieder holte er tief Luft. »Sie scheinen über dieses Geständnis, zu dem es nie gekommen ist, eine Menge zu wissen.«
Agent Martin nickte. »Oh ja, allerdings. Weil nämlich ich der vollkommen dämliche Neuling war, der Ihren alten Herrn zum Reden bringen wollte.«
Jeffrey zuckte zurück.
Martin beobachtete ihn, während er scheinbar über seine Bemerkung nachsann. Dann lehnte er sich vor, so dass sein Gesicht ganz nahe an Claytons heranrückte und seine Worte so eindringlich wirkten, als hätte er geschrien: »Man wird zu dem, was man als Kind an Erfahrungen in sich aufnimmt. Das wissen wir alle, Professor. Das macht mich zu dem, was ich bin, und bei Ihnen ist das nicht anders. Sie mögen das bis jetzt erfolgreich verleugnet haben, aber damit ist es vorbei. Dafür werde ich sorgen.«
Jeffrey fuhr zurück. »Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte er noch einmal.
Der Agent entspannte sich. »Ein bisschen altmodische Detektivarbeit. Ich erinnerte mich noch gut, wie sich Ihr Vater über Namen ausgelassen hatte. Wissen Sie, die meisten Menschen hassen es tatsächlich, ihren Namen aufzugeben. Namen sind etwas Besonderes. Sie verbinden uns mit unseren Ahnen. Mit der Vergangenheit, all das. Sie verankern uns in der Welt. Und Ihr Vater hat mir das Stichwort gegeben, als er den Mädchennamen Ihrer Mutter nannte. Ich wusste, dass sie klug genug sein würde, den nicht einfach wieder anzunehmen – dann hätte er sie allzu leicht gefunden. Aber, na ja, wie das nun mal so ist mit Namen, die Leute geben sie nicht gerne auf. Wissen Sie, woher ›Clayton‹ kommt?«
»Ja«, erwiderte der Professor.
»Ich auch. Nachdem Ihr Vater den Mädchennamen Ihrer Mutter preisgegeben hatte, dachte ich mir, nun, das wäre wirklich zu offensichtlich, aber niemand verleugnet gern seinen Stammbaum, selbst wenn man sich vor jemandem versteckt, den man für ein Monster hält. Also hab ich nur so aus Jux und Tollerei mal nachgeschlagen und den Mädchennamen der Mutter Ihrer Mutter rausgefunden. Clayton. Nicht ganz so offensichtlich, wie? Und schwupp, hatte ich die Namen zusammengesetzt – ›mein Sohn, der nach mir Jeffrey heißt …‹ Ich bin davon ausgegangen, dass keine Mutter die Vornamen ihrer Kinder ändert, wie umsichtig das auch gewesen wäre – und siehe da, ich hatte Jeffrey Clayton. Da hat es bei mir geklingelt, verstehen Sie? Der nicht ganz unbekannte Professor Tod – in Kripokreisen durchaus kein unbeschriebenes Blatt. Und können Sie sich denken, wie mich diese Verbindung fasziniert hat, als ich erfuhr, dass noch eines der Opfer mit ausgebreiteten Armen, dieser quasi gekreuzigten Opfer, denen ein Finger fehlt, zufällig Ihre Studentin gewesen ist? Der Mädchenname der Mutter Ihrer Mutter. Saubere Arbeit, nicht wahr? Glauben Sie, Ihr Daddy hat auch die Verbindung hergestellt?«
»Nein, zumindest haben wir nie wieder etwas von ihm gesehen. Oder gehört. Wie gesagt. Nachdem wir ihn in New Jersey verlassen hatten, war er sozusagen aus unserem Leben getilgt.«
»Sind Sie sich wirklich so sicher?«
»Ja.«
»Nun ja, ich denke, Sie sollten sich nicht ganz so darauf verlassen. Was Ihren Alten betrifft, sollten Sie nichts für sicher halten. Wenn nämlich ich dieses nette kleine Täuschungsmanöver durchschauen konnte, dann er vielleicht auch.«
Der Detective streckte die Hand nach dem Foto von Claytons ermordeter Studentin aus, nahm es und schleuderte es quer über den Tisch, so dass es direkt vor dem Professor liegen blieb.
»Ich glaube, Sie haben bereits von ihm gehört.«
Jeffrey schüttelte den Kopf. »Er ist tot.«
Agent Martin sah auf. »Ich beneide Sie um Ihre Gewissheit, Professor. Es muss ein schönes Gefühl sein, sich immer in allem so sicher zu sein.« Bevor er fortfuhr, seufzte er. »Meinetwegen. Wenn Sie es mir beweisen können, dann werde ich mich bei Ihnen entschuldigen, und Sie bekommen einen netten kleinen Scheck als Entschädigung für Ihren Zeitaufwand vom Gouverneur des Westlichen Territoriums plus eine sichere, komfortable Heimfahrt in einer Luxuslimousine.«
Irrsinn, dachte Jeffrey.
Und dann fragte er sich: Ist es das?
Er ertappte sich dabei, wie er an dem Agenten vorbei in den Hauptlesesaal der Bibliothek starrte. Dort saßen ein paar Leute still über ihrer Lektüre, vorwiegend ältere Menschen, halb hinter den Worten vergraben, die sie geöffnet vor sich hielten. Die idyllische, altmodische Szene konnte fast zum Glauben an eine heile Welt verleiten. Er ließ den Blick über die Regale wandern, über die Bücher, die in Reih und Glied geduldig darauf warteten, dass jemand sie zur Hand nahm, aufschlug und die Informationen daraus schöpfte, die ein wissbegieriger Geist sich von ihnen erhoffte. Er fragte sich, ob einige der Bücher für immer verschlossen bleiben würden, weil die Worte zwischen ihren Deckeln im Wandel der Zeit überholt und nutzlos geworden waren. Oder auch nur vergessen, weil die Information, die sie beinhalteten, nicht per Tastatur abrufbar war.
Wieder stellte er sich seinen Vater aus dem Blickwinkel des Kindes vor.
Ihm kam ein Gedanke: Nicht die neuen Ideen sind wirklich gefährlich, sondern die alten, die in jeder Umgebung seit Jahrhunderten durch die Köpfe der Menschen geistern. Vampir-Ideen.
Mord als Virus, gegen jedes Antibiotikum resistent.
Er schüttelte den Kopf und sah, dass Agent Martin einmal wieder grinste, während er beobachtete, wie es in Jeffrey arbeitete. Nach einer Weile rekelte sich der Polizist, packte die Lehnen des Sessels und stand auf.
»Schnappen Sie sich Ihre Sachen. Es ist schon spät.«
Martin sammelte die Berichte und Fotos ein, stopfte sie in die Aktentasche und schritt zügig zum Ausgang. Clayton eilte hinterher. An den Metalldetektoren nickten sie beide der Bibliothekarin zu, die dem Detective die Waffen aushändigte, auch wenn ihre andere Hand über dem Alarmknopf schwebte, während er sich unter dem Jackett die Halfter anlegte.
»Machen Sie schon, Clayton«, drängte Martin grimmig, als er durch das Eingangsportal in die pechschwarze, fast schon winterliche Nacht der kleinen Stadt in New England trat. »Es ist spät. Ich bin müde. Wir haben morgen eine weite Reise vor uns, und da draußen wartet jemand, den ich töten muss.«