17. KAPITEL
Die erste Tür wird geöffnet
Diana und Susan Clayton liefen die Gangway hinunter. In ihrem Handgepäck führten sie eine beträchtliche Anzahl von Medikamenten, einige Waffen, für die sie erstaunlicherweise eine Genehmigung erhalten hatten, und eine gehörige Portion Angst mit sich. Diana sah sich in dem Strom gut gekleideter Geschäftsreisender um, fühlte sich einen Moment lang angesichts der glitzernden Hightech-Lichter im Flughafen verwirrt und wurde sich bewusst, dass dies seit knapp fünfundzwanzig Jahren das erste Mal war, dass sie Florida verließ. Noch nie hatte sie ihren Sohn in Massachusetts besucht – und auch nie eine Einladung von ihm bekommen. Und da sie sich so wirkungsvoll vom Rest ihrer Familie abgekapselt hatte, hatte es auch sonst niemanden gegeben, den sie hätte besuchen können.
Auch Susan war nicht oft verreist. In den letzten Jahren hatte sie es damit entschuldigt, ihre Mutter nicht allein lassen zu können. In Wahrheit jedoch führten sie ihre eigenen Reisen entweder in die intellektuelle Befriedigung der Spiele, die sie erfand, oder in die Einsamkeit ihres Flachboots auf seichtem Gewässer. Jeder Angelausflug war für sie ein einmaliges Abenteuer. Selbst wenn sie auf vertrauten Wassern reiste, war es jedes Mal anders und ungewöhnlich. Bei den Erfindungen ihres Alter Ego Mata Hari verhielt es sich ähnlich.
Sie stiegen in Miami mit dem Gefühl ins Flugzeug, dem Ende einer Geschichte näherzukommen, ohne bislang gewusst zu haben, dass sie darin eine Rolle spielten, und die dennoch ihr Leben auf unaussprechliche Weise beherrschte. Besonders Susan Clayton hatte die seltsame Aufregung eines Waisenkinds erfasst, seit sie wusste, dass der Mann, der sie verfolgte, ihr Vater war, und diese gespannte Erwartung hatte einen Teil der Ängste verdrängt: Jetzt werde ich herausfinden, weshalb ich so bin, wie ich bin.
Doch je näher die dröhnenden Turbinen sie der Welt des Einundfünfzigsten Bundesstaates brachten, desto mehr schwand die Zuversicht, und als sie schließlich unweit von New Washington mit dem Landeanflug begannen und zur letzten Runde über dem Flughafen ansetzten, hüllten sie sich beide in Schweigen, während Zweifel an ihnen nagten.
Wissen ist eine gefährliche Sache, dachte Susan. Selbsterkenntnis kann ebenso verletzen wie helfen.
Auch wenn sie diese Ängste einander nicht eingestanden, waren sich beide der Spannung bewusst, unter der sie inzwischen standen. Besonders Diana mit dem mütterlichen Instinkt und der vagen Furcht vor allem, was sie nicht unmittelbar verstand, hatte das Gefühl, als wäre ihr Leben plötzlich brüchig geworden, als säßen sie fest, während ein Unwetter heraufzog, als versuchten sie verzweifelt, einen abgewürgten Motor anzuwerfen, und horchten gebannt auf den immer heftiger brüllenden Wind. Als das Fahrgestell auf die Landebahn traf und über den Boden holperte, schloss sie die Augen und versuchte, sich an eine einzige Erinnerung aus Susans und Jeffreys Kindheit zu klammern, als es nur noch sie drei gab, arm, aber in Sicherheit, in dem kleinen Haus auf den Keys vor dem Albtraum versteckt, dem sie entkommen waren. Sie wollte sich an einen ganz normalen Tag erinnern, an dem nichts Bemerkenswertes passiert war. Ein Tag, an dem die Stunden einfach verstrichen waren, weiter nichts. Doch eine solche Erinnerung stellte sich nicht ein und schien in unerreichbare Ferne gerückt.
Als die beiden Frauen in der Ankunftshalle stehen blieben, löste sich Agent Martin von der gegenüberliegenden Wand, wo er sich unter einem großen Schild angelehnt hatte: WILL-KOMMEN AM BESTEN ORT DER WELT. Unter dem Schild verwiesen Pfeile auf die EINWANDERUNGS-BEHÖRDE, die PASSKONTROLLE und den SICHER-HEITSDIENST. Er legte die wenigen Meter bis zu ihnen mit drei großen Schritten zurück und versteckte seine Frustration darüber, für die beiden den Chauffeur zu spielen, unter dem breiten und wahrscheinlich leicht zu durchschauenden Lächeln, mit dem er Mutter und Tochter begrüßte.
»Hallo«, sagte er, »der Professor schickt mich, um Sie abzuholen.«
Susan betrachtete ihn misstrauisch. Sie sah sich seinen Dienstausweis, wie der Detective fand, ein, zwei Sekunden länger als nötig an.
»Wo ist Jeffrey?«, wollte Diana wissen.
Agent Martin lächelte, und diesmal so falsch, dass Susan es eindeutig durchschaute. »Nun ja, eigentlich hatte ich gehofft, das könnten Sie mir sagen. Mir hat er nur gesagt, er müsste nach Hause.«
»Dann ist er nach New Jersey gefahren«, überlegte Diana. »Ich wüsste nur gerne, was er sich davon erhofft.«
»Sind Sie sicher, dass Sie es nicht wissen?«, fragte Martin.
»Da sind wir beide geboren«, erklärte Susan dem Detective. »Da hat für uns alles angefangen. Da hat vieles angefangen. Er wird nach einer Spur suchen, die er verfolgen kann, um zu sehen, wo es alles enden wird. Das ist doch eigentlich naheliegend, besonders für einen Polizisten.«
Agent Martin runzelte die Stirn. »Sie sind diejenige, die diese Spiele entwirft, richtig?«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, richtig.«
»Das hier ist kein Spiel.«
Susan grinste süßsäuerlich. »Natürlich ist es das«, gab sie zurück. »Nur kein besonders schönes«, fügte sie bitter hinzu.
Da der Detective nicht gleich antwortete, herrschte einen Moment lang Schweigen, das Susan mit der Frage unterbrach: »Und jetzt bringen Sie uns irgendwo hin?«
»Ja.« Er zeigte auf die Passagiere der Business Class, die sich geduldig in einer Schlange vor der Passkontrolle aufreihten. »Ich habe ein paar Vorkehrungen getroffen, so dass wir den gewöhnlichen Papierkram umgehen können. Ich bringe Sie an einen sicheren Ort.«
Susan lachte zynisch. »Ausgezeichnet. Den Ort wollte ich schon immer mal sehen. Falls er existiert.«
Der Detective nahm eins der Gepäckstücke, die Diana auf den Boden gestellt hatte. Er griff auch nach Susans, doch sie winkte dankend ab. »Ich trage meine Sachen selbst«, sagte sie. »Habe ich schon immer.«
Agent Martin seufzte, lächelte und schwang sich zu noch größerer Heiterkeit auf. »Wie Sie wünschen«, meinte er und kam zu dem Schluss, dass er Susan Clayton nicht besonders sympathisch fand. Dass er ihren Bruder nicht mochte, wusste er längst, und über Diana Clayton konnte er sich so schnell kein Bild machen, auch wenn er neugierig war, was für eine Frau einen Mörder heiratete. Die Frau eines Mörders. Die Kinder eines Mörders. Einerseits konnte er mit ihnen allen nicht viel anfangen, doch auf der anderen Seite wusste er, dass sie für das, was er sich vorgenommen hatte, unverzichtbar waren. Er hob den Arm, zeigte Richtung Ausgang und rief sich ins Gedächtnis, dass es ihm scheißegal sein würde, wenn die Claytons – nachdem sie ihm und dem Einundfünfzigsten Staat geholfen hatten, das Problem zu lösen –, am Ende alle draufgingen.
Agent Martin bot den Frauen eine Kurzversion der Touristenrundfahrt durch New Washington. Er zeigte ihnen die Amtsgebäude, ohne sie jedoch mit nach drinnen zu nehmen, besonders nicht in das Büro, das er mit Jeffrey teilte. Während sie durch die Straßen und Boulevards der City fuhren, redete er munter drauflos und erläuterte ihnen gut gelaunt die Sehenswürdigkeiten. Er machte Schwenks in die näher gelegenen Neubaugebiete, hielt sich immer an die grünen Viertel, um schließlich vor einer etwas abseits gelegenen Reihe Stadthäuser zu halten, die an ein paar der teureren Vororte grenzte und ein gutes Stück vom Geschäftszentrum der City entfernt war.
Die Stadthäuser, die in ihrem Zuschnitt und ihrer Gesamtanlage – mit einigen barocken Schnörkeln und weinbewachsenen Wänden – die Reihenhäuser in San Francisco imitierten, befanden sich am Ende einer Sackgasse am Fuße der ersten vorgelagerten Hügelketten, nur wenige Meilen von den eigentlichen Bergen im Westen entfernt. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein öffentliches Schwimmbad neben einem halben Dutzend Tennisplätzen sowie ein weiträumiger Spielplatz mit Klettergerüsten und Schaukeln für kleine Kinder. Hinter den Stadthäusern schlossen sich bescheidene Rasengrundstücke an – gerade genug Platz für einen Tisch, ein paar Stühle, einen Grill und eine Hängematte. Ein etwa drei Meter hoher massiver Holzzaun markierte die Rückseite jedes Grundstücks und diente weniger dem Schutz vor Eindringlingen als vielmehr der Sicherheit der Kinder, die davor bewahrt werden sollten, hinüberzuklettern und eine steile Böschung hinunterzufallen, die hinter den Reihenhäusern lag. Jenseits des Grabens befand sich freies Bauland, größtenteils mit Unkraut, Gebüsch und knorrigen Salbeisträuchern bewachsen.
Das letzte Haus war staatliches Eigentum.
Agent Martin bog auf einen kleinen Parkplatz ein. »Da wären wir«, meinte er. »Hier werden Sie sich wohl fühlen.« Er ging um den Wagen herum zum Kofferraum, nahm das Gepäck von Diana und ließ die Hecktür für Susan offen. Er war schon auf dem kurzen Gehweg zum Haus, als die junge Frau fragte:
»Wollen Sie nicht abschließen?«
Er drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Ich hab Ihrem Bruder bereits dasselbe gesagt. Hier ist es nicht nötig, den Wagen abzuschließen. Hier ist es nicht nötig, die Haustür abzuschließen. Hier ist es nicht nötig, Ihren Kindern elektronische Ortungsgeräte umzuschnallen. Hier ist es nicht nötig, jedes Mal beim Betreten und Verlassen des Hauses die Alarmanlage ein- und auszuschalten. Hier nicht. Darum geht es schließlich. Das ist das Schöne an diesem Staat. Sie brauchen Ihre Tür nicht abzuschließen.«
Susan schwieg und ließ den Blick argwöhnisch über die Sackgasse schweifen.
»Doch, das müssen wir«, erwiderte sie. Inmitten des leisen, dumpfen Aufschlags von Tennisbällen und des fröhlichen Geschreis spielender Kinder aus der Ferne klangen ihre Worte deplaziert.
Der Detective brauchte nicht lange, um den beiden Frauen das Haus von innen zu zeigen. Es gab eine Küche mit anschließendem Esszimmer, das in ein kleines Wohnzimmer überging. Daran angrenzend befand sich ein Medienzimmer mit Computer, Stereoanlage und Fernseher. Auch im Küchenbereich stand ein Computer und ein dritter in einem der drei Schlafzimmer im Obergeschoss. Das ganze Haus war in einem unauffälligen Stil eingerichtet, einen Hauch besser als ein gutes Hotel, aber eine Stufe unter dem, was eine echte Familie investieren würde. Agent Martin erklärte, dieses Haus werde von den Behörden benutzt, um darin Geschäftsleute unterzubringen, die in keinem der Hotels absteigen wollten.
»Sie können alles, was Sie brauchen, per Computer ordern«, erklärte er Susan. »Ihre Lebensmittel bestellen. Einen Film. Eine Pizza. Egal, was. Wegen der Kosten machen Sie sich keine Sorgen. Ich setze alles der Staatssicherheit auf die Rechnung.«
Martin schaltete einen der Computer ein. »Das ist Ihr Passwort«, sagte er und tippte 2KODAK1. »Jetzt können Sie sich alles, was Sie wollen, direkt vor die Haustür liefern lassen.« Der heitere Ton verdeckte eine Lüge.
Er trat zurück und beobachtete Susan, um zu sehen, ob sie die Doppeldeutigkeit mitbekommen hatte, doch ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
»Also«, sagte er nach einer Weile, »ich geh dann mal, und Sie können sich häuslich einrichten. Sie können sich direkt per Computer bei mir melden. Ihr Bruder auch, wenn er zurück ist, aber ich schätze, ich höre schon früher von ihm. Dann können wir uns alle treffen und die nächsten Schritte besprechen.« Agent Martin machte Anstalten zu gehen. Diana stand am Computer und gab mit einer triumphierenden Geste die Seite eines Lebensmittelladens ein. Auf dem Bildschirm erschien in leuchtenden Lettern: WILLKOMMEN BEI A&P!, woraufhin ein elektronischer Einkaufswagen sich durch Gang Eins, Gemüse und Früchte, in Bewegung setzte. Susan ließ Agent Martin nicht aus dem Auge, und der Detective dachte: Vor der nimm dich in Acht.
»Wir kommen bestimmt zurecht«, meinte Susan.
Als Agent Martin das Haus verlassen hatte, hörte er hinter sich das ungewohnte Geräusch eines Riegels, der vorgeschoben wurde.
Susan lief durch das Haus, während ihre Mutter per Computer Lebensmittel bestellte und die Lieferung durch einen lokalen Service arrangierte. Susan freute sich, als sie hörte, wie Diana ein paar Dinge orderte, die sie normalerweise als Luxus betrachtet hätten – etwas Brie, Importbier, einen teuren Chardonnay, Filetsteak. Susan inspizierte ihr Domizil wie ein General ein Stück Land vor der Schlacht. Es war wichtig für sie zu wissen, wo der Kampf ausgetragen werden würde, wenn es dazu kam. Sie musste erhöhtes Gelände zu ihrem Vorteil nutzen können und wissen, wo sie einen Hinterhalt legen konnte.
Diana hatte inzwischen bemerkt, was Susan beschäftigte, und beschloss, sich ihrerseits zu rüsten. Als sie ihre Bestellung abgeschlossen hatte, bat sie den Lieferservice um eine Beschreibung der Person, die sie schicken würden, außerdem um eine Beschreibung des Lieferwagens. Doch als sie aus der Leitung ging, traf sie die Erschöpfung vom Flug und die Anspannung wegen des Grunds ihrer Reise mit voller Wucht. Sie ließ sich schwer in einen Sessel fallen und schaute ihrer Tochter zu, die sich langsam von Zimmer zu Zimmer durcharbeitete.
Susan sah, dass die einzigen Schlösser an den Fenstern im Erdgeschoss veraltet und wahrscheinlich unwirksam waren. Die Haustür verfügte über einen einzigen Riegel, aber keine Kette. Es gab keine Alarmanlage. An der Rückseite befand sich eine Schiebetür zur Terrasse, mit einem Schnappschloss, das nicht dafür ausgelegt war, irgendetwas draußen zu halten. In einer Abstellkammer fand sie einen Besen, lehnte ihn an eine Wand und brach, mit einem schnellen Tritt, den Stiel vom Kopfteil ab. Sie verkeilte den Stiel zwischen Rahmen und Tür, so dass diese zwar mit primitiven Mitteln, aber dennoch wirkungsvoll verschlossen war. Wer hier einbrechen wollte, musste die Scheibe einschlagen.
Das Obergeschoss, stellte sie fest, war vermutlich sicher. Sie konnte keine Stelle entdecken, von der aus jemand ohne Leiter an eins der Fenster gelangen konnte. An der Rückseite des Hauses reichte ein kleines Blumenspalier bis zum Balkon des Elternschlafzimmers, doch sie bezweifelte, dass es dem Gewicht eines Erwachsenen standhalten würde, und die Rosen, die sich daran hochrankten, hatten spitze Dornen. Mehr Bedenken hatte sie hinsichtlich der angrenzenden Häuser; sie hielt es außerdem für möglich, dass jemand es über das Dach probieren könnte, stellte aber auch fest, dass es ihr nicht möglich war, dagegen Vorkehrungen zu treffen. Glücklicherweise hatte das Dach eine steile Neigung, und sie ging davon aus, dass jemand, der einbrechen wollte, es erst einmal im Erdgeschoss versuchen würde.
Sie machte ihre kleine Reisetasche auf und holte drei verschiedene Pistolen heraus. Neben den beiden Handfeuerwaffen – einer kurzläufigen Colt Magnum .357, die sie mit Flachkopfgeschossen geladen hatte, einer ausgesprochen wirkungsvollen Waffe für kurze Distanzen, und einer leichten Ruger .380 Halbautomatik, mit neun Schuss im Ladestreifen und einem zehnten in der Kammer – hatte sie eine vollautomatische Uzi-Maschinenpistole dabei. Sie hatte die Uzi von einem ehemaligen Drogendealer auf den Keys illegal erstanden, einem Mann, mit dem sie Angler-Informationen austauschte und der nie beleidigt war, wenn sie seine Einladungen zu einem Date ein ums andere Mal ausschlug. Der Verehrer hatte ihr die Waffe geschenkt, so wie andere Männer in früheren Zeiten Blumen oder Pralinen mitgebracht hätten. Sie hängte die Maschinenpistole an einem Gurt über einen Kleiderbügel im Schrank des Schlafzimmers im ersten Stock und tarnte sie mit einem Sweatshirt.
Im Flur des Obergeschosses befand sich ein Wäscheschrank; sie versteckte die Ruger, geladen und schussbereit, zwischen zwei Handtüchern im mittleren Fach. Die Magnum wurde in der Küche hinter einer Reihe Kochbücher verstaut. Sie zeigte ihrer Mutter, wo sich die Waffen befanden.
»Hast du gemerkt«, fragte Diana leise, aber in trotzigem Ton, »dass hier nirgends bewaffnete Sicherheitsleute zu sehen sind? Zu Hause wimmelt es davon. Hier nicht.«
Sie bekam keine Antwort.
Die beiden Frauen gingen ins Wohnzimmer und ließen sich einander gegenüber auf die Polster fallen. Auch bei Susan machte sich plötzlich Erschöpfung breit. An Diana Clayton nagten fortgesetzt Schmerzen aufgrund ihrer Krankheit. Eine Weile lang hatte der Krebs sie in Frieden gelassen, fast, als wollte er sehen, welche Folgen diese seltsamen Ereignisse für ihn hatten. Doch jetzt, nachdem er festgestellt hatte, dass der Schauplatzwechsel keine Bedrohung darstellte, hielt er es für angebracht, sich in Erinnerung zu bringen. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Bauch, und sie schnappte laut nach Luft.
Ihre Tochter schaute auf. »Alles in Ordnung?«
»Ja, kein Problem«, log Diana.
»Du solltest dich ausruhen. Eine Tablette nehmen. Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Das geht vorüber. Aber ich nehme besser ein, zwei Pillen.«
Susan stand auf und hockte sich neben die Knie ihrer Mutter, um ihre Hand zu streicheln. »Es tut weh, nicht wahr? Was kann ich tun?«
»Vielleicht hätten wir nicht herkommen sollen?«
Diana lachte. »Wo sollten wir denn sonst hin? Zu Hause auf ihn warten, jetzt, da er uns gefunden hat? Ich bin genau da, wo ich sein möchte. Schmerzen hin, Schmerzen her. Was auch immer passiert. Außerdem hat Jeffrey gesagt, er braucht uns. Wir brauchen uns alle gegenseitig. Und wir müssen diese Sache zu einem Ende bringen. So oder so.«
Diana schüttelte den Kopf.
»Weißt du, Liebes, irgendwie habe ich fünfundzwanzig Jahre auf diesen Moment gewartet. Jetzt, da es so weit ist, lasse ich mir das nicht nehmen.«
Susan zögerte. »Du hast nie über unseren Vater gesprochen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir je über ihn geredet hätten.«
»Aber das haben wir«, erwiderte ihre Mutter mit einem Lächeln. »Tausendmal. Jedes Mal, wenn wir über uns geredet haben. Oder übereinander. Jedes Mal, wenn du ein Problem hattest oder etwas, das dir wehgetan hat, haben wir über deinen Vater geredet. Das war dir nur nicht bewusst.«
Susan zögerte mit ihrer Frage. »Wieso? Ich meine, was hat dich dazu gebracht, ihn zu verlassen, damals?«
Ihre Mutter zuckte die Achseln. »Ich wünschte, ich könnte es dir sagen. Ich wünschte, es hätte einen bestimmten Moment gegeben. Aber den gab es nicht. Es war die ganze Art, wie er klang, wie er sprach. Wie er mich am Morgen ansah. Wie er plötzlich verschwand und dann plötzlich am Ausguss in der Küche stand und sich obsessiv die Hände wusch. Oder am Herd, wo er ein Jagdmesser in einem Topf Wasser abkochte. Ist es dieser durchdringende Blick gewesen? Der schroffe Klang seiner Worte? Einmal habe ich schreckliche, grausame Pornographie bei ihm gefunden, und er hat mich angebrüllt, ich sollte es nur ja nie wieder wagen, seine Sachen anzurühren. War es sein Geruch? Kann man das Böse riechen? Hast du gewusst, dass der Mann, der Eichmann identifiziert hat, blind war? Er hat den Buchhalter des Todes an seinem Rasierwasser erkannt. Irgendwie war es bei mir genauso. Es war eigentlich nichts. Und zugleich alles auf einmal.«
»Wieso hat er dich nicht aufgehalten?«
»Ich glaube, er hat mir nicht zugetraut, dass ich es schaffe. Ich glaube, er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ich ihm tatsächlich dich und deinen Bruder wegnehmen würde. Er hat wahrscheinlich gedacht, wir würden an der nächsten Kreuzung umkehren. Oder vielleicht am Rand der Stadt. Auf jeden Fall, bevor wir bis zur Bank kommen und ich mir ein bisschen Geld holen konnte. Er hätte nie gedacht, dass ich einfach weiterfahren würde, ohne einmal zurückzublicken. Er war viel zu arrogant, um mir so was zuzutrauen.«
»Aber du hast es gemacht.«
»Ja. Es stand viel auf dem Spiel.«
»Was?«
»Du und dein Bruder.«
Diana lächelte ironisch, als gäbe es nichts Näherliegenderes; dann griff sie in ihre Tasche und zog ein kleines Pillenfläschchen hervor. Sie schüttete sich zwei Tabletten in die Hand und warf sie sich in den Mund, um sie ohne Wasser zu schlucken.
»Ich denke, ich leg’ mich ein Weilchen hin«, erklärte sie. Sie strengte sich an, zügig zu laufen und jedes Schwanken oder Hinken zu vermeiden, das die Krankheit verursachte, als sie zur Treppe ging und hinaufstieg.
Susan blieb sitzen. Sie horchte auf das Öffnen und Schließen der Bade- und der Schlafzimmertür. Sie lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und versuchte, sich den Mann vorzustellen, der ihnen auf den Fersen war.
Graues Haar statt braunes? Sie erinnerte sich an ein Lächeln, ein legeres, spöttisches Grinsen, das ihr Angst machte. Was hat er uns angetan? Es musste etwas geben, aber was? Sie verfluchte innerlich ihre lückenhafte Erinnerung, denn sie wusste, dass etwas passiert, aber durch jahrelange Verdrängung verschüttet war. Sie stellte sich vor, wie sie selbst als Kind gewesen war, ein Wildfang mit Pferdeschwanz, schmutzigen Fingernägeln und in Jeans, der durch ein großes Haus läuft. Es gab ein Arbeitszimmer, rief sie sich ins Gedächtnis. Meistens war er da. Vor ihrem geistigen Auge war sie klein, vielleicht drei oder vier, und stand vor der Tür zum Arbeitszimmer. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie die Tür aufschob und den Mann im Zimmer anstarrte, doch sie brachte es nicht über sich. Sie riss die Augen auf und schnappte nach Luft, als hätte sie unter Wasser den Atem angehalten. Ihr Herz raste. Sie blieb sitzen, bis es sich beruhigt hatte.
Als plötzlich das Telefon klingelte, sprang sie auf und war mit einem großen Schritt am Hörer.
»Susan?« Es war ihr Bruder.
»Jeffrey! Wo steckst du?«
»Ich war in New Jersey. Bin auf dem Rückweg. Ich muss nur noch jemanden in Texas sprechen, das heißt, wenn er mich empfängt, da bin ich mir aber nicht sicher. Bei dir und Mom alles klar? Hattet ihr einen guten Flug?«
Susan drückte auf die Computerverbindung, und Jeffreys Gesicht erschien auf dem Monitor. Er wirkte fast freudig erregt, was sie erstaunlich fand.
»Wir hatten einen guten Flug«, berichtete sie knapp. »Mich interessiert weitaus mehr, was du rausgefunden hast.«
»Ich habe festgestellt, dass es nahezu unmöglich sein wird, unseren Vater mit herkömmlichen Mitteln zu finden. Ich erklär’s euch im Einzelnen, wenn wir uns sehen. Aber uns bleiben nur unorthodoxe Methoden. Ich glaube, das hatte die dortige Polizei mehr oder weniger auch schon begriffen, als sie mich ins Boot holten. Vielleicht war es ihnen letztlich nicht klar, aber darauf läuft es hinaus.«
Er schwieg, dann fragte er: »Und? Wie gefällt dir die Zukunft?«
Susan zuckte die Achseln. »Werd ’ne Weile brauchen, um mich dran zu gewöhnen. Dieser Staat ist so blitzsauber und korrekt, dass man sich fragt, was passiert, wenn man in der Öffentlichkeit rülpst. Wahrscheinlich kriegt man einen Strafzettel. Oder wird verhaftet. Ist mir irgendwie unheimlich. Den Leuten gefällt das?«
»Offenbar schon. Du wirst dich wundern, auf was die meisten für echte Sicherheit verzichten. Und du wirst dich wundern, wie schnell du dich dran gewöhnst. War Martin eine Hilfe?«
»Der unglaubliche Hulk? Wo hast du denn den aufgetrieben?«
»Eigentlich hat er mich aufgetrieben.«
»Na ja, er hat uns ein bisschen rumkutschiert und dann in dieses Haus verfrachtet, wo wir auf dich warten sollen. Woher hat er diese Narben am Hals?«
»Keine Ahnung.«
»Muss ’ne ganz schöne Geschichte dahinterstecken.«
»Ich weiß nicht, ob ich sie hören will.«
Susan lachte, und Jeffrey hatte das Gefühl, sie seit Jahren zum ersten Mal lachen zu hören.
»Er wirkt wie ein extrem harter Bursche.«
»Er ist gefährlich, Susie. Trau ihm nicht über den Weg. Er ist wahrscheinlich die zweitgefährlichste Person, mit der wir es zu tun haben. Nein, korrigiere, die drittgefährlichste. Der zweiten statte ich einen Besuch ab, bevor ich zurück bin.«
»Jemand, der mir helfen könnte. Wenn er will. Wird sich zeigen.«
»Jeffrey …« Sie zögerte. »Ich muss dich etwas fragen. Was hast du über …« Sie setzte noch einmal an. »… unseren Dad rausgefunden? Dad passt wohl nicht. Unseren Paps? Unseren allerliebsten Vater? Gott, Jeffrey, wie soll ich ihn nennen?«
»Sieh ihn nicht als einen Menschen, mit dem wir blutsverwandt sind. Sieh in ihm ein Wesen, mit dem wir es besser als irgendjemand anders aufnehmen können.«
Susan hüstelte. »Das ist ein plumper Trick. Was hast du über ihn rausgefunden?«
»Ich habe erfahren, dass er gebildet und mit allen Wassern gewaschen ist, extrem reich und ganz und gar herzlos. Die meisten Mörder passen in keine dieser Kategorien außer der letzten. Ein paar vielleicht in zwei, weshalb sie äußerst schwer zu fassen sind. Ich hab noch nie von einem Mörder gehört, der drei dieser Kategorien erfüllt, geschweige denn, alle vier.«
Diese Beschreibung erwischte Susan eiskalt. Sie merkte, wie ihre Kehle trocken wurde. Sie hätte gerne etwas Kluges gefragt oder etwas Tiefsinniges gesagt, aber ihr fehlten die Worte. Sie war erleichtert, als Jeffrey fragte: »Wie geht es Mom?«
Susan warf einen Blick über die Schulter, die Treppe hoch, wo ihre Mutter sich hingelegt hatte und hoffentlich schlief.
»Hält sich soweit recht gut. Hat Schmerzen, aber sie lässt sich noch weniger unterkriegen als sonst, was irgendwie merkwürdig ist. Ich habe das seltsame Gefühl, dass die Sache bei ihr Kräfte mobilisiert. Jeffrey, weißt du, wie krank sie ist?«
Jetzt verstummte ihr Bruder. Ihm lagen mehrere Antworten auf der Zunge, aber er brachte nur ein schwaches »Sehr«, heraus.
Sie schwiegen beide, während er versuchte, das Wort zu begreifen.
Die Vergangenheit seines Vaters erschien Jeffrey wie eine Platte aus nassem Zement, der gekonnt geglättet und über die Jahre ausgehärtet war. Die Vergangenheit seiner Mutter hingegen war für ihn wie eine Leinwand in flammenden Farben. Das war der Unterschied zwischen beiden.
Susan schüttelte den Kopf. »Aber sie will hier sein. Wie gesagt, das alles scheint ihr einen wahren Energieschub zu geben. Obwohl wir den ganzen Tag auf Reisen waren, wirkte sie noch ziemlich munter.«
Jeffrey schwieg, und in diesem Moment kam ihm eine Idee. »Meinst du, dass du Mutter allein lassen kannst?«, fragte er. »Nicht für lange. Nur für einen Tag.«
Susan antwortete nicht sofort. »Wieso? Was hast du vor?«
»Vielleicht möchtest du bei einer Vernehmung dabei sein. Dann hast du eine bessere Vorstellung davon, womit wir es zu tun haben, und auch davon, womit ich meine Brötchen verdiene.«
Susan zog interessiert eine Augenbraue hoch. »Klingt aufregend. Ich weiß nur nicht, ob ich Mutter …« Sie hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Diana stand am unteren Treppenabsatz und betrachtete sie und Jeffrey auf dem Bildschirm. Sie beantwortete die Frage für alle beide.
»Hallo, Jeffrey«, begrüßte sie ihren Sohn mit einem Lächeln. »Ich habe deine Stimme gehört und dachte, ich träume, doch dann habe ich gemerkt, dass du es wirklich bist, deshalb bin ich runtergekommen. Ich kann es kaum abwarten, bis wir drei wieder zusammen sind.«
Diana drehte sich zu ihrer Tochter um und dachte an all die wenigen Worte, die Susan und Jeffrey über die letzten Jahre miteinander gewechselt hatten, und sie fand es beinahe amüsant, dass ihre Beziehung ausgerechnet durch den Mann wieder ins Lot kommen sollte, vor dem sie als Kinder geflohen waren. »Geh«, sagte sie. »Für einen Tag schaffe ich das schon. Ich werde es einfach ruhig angehen lassen. Mich ein bisschen erholen. Vielleicht einen Spaziergang machen. Oder ich lasse mir von jemandem ein bisschen mehr vom Territorium zeigen. Jedenfalls gefällt es mir hier, glaube ich. Es ist sehr sauber. Und ruhig. Es erinnert mich ein bisschen daran, wie es in meiner Kindheit war.«
Das überraschte Susan. »Tatsächlich?« Sie nickte. »In Ordnung. Wenn du sicher bist …« Ihre Mutter winkte ab. »Was soll ich machen?«, fragte sie ihren Bruder.
»Fahr morgen früh zum Flughafen und nimm den ersten Flieger nach Texas. Von da eine Pendlerverbindung nach Huntsville. Der Computercode, den Agent Martin dir gegeben hat, sollte das alles abdecken, das Buchen der Flüge, die Bezahlung und alles andere. Nimm nicht viel Gepäck mit und auf gar keinen Fall Waffen.«
»In Ordnung. Was gibt es in Huntsville, Texas?«
»Einen Mann, bei dessen Festnahme ich geholfen habe.«
»Er sitzt im Gefängnis?«
»Im Todestrakt.«
»Nun denn«, meinte sie nach kurzem Zögern. »Dann weiß er wohl, was er von der Zukunft zu erwarten hat.«
In seinem Büro in der Staatssicherheit spielte Agent Robert Martin das Band mit dem Telefongespräch zwischen Bruder und Schwester ab. Auf seinem Videomonitor musterte er Jeffreys Gesicht und suchte nach Anzeichen dafür, dass der Professor an Informationen gekommen war, die sie zu ihrer Zielperson führen könnten. Nach der Unterhaltung mit seiner Schwester zu urteilen war Jeffrey tatsächlich fündig geworden. Doch Agent Martin widerstand der Versuchung, sie mit aggressiven Mitteln aus ihm herauszubekommen. Was er wissen musste, würde er rechtzeitig erfahren, solange er aufmerksam beobachtete und abhörte.
Er beendete die Wiedergabe des Telefonmitschnitts und stellte den Computer so ein, dass alles, was Mutter oder Tochter auf den Hauscomputern machten, auch auf seinem Monitor erschien. Wenige Minuten später sah er, wie erwartet, die Buchung der Flüge. Kurz danach war für den frühen Morgen ein Taxi zum Flughafen bestellt. Auch die Gespräche im Haus waren separat aufgezeichnet worden, doch er kam zu dem Schluss, dass er die nicht zu belauschen brauchte.
Martin zuckte auf seinem Stuhl zusammen. Der unglaubliche Hulk, dachte er irritiert. Er merkte, dass er mit den Fingern über seine Narben strich.
Sie taten immer noch weh. Sie hatten immer wehgetan.
Ein Psychologe hatte ihm einmal erklärt, was Phantomschmerz ist, und beschrieben, dass einem Amputierten das abgenommene Bein noch lange wehtun konnte. Der Arzt hatte vermutet, das Brennen in seinen Narben am Hals fiele in dieselbe Kategorie. Die Verletzung war nicht mehr physisch, sondern mental. Doch der Schmerz war derselbe. Er hatte gehofft, mit dem Tod des Bruders, der sie ihm beigebracht hatte – eine Pfanne mit brutzelndem, zerlassenem Speck, die am Ende eines Streits quer über den Tisch an seine Kehle geflogen war – müssten sie verschwinden, aber das war nicht der Fall. Sein Bruder war vor über zehn Jahren bei einer Messerstecherei auf dem Gefängnishof ums Leben gekommen, und die Narben brannten immer noch. Über die Jahre hatte er sich mit der Empfindung und dem Schmerz irgendwie abgefunden und auch mit der Tatsache, dass er ein Mal auf der Haut trug, das ihn zu gleichen Teilen mit Hass und Schmerz erfüllte.
Er starrte auf den Monitor und rief sich noch einmal Jeffrey Claytons Gesicht ins Gedächtnis.
Sie haben beinahe recht, Professor. Ich bin der gefährlichste Mann, dem Sie je begegnen werden, dachte er. Nicht der zweit- oder drittgefährlichste, nein, ich führe die Liste an. Und es dauert nicht mehr lang, bis ich es Ihnen beweisen werde, und genauso Ihrem Vater.
Robert Martin grinste. Der einzige Unterschied zwischen seinem toten Bruder und ihm selbst war die Dienstmarke, die er besaß. Und damit fiel seine eigene Gewaltbereitschaft in eine völlig andere Kategorie.
Martin stieß sich vom Schreibtisch ab. Er notierte die Uhrzeit, für die der Wagen ans Haus bestellt worden war, und beschloss, da zu sein, um Susan Claytons Abreise zu observieren.
Der Bildschirm waberte vor seinen Augen wie an einem heißen Tag die flirrende Luft über dem Highway. Er hatte bereits einen einzigen Befehl eingetippt, mit dem er die Behörde autorisierte, für alle Ausgaben aufzukommen, die unter 2KODAK1 anfielen.
Er hatte diese Entscheidung bekräftigt, indem er in einem internen Memo 2KODAK1 als Diana und Susan Clayton aus Tavernier, Florida, identifizierte. Eine Kopie dieses Memos hatte er elektronisch an seine Vorgesetzten bei der Sicherheit wie auch bei der Einwanderungsbehörde und der Passkontrolle geschickt. Damit stand es Mutter und Tochter frei, innerhalb des gesamten Staates zu reisen wie auch, ihn zu verlassen und zurückzukehren.
Er schmunzelte. Dieses Memo war genau das, was Jeffrey ihm untersagt hatte.
Agent Martin wusste zwar nicht, wie lange der Mann, den er jagte, brauchen würde, bis er herausfand, dass seine Frau und seine Tochter in einem staatseigenen Haus in New Washington wohnten. Möglicherweise wusste er es schon, doch Martin bezweifelte, dass selbst ein so gewiefter Killer wie Jeffreys Vater derart schnell auf dem Laufenden war. Irgendwo zwischen vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden, nahm er an. Wenn er es herausgefunden hat, dachte er, und einiges von ihren Computeraktivitäten mitbekommt, wird er immer noch vorsichtig sein, auf der Hut, aber neugierig. Und langsam, aber sicher wird die Neugier die Oberhand gewinnen. Aber einfach nur die Computerpost zu lesen wird ihm nicht reichen, oder? Nein, er wird sie sehen wollen. Also geht er zu dem Haus und kundschaftet sie aus. Aber auch das wird ihm nicht genügen, nicht wahr? Nein. Er wird mit ihnen reden wollen. Auge in Auge. Und danach wird er auf Tuchfühlung mit ihnen gehen wollen.
Und wenn er das tut, bin ich da. Auf der Lauer.
Agent Martin stand auf: 2KODAK1 – zwei Köder Klasse eins. Schwaches Wortspiel, dachte er. Aber immerhin.
In diesem Moment kam ihm die Frage in den Sinn, ob die im Wald angepflockte Ziege aus Angst zu meckern beginnt, wenn sich der Tiger nähert, oder aus Frustration, weil sie weiß, dass ihr unbedeutendes Leben geopfert wird, damit der Jäger, der sich im Gebüsch versteckt, einen einzigen sauberen Schuss abgeben kann.
Als Agent Martin das Büro verließ, hatte er zum ersten Mal seit Wochen das Gefühl, einen Vorsprung gewonnen zu haben.
Es war noch stockdunkel, als der Detective von zu Hause aufbrach, um zu dem Haus zu fahren, in dem Mutter und Tochter schliefen. So früh am Morgen, vor Sonnenaufgang, herrschte noch wenig Verkehr. Das Leben im Einundfünfzigsten Bundesstaat war weniger hektisch als anderswo; die Geschäftszeiten richteten sich eher nach den Bedürfnissen der Bewohner, und so fuhr er in zügigem Tempo an den verschlafenen Wohngebieten vorbei. Den wenigen Fahrzeugen, die ihn überholten oder deren Scheinwerfer in seinem Rückspiegel aufblitzten, schenkte er wenig Beachtung. Er schätzte, dass ihm noch gut anderthalb Stunden bis Tagesanbruch blieben, und so fuhr er erst einmal gemächlich an der Abzweigung vorbei, die zu der Sackgasse der Claytons führte.
Er hatte das Haus mit Sorgfalt gewählt. Der Staat besaß in verschiedenen Gegenden eine Reihe von Häusern, die allerdings nicht alle im selben Maße verwanzt waren wie dieses. Und nicht alle lagen derart günstig. Der steile Abhang an der Rückseite des Viertels, der hohe Zaun am Rand des Grabens, der praktisch ausschloss, dass sich irgendjemand von dieser Seite näherte. Agent Martin bezweifelte, dass der Gesuchte diese Route wählen würde, denn das erforderte eine athletische Kraft, die er dem älteren Mann kaum zutraute. Außerdem schien dies nicht sein Stil zu sein; Jeffreys Vater war nicht die Sorte Mörder, die ihre Opfer überwältigen; er war eher der Typ, der sie austrickste und verführte, so dass sie viel zu spät begriffen, dass der Mann, in dessen Augen sie blickten, ihnen das größte Leid zufügen wollte.
Martin fuhr noch ein, zwei Minuten und gelangte in die ersten Ausläufer der Berge. Beinahe hätte er den unbefestigten Weg verpasst, nach dem er suchte, und musste fest auf die Bremse treten und das Lenkrad herumwerfen, um noch abbiegen zu können. Der nicht gekennzeichnete Streifenwagen holperte über das lose Geröll und wirbelte hinter sich eine braune Staubwolke auf, bevor er in der Nacht verschwand.
Die Straße war voller Schlaglöcher und Furchen, die der Regen gegraben hatte, und der Detective fuhr langsamer und fluchend, als er sah, wie seine Scheinwerfer hüpften. Ein Hase rettete sich vor ihm ins Gebüsch, und zwei Rehe erstarrten einen Moment lang im Licht, so dass die Augen rot leuchteten, bevor die Tiere plötzlich in großen Sätzen die Flucht ergriffen.
Er glaubte kaum, dass viele von dieser Straße wussten, und schätzte, dass in den letzten Jahren nur wenige hier entlanggefahren waren. Vogelkundler und Wanderer vielleicht. Radler mit Mountainbikes oder Naturfreunde mit Allradantrieb, die es am Wochenende hierher verschlug. Es gab hier wenig Lohnendes. Ein Feldvermessungsteam hatte den Weg für ein neues Bauvorhaben inspiziert, das Gelände aber als schlecht geeignet eingestuft. Ziemlich schwierig, Wasser und Baumaterial die Hänge hoch zu bekommen, und die Aussicht war nicht so spektakulär, dass sie die Mühe lohnte.
Die Reifen knirschten, als der Agent auf der sandigen Erde bremste. Er schaltete den Motor aus und blieb eine Weile sitzen, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Auf dem Beifahrersitz hatte Martin zwei Ferngläser: ein normales für die Zeit nach Sonnenaufgang und ein größeres, unhandlicheres Nachtsichtgerät in olivgrüner Tarnfarbe aus Militärbeständen. Er hängte sich beide um. Dann nahm er eine kleine Taschenlampe, die einen rötlichen Nachtstrahl aussandte, eine Schultertasche mit Butterteiggebäck sowie einer Thermosflasche mit schwarzem Kaffee und zog los.
Er schwenkte mit der Taschenlampe quer über den Pfad, um nicht auf eine schlafende Klapperschlange zu treten. Die Stelle, zu der er wollte, war nur hundert Meter von seinem Auto entfernt, doch das Gelände war beschwerlich, voller Felsgestein und lockerem Schiefersand, worauf man so leicht ausrutschen konnte wie auf dem Eis eines gefrorenen Sees. Er stolperte mehr als einmal, hielt sich mühsam aufrecht und stapfte weiter.
Martin brauchte fast eine Viertelstunde, um die Strecke zurückzulegen. Doch seine Belohnung lag vor ihm, als er das Ende des Trampelpfades erreichte. Er stand am Rand einer ansehnlichen Klippe, mit Blick über das Schwimmbad und die Tennisplätze. Von dieser Stelle aus hatte er einen ungehinderten Blick über die gesamte Häuserreihe. Vor allem aber lag das letzte Haus in seiner Schusslinie. Aus dieser Höhe konnte er sogar einen Teil der Terrasse sehen.
Martin lehnte sich an die Kante eines großen, flachen Findlings und setzte das Nachtsichtgerät an die Augen. Er suchte die ganze Gegend ab, sah jedoch nichts, was sich auf der Straße bewegte. Er ließ das Fernglas sinken, schraubte die Thermosflasche auf und goss sich einen Becher Kaffee ein. Die Flüssigkeit vermengte sich mit der Dunkelheit; es war, als schlürfte er ein wenig von der Nacht, nur dass sie ihm heiß den Schlund hinunterlief. Die Luft war kühl, und er legte die Hände um den Becher, um sie zu wärmen.
Zwischen zwei Schlucken summte er ein paar Melodien. Zuerst aus Broadway-Musicals, die er nie gesehen hatte, dann, während die Minuten verrannen, anonyme Klänge, die in Tonfolgen unbekannten Ursprungs hinüberglitten. Sie verloren sich im Dunkel und richteten gegen die Einsamkeit seiner Wache wenig aus.
Die Kälte und die nachtschlafende Zeit verschworen sich gegen ihn, und er musste sich anstrengen, in seiner Aufmerksamkeit nicht nachzulassen. Die Nacht schien Geräusche von sich zu geben; ein Rascheln im Gras und Gebüsch, ein dumpfes Schlagen von Stein an Stein. Gelegentlich schwenkte er das Nachtsichtgerät in alle Richtungen und suchte auch die Umgebung in seinem Rücken ab. Er erhaschte einen Blick auf einen Waschbär und dann ein Opossum – nachtaktive Tiere, welche die letzten Stunden vor dem Morgengrauen nutzten.
Martin atmete langsam aus, griff mit der Rechten unter sein Jackett, um seine halbautomatische Pistole im Schulterholster zu spüren. Ein-, zweimal fluchte er laut und ließ die Kraftausdrücke wie Streichhölzer in der Dunkelheit zünden. Er wetterte gegen die Zeit, die nicht vergehen wollte, die Einsamkeit und das irritierende Gefühl, wie ein Raubvogel auf der Klippe zu sitzen. Er war ein wenig nervös. Die wilde Natur im neuen Staat war seine Sache nicht. In einer städtischen Umgebung gab es keine Dunkelheit. Er hatte sich nur wenige hundert Meter vom nächsten Wohngebiet entfernt, einen Schritt weit in unbebautes, urwüchsiges Gelände vorgewagt, dennoch wirbelte er bei jedem Klappern oder Knarren herum.
Agent Martin blickte Richtung Osten. »Komm schon, Morgen, verflucht noch mal, beeil dich.«
Er war nicht so optimistisch zu glauben, dass seine Zielperson schon in der ersten Nacht auftauchen würde. Das wäre zu schön, um wahr zu sein, sagte er sich. Aber er glaubte auch nicht, lange warten zu müssen, bevor Jeffreys Vater auftauchte. Martin hatte sich all die anderen Fälle genau angesehen und nach einem Zeitmuster gesucht, das er sich zunutze machen konnte, aber nichts gefunden. Die Entführungen hatten sowohl bei Tag als auch bei Nacht, von früh bis spät stattgefunden. Das Wetter hatte von schwülheiß bis kalt und stürmisch gereicht. Auch wenn er wusste, dass die Verbrechen durchaus ein Schema erkennen ließen, so lag dieses weniger in der Art, wie er die Opfer in seine Gewalt brachte, als in der Art, wie er sie tötete. Martin hatte sich einfach auf sein Urteil verlassen. Er beabsichtigte, in der nächsten Nacht wieder am Steilhang zu sein, von Mitternacht bis zum Morgengrauen.
Natürlich hatte er nicht die Absicht, Jeffrey zu verraten, was er tat.
Der Detective zog die Schultern nach vorn und nahm sich vor, das nächste Mal eine wärmere Jacke und einen Schlafsack mitzubringen. Und mehr zu essen. Und etwas weniger Klebriges als die Kekse, die seine Finger mit einer geleeartigen Masse überzogen, an der er leckte wie ein Tier. Er trocknete sich die Hände an einem Bausch Papiertücher ab und warf die Reste weg. Er wechselte ständig die unbequeme Stellung, da der harte Fels, an den er sich lehnte, ihm in den Rücken schnitt.
Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass es fast halb sechs war. Der Fahrdienst war für zehn vor sechs bestellt. Susan Claytons Flug ging um halb acht. Wie erwartet, sah er im Haus ein Licht angehen.
Fast im selben Moment kroch der zarteste Hauch von Dämmerlicht über den Hügel. Agent Martin streckte den Arm aus und konnte zum ersten Mal die Narben auf seinem Handrücken erkennen. Er legte das Nachtsichtgerät beiseite und hob das normale Fernglas an die Augen. Er blickte zur Straße hinunter und fluchte über die verschwommene, graue Welt, die er sah. Er merkte, dass ihm in diesem gleitenden Moment kurz vor dem Morgengrauen weder das Nachtsicht- noch das normale Fernglas so recht weiterhelfen konnte.
Es war ein Schwebezustand, für den er nichts übrighatte.
Das erste Morgenlicht und der Fahrdienst schienen gleichzeitig einzutreffen, während er angestrengt hinüberstarrte.
Er sah, wie Susan Clayton mit einer einzigen Tasche in der einen Hand aus der Haustür trat und sich mit der anderen durchs halb getrocknete Haar strich, als der Wagen gerade die Straße entlangkam. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass das Taxi fünf Minuten zu früh dran war. Sie wartete auf dem Bürgersteig, während es langsam näher rollte.
Robert Martin zuckte zusammen und saß plötzlich kerzengerade.
Er pfiff durch die Zähne und fühlte sich wie elektrisiert.
Fünf Minuten zu früh.
Er drückte das Fernglas an die Augen.
»Nein!«, rief er laut. Dann flüsterte er in einer plötzlichen, entsetzlichen Gewissheit: »Das ist er.«
Er war zu weit weg, um ihr eine Warnung zuzubrüllen, und er war sich nicht einmal sicher, ob er es überhaupt wollte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, und ermahnte sich zu eiserner Kälte, um gewappnet zu sein. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine entscheidende Chance so schnell kommen würde, doch sie war da. Im Grunde nicht allzu erstaunlich: ein per Computer bestelltes Taxi. Ein leichteres Tauschmanöver war kaum denkbar: Sie würde einfach in jeden Wagen einsteigen, ohne darüber nachzudenken, was sie tat.
Und vor allem, ohne auf den Fahrer zu achten.
Er sah, wie der Wagen bremste und stehen blieb. Susan Clayton griff im selben Moment nach der Tür, als der Fahrer halb hinter dem Lenkrad hervorkam. Martin richtete das Fernglas nur auf den Mann, der eine Art Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen hatte, so dass man es nicht erkennen konnte. Martin fluchte wieder, vor allem auf die dunkelgraue Dämmerung, die dafür sorgte, dass alles in seinem Gesichtsfeld verschwamm. Er ließ das Fernglas sinken, rieb sich kräftig die Augen und setzte dann seine Observation fort. Der Mann wirkte in der Schulterpartie kompakt und auch sonst recht kräftig; vor allem kam unter der Kappe, wenn er sich nicht täuschte, graues Haar zum Vorschein. Der Fahrer blieb einen Moment neben dem Wagen stehen, als wollte er sehen, ob Susan Clayton Hilfe mit ihrem Gepäck benötigte oder ob er zu ihrer Seite herumkommen sollte, um ihr die Tür zu öffnen, was beides nicht erforderlich war. Dann verschwand er wieder hinter dem Steuer, wo Martin ihn nicht sehen konnte, so dass er nur einen kurzen Blick auf ihn erhaschte; aber fürs Erste genug, dachte er. Das richtige Alter. Die richtige Größe.
Die richtige Zeit.
Die richtige Person.
Martin warf einen letzten Blick hinunter, um sich Farbe und Modell des Autos zu merken. Er sah ihm hinterher, als es auf dem Wendehammer drehte, und notierte sich das Kennzeichen.
Als der Wagen schließlich aus der Sackgasse fuhr, drehte Martin sich um und rannte zu seinem eigenen Auto.
Wie ein Linebacker auf der Suche nach dem Spieler im Ballbesitz preschte der Detective durchs Gebüsch und Unterholz. Er sprang über einen großen Stein und arbeitete sich durch losen Schiefer – ganz gleich, was ihm im Wege stand. Ihm war egal, was für einen Lärm er machte, und hatte keinen Sinn für die kleinen Tiere, die vor ihm das Weite suchten.
Zwanzig Meter vor seinem Wagen wurde der Weg eben; er rannte, so schnell er konnte, mit fliegenden Armen und von der Anstrengung gerötetem Gesicht. Er überlegte schon, welche Route das Taxi nehmen, in welche Richtung der Mann hinterm Steuer fahren würde und wann der Moment gekommen wäre, in dem er nicht zum Flughafen, sondern in eine andere Richtung fuhr. Er wird ihr sagen, es wäre eine Abkürzung, und sie kennt sich zu wenig aus, um es zu durchschauen. Martin keuchte von der Anstrengung seines Sprints, wusste aber, dass er sie einholen musste, bevor der Mörder so weit war. Er musste ihm in der Sekunde auf den Fersen sein, in der Jeffreys Vater auf seinen tödlichen Umweg schwenkte.
Dem Detective brannte die Lunge, und er schnappte nach der dünnen Morgenluft. Er fühlte, wie sich seine Brust aufblähte und sein Herz auf Hochtouren pumpte. Vor ihm war der Wagen im fahlen Licht nur schemenhaft zu erkennen, und er hastete voran. Doch er stolperte über einen losen Stein, so dass er der Länge nach hinfiel.
»Gottverdammt!« Martin schickte einen Schwall an Kraftausdrücken in die Stille. Er rappelte sich auf und schmeckte Sand auf der Zunge. Sein Knöchel protestierte mit einem pochenden Schmerz gegen den Sturz und die Verstauchung. Seine Hose war zerrissen, und er merkte, wie ihm von einer langgezogenen, brennenden Schürfwunde am Knie das Blut herunterlief. Er ignorierte den Schmerz und drängte voran. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, den Dreck von den Kleidern zu klopfen, sondern hastete weiter, um keine Sekunde zu verlieren.
Er packte den Griff, riss die Tür auf und warf sich in sein Auto, wo er mit einer Bewegung die Ferngläser auf den Beifahrersitz warf und mit der anderen versuchte, den Schlüssel in die Zündung zu stecken.
»Verflucht noch mal!«, keuchte er und stach auf die Zündung ein.
»So eilig, Detective?«, fragte eine Stimme leise hinter seinem rechten Ohr.
Robert Martin schrie auf, fast kreischend schrill und unartikuliert, kein Wort, sondern nur ein Laut, der absolute Angst zum Ausdruck brachte. Sein Körper spannte sich mit einem heftigen Ruck wie ein Seil, mit dem ein Boot an den Strand gezogen wird, während eine starke Böe und Wellen den Rumpf wieder ins Wasser ziehen. Er konnte die Gestalt, die sich hinter ihm erhoben hatte, nicht sehen, doch in der aufwallenden Panik, die ihn in dieser Sekunde überlief, wusste er, wer es war, und er ließ die Autoschlüssel fallen, um nach seiner Automatik zu greifen.
Seine Hand war auf halber Distanz zum Holster, als der Mann sich wieder meldete: »Sie sind tot, sobald Sie Ihre Waffe auch nur berühren.«
Bei dem nüchtern kalten Ton hielt seine Hand sofort inne und schwebte vor ihm in der Luft. Erst da wurde ihm die Klinge an seiner Kehle bewusst.
Der Mann meldete sich erneut, als wollte er eine Frage beantworten, die gar nicht gestellt worden war: »Es ist ein altmodisches Rasiermesser mit gerader Klinge und einem echten, geschnitzten Elfenbeingriff, Detective, das ich vor nicht allzu langer Zeit nicht eben billig in einem Antiquitätengeschäft erstanden habe, auch wenn ich bezweifle, dass der Händler ahnte, wozu es gedacht war. Eine bemerkenswerte Waffe, wissen Sie. Klein und handlich. Und scharf. Tatsächlich sehr scharf. Es wird Ihre Halsschlagader mit einer kleinen Drehung meines Handgelenks durchschneiden, was, wie ich mir habe sagen lassen, eine unangenehme Art zu sterben ist. Es ist eine Waffe, die interessante Möglichkeiten bietet. Sie steht für jahrhundertealtes Können. Jahrzehntelang nicht weiterentwickelt. Nichts Neues dabei, außer dem Schlitz, den sie in Ihrem Hals hinterlassen wird. Sie müssen sich also fragen: Möchte ich so sterben? Hier und jetzt? Nachdem ich so weit gekommen bin? Ohne Antworten auf meine Fragen zu erhalten?«
Der Mann schwieg.
»Und, möchten Sie das, Detective?«
Robert Martin schürzte die trockenen Lippen und sagte heiser: »Nein.«
»Gut«, meinte der Mann. »Und jetzt keine Bewegung, während ich mir Ihre Waffe nehme.«
Martin spürte, wie der Mann die freie Hand um seine Brust wand und nach der Automatik griff. Dabei rührte sich die kalte Klinge nicht von seinem Hals. Der Mann brauchte einen Moment, um die Pistole aus Martins Holster zu ziehen. Der Detective blickte in den Rückspiegel, um einen Blick auf den Mann zu erhaschen, doch der Spiegel war verdreht. Er versuchte, seine Größe abzuschätzen, doch er sah rein gar nichts. Er hörte nur diese Stimme, die ruhig und gelassen durch die frühe Morgendämmerung drang.
»Wer sind Sie?«, wollte Martin wissen.
Der Mann lachte auf. »Wie das alte Kinderspiel, bei dem man zwanzig Fragen hat. Bist du Stein, Pflanze oder Tier? Bist du größer als ein Brotkasten? Kleiner als ein Kombi? Detective, Sie sollten mir Fragen stellen, deren Antworten Sie nicht schon kennen. Wie auch immer, ich bin der Mann, den Sie seit Monaten jagen. Und jetzt haben Sie mich gefunden. Wenn auch nicht ganz so, wie Sie es sich vorgestellt hatten.«
Martin versuchte, sich zu entspannen. Er wollte mit aller Macht das Gesicht des Mannes hinter sich sehen, doch die kleinste Regung verstärkte den Druck der Klinge an seinem Hals.
Er ließ die Hände in den Schoß sinken, doch der Abstand zwischen seinen Fingern und dem Ersatzrevolver in seinem Knöchelholster schien unüberbrückbar.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«, krächzte Martin.
»Meinen Sie, ich wäre mit Dummheit so weit gekommen, Detective?«, beantwortete die Stimme eine Frage mit einer Gegenfrage.
»Nein«, erwiderte Martin.
»Na schön. Woher wusste ich, dass Sie hier sind? Es gibt zwei Antworten auf diese Frage. Die erste ist einfach: Weil ich nicht weit weg war, als Sie meine Tochter und meine Frau am Flughafen abgeholt haben, und ich bin Ihnen auch bei Ihrer gemütlichen Fahrt durch unsere schöne Stadt gefolgt; ich wusste ebenfalls, dass Sie die beiden nicht allein auf mich warten lassen würden. War es unter dieser Voraussetzung nicht viel sinnvoller zu beobachten, welche Schritte Sie als Nächstes unternehmen würden, statt die beiden zu verfolgen? Natürlich habe ich nicht mit so viel Glück gerechnet. Ich hätte nie gedacht, dass Sie mich aus freien Stücken an einem Ort empfangen würden, wie ich ihn nicht besser hätte finden können. Einsam, entlegen, still, wohin sich kaum eine Menschenseele verirrt. Da habe ich einfach Glück gehabt, aber ist Glück nicht auch der Lohn für gute Planung? Ich glaube ja. Jedenfalls, Detective, ist das die eine Antwort auf Ihre Frage. Die komplexere Antwort geht natürlich ein bisschen tiefer. Und diese Antwort lautet: Seit ich erwachsen bin, habe ich mein ganzes Leben damit zugebracht, anderen Menschen Fallen zu stellen, in die sie ohne Vorwarnung hineintappten. Haben Sie gedacht, ich würde es nicht merken, wenn jemand umgekehrt mir ein Beinchen stellen will?«
Die Schneide zuckte an der Kehle des Detective. Er hüstelte.
»Ja.«
»Aber wie Sie sehen, haben Sie sich geirrt, Detective.«
Martin ächzte. Wieder wechselte er die Stellung.
»Sie würden gerne mein Gesicht sehen, nicht wahr?«
Martin spannte die Schultern an.
»Haben Sie manchmal von unserem ersten und einzigen Treffen vor so vielen Jahren geträumt? Haben Sie sich auszumalen versucht, wie ich mich seit unserer kleinen Unterhaltung damals verändert habe?«
»Ja.«
»Nicht umdrehen, Detective. Überlegen Sie einfach mal. Sie waren damals dünner, jugendlicher und athletischer. Muss das Alter nicht bei mir dieselbe Wirkung zeigen? Weniger Haar vielleicht. Ein bisschen mehr Fleisch auf den Wangen. Fülliger um die Körpermitte. Mit diesen Veränderungen wäre zu rechnen, oder?«
»Ja.«
»Und haben Sie bei meinem früheren Arbeitgeber oder vielleicht mit Hilfe meines Führerscheins nach einem alten Foto von mir gesucht, das Sie mit Hilfe eines Computerprogramms altern lassen können, so dass Sie auf elektronischem Wege herausfinden, wie ich jetzt aussehe?«
»Es gab keine Fotos, jedenfalls habe ich keine gefunden.«
»Ach, Pech aber auch. Trotzdem, Ihre Neugier geht noch in eine andere Richtung, nicht wahr? Sie glauben, es könnte zusätzlich Chirurgie im Spiel sein, habe ich recht?«
»Ja.«
»Und das kann ich nur bestätigen. Der wahre Test kommt natürlich erst noch. Es gibt drei Menschen, die mich wiedererkennen sollten. Sie sollten es wissen, sobald sie mich sehen. Sobald sie mich riechen. Sobald sie mich hören. Aber werden sie das auch? Werden sie mich trotz all der Jahre, trotz der besten ärztlichen Kunst erkennen? Werden sie die Veränderungen am Kinn, an den Wangenknochen, der Nase, was weiß ich, bemerken? Was ist gleich geblieben? Was ist anders? Werden sie bei aller Veränderung noch sehen, was unverändert ist? Das ist, finde ich, eine interessante Frage. Und das ist ein Spiel, das sich wirklich lohnt.«
Martin bekam schwer Luft. Er hatte eine trockene Kehle, seine Muskeln waren verspannt, und die Hände zitterten. Die Klinge an seiner Kehle bewirkte, dass er sich fühlte, wie mit einer reißfesten, unsichtbaren Schnur gefesselt. Die Stimme des Mörders war melodisch und weich. Er hörte die Bildung heraus, aber auch den Killer – so drückend wie die schwüle Hitze an einem Sommertag. Er wusste, dass diese flüssige Sprache und der sanfte Ton schon mehr als einmal dazu gedient hatten, ein Opfer am Abgrund des Entsetzens zu beruhigen. Die entspannte Gewissheit seiner Sprechweise war verstörend; sie stand im Widerspruch zu der Gewalt, die folgen sollte, und suggerierte etwas anderes, etwas viel weniger Schlimmes als das, was tatsächlich folgen sollte. Wie die sprichwörtlichen Tränen des Krokodils war die Ruhe des Mörders eine Maske, die darüber hinwegtäuschen sollte, was er beabsichtigte. Martin kämpfte innerlich mit einer großen Angst; er rief sich ins Bewusstsein, dass er selbst ein Mann der Tat war, ein Mann der Gewalt. Er bestand darauf, dem Mann, der ihn mit dem Messer an der Kehle kitzelte, gewachsen zu sein. Er war damit vertraut und konnte damit umgehen. Er erinnerte sich an seine eigene Gefährlichkeit. Du bist nicht weniger ein Killer als er. Er beschloss, nicht kampflos zu sterben.
Er wird dir eine Gelegenheit geben. Verpasse sie nicht.
Martin stählte sich und wartete.
Aber welchen Schachzug er machen würde und wann, dass schien in weiter Ferne zu liegen, nicht vorhersehbar.
»Haben Sie Angst davor, zu sterben, Detective?«, fragte der Mann.
»Nein«, erwiderte Martin.
»Wirklich? Ich auch nicht. Schon seltsam, finden Sie nicht? Ein Mann, der mit dem Tod so vertraut ist wie ich, hat immer noch Fragen. Merkwürdig, oder? Jeder kämpft auf die eine oder andere Weise gegen das Altern an. Manche suchen bei Chirurgen ihr Heil. Ich hab diese Leute gesehen, als ich meine Operationen machen ließ. Natürlich ging es mir um etwas anderes. Manche investieren ihr Geld in teure Kuren mit Schlammbädern und was weiß ich. Andere machen Sport oder Diät oder essen nichts anderes als Algen und Kaffeesatz oder sonst irgendein dummes Zeug. Manche lassen sich die Haare lang wachsen und kaufen sich ein Motorrad. Wir hassen das, was mit uns geschieht. Wir hassen, dass es unabwendbar ist, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Martin.
»Wissen Sie, wie ich mich jung halte, Detective?«
»Nein.«
»Ich töte.«
Die Stimme war kalt und zugleich lebendig. Hart und verführerisch.
Der Mann schwieg, als dächte er über seine Worte nach. Dann fügte er hinzu: »Der Drang hat mit den Jahren vielleicht nachgelassen, aber das Können ist gewachsen. Ich brauche es weniger, aber es ist leichter geworden …«
Wieder zögerte er, bevor er sagte: »Die Welt ist ein seltsamer Ort, Detective. Voller Ungereimtheiten und Widersprüche.«
Martin glitt mit der Hand von seinem Schoß zur Hüfte, ein paar Zentimeter näher heran an die Waffe kurz über seinem rechten Fuß. Er rief sich ins Gedächtnis, wo und wie genau die Pistole im Holster steckte. Sie war mit einem einzigen Riemen befestigt. Da war eine Schnalle, die manchmal klemmte, weil er sie zu lange nicht geölt hatte. Die musste er zuerst aufmachen, um an den Kolben zu kommen. Er versuchte, sich zu erinnern, ob die Waffe gesichert war, und konnte es im Augenblick nicht sagen. Für Sekunden kniff er die Augen zusammen und konzentrierte sich, doch dieses wichtige Detail hatte er nicht in Erinnerung, und er verfluchte sich dafür.
Das Rasiermesser drückte sich weiter in seinen Hals, und ihm wurde klar, dass er sich mit einer plötzlichen Bewegung nach vorn, um seinen Ersatzrevolver zu ergreifen, höchstwahrscheinlich die Kehle aufschlitzen würde.
»Sie würden mich gerne töten, nicht wahr, Detective?«
Martin zog leicht die Schultern hoch und antwortete nach kurzem Zögern: »Unbedingt.«
Der Mörder lachte. »Das war ja auch von Anfang an der Plan, nicht wahr, Detective? Jeffrey würde mich finden, aber er wäre zwiegespalten. Er würde zögern. Er hätte Zweifel, immerhin bin ich sein Vater. Folglich würde er nichts unternehmen – zumindest nicht direkt. Nicht im entscheidenden Moment. Aber Sie wären da und würden ohne mit der Wimper zu zucken handeln. Und Sie würden mir ohne die geringsten Skrupel den Garaus machen …«
Die Stimme schwieg und fuhr dann fort: »Es war nie eine Festnahme geplant, nicht wahr? Keine Anklage, kein Verteidiger, kein Prozess, nichts von alledem, geben Sie’s zu? Und schon gar keine Öffentlichkeit. Sie wollten einfach nur das Problem beseitigen, das der Staat mit mir hat – ein für alle Male, richtig?«
Robert Martin wollte nicht antworten. Er leckte sich über die Lippen, doch alles, was er an Feuchtigkeit in sich hatte, schien von den Worten des Killers aufgesogen.
Das Rasiermesser zuckte unter seinem Kinn, und er fühlte einen leichten, schneidenden Schmerz.
»Richtig?«, wiederholte der Killer drängend.
»Ja«, brachte Martin heiser heraus.
Wieder herrschte für Augenblicke Stille, bevor der Mörder weitersprach.
»Das war eine vorhersehbare Reaktion. Aber eines wüsste ich gern. Sie haben mit ihm gesprochen. Ich gehe davon aus, dass Sie ihn ein bisschen kennengelernt haben. Glauben Sie, Jeffrey will mich auch umbringen?«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte nie die Absicht, ihn vor die Entscheidung zu stellen.«
Der Mann mit der Klinge schien darüber nachzudenken.
»Das war eine ehrliche Antwort, Detective. Das weiß ich zu schätzen. Sie sollten von Anfang an der Killer sein. Jeffreys Rolle war begrenzt. Einmalig, aber begrenzt. Sehe ich das falsch?«
Martin hielt es nicht für ratsam zu lügen. »Natürlich nicht.«
»Strenggenommen sind Sie kein Polizist, Detective, ich meine, früher vielleicht mal, aber jetzt nicht mehr. Jetzt sind Sie nur noch ein staatlich bestellter Killer. Jemand, der aufräumt, nicht wahr? Eine Art spezieller Hausmeisterdienst.«
Agent Martin antwortete nicht.
»Ich habe Ihre Personalakte gelesen, Detective.«
»Dann erübrigt sich die Antwort ja.«
Er hörte ein trockenes Lachen hinter sich. »Wo Sie recht haben, da haben Sie recht.« Es trat eine kurze Pause ein, bevor der Mann sagte: »Aber meine Frau und meine Tochter, wie passen die ins Bild? Ihre Abreise aus Florida hat mich überrascht. Eigentlich hatte ich unser Wiedersehen für dort geplant.«
»Das war die Idee Ihres Sohnes. Mir ist auch nicht so ganz klar, was er sich von Ihnen verspricht.«
»Wissen Sie, wie sehr ich sie in den letzten Jahren vermisst habe? Wie sehr ich mir gewünscht habe, wir wären noch zusammen? Selbst ein Bösewicht wie ich braucht im Alter den Trost seiner Familie.«
Martin schüttelte zaghaft den Kopf. »Hören Sie auf mit dem sentimentalen Quatsch. Das kaufe ich Ihnen nicht ab.«
Der Mörder lachte wieder. »Na ja, Detective, zumindest sind Sie nicht auf den Kopf gefallen. Ein bisschen natürlich schon, ich meine, hier hochzukommen und nicht auf den Wagen zu achten, der Ihnen folgt. Und erst recht, den Wagen nicht abzuschließen. Wieso haben Sie das nicht gemacht, Detective?«
»Tue ich nie. Hier nicht. Diese Welt ist sicher.«
Martin antwortete nicht, und plötzlich verstärkte sich der Druck der Rasierklinge an seinem Hals. Er spürte, wie ihm ein dünnes Rinnsal Blut den Hals hinunterlief und ihm in den Kragen sickerte.
»Sie haben es immer noch nicht verstanden, Detective, oder? Bis heute nicht.«
»Was kapiert?«
»Zu töten ist eine Sache. Das tun viele. Ganz gewöhnliche Begleiterscheinung heutzutage. Sogar ungestraft und oft und nach freiem Belieben. Es ist nicht schwer, mit Mord davonzukommen. Es fällt nicht mal allzu sehr auf, nicht wahr?«
»Nein. Ihr Sohn hat mehr oder weniger dasselbe gesagt.«
»Tatsächlich? Kluger Junge. Aber sagen Sie mir eins, Detective. Versetzen Sie sich in meine Lage, sollte nicht allzu schwer für Sie sein. Schließlich ist das für einen guten Polizisten selbstverständlich. Regel Nummer eins: Lerne zu denken wie ein Mörder. Vollziehe dieselben Gedankenmuster nach. Sehe die Emotionen voraus. Werde sozusagen eins mit ihm. Lerne zu verstehen, welche Impulse den Mörder antreiben, und so solltest du es schaffen, ihn zu finden, nicht wahr? Das bringen sie euch doch bei? In jedem Seminar. Und genau diese Lektion gibt jeder alte Fuchs, der in den Ruhestand geht, dem jungen Heißsporn auf den Weg, der die Karriereleiter erklimmen will.«
»Ja.«
»Also, sind Sie noch nie auf die Idee gekommen, dass es umgekehrt genauso ist? Ein gestandener Mörder muss lernen, wie ein Polizist zu denken. Haben Sie daran schon mal gedacht, Detective?«
»Nein.«
»Macht nichts. Nicht nur Sie sind auf dem Auge blind. Aber mir ist der Gedanke gekommen, schon vor Jahren.«
Der Mann mit der Rasierklinge schwieg.
»Und Sie hatten recht. Damals. Ich hab dieses erste Paar Handschellen tatsächlich abgekocht, nachdem ich es der jungen Frau angelegt habe.«
Robert Martins Hände spannten sich. Das morgendliche Licht strömte in den Wagen, und dennoch konnte er das Gesicht des Mannes nicht sehen. Er spürte den Atem des Mörders im Nacken, aber das war alles.
»Bedauern Sie es, dass Sie mich vor fünfundzwanzig Jahren nicht ein wenig emsiger verfolgt haben?«
»Ja. Ich wusste, dass Sie es waren. Aber wir hatten nichts gegen Sie in der Hand.«
»Und ich wusste, dass Sie es wussten. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist natürlich, dass ich keine Angst hatte. Nie. Ich hatte immer zu viel, was nicht zum Bild eines Mörders passte. Ich bin weiß. Gebildet. Spreche artikuliert. Bin intelligent. Übte einen akademischen Beruf aus. War verheiratet, hatte eine reizende Familie. Die war natürlich der entscheidende Punkt, wissen Sie. Die perfekte Tarnung. Die Tünche der Normalität. Einem unverheirateten Mann trauen die Leute alles zu, sogar die Wahrheit. Aber einem Mann mit einer Familie, die ihn hingebungsvoll liebt? Tja, so ein Mann kommt mit allem durch, sogar mit Mord. Sogar mit einem Dutzend Morde …«
Er hüstelte einmal.
»So wie ich natürlich.«
Der Mörder verstummte. Martin erkannte, dass der Killer die Situation genoss, während er selbst über die Ironie beinahe schmunzeln musste. Jeffreys Vater war wie jeder andere Akademiker auch: In sein Fachgebiet verliebt, vernarrt. Es war das einzige Thema, das ihn interessierte. Und sein Fachgebiet war eben der Tod.
Auf einmal durchdrang Bitterkeit die Worte des Killers, und Martin spürte, wie die Wut sich hinter seinem rechten Ohr zusammenballte:
»Verdammt, sie soll für immer in der Hölle schmoren! Mit den Kindern hat sie mir meine Deckung genommen! Sie hat mir gestohlen, was ich mir aufgebaut hatte. Sie hat mir dieses perfekte Leben zerstört! Das war das einzige Mal, dass ich Angst hatte, wissen Sie. Als ich Ihnen erklären musste, weshalb sie verschwunden waren. Zumindest ein paar Minuten lang habe ich gefürchtet, Sie würden es durchschauen. Haben Sie nicht. Dafür waren Sie nicht clever genug.«
Dem Detective war plötzlich kalt. Er zitterte unwillkürlich, bevor er antwortete. »Wäre ich es nur gewesen«, sagte er. »Ich wusste es. Ich hab nur nichts unternommen.«
»Sie meinen, Ihnen waren die Hände gebunden, durch das System? Dienstvorschriften. Gesetze. Gesellschaftliche Gepflogenheiten, richtig?«
»Ja.«
»Aber hier ist es nicht ganz dasselbe, nicht wahr?«
»Nein.«
»Und genau darum geht es in dieser Welt, stimmt’s?«
»Ja.«
»Und mir auch.«
»Ich kann nicht folgen.«
»Dann lassen Sie es mich erklären, Detective. Ist eigentlich gar nicht so kompliziert. Es wimmelt auf der Welt von Mördern. Mördern jedweder Couleur. Der eine mordet für den besonderen Kick, der andere ist ein Triebtäter, der dritte macht’s fürs Geld, was weiß ich. Mord ist eine alltägliche Angelegenheit, was sag ich, eine stündliche, minütliche, sekündliche. Ständig sterben Menschen eines gewaltsamen Todes. Und wir sind auch nicht mehr deswegen schockiert, habe ich recht? Verrohung der Sitten? Ähem. Sadismus? Nichts Neues. Gewalt und Tod sind für uns eine Form der Unterhaltung. Wir finden das anregend. Sie brauchen nur ins Kino zu gehen, in einem Buchladen zu stöbern, Gewalt prägt unsere Kunst, unsere Geschichte, unsere Seelen … Sie ist«, erklärte der Mörder und holte einmal tief Luft, »unser wahrer Beitrag zu dieser Welt.«
Martin wand sich behutsam auf seinem Sitz. Er überlegte, ob der Vortrag ihm Gelegenheit verschaffte, sich nach vorn zu beugen, um an seine Pistole zu kommen, doch wie zur Antwort drückte sich die Rasierklinge wieder fester an seinen Hals, und der Mörder neigte sich noch mehr vor, so dass seine Worte Martin wie ein heißer Luftstrahl trafen.
»Sehen Sie, Agent Martin, wenn ich zur Hölle fahre, möchte ich mit Applaus und Hochrufen empfangen werden. Ich wünsche mir eine Ehrengarde aus Mördern – aus all den Messerschlitzern, Schlächtern und Irren. Ich will mir neben ihnen einen Platz in der Geschichte erobern. … Ich will«, flüsterte der Mörder kalt, »dass man mich nicht vergisst.«
»Und was wollen Sie dafür tun?«, fragte Martin.
Der Killer schnaubte verächtlich. »Dieser Staat«, antwortete er langsam, »dieser geplante Einundfünfzigste Bundesstaat des größten Staatenbundes der Geschichte. Worum handelt es sich dabei? Es ist ein geographischer Ort, aber seine eigentlichen Grenzen sind philosophischer Natur, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und genau hier, in diesem Auto, haben wir den Beweis dafür, Detective. Uns. Sie und mich und diese unseligerweise nicht verschlossene Tür, die es mir erlaubt hat, mich auf den Rücksitz zu setzen und auf Sie zu warten. Stimmen Sie mir nicht zu?«
»Ja.«
»Gut, Detective, dann sagen Sie mir eins: Wer wird wohl in die Geschichte eingehen – diese alberne Meute Politiker und Geschäftsleute, auf deren Mist diese rückständige Welt gewachsen ist, diese Einfaltspinsel, die meinen, unser künftiges Heil läge darin, die Vergangenheit zu beschwören – oder …« Martin spürte das Grinsen des Mannes im Nacken. »… der Mann, der den Traum platzen lässt?«
Unter Husten brachte Martin seinen Protest heraus. »Das wird Ihnen nicht gelingen«, widersprach er. Er wusste selbst, dass seine Worte erbärmlich klangen.
»Oh, das schaff ich, Detective. Denn Ihre Vorstellung von persönlicher Sicherheit steht auf äußerst wackeligen Füßen. Hätten Sie sich nicht derart ins Zeug gelegt, das Ausmaß meiner Taten zu vertuschen, zum Teil mit lächerlichen Mitteln übrigens, dann wäre es mir längst gelungen. Wilde Hunde, also wirklich! Aber das hat mich natürlich darauf gebracht, das Spiel ein wenig abzuwandeln, was die Anwesenheit meines Sohnes erforderlich machte. Meines beinahe berühmten Sohnes. Meines renommierten und respektierten Sohnes. Und was unsere persönliche Fehde betrifft – meinen Sie wirklich, die Nachrichtenmedien der übrigen fünfzig Staaten würden sich das entgehen lassen? Rührt dieser Wettstreit nicht an die tiefsten, ältesten Instinkte? Etwas, das jeder auf eine ganz urtümliche Weise versteht? Vater gegen Sohn, Sohn gegen Vater. Aus dem Grund musste ich ihn herbringen, Detective.«
Jeffreys Erzeuger holte tief Luft.
»Es war von Anfang an geplant, dass Sie ihn finden und zu mir bringen. Und dafür, dass Sie genau das getan haben, was ich von Ihnen erwartet habe, möchte ich Ihnen danken.«
Martin hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er starrte durch die Windschutzscheibe und sah, dass der Morgen die Welt inzwischen ganz erobert hatte. Jeder Stein, jeder Busch, jede kleine Furche in der Erde, die ihm im Dunkeln und im Zwielicht so tückisch erschienen war, gab sich jetzt unter der milden Morgensonne klar und deutlich zu erkennen.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er und streckte die Hand so weit, wie es ging, nach unten in Richtung seines Revolvers. Er hob unmerklich das Knie, um den Abstand zwischen Hand und Waffe zu verringern. Er dachte daran, mit der Linken nach der Klinge zu greifen, während er die entscheidende Bewegung machte. Er rechnete damit, einen Schnitt abzubekommen, doch wenn er schnell und unerwartet handelte, war es vielleicht nicht tödlich. Er bewegte die Finger und spannte die Muskeln, um sich für die Explosion zu wappnen.
»Was ich von Ihnen will, Detective? Ich möchte, dass Sie eine Botschaft überbringen.«
Martin schwieg einen Moment. »Was?«
»Ich möchte, dass Sie meinem Sohn eine Nachricht überbringen. Wie auch meiner Tochter und meiner Exfrau. Meinen Sie, dass Sie das tun können, Detective?«
Martin war erstaunt. Er schöpfte Hoffnung. Er lässt mich am Leben!
»Sie wollen, dass ich eine Botschaft überbringe …«
»Sie sind der Einzige, dem ich diese Aufgabe anvertrauen kann, Detective. Sehen Sie sich dazu in der Lage?«
»Eine Nachricht zu überbringen? Natürlich.«
»Gut. Ausgezeichnet. Halten Sie Ihre linke Hand hoch, Detective.«
Martin gehorchte. Ein großer weißer Briefumschlag schob sich zwischen seine Finger.
»Nehmen Sie den«, wies ihn der Mörder an. »Gut. Halten Sie ihn fest.«
Wieder gehorchte Martin. Er packte den Briefumschlag und wartete auf weitere Instruktionen. Es vergingen ein, zwei Sekunden, in denen er hinter sich auf dem Rücksitz das vertraute Klicken seiner eigenen Waffe hörte, als eine Kugel in die Kammer der Halbautomatik geschoben wurde.
»Ist das die Botschaft, die ich überbringen soll?«
»Ein Teil davon«, erwiderte der Mörder. »Da wäre noch etwas.«