13. KAPITEL
Guck-guck

 

Jeffrey Clayton saß wie erstarrt auf seinem Stuhl und hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Als Agent Martin wütend und mit rotem Gesicht zur Tür hereinstürzte, hatte er sich immer noch nicht von der Nachricht auf seinem Monitor losreißen können. »Guck-guck«, murmelte Clayton leise, während der Detective die Tür zuschlug und augenblicklich eine Schimpfkanonade losließ:

»Clayton, Sie Mistkerl, ich hab Ihnen klar gesagt, wie die Regeln lauten! Ich bin die ganze Scheißzeit mit Ihnen zusammen! Keine kleinen Tagesausflüge ohne mich. Verflucht noch mal, wo haben Sie nur gesteckt? Ich hab Sie überall gesucht.« Der Professor reagierte nicht sofort auf die Frage und den Ärger. Er wandte sich mit seinem Drehstuhl dem Detective zu und funkelte ihn an. Er verstand den Grund für Martins Wut – was nützte einem schließlich ein Lockvogel, wenn man ihn nicht durchgehend unter Aufsicht hatte? Denn nur so konnte man zugreifen, wenn die Zielperson tatsächlich aus der Deckung kam, um mit dem Köder Kontakt aufzunehmen. Seine eigene Wut darüber, auf diese Weise missbraucht zu werden, drohte ihm die Kehle zuzuschnüren, doch es gelang ihm, sich zu beherrschen. Er wusste intuitiv, dass es besser für ihn war, nicht preiszugeben, dass er den wahren Grund für die Einladung in den Einundfünfzigsten Staat herausgefunden hatte. Außerdem hatte er den Beweis dafür, dass Agent Martins Kalkül berechtigt war, auf seinem Monitor. Eine Sekunde überlegte er, ob er die Nachricht für sich behalten sollte, doch ohne sich bewusst zu entscheiden, hob er langsam den Finger und deutete auf die Worte vor ihm.

»Was ist? Wer ist das?«

Jeffrey zeigte weiter stumm auf den Monitor. Dann stand er auf, ging zur Tafel hinüber, und während der Detective sich auf seinem Stuhl niederließ, um die Botschaft zu lesen, wischte Jeffrey die Hälfte mit der Überschrift Falls uns der Mörder nicht bekannt ist aus.

»Das brauchen wir nicht mehr«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Martin. Ihm wurde bewusst, dass er tilgte, was schon einmal zuvor für ihn gelöscht worden war, als er es noch nicht hatte wahr haben wollen. Als er sich wieder umdrehte, sah er, dass die Brandnarben an Hals und Händen des Detective sich in einem immer dunkleren Rot einfärbten.

»Da hol mich doch der Teufel«, murmelte Martin.

»Können Sie das zurückverfolgen?«, fragte Jeffrey unvermittelt. »Die Nachricht kam über eine Telefonleitung. Wir müssten doch in der Lage sein, den Absender zu ermitteln.«

»Ja«, antwortete Martin eifrig, »Ja, verdammt, ich denke, das kann ich. Ich meine, es müsste gehen.« Er beugte sich über die Tastatur und fing an, Buchstaben einzutippen. »Die elektronischen Verbindungswege sind eine knifflige Sache, aber so gut wie immer führen sie in beide Richtungen. Meinen Sie, er weiß das?«

Jeffrey hielt das für möglich, war sich aber nicht sicher. »Keine Ahnung«, meinte er. »Wahrscheinlich weiß irgendein vierzehnjähriges Genie von der hiesigen Highschool nicht nur, wie das geht, sondern erledigt das auch in zehn Sekunden. Aber wie technisch versiert mag unser Mann sein? Kann ich Ihnen nicht sagen. Schauen Sie einfach, was sich machen lässt.«

Martin fuhr mit seiner Arbeit am Computer fort und zögerte einen Moment. »Da«, platzte er heraus. »Hol mich der Teufel. Ich glaube, wir haben den Bastard.«

Er lachte plötzlich trocken.

»Leichter, als ich dachte«, freute sich der Detective. Er nahm die Finger von den Tasten und wedelte damit spielerisch in der Luft. »Reine Magie«, verkündete er.

Jeffrey beugte sich über seine Schulter und sah, dass der Computer als Urheber der Nachricht eine einzige Telefonnummer gefunden hatte. Der Agent brachte den Cursor hinter diese Nummer und tippte eine weitere Aufforderung. An dieser Stelle forderte der Computer einen Sicherheitscode, den Martin eingab.

»Damit knacken wir die Sicherheitssperre«, erklärte er.

Noch während er sprach, spuckte der Apparat eine Antwort aus, und Clayton sah, dass unter der Telefonnummer ein Name und eine Anschrift erschienen.

»Wir haben dich, Bastard«, rief Martin in triumphierendem Ton. »Ich hab’s gewusst. Da ist Ihr gottverdammter Daddy«, sagte er wütend.

Clayton las den Eintrag:

Eigentümer: Gilbert D. Wray; Miteigentümerin/Ehefrau: Joan D. Archer; zum Haushalt gehörige Kinder: Philip, 15, Henry, 12. Adresse: 13 Cottonwood Terrace, Lakeside.

Er starrte auf die Anschrift. Sie klang ihm seltsam vertraut.

Der Eintrag enthielt noch einige zusätzliche Informationen, darunter die berufliche Tätigkeit des Mannes, die mit Unternehmensberater angegeben war; Joan Archer war Hausfrau. Ihre Einwanderung in den Einundfünfzigsten Bundesstaat lag sechs Monate zurück, und ihre letzte vorherige Anschrift war ein Hotel in New Washington gewesen. Davor hatte die Familie in New Orleans gelebt. Jeffrey wies den Detective darauf hin.

Martin, der bereits nach dem Telefon griff, erwiderte ungeduldig: »Das ist normal. Die Leute verkaufen ihre Häuser und ziehen hierher, wohnen in einem Hotel, bis ihre Einwanderung durch und ihr neues Haus fertig ist. Kommen Sie schon, verdammt!«

Die Person am anderen Ende der Leitung musste sich genau in diesem Moment gemeldet haben, denn der Detective sagte: »Hier spricht Martin. Keine Fragen. Ich brauche ein Sonderkommando in Lakeside. Wir treffen uns da. Sofort. Dringlichkeitsstufe eins.«

Neben dem Computer surrte ein Drucker los, und vier Blätter glitten durch die Ausgabe. Der Detective nahm sie, starrte einen Moment darauf und reichte sie dann Clayton. Beim ersten Ausdruck handelte es sich um das Passfoto eines Mannes Anfang sechzig, mit breitem Hals, das kräftige Haar im Bürstenschnitt kurz gehalten, dazu Brille mit schwarzem Rand. Es folgte das Foto einer Frau ungefähr im selben Alter, mit verhärmten Zügen und einer leicht schiefen Boxernase. Auch die Fotos der Kinder waren vorhanden. Dem älteren der beiden stand kaum verhohlener Ärger im Gesicht. Unter jedem Bild waren Größe, Gewicht, besondere Merkmale sowie eine halbwegs detaillierte Krankengeschichte aufgelistet, dazu Sozialversicherungsnummern und Führerschein. Auch die Nummern der Bankkonten sowie Kreditauskünfte waren vermerkt bis hin zu den Schulzeugnissen der Kinder. Jeffrey sah sofort, dass solche Auskünfte für einen fähigen Polizisten mehr als ausreichend waren, um gegen eine Person zu ermitteln – oder sie zu finden, falls nach ihr gefahndet wurde.

»Sagen Sie Ihrem Dad guten Tag«, bemerkte Martin schroff, »Guten Tag und Lebewohl.« Während Jeffrey ohne den Anflug eines Wiedererkennens auf die Fotos starrte, erhob sich der Detective von seinem Sitz und lief quer durchs Zimmer zu einem verschlossenen Aktenschrank in der Ecke. Einen Moment lang hantierte er am Kombinationsschloss herum, bis er schließlich eine Schublade öffnen konnte, aus der er eine glänzende schwarze Maschinenpistole Marke Ingram holte. »Amerikanisches Produkt«, sagte er. »Manche meiner Kollegen haben eine Schwäche für ausländische Modelle. Kann ich nicht nachvollziehen. Ganz bestimmt nicht. Gilt für viele Waffen, die hier in den guten alten Vereinigten Staaten von Amerika geboren und großgezogen worden sind.« Mit einem Grinsen ließ er einen Ladestreifen mit gefährlich aussehenden, klobigen, teflonbeschichteten Geschossen Kaliber fünfundvierzig einschnappen, dann schlang er sich die Waffe siegesbewusst über die Schulter.

 

Die Nebenstelle der Staatssicherheit in Lakeside entsprach mit ihren roten Klinkern und den weißen Fensterläden dem traditionellen Baustil von New England – äußerlich ein altmodisches Polizeirevier, im Innern dagegen eine moderne, computergesteuerte Schaltzentrale mit grauen Stahlschließfächern und modernster elektronischer Technik in dezentem Beige, das Ganze unter versenkten Deckenleuchten und auf schweren, strapazierfähigen braunen Teppichböden, welche die Geräuschkulisse dämpften. Die Außenfenster waren eher dekorative Accessoires, da man in dieser Dienststelle auf virtuellem Wege nach draußen sah – per Computer, Überwachungsmonitoren und Sensoren verschiedenster Art. Martin hatte den Wagen an einer versteckten Stelle hinter dem Gebäude geparkt und war zügigen Schrittes hineinmarschiert. Die Sicherheitstüren öffneten sich für ihn, um ihn in die kleine Eingangshalle zu schleusen, wo bereits das Sonderkommando auf ihn wartete.

Die Einheit bestand aus sechs Leuten – vier Männern und zwei Frauen in Zivil. Die Frauen trugen leuchtend bunte Jogginganzüge. Einer der Männer stand in konservativem, marineblauem Anzug und Krawatte da, ein anderer in zerschlissenen grauen Trainingssachen, die er angefeuchtet hatte, damit er verschwitzt aussah, als käme er direkt vom Sport. Die anderen beiden Männer waren als Mitarbeiter eines Telefondienstes verkleidet und entsprechend mit Arbeitshemden, Jeans und Helmen sowie braunen Werkzeuggürteln getarnt. Als Jeffrey zu ihnen stieß, waren sie alle mit ihren Waffen beschäftigt, betätigten die Schlagbolzen an ihren Uzis oder prüften, ob die Ladestreifen vollständig bestückt waren. Außerdem sah er, dass sich die Waffen alle verstecken ließen; der Geschäftsmann packte seine in ein Aktenköfferchen, die beiden Frauen ihre in ähnlich aussehende Sportkinderwagen, die Arbeiter in ihre Werkzeugkästen.

Martin händigte dem Team Kopien der Fotos aus. Er ging zu einem Computer, hatte binnen Sekunden die Anschrift eingegeben und bekam im Gegenzug einen dreidimensionalen Grund- und Aufriss des Hauses mit der Anschrift 13 Cottonwood Terrace. Eine weitere Befehlseingabe förderte ein Satellitenbild des Anwesens zutage. Die Agenten versammelten sich um diese Bilder und hatten in wenigen Minuten geklärt, wie sich die Mitglieder des Teams strategisch verteilen würden.

»Wir gehen es mit dem Standardverfahren für die höchste Gefahrenstufe an«, sagte Martin.

»Ein bestimmtes Modell?«, fragte einer der als Arbeiter verkleideten Männer.

»Modell drei«, erwiderte Martin lapidar.

Das Team nickte. Martin drehte sich zu Clayton um und erklärte: »Das ist ein normales Vorgehen bei einem Überfallkommando. Mehrere Zielpersonen, nur ein Zielort, mehrere Ausgänge. Geringe Wahrscheinlichkeit, dass Waffen im Haus sind. Risiko für die Agenten im mittleren Bereich. Wir üben diese Dinge unentwegt.«

Der Leiter des Kommandos, der blaue Anzug, hüstelte, als er sich das Computerbild des Hauses einprägte, und rückte sich die Krawatte zurecht, als ob er zu einer Präsentation des Managements ginge. Er stellte eine einzige Frage: »Verhaften oder eliminieren?«

Martin warf einen Seitenblick auf Clayton. »Natürlich verhaften«, antwortete er.

»Geht klar«, meinte der zweite Arbeiter, während er den Lademechanismus seiner Pistole mit irritierendem Klicken nach vorne und nach hinten schob. »Und welches Maß an Gewalt dürfen wir einsetzen, um diese Verhaftung durchzuführen?«

Martins Antwort kam kurz und bündig. »Maximum.«

»In Ordnung.« Der Arbeiter nickte. »Dachte ich mir. Was wird unserer Zielperson zur Last gelegt?«

»Verbrechen der Höchststufe. Rot eins.«

Bei dieser Antwort schnellten einige Augenbrauen in die Höhe.

»Rot?«, fragte eine der Frauen. »Soweit ich weiß, wurde ich noch nie hinzugezogen, wenn ein solcher Täter gefasst werden sollte, geschweige denn Rot eins. Was ist mit seiner Familie? Sind die auch Stufe Rot? Was machen wir mit denen?«

Martin zögerte einen Moment, bevor er sagte: »Es gibt keine schlüssigen Beweise dafür, dass sie in irgendeine kriminelle Aktivität verwickelt sind, wir sollten sie allerdings vorsichtshalber als Mitwisser und Helfer betrachten. Immerhin sind sie die Familie des Mistkerls.« Er blickte zu Clayton hinüber, der nicht reagierte. »Damit fielen sie unter Mithilfe zu Stufe Rot. Sie sollten ebenfalls in Haft genommen werden. Hab ’ne Menge Fragen an sie. Nehmen wir also am besten jeden in Gewahrsam, den wir am Zielort vorfinden, klar?«

Der Kommandoleiter nickte und machte sich daran, schusssichere Westen auszuteilen. Eine der Frauen wies darauf hin, dass es ein Wochentag sei, die Jungen also wahrscheinlich in der Schule wären, wo man sie unter Umständen abholen könnte. Eine entsprechende Computerüberprüfung stellte jedoch klar, dass sich keiner von beiden in der Lakeside Highschool befand. Außerdem ließ Agent Martin elektronisch den Waffenbesitz der Familie ermitteln und kam zu dem Ergebnis, dass weder Zielperson Wray noch Ehefrau Archer eine registrierte Waffe besaßen. Danach ließ er noch einige weitere Suchen durchlaufen, unter anderem nach dem Fahrzeugtyp und der Dienstzeit. Der Computer förderte zutage, dass die Zielperson von einem heimischen Büro aus arbeitete, was, wie Martin dem Kommando erklärte, die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass sie zu Hause war. Dann überprüfte er noch rasch, ob Zielperson Wray irgendwelche Reisepläne hatte, wurde jedoch weder bei Flügen noch Hochgeschwindigkeitszügen fündig. Ebenso wenig erbrachten die Einwanderungsdateien Hinweise darauf, dass Wray in letzter Zeit mit seinem Auto die Grenzen des Bundesstaates überquert hätte. Als der Computer zu diesen Fragen nur negative Ergebnisse auswarf, zuckte Martin die Achseln und sagte: »Zum Teufel damit. Der scheint ja ein richtiger Stubenhocker zu sein. Ziehen wir einfach los und schnappen uns den Kerl, den Rest kriegen wir dann später raus.«

Während Martin sich erhob, griff er nach einer geladenen Neun-Millimeter-Pistole und reichte sie Jeffrey. Doch während er sie dem jüngeren Mann hinschob, fragte er in sarkastischem Ton: »Also, Professor, sind Sie sicher, dass Sie bei dieser kleinen Party mitfeiern wollen? Sie haben sich Ihr Kleingeld schon verdient, zumindest einen Teil davon. Wollen Sie das lieber hier aussitzen?«

Jeffrey schüttelte den Kopf und wog die Waffe in der Hand. Er war dankbar, dass Martin ihm diese Halbautomatik gegeben hatte. Die Maschinenpistolen, die die Agenten dabei hatten, zerfetzten alles und jeden, und er wollte in der Cottonwood Terrace sowohl die Menschen als auch das Haus unversehrt hinterlassen.

»Ich will ihn sehen.«

Martin lächelte. »Sicher, ist ja auch verdammt lange her.«

Jeffrey nahm einen akademischen Tonfall an. »Es gibt eine Menge, was wir hier lernen können, Detective.« Er deutete auf die Ingram, die im Halfter an Martins Schulter hing. »Vergessen wir das nicht.«

Der Detective zuckte die Achseln. »Sicher. Was auch immer. Allerdings bin ich nicht in erster Linie hier, um die Wissenschaft voranzubringen.« Er lächelte wieder. »Ich kann Ihre Bedenken natürlich verstehen. Das ist nicht unbedingt die Art von Familientreffen, die man sich wünscht, aber, hey, schließlich kann man sich seine Blutsverwandten nicht aussuchen!«

Martin drehte sich um, gab dem Kommando ein Zeichen und marschierte entschlossen aus der Polizeistation hinaus. Im Westen ging soeben die Sonne unter, und als Jeffrey hinblickte, musste er sich gegen das letzte Gleißen die Hand über die Augen halten. In wenigen Minuten ist es dunkel, dachte er, allenfalls noch eine halbe Stunde. Ein verblassendes Grau, gefolgt von der Dunkelheit der Nacht. Sie mussten sich beeilen, wenn sie sich das letzte Tageslicht zunutze machen wollten.

Das Team verteilte sich auf verschiedene Fahrzeuge. Wortlos glitt Jeffrey auf den Sitz neben Martin, der – nicht eben passend – eine alte Melodie vor sich hin summte, die Clayton wiedererkannte. »Singin’ in the Rain.« Es regnet doch gar nicht, dachte Clayton, und er war sich auch nicht sicher, ob es irgendeinen Grund zur Freude gab. Der Detective trat so heftig aufs Gas, dass beim Verlassen des Parkplatzes die Reifen quietschten, und Clayton kam der Gedanke, dass die Verhaftung für den Detective wahrscheinlich zweitrangig war. Ihm kam das Gespräch über die Stufen der Gesetzesverstöße, das er mit angehört hatte, wieder in den Sinn. »Was zum Teufel ist ein Verbrechen Stufe Rot?«, wollte er wissen.

Martin summte noch ein paar Takte, bevor er erwiderte: »So, wie die verschiedenen Wohngegenden unterschiedliche Farben tragen, sind auch alle antisozialen Aktivitäten im Staat gekennzeichnet. Die Farbe definiert die Reaktion des Staates. Rot ist offensichtlich der höchste Grad. Oder das schlimmste Vergehen. Kommt hier ziemlich selten vor. Deshalb war das Team so überrascht.«

»Und was ist ein rotes Vergehen?«

»Gewöhnlich Wirtschaftskriminalität. Zum Beispiel Unterschlagung von Geldern einer Firma. Oder soziale Vergehen, zum Beispiel Drogenmissbrauch durch Jugendliche in einem Gemeindezentrum. Das ist aber immerhin so ernst, dass eine Zielperson sich gewaltsam gegen die Festnahme wehren könnte. Darum natürlich das Einschreiten im Team. Aber in der gesamten Geschichte des Bundesstaates haben wir nur ungefähr ein Dutzend Tötungsdelikte gehabt, und da ging es ausnahmslos um eskalierende Ehestreitigkeiten. Wir haben immer mal wieder Fälle von Fahrerflucht, was nach altem Rechtsverständnis an Totschlag grenzt. Das wären auch rote Straftaten, aber eine niedrigere Stufe. Eine Zwei oder Drei.«

Jeffrey nickte und sagte nichts, auch wenn er wusste, dass er belogen wurde.

»Die Sache ist eben die«, fuhr der Detective fort, »die Einwanderungsbehörde versucht, eine Neigung zur Gewalttätigkeit und zu Alkoholmissbrauch von vornherein durch vorbeugende psychologische Tests zu entdecken und auf diese Weise in Schranken zu halten. Es hat auch ein paar Schlägereien gegeben, meist Jugendliche, die sich wegen eines Mädchens in die Haare bekamen oder am Rande von Basketballspielen der Highschool, bei denen es zu großen Rivalitäten kommen kann. Das kann zu Delikten im unteren Rot-Bereich führen.«

»Aber mein Vater …«

»Für den bräuchten wir eigentlich eine andere Farbe. Vielleicht scharlachrot. Das hat so eine hübsche literarische Konnotation – Der scharlachrote Buchstabe, stimmt’s?«

»Und verhaften? Was meinte der Kommandoleiter mit eliminieren? Da gab es offenbar eine Frage …«

Zunächst antwortete Martin nicht. Er fing wieder an zu summen und war in der Mitte des Songs angelangt, bevor er sich unterbrach. »Clayton, seien Sie nicht so naiv. Die Sache ist doch die: Wir werden Ihren alten Herrn nicht davonkommen lassen. Falls jemand zu tödlicher Gewalt greifen muss, dann ist es eben so. Das ist Ihnen doch von früheren Fällen nicht gar so fremd. Sie kennen die Vorschriften. In einer solchen Situation ist es hier nicht viel anders, als es in Dallas, New York, Portland oder sonst irgendwo wäre, wo die Bösen ganz normalen Menschen das Leben zerstören wollen. Das verstehen Sie doch, oder? Also, ein Wort genügt, und ich fahr ran, und Sie können in dieser hübschen, grünen Gegend im Schatten eines schönen Baumes warten und Däumchen drehen, während ich Ihren verdammten Vater einkassiere. Wenn Sie aussteigen wollen, brauchen Sie’s nur zu sagen. Ansonsten kommt es eben, wie es kommt.«

Jeffrey hielt den Mund und stellte keine weiteren Fragen. Stattdessen beobachtete er die Schatten, die hohe Tannen über die manikürten Rasenflächen der stillen, properen und makellosen Vorstadtwelt warfen.

 

Detective Martin hielt einen halben Block vom Haus entfernt. Er stöpselte sich einen Funkhörer ins Ohr, schloss sich mit den anderen Mitgliedern des Sonderkommandos kurz und wies alle an, in Stellung zu gehen. Die beiden Arbeiter sollten sich an einem Verteilerkasten im Norden des Grundstücks postieren, der Geschäftsmann und der Trainingsanzug im Süden. Die beiden Frauen mit ihren Kinderwagen gaben von hinten Deckung, während sie langsam die Straße entlangschlenderten und plauderten. Martin und Clayton sollten bis zur Haustür vorfahren, und sobald sie klopften, sollte das Team das Haus umstellen. Die Vorgehensweise war einfach, schnell und der übliche Standard. Bei korrekter Umsetzung würden nicht einmal die Nachbarn merken, dass eine Verhaftung im Gange war, bis Verstärkung eintraf. Vier weitere Fahrzeuge der Staatssicherheit mit uniformierten Beamten warteten einen Block entfernt auf ihren Einsatz.

»Sind Sie so weit?«, fragte Martin, trat jedoch aufs Gaspedal, ohne eine Antwort abzuwarten.

Jeffrey sog heftig die Luft ein.

Er begriff, dass er irgendwo tief in seinem Innern von Emotionen geschüttelt wurde. Er war sich ebenso bewusst, dass die gespannte Erwartung über alle Fragen siegte, die er hatte, und seine Gefühle überlagerte. Er empfand eine seltsame Kälte, fast wie ein Kind in dem Augenblick, in dem es erkennt, dass es keinen Nikolaus gibt, sondern nur einen Mythos und Erwachsene. Er horchte in sich hinein und versuchte, sich an irgendeine konkrete Emotion zu klammern, fand jedoch keine.

Er fühlte sich blutleer. Hart und wie unter einer Eisschicht.

Der Detective bog in die kreisförmige Einfahrt eines modernen, zweigeschossigen Fünf-Zimmer-Hauses, das wie die Stadt, aus der sie kamen, dem Kolonialstil New Englands verpflichtet war. Die Welt war in ein fades graues Licht getaucht, das immer blasser wurde, und die Scheinwerfer des nicht gekennzeichneten Streifenwagens vermischten sich eher mit dem Halbdunkel der Abenddämmerung, als dass sie das Haus erleuchteten.

Drinnen war es dunkel. Jeffrey konnte keine Bewegung ausmachen.

Martin bremste abrupt.

»Auf geht’s«, sagte er und stieg zügig aus.

Er schwang sich die Maschinenpistole auf den Rücken, so dass sie vor jedem, der vielleicht aus dem Fenster blickte, verborgen war, und schritt zielstrebig zum Eingang.

»Sind an der Tür!«, flüsterte er ins Mikrofon. »Alle aufschließen.«

Er machte Clayton Zeichen, zur Seite zu treten, und klopfte energisch an.

Aus dem Augenwinkel heraus sah Jeffrey, wie die anderen Mitglieder des Teams auf das Haus zuhuschten. Martin klopfte wieder, lauter. Diesmal brüllte er: »Staatssicherheit! Öffnen Sie die Tür!«

Von drinnen war immer noch nichts zu hören.

»Scheiße!«, fluchte Martin. Er spähte durchs Fenster neben dem Eingang. »Sehen wir zu, dass wir reinkommen!«

Der Detective trat zurück und verpasste der Haustür einen Tritt, der wie ein Kanonenschuss klang. Sie wackelte und vibrierte, hielt jedoch stand. »Gottverdammt!« Er wandte sich an Clayton. »Holen Sie diesen verfluchten Türknacker aus dem Wagen! Schnell!«

Als Jeffrey zum Auto lief, um den Vorschlaghammer zu suchen, hörte er die Leute vom Sonderkommando in der Ferne rufen, und im selben Moment kamen ihre Worte über das Funkgerät, das der Detective trug, eine Art Stereoeffekt. Martin riss sich den Empfänger aus dem Ohr. Er gestikulierte ungestüm. »Machen Sie schon, verdammt!« Clayton schnappte sich den eisernen Rammbock vom Rücksitz und brachte ihn dem Detective.

»Her mit dem Ding!«, brüllte Martin und riss ihn Clayton aus der Hand. Er trat zwei Schritte von der Tür zurück, holte wütend aus und ließ den Hammer mit voller Wucht gegen das Holz krachen. Splitter flogen. Martin ächzte vor Anstrengung, dann schwang er das Werkzeug ein zweites Mal und zerschmetterte die Tür. Der Detective ließ den Rammbock auf den Boden krachen und riss seine Maschinenpistole nach vorne, während er mit demselben Schwung in die Diele sprang und brüllte: »Ich bin drin, ich bin drin!«

Jeffrey folgte ihm dicht auf den Fersen.

Martin warf sich mit dem Rücken an die Wand und vollführte flinke Pirouetten, während er mit der Waffe in alle Richtungen zielte und dabei den Spannschieber nach hinten schob. Es machte laut Klick.

Mit einem deutlichen Echo.

Dieser Nachhall war der erste Eindruck, den Jeffrey hatte. Für den Moment stutzte er, dann verstand er, was es zu bedeuten hatte. Er sackte neben dem Detective zu Boden und flüsterte: »Sie können sich entspannen. Sagen Sie den anderen, sie sollen zur Haustür reinkommen.«

Martin schwang weiter die Waffe in einem großen Halbkreis von rechts nach links. »Was?«

»Sagen Sie den anderen, sie sollen herkommen. Sagen Sie ihnen, sie sollen die Waffen wegstecken. Außer uns ist niemand da.«

Jeffrey streckte sich und suchte das Halbdunkel nach einem Schalter ab. Er brauchte eine Sekunde, dann fand er einen für die Lichtleiste an der Decke. Er drückte ihn, und um sie wurde es hell, so dass sie beide sehen konnten, was Clayton schon begriffen hatte: Das Haus stand leer – keine Menschen, keine Möbel, keine Teppiche, keine Gardinen, kein Leben.

Martin machte ein paar tastende Schritte nach vorn, und seine Sohlen auf dem Holz hallten durch die Räume so wie zuvor das Geräusch seiner Waffe.

»Ich kapier das nicht«, meinte er.

Jeffrey antwortete nicht, sondern dachte nur: Nun ja, Detective, hast du wirklich gedacht, er macht es dir so leicht? Ein bisschen Computer-Magie und Bingo! Von wegen!

Die beiden Männer traten in ein leeres Wohnzimmer. Hinter ihnen hörten sie das Lärmen des Sonderkommandos, das sich in der Diele versammelte. Der Leiter des Teams kam herein.

»Nichts, wie?«

»Bis jetzt nicht«, antwortete Martin. »Aber ich möchte, dass ihr dieses ganze Haus auf den Kopf stellt und rausfindet, ob kürzlich jemand hier gewesen ist.«

»Rot eins«, grinste der Mann im Anzug. »Klar doch.«

Martin funkelte ihn böse an, doch der Kommandoleiter ignorierte ihn.

»Ich blas die Verstärkung ab. Sag ihnen, sie können wieder auf ihre Posten zurück.«

»Danke«, sagte Martin, »verdammt.«

Jeffrey ging langsam durch den leeren Raum. Irgendetwas muss hier sein, dachte er. Irgendetwas will er uns sagen mit diesem Haus. Diese Leere hat genauso viel zu bedeuten wie irgendetwas anderes. Hauptsache, man kann sie richtig interpretieren. Während er darüber nachgrübelte, hörte er Stimmen in der Diele. Er drehte sich um und sah, dass Martin mitten im Zimmer stand. Die Maschinenpistole baumelte an seiner Seite, sein Gesicht war rot vor Zorn. Der Detective setzte gerade an, um etwas zu sagen, als der Chef des Einsatzkommandos den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Hey, wollen Sie mit einem der Nachbarn reden? Die machen sich gerade in der Einfahrt breit, um zu sehen, was die ganze Aufregung soll.«

»Ja, ich«, beeilte sich Jeffrey und schritt an Martin vorbei, der verächtlich schnaubte und ihm zum Eingang folgte.

Ein Mann im mittleren Alter, in Khakihose zu violettem Kaschmirpulli, einen aufgeregt kläffenden Terrier zu seinen Füßen, unterhielt sich mit zwei der Agenten. Eine der Frauen schnallte gerade die kugelsichere Weste ab und rief, als sie Martin sah: »Hey, das wollen Sie sicher hören.«

Der Detective trat vor. »Was wissen Sie über den Eigentümer dieses Hauses?«

Der Nachbar drehte sich um und versuchte vergeblich, den Hund zu beruhigen. »Das gehört keinem«, berichtete er. »Ist seit fast zwei Jahren auf dem Markt.«

»Zwei Jahre? Das ist eine lange Zeit.«

Der Mann nickte. »Die übliche Frist ist ein halbes Jahr, maximal acht Monate. Ist ein wirklich schönes Viertel, es wurde sogar schon mal in der Post vorgestellt, kurz nach Fertigstellung. Richtig gut geplant, tolle Anbindung ans Stadtzentrum, richtig gute Schulen.«

Jeffrey gesellte sich dazu. »Aber mit diesem Haus ist es anders. Wieso?«

Der Nachbar zog die Schultern hoch. »Ich glaube, die Leute denken, es bringt Unglück. Sie wissen ja, wie abergläubisch die Menschen sein können. Die Zahl dreizehn und so. Ich hab vorgeschlagen, einfach die Nummer zu ändern.«

»Unglück? Inwiefern?«

Der Mann nickte. »Ich weiß nicht, ob Unglück das richtige Wort ist, es spukt hier nicht oder so. Weckt einfach nur schlechte Assoziationen. Und ich sehe nicht ein, wieso wir alle für einen einzigen kleinen Vorfall büßen sollen.«

»Was für ein kleiner Vorfall?«, hakte Jeffrey nach.

»Die Kleine, die hier verschwunden ist. Stand in der Zeitung.«

»Erzählen Sie.«

Der Mann seufzte, ruckte an der Leine, als der Hund einem der Polizisten das Bein beschnüffeln wollte, und zuckte die Achseln.

»Die Familie, die hier gewohnt hat, na ja, nach der Tragödie sind sie weggezogen. So was spricht sich rum, schreckt die Leute ab. Gibt zu viele andere wirklich schöne Häuser einen Block weiter oder drüben in Evergreen. Die wollen keins kaufen, an dem eine böse Geschichte hängt.«

»Was für eine böse Geschichte?«

»Robinson hießen die. Nette Familie.«

»Bestimmt. Und?«

»Die Kleine ist eines späten Nachmittags noch einmal rausgegangen, kurz vor dem Abendessen. Wir liegen hier am Rand eines richtig großen Naturschutzgebiets. Eine Menge Wald und Tiere in freier Wildbahn. Vierzehn Jahre alt, die Kleine, man sollte meinen, sie wäre alt genug gewesen, nicht zu weit vom Haus wegzulaufen. Besonders kurz vor dem Abendessen. Na, jedenfalls ist sie weg, ihre Familie ruft nach ihr, die Nachbarn gehen alle mit Taschenlampen los, und sogar die Staatssicherheit taucht mit ’nem Hubschrauber auf, aber weit und breit nichts zu sehen. Man hat sie nie gefunden. Weit und breit kein Lebenszeichen. Die meisten haben sich gedacht, dass Wölfe oder Wildhunde sie auf dem Gewissen haben. Andere tippen auf ’n Sasquasch oder so was in der Art. Ich halte natürlich nichts davon. Glaube nicht an so ’nen Fabelkram. Ich vermute, sie ist einfach abgehauen, um es nach einem Streit den Eltern heimzuzahlen. Sie wissen ja, wie Jugendliche sind. Und sie haut ab, verirrt sich, und das ist es. Im Vorgebirge, da gibt es ein paar Höhlen, und alle vermuten, dass ihre Leiche letztlich dort liegt, aber es gehört schon eine ganze Armee dazu, um dieses riesige Gebiet zu durchforsten. Jedenfalls hat die Polizei das gesagt. Danach sind eine Menge Leute weggezogen. Kann sein, dass ich der Einzige im Viertel bin, der aus der Zeit noch übrig ist. Hat mich nicht allzu schlimm mitgenommen. Meine Kinder sind erwachsen.«

Jeffrey trat zurück und lehnte sich an eine der weißen Wände im Haus. Jetzt fiel ihm wieder ein, wo er die Adresse schon einmal gesehen hatte – in einem der Artikel aus der Post. Er hatte ein verschwommenes Bild von einem lächelnden Mädchen mit Zahnspange vor Augen. Auch das war in der Zeitung gewesen.

Der Mann zog die Schultern hoch. »Man sollte meinen, dass die Makler diesen Teil der Geschichte unter dem Deckel halten, wenn sie das Haus zeigen. Es ist ein schönes Haus. Sollte wieder jemand drin wohnen. Eine neue Familie. Wird wohl irgendwann klappen.«

Der Mann ruckte erneut an der Leine seines Hundes, obwohl der Terrier diesmal still am Boden saß. »Außerdem drückt es allen anderen die Preise runter, wenn man es leer stehen lässt.«

Plötzlich schaltete sich Martin ein: »Haben Sie in letzter Zeit jemanden hier gesehen?«

Der Nachbar schüttelte den Kopf. »Wen haben Sie denn hier vermutet?«

»Was ist mit Arbeitern, Maklern, Gärtnern, sonst irgendjemandem?«, fragte Clayton.

»Na ja, keine Ahnung. So jemand wäre mir nicht aufgefallen.«

Detective Martin hielt dem Mann die Computerausdrucke von Gilbert Wray und seiner Familie unter die Nase.

»Kommen die Ihnen irgendwie bekannt vor? Schon mal gesehen?«

Der Mann starrte die Bilder an und schüttelte den Kopf.

»Nee«, meinte er.

»Und die Namen? Erkennen Sie die Namen wieder?«

Der Mann schwieg und schüttelte zum zweiten Mal den Kopf. »Nie gehört. Hey, was soll das Ganze hier eigentlich?«

»Das geht Sie einen feuchten Kehricht an«, schnauzte Martin und schnappte ihm die Fotos wieder aus der Hand. Der Terrier kläffte und sprang dem Detective angriffslustig entgegen, der nur auf ihn herabstarrte.

Jeffrey rechnete mit einer weiteren Frage des Detective oder mit einem Fußtritt gegen den Hund, als ein Mann des Einsatzkommandos aus einem anderen Zimmer rief: »Agent Martin! Ich glaube, wir haben hier was.«

Der Detective machte einer der Frauen im Team, die etwas abseits stand, ein Zeichen. »Nehmen Sie von dem Mann eine Zeugenaussage auf.« Und in etwas bitterem Ton fuhr er fort:

»Danke für Ihre Hilfe.«

»Gern geschehen«, sagte der Nachbar hochmütig. »Ich möchte allerdings immer noch erfahren, was hier vor sich geht. Ich hab schließlich auch ein paar Rechte, Officer.«

»Hat jemand was anderes behauptet?«, brummte Martin zurück.

Mit Clayton im Schlepptau ging Martin der Stimme des Beamten nach. Sie kam aus dem Küchenbereich.

Es war einer der Männer, die als Telefontechniker verkleidet waren. »Den hier hab ich gefunden«, erklärte er.

Er zeigte auf eine Arbeitsplatte aus poliertem grauem Stein gegenüber der Spüle. Auf der Theke stand ein kleiner, preiswerter Laptop, der in eine Steckdose in der Wand und eine Telefonbuchse eingestöpselt war.

Neben dem Computer befand sich eine einfache Schaltuhr, wie man sie in jedem Computergeschäft kaufen kann. Auf dem Bildschirm leuchteten geometrische Formen, die sich bewegten und in einem elektronischen Tanz willkürlich Form und Farbe wechselten – von Gelb über Blau zu Grün und Rot –, und das alle paar Sekunden.

»Von dem aus hat er mir die Nachricht geschickt«, überlegte Jeffrey ruhig.

Agent Martin nickte.

Jeffrey trat bedächtig auf den Laptop zu.

»Diese Schaltuhr«, fragte der angebliche Techniker, »meinen Sie, die ist mit ’ner Bombe verbunden? Vielleicht sollten wir die Sprengstoffexperten holen.«

Clayton schüttelte den Kopf. »Nein, die hat er gebraucht, um dieses Ding zu aktivieren, so dass es die Mail automatisch verschickt, nachdem er längst über alle Berge ist. Trotzdem sollten wir den Computer der Spurensuche überlassen, damit sie ihn auf Fingerabdrücke untersucht. Und auch diese ganze Umgebung. Sie werden nichts finden, aber wir sollten es trotzdem versuchen.«

»Aber wieso lässt er ihn hier stehen, wo wir ihn finden können? Ich meine, er hätte Ihnen seine Nachricht von irgendeiner öffentlichen Stelle schicken können.«

Jeffrey betrachtete die Schaltuhr. »Das ist Teil derselben Botschaft, nehme ich an«, erwiderte er, auch wenn er in Wahrheit gar nichts annahm. Die Wahl dieses Ortes war sehr durchdacht, und er hatte eine ziemlich konkrete Ahnung, worin die Nachricht bestand. Sein Vater war schon einmal hier gewesen, vielleicht nicht im Haus, aber ganz bestimmt davor. Unter den wilden Tieren, die am Verschwinden des Kindes schuld sein sollten, dachte er sarkastisch. Er muss das unglaublich komisch gefunden haben. Jeffrey wurde bewusst, dass viele Mörder, mit denen er im Lauf der Jahre zu tun bekommen hatte, die Vorstellung höchst amüsant gefunden hätten, dass sich die Behörden des Einundfünfzigsten Bundesstaates mehr als der Mörder selbst darum bemühten, dessen Taten zu verschleiern. Er atmete langsam aus. Jeder Mörder, mit dem er sich im Lauf seines Berufslebens auseinandergesetzt hatte, wäre von dieser Ironie entzückt gewesen. Die Eiskalten, die Berechnenden und die Impulsiven. Sie hätten sich bei dem Irrwitz ausnahmslos schlappgelacht, sich die Schenkel geklopft, Seitenstiche bekommen.

Er starrte auf den kleinen Bildschirm und betrachtete die ständig wechselnden Formen. Manche Mörder sind so, dachte er frustriert. Wenn sie vor deinem geistigen Auge gerade Kontur und Farbe annehmen, verändern sie sich, und nur gerade so viel, dass du von vorn anfangen kannst. In einem Anflug von Ärger drückte er die Enter-Taste, um endlich die irritierenden, wirbelnden Muster loszuwerden. Die geometrischen Formen verschwanden augenblicklich, und an ihrer Stelle erschien ein schwarzes Feld mit einer einzigen Nachricht, die gelb aufblitzte:

Guck-guck.
Hältst du mich für blöd?